Ein Antagonist ist nicht einfach nur ein Antagonist. Er ist ein sehr wichtiges Zahnrad im Mechanismus einer Geschichte und muss deswegen haarfein auf diese abgestimmt sein. Deswegen sprechen wir in diesem Artikel sowohl über die „technischen“ Aspekte von Antagonisten als auch generell über das breite Spektrum der Moral in Geschichten.
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Alle hassen platte, eindimensionale Bösewichte. Und dennoch höre ich immer wieder auch Stimmen, die sich mehr klassische, wirklich böse Antagonisten mit tiefschwarzer Seele wünschen. Andere wiederum wollen überhaupt kein Schwarz-Weiß, sondern ein Ensemble von unterschiedlich grauen Figuren.
Doch ist das alles wirklich nur Geschmackssache? Oder gibt es etwas wie Richtlinien oder unverzeihliche Fehler, die einen guten bzw. schlechten Antagonisten ausmachen?
Ich persönlich glaube, dass man in dieser Debatte in allererster Linie zwischen der Funktion des Antagonisten innerhalb der Geschichte und seiner Moral trennen muss. Und das ist gleichzeitig auch an die Prämisse der Geschichte und vor allem an den Protagonisten geknüpft.
Und damit meine ich:
Jede Geschichte, die einen Konflikt beinhaltet, braucht ihren ganz eigenen Antagonisten. Es gibt somit keine universelle Formel, um einen guten Antagonisten zu erschaffen. Aber es gibt durchaus Dinge, die man falsch machen kann.
Deswegen sprechen wir heute über Antagonisten, klären zunächst die Begriffe und die Theorie und widmen uns anschließend den verschiedenen Spielarten des Bösen in Geschichten.
Definition: Was ist ein Antagonist?
Lassen wir zunächst die moralische Komponente weg und schauen uns allein die Funktion des Antagonisten an.
Im Altgriechischen bedeutet ἀνταγωνιστής buchstäblich „Gegenspieler“. Ein anderes Wort ist „Opponent“, und ich werde etwas später erläutern, warum ich diesen Begriff bevorzuge. Die Bedeutung ist aber eigentlich dieselbe, nämlich „Gegner“:
Wenn der Protagonist ein Ziel hat, und das ist normalerweise der Fall, weil sonst selten eine erzählenswerte Geschichte zustande kommt, dann steht der Antagonist ihm beim Erreichen dieses Ziels im Weg. Und wenn eine Geschichte eine Botschaft enthält und der Protagonist somit die These verkörpert, dann ist der Antagonist die personifizierte Antithese: eine andere Sicht auf das zentrale Thema der Geschichte, die gegenüber der Sicht des Protagonisten verliert, gewinnt oder sich als ebenbürtig erweist.
Egal, wie man es also dreht und wendet,
der Antagonist ist das Gegenstück zum Protagonisten und wird somit auch speziell für ihn erschaffen.
In der Regel läuft es darauf hinaus, dass die beiden mehr oder weniger dasselbe Ziel haben bzw. dass ihre Interessen unvereinbar sind: Beide wollen denselben Wettbewerb gewinnen, denselben Thron erobern, denselben Job bekommen – oder aber der eine will zerstören, was der andere erhalten will, die beiden können sich in einer bestimmten Sache nicht auf einen Konsens einigen … Sie haben eben einen Konflikt, und ein Konflikt kann nicht entstehen, wenn die Interessen der Beteiligten nicht in irgendeinem Punkt kollidieren.
Weil der Protagonist und der Antagonist aber in diesem Punkt irgendwie aufeinandertreffen, gibt es häufig Ähnlichkeiten zwischen ihnen: Wenn beide denselben Thron wollen, dann sind beide allerwenigstens ambitioniert und machthungrig. Oder aber sie sind wirklich maximale Gegenteile: ein kleiner, unscheinbarer Stallbursche und ein uralter, mächtiger Dämonenkönig, zum Beispiel. In jedem Fall aber gibt es irgendeine Art von Verbindung, die beiden treffen nicht zufällig aufeinander, sondern werden vom Autor sorgfältig aufeinander abgestimmt.
Diese Abstimmung sieht in der Praxis oft so aus, dass der Protagonist ein Repräsentant des „Guten“ ist und somit über „gute“ Eigenschaften verfügt, während der Antagonist als Repräsentant des „Bösen“ sich durch „böse“ Eigenschaften auszeichnet. Als Beispiel nehme man klassische Märchen mit guten Prinzessinnen und bösen Stiefmüttern. Dabei kann es aber auch hier Ähnlichkeiten zwischen Protagonist und Antagonist geben, so beispielsweise zwischen dem schönen und guten Schneewittchen und der ebenfalls schönen, aber bösen Königin.
Die Moral kann aber auch umgekehrt sein, nämlich wenn der Protagonist ein Antiheld ist und sein Gegenspieler eventuell moralisch deutlich „besser“ ist als er. Oder beide sind moralisch irgendwo in der Grauzone. Die anschaulichsten Beispiele hierfür sind Geschichten über explizite Verbrecher: Death Note handelt von einem genialen Schüler, der ein magisches Notizbuch benutzt, um Verbrecher zu ermorden, also um durch Serienmorde eine in seiner Vorstellung bessere Welt zu erschaffen, und dabei einen Gottkomplex entwickelt. Sein Gegenspieler ist der ebenfalls geniale Privatdetektiv L, der jedoch mit der Polizei kooperiert und somit auf der Seite des Gesetzes steht, was aber nicht automatisch bedeutet, dass er immer perfekt moralisch handelt.
Konflikt und Charakter-Arcs
Wie auch immer die Moral von Protagonist und Antagonist aussehen mag, wichtig ist, dass der Konflikt zwischen ihnen interessant ist. Und für den Antagonisten bedeutet das:
Er muss eine gut herausgearbeitete Figur (oder ein gut durchdachtes Phänomen) sein und eine wirklich ernsthafte Bedrohung darstellen, d. h., die Schwächen des Protagonisten angreifen wie kein anderer. Denn es ist die Überwindung oder Nicht-Überwindung dieser Schwächen, die den Arc des Protagonisten ausmacht und den Ausgang der Geschichte bestimmt.
Im Artikel über die Motivation der Figuren haben wir ja schon darüber gesprochen, dass zumindest die wichtigsten Akteure einer Geschichte Ziel, Schwäche und Bedürfnis haben sollten. In dem Artikel über Charakter-Arcs haben wir das Ganze noch um die Lüge und die Geister der Vergangenheit ergänzt. Und im Artikel über die Figuren-Konstellation haben wir die Abstimmung des Gegenspielers auf den Protagonisten angeschnitten. Hier also das Ganze noch einmal, bloß mit Fokus auf den Antagonisten:
Ziel, Schwäche, Lüge, Bedürfnis und Geister der Vergangenheit des Protagonisten gehen aus der Prämisse der Geschichte hervor und bestimmen seinen Charakter-Arc. Für den Antagonisten legen wir ebenfalls Ziel, Schwäche, Lüge, Bedürfnis und eventuell noch die Geister der Vergangenheit fest.
Greifen wir das Beispiel aus den Artikeln über Motivation und Charakter-Arcs auf und erinnern uns an Alejandro Murrieta aus Die Maske des Zorro:
- Ziel: Alejandro will seinen Bruder rächen und später Sklaven retten.
- Schwäche: Alejandro ist kriminell, ein schlechter Kämpfer und extrem hitzköpfig.
- Lüge: „Jeder ist für sich, ich muss über meine Taten und ihre Auswirkungen nicht nachdenken und durch hirnlose, rohe Gewalt erreiche ich, was ich will.“
- Bedürfnis: Er braucht Disziplin und eine gescheite Kampfausbildung und außerdem entdeckt er, dessen Banditendasein sich bisher nur um seinen persönlichen Vorteil gedreht hat, die Möglichkeit, für Schwächere einzustehen.
- Geister der Vergangenheit: Er wurde durch seine Kindheit in Armut und seine kriminelle Vergangenheit geprägt, zumal er offiziell ein gesuchter Verbrecher ist. Auch lähmt der Rachedurst und Hass auf Captain Harrison Love, den Mörder seines Bruders, sein Denkvermögen.
Durch die Erfüllung der Bedürfnisse überwindet Alejandro seine Schwächen und damit auch seine Lüge und seine Geister der Vergangenheit, wird zum neuen Zorro und erreicht seine Ziele. Ein sehr klassischer positiver Arc à la Hollywood.
Der auf Alejandro abgestimmte Antagonist ist der bereits erwähnte Captain Harrison Love, dessen Figurenprofil wir im Grunde ähnlich gestalten wie das des Protagonisten:
- Ziel: Captain Love jagt Banditen und ist deswegen für den Tod von Alejandros Bruder verantwortlich. Gern würde er auch Alejandro selbst schnappen. Außerdem dient er korrupten Reichen und beteiligt sich somit an der Ausbeutung von Sklaven.
- Schwäche: Captain Love ist sehr von sich überzeugt und zugleich herzlos bis hin zur Perversion: Er sammelt allen Ernstes Einmachgläser mit Körperteilen von seinen Gegnern, aus denen er regelmäßig trinkt.
- Lüge: „Durch meine Stärke und meinen Verstand kann ich alles bekommen, was ich will. Ich bin besser als der Pöbel und muss darauf keine Rücksicht nehmen. Ich kann Menschen, die mir unterlegen sind, sogar einfach töten.“
- Bedürfnis: Seiner gerechten Strafe kann er nur entgehen, wenn er Demut und Mitgefühl lernt und sich auf die Seite des leidenden Volkes stellt. Das passiert jedoch nicht und Captain Love bezahlt dafür mit seinem Leben.
- Geister der Vergangenheit: Was Harrison Love zu dem gemacht hat, was er ist, wird im Film nicht beleuchtet. Wir können nur spekulieren, dass er wohl durch seinen Beruf als Offizier gegenüber Gewalt einfach abgestumpft ist und seine Selbstüberzeugtheit durch seine vergangenen Erfolge entwickelt hat. Oder er ist einfach als Psychopath auf die Welt gekommen.
Obwohl Captain Love am Anfang in einer besseren Position ist als Alejandro, erreicht er seine Ziele nicht, weil er seine Bedürfnisse nicht erfüllt. Er erliegt seinen Schwächen und seiner Lüge. Ein typischer negativer Arc.
Besondere Aufmerksamkeit möchte ich hier aber vor allem auf die Lüge und das Bedürfnis lenken. Denn in diesen Punkten sind Alejandro und Love sich tatsächlich sehr ähnlich: Beide glauben an ihre Stärke als legitimes Mittel zum Erreichen ihrer Ziele und nehmen auf andere keine Rücksicht. Um erfolgreich zu sein, müssten beide Demut und Mitgefühl entwickeln. Und während Alejandro seine Schwächen als solche erkennt und unter der Anleitung des alten Zorro an ihnen arbeitet und am Ende Erfolg hat, glaubt Captain Love bis zum Ende an seine Lüge und ändert dementsprechend auch nichts an seinen Schwächen. Dafür wird er mit dem Tod bestraft.
Und um die Ähnlichkeit und den Kontrast zwischen Protagonist und Antagonist noch mehr zu betonen, hofieren Alejandro und Love – zusätzlich zum Konflikt um den Bruder und die Sklaven – dieselbe Frau und sie sind auch visuell ziemliche Gegenteile voneinander: Während der brünette Alejandro – wenn er nicht gerade als Spion in den höheren Kreisen unterwegs ist – unordentlich oder zumindest lässig gekleidet ist, tritt der blonde Captain Love stets wie aus dem Ei gepellt in Erscheinung.
Nun ist das Verhältnis zwischen den Figurenprofilen des Protagonisten und Antagonisten aber noch nicht maximal sichtbar. Deswegen können wir uns dieses noch genauer anschauen und ihre Stärken und Schwächen explizit gegenüberstellen:
- Alejandro Murrieta a.k.a. der neue Zorro:
- Ziel: Captain Love töten, Versklavte retten
- Stärke: Auch wenn Alejandro ein egoistischer Bandit ist, hat er dennoch das Herz am rechten Fleck und ist zu Mitgefühl fähig. Auch erkennt er seine Unfähigkeit und bringt die Demut auf, um sich vom alten Zorro ausbilden zu lassen.
- Schwäche: Er ist ein hitzköpfiger Bandit ohne nennenswerte Kampftechnik und er denkt nicht nach, bevor er handelt.
- Captain Harrison Love:
- Ziel: Alejandro töten, Versklavte ausbeuten
- Stärke: Im Gegensatz zu Alejandro ist Captain Love ein professioneller Soldat, ein erbarmungsloser Killer, der jede Bewegung perfekt einstudiert hat. Außerdem steht er als offizieller Militärangehöriger auf der Seite des Gesetzes, auch wenn er de facto einer korrupten Elite dient.
- Schwäche: Er ist selbstüberzeugt und kaltblütig.
Wir sehen also: Alejandro besiegt Captain Love nicht so sehr, weil er am Ende des Films ein besserer Kämpfer ist, sondern weil er sich zu einem besseren Menschen entwickelt hat. Empathiefähigkeit ist Alejandros wichtigste Stärke und Loves wichtigste Schwäche. Zwar ist Love durch seine militärische Ausbildung, seinen Verstand und seinen Status am Anfang deutlich überlegen, aber weil er – im Gegensatz zu Alejandro – nicht an seinen Schwächen arbeitet, ist er am Ende doch unterlegen.
Um das Verhältnis zwischen dem Protagonisten und dem Antagonisten in Die Maske des Zorro also kurz zusammenzufassen:
Gewissermaßen sind die beiden Doppelgänger – und zugleich komplette Gegenteile voneinander.
Das ist aber, wie gesagt, nur ein sehr einfaches, klassisches Hollywood-Blockbuster-Schema. Wenn Deine Geschichte komplexer ist, kannst Du beim Antagonisten, wie auch beim Protagonisten, mit einer psychologischen und moralischen Schwäche und einem psychologischen und moralischen Bedürfnis arbeiten. Und ein positiver Arc des Protagonisten bedeutet auch nicht automatisch einen negativen Arc beim Antagonisten:
- Beide könnten zum Beispiel einen positiven Arc durchmachen und am Ende Freunde oder sogar ein Liebespaar werden.
- Auch können beide einen negativen Arc durchmachen und sich gegenseitig ins Verderben stürzen.
- Der Protagonist könnte einen flachen Arc durchmachen, während der Antagonist sich zum Positiven oder Negativen verändert.
- Oder es ist der Protagonist, der sich zum Positiven oder Negativen verändert – während der Antagonist einen flachen Arc hat.
- Und natürlich ist es auch möglich, dass der Protagonist einen negativen Arc durchmacht, während sich für den Antagonisten alles zum Positiven verändert.
- Grundsätzlich ist außerdem vorstellbar, dass beide einen flachen Arc haben, aber ich denke, es ist zumindest sehr schwierig, da eine wirklich interessante Geschichte zu erzählen, weil ja offenbar nirgendwo eine nennenswerte Entwicklung stattfindet.
Opponenten, Antagonisten, Bösewichte: Der Unterschied
Nun bist Du eben aber vielleicht kurz aufgeschreckt: Was, ein Antagonist kann als Freund oder sogar Liebespartner des Protagonisten enden? – Ja, genau. Denn tatsächlich ist in vielen Liebesgeschichten der strukturelle Gegenspieler des Protagonisten sein Love-Interest, beispielsweise in Stolz und Vorurteil oder auch Fifty Shades of Grey, obwohl es in diesem Fall schwer fällt, diesen Gegenspieler als Antagonisten zu bezeichnen. Und das ist auch der wichtigste Grund, warum ich den Begriff „Opponent“ bevorzuge:
Obwohl „Antagonist“ und „Opponent“ von der wörtlichen Bedeutung her dasselbe sind, wecken sie unterschiedliche Konnotationen.
Denn korrigiere mich bitte, wenn ich mich zu weit aus dem Fenster lehne, aber beim Wort „Antagonist“ schwingt eine gewisse Feindseligkeit mit. Man denkt da eher an jemanden, der sehr zielgerichtet gegen den Protagonisten arbeitet. Beim Opponenten hingegen denkt man an eine ganz banale Kollision von Interessen. Oder um es mal an einem Beispiel zu illustrieren:
In Harry Potter sind Figuren wie Voldemort, Umbridge und Bellatrix Lestrange eindeutig Antagonisten. Wenn aber Ron und Hermine im dritten Band ständig Zoff haben, weil Hermines Kater Rons Ratte jagt, dann sind die beiden einfach nur Opponenten in einem Konflikt, wie er in jeder Freundschaft vorkommt.
Ich würde daher sagen:
„Opponent“ ist ein viel weiter gefasster Begriff und bezeichnet einfach nur die Gegenseite in einem Konflikt, völlig frei von Moral und Verurteilungen.
Und das wiederum bedeutet:
Jeder Antagonist ist ein Opponent, aber nicht jeder Opponent ist ein Antagonist.
Geschichten handeln eben nicht nur von Konflikten zwischen Feinden, sondern auch zwischen Freunden, Familienmitgliedern und Liebenden. Und selbst wenn eine Geschichte von einer Feindschaft handelt, heißt das noch lange nicht, dass der Antagonist wirklich böse sein muss. Wie gesagt, der „Böse“ kann auch der Protagonist sein oder beide können sich in einem „moralisch grauen“ Bereich bewegen.
Wir halten also zusätzlich fest:
Nicht jeder Antagonist ist ein Bösewicht.
Phänomene als Opponenten/Antagonisten
Außerdem ist nicht jeder Opponent eine Person. Denn statt eines ganz konkreten Hauptgegners könnte sich der zentrale Konflikt des Protagonisten auch in Bezug auf die Gesellschaft, die Natur, eine Organisation oder eine anderweitige Gruppe, eine Ideologie, eine Krankheit, einen Fluch, die eigene Vergangenheit oder was auch immer entfalten.
- Man denke zum Beispiel an Sansibar oder der letzte Grund von Alfred Andersch, wo die Nazis, die durchweg gesichtslos als „die Anderen“ bezeichnet werden, den Antagonisten aller fünf Protagonisten darstellen.
- Oder an Im Westen nichts Neues und Der Weg zurück von Erich Maria Remarque, wo der Krieg bzw. seine Folgen den Hauptantagonisten darstellen.
- Oder man denke auch an das ganze Genre der Katastrophenfilme, in denen der zentrale Konflikt eben von der Katastrophe ausgeht.
Der Haken bei solchen Konflikten zwischen Protagonist und Phänomen ist nun aber, dass man ein Phänomen oft nur sehr bedingt an den Protagonisten anpassen kann: Wenn der Konflikt sich darum dreht, dass der Protagonist durch einen Unfall seine Beine verliert und nun lernen muss, damit zurechtzukommen, dann kann man da schlecht ein Charakterprofil für den Antagonisten anlegen, weil er überhaupt kein Charakter ist und somit auch keine Schwächen hat und nicht an eine Lüge glaubt.
Aber keine Sorge! Denn wer nach wie vor Schwächen und den großen ganzen Rest hat, ist der Protagonist. Und diese Schwächen können von einem nichtmenschlichen Phänomen genauso angegriffen werden wie von einer Person.
Erkläre also, warum ausgerechnet das Phänomen, das Du als Antagonist gewählt hast, die Schwächen des Protagonisten so besonders stark angreift.
Denn so zynisch das auch klingt: Für jemanden, der im Büro arbeitet, sich also hauptberuflich den Hintern platt sitzt, ist der Verlust der Beine erträglicher als für einen Profiathleten oder ein Supermodel. Während der Bürofritze nach ausreichender Therapie „nur“ mit seinem veränderten Körper und einem veränderten Alltag zurechtkommen muss, wird beim Profiathleten und beim Supermodel der ganze Beruf infrage gestellt. Und wenn diese Personen ihren ganzen Lebenssinn in ihrem Beruf gesehen haben, verlieren sie durch den Unfall weit mehr als ihre Beine. Entweder lenken sie also ihr ganzes Leben in eine völlig neue Richtung oder sie versuchen, die Grenzen des scheinbar Möglichen zu durchbrechen, und werden zum Beispiel Behindertensportler oder inklusives Model.
Ich sage nicht, dass jede Geschichte über den Verlust von Beinen sich zwangsläufig um Profiathleten und Supermodels drehen muss, aber durch das antagonistische Phänomen sollte für Deinen Protagonisten in irgendeiner Form die Welt zusammenbrechen. So kann der Bürofritze sich vielleicht nicht daran erfreuen, dass ihm sein Beruf erhalten bleibt, weil es ihm eher darum geht, die Liebe seines Love-Interests zu gewinnen und er meint, dass der Love-Interest keinen „Krüppel“ möchte. Oder der Bürofritze ohne Beine kann sich nicht mehr so wie früher um seine Kinder kümmern, wo er mit ihnen früher doch so gern Fußball gespielt hat. Die Möglichkeiten sind endlos …
Netz von Opponenten/Antagonisten
Und wo ich schon wie selbstverständlich von Hauptantagonisten gesprochen habe … Mein verehrter John Truby bemerkt in The Anatomy of Story völlig zu Recht:
„Your moral argument will always be simplistic if you use a two-part opposition, like good versus evil. Only a web of moral oppositions […] can give the audience a sense of the moral complexity of real life.“
John Truby: The Anatomy of Story, Chapter 5: Moral Argument, Splitting the Theme into Oppositions, The Characters’ Values in Conflict.
„Ihr moralisches Argument wird immer simplistisch sein, wenn Sie eine Zweieropposition verwenden, wie zum Beispiel Gut gegen Böse. Nur ein Netz moralischer Oppositionen […] kann dem Publikum ein Gefühl der moralischen Komplexität wie im realen Leben vermitteln.“
Übersetzung von Feael Silmarien.
Das Thema der Oppositionsnetze haben wir bereits im Artikel über die Figuren-Konstellation angeschnitten und in dem Artikel über Heldengruppen an einem Beispiel umgesetzt. Speziell auf Antagonisten bezogen bleibt also noch einmal zu betonen,
dass der Protagonist durchaus mehrere Opponenten haben kann, und mehrere von diesen Opponenten können auch richtige, feindselige Antagonisten sein.
Und auch hier sind, wie immer, alle denkbaren Spielereien möglich:
- Der Protagonist könnte gegen mehrere gleichrangige Antagonisten antreten.
- Der Protagonist kann einen Hauptantagonisten und mehrere Nebenantagonisten haben.
- Der Protagonist könnte Seite an Seite mit einem Kameraden gegen die Antagonisten kämpfen, wobei er mit diesem Kameraden ebenfalls einen Konflikt hat, was jenen zu einem weiteren Opponenten macht.
- Die Geschichte kann völlig frei von Antagonisten sein oder die Antagonisten spielen nur eine sehr hintergründige Rolle, während der Hauptkonflikt sich innerhalb der Heldengruppe entfaltet.
- Und so weiter und so fort …
Und vergiss auch nicht, dass die Figuren im Verlauf der Geschichte durchaus ihre Funktion ändern können – insbesondere können Opponenten zu Verbündeten werden und Verbündete zu Opponenten. Wenn es eben das ist, was Deine Geschichte braucht. Denn letztendlich – und ich werde nicht müde, es zu betonen – hängt alles von Deiner Prämisse ab.
Wichtig ist aber vor allem, dass das Oppositionsnetz sich um das zentrale Thema herum entfaltet. Ob Antagonist, nicht-feindseliger Opponent, Verbündeter oder was auch immer:
Ein Figurengeflecht mit all seinen Oppositionen spiegelt Facetten und Spielarten des zentralen Themas. Figuren, die mit dem zentralen Thema nichts am Hut haben, haben unter den Haupt- und wichtigeren Nebenfiguren, und damit unter den Beteiligten am Hauptkonflikt, nichts zu suchen.
Aber darüber haben wir schon im Artikel über Figuren-Konstellationen gesprochen, deswegen gehen wir an dieser Stelle über zur Moral von Antagonisten.
Moral: Typologie der Opponenten
Generell ist Moral eine sehr philosophische Angelegenheit. Welche Eigenschaften der Autor seinem Protagonisten und seinem Antagonisten verpasst, hängt daher sehr stark von seiner eigenen Weltanschauung ab. Das darf man natürlich nicht zu wörtlich nehmen, denn es gibt, wie gesagt, auch amoralische Protagonisten und moralische Antagonisten, aber
dass irgendwelche Figuren bzw. ihre Eigenschaften überhaupt als mehr oder weniger moralisch dargestellt werden, sagt einiges über die philosophischen Ansichten des Autors aus.
Und zumindest heutzutage sind die philosophischen Ansichten von Menschen oft so gestrickt, dass man Moral als durchaus komplexe Angelegenheit betrachtet. Ein reines Schwarz-Weiß-Schema, klares Gut und Böse, wird meistens als platt und einfallslos empfunden. Was uns aber keinesfalls daran hindert, klassische, tiefschwarze Bösewichte zu mögen. – Wie passt das zusammen?
Zunächst möchte ich natürlich auf die Prämisse verweisen und noch einmal betonen,
dass jede Geschichte ihren höchst eigenen, individuellen Hauptopponenten erfordert.
Und wenn dieser Hauptopponent ein klassischer böser Lord sein muss, dann ist es eben so. Er kann trotzdem interessant und gut herausgearbeitet sein. Oder es kann auch sein, dass er absichtlich „platt“ ist, weil die Prämisse das so erfordert.
Weil Antagonisten so extrem individuell sind, ist es schwierig, allgemeine Richtlinien für die Herausarbeitung ihrer Moral zu formulieren. Wir können aber durchaus eine kleine Typologie aufstellen und wenigstens allgemein zu jedem Typ einige Feinheiten beleuchten. Zu beachten wäre dabei, dass
-
in einem einzigen Werk Opponenten unterschiedlicher Typen vorkommen können,
-
die Grenzen zwischen den Typen fließend sind und
-
ein Opponent seinen Typ im Verlauf der Geschichte auch ändern kann.
Alles andere würde das Modell extrem rigide machen und könnte all den vielen verschiedenen Antagonisten, denen wir in Geschichten begegnen, niemals gerecht werden.
Der Opponent/Antagonist wird nicht (wirklich) moralisch bewertet
Hier steht der Opponent moralisch nicht schlechter oder besser als der Protagonist da, sondern zwischen den beiden besteht einfach nur ein Interessenkonflikt.
Häufig sieht man das in Geschichten mit zwei Protagonisten: über zwei Freunde, ein Liebespaar, Familienmitglieder … Menschen mit unterschiedlicher Wahrnehmung, die zueinander finden müssen. Aber auch in Geschichten mit einem viel präsenteren moralischen Schwarz-Weiß kommen solche Opponenten vor:
So hat das Videospiel Fable 3 bei aller Kritik, die es einstecken musste, einen höchst interessanten Twist parat: Die Spielerfigur ist das jüngere Geschwisterchen des tyrannischen Königs und muss aus dem Palast fliehen. Während der junge Prinz bzw. die Prinzessin durch das Land reist, sieht er bzw. sie das Leiden der Bürger, hilft ihnen und sammelt Mitstreiter, um den eigenen Bruder vom Thron zu stürzen. Der Bruder wirkt also wie ein klassischer böser Lord, der Schwächere ausbeutet und gestürzt werden muss, damit das Gute triumphiert. Bloß endet das Spiel nicht mit dem Sturz des Königs und der Besteigung des Throns durch die Spielerfigur: Denn der Bruder enthüllt, dass er das Volk nur deswegen ausgequetscht hat, weil dem Land eine große Gefahr droht und er Maßnahmen finanzieren wollte, um das Volk vor der Vernichtung zu bewahren. Und jetzt, wo die Spielerfigur auf dem Thron sitzt, hat eben sie dieses Dilemma am Hals. Was ist also moralisch richtiger: dem Volk ein schönes Leben gönnen und seine Versprechen einhalten oder alle vor der Vernichtung bewahren? Oder schafft der Spieler es, beides zu erreichen und moralisch komplett makellos davonzukommen? Der Bruder hat jedenfalls kein Hintertürchen gefunden, um aus dem Dilemma auszubrechen, aber das ändert nichts daran, dass er trotzdem ehrlich und aufrichtig sein Bestes gegeben hat, um sein Reich zu retten.
Ein Opponent vom Typ „nicht (wirklich) moralisch bewertet“ mag also durchaus „böse“ bzw. gegen die Interessen des Protagonisten handeln, ist dabei aber als Person nicht „böse“ bzw. tut einfach das, was er aus seiner eigenen Sicht für richtig oder zumindest für weniger falsch hält. Dass er in Konflikt mit dem Protagonisten gerät, kann dabei viele verschiedene Ursachen haben:
- Er könnte für den Protagonisten das Beste wollen, bloß ist der Protagonist anderer Meinung, was dieses Beste sein soll.
- Es könnte sich um ein einziges großes Missverständnis handeln.
- Es könnte um eine moralisch komplexe Situation gehen, in der der Protagonist und der Opponent verschiedene Ansichten darüber haben, was das geringere Übel wäre.
- Beide könnten gleichermaßen korrupt sein und den jeweils anderen aus Machtgründen vernichten wollen.
- Es könnte einfach ein Szenario sein, in dem aus irgendwelchen Gründen nur einer von beiden überleben kann.
- Und so weiter und so fort …
Wie Dir zweifellos aufgefallen ist, haben solche Opponenten eine filigran herausgearbeitete und zumindest aus ihrer eigenen Position heraus absolut legitime Sicht der Dinge. Diese Sicht kann natürlich auch fehlerhaft sein: Man denke zum Beispiel an Fitzwilliam Darcy in Jane Austens Stolz und Vorurteil, der auch einige Dinge falsch deutet und der Familie der Protagonistin deswegen einiges Leid zufügt. Aber sein Handeln entsteht eben nicht einfach aus Bosheit.
Und gerade weil solche Opponenten eine filigrane Herausarbeitung ihrer Perspektive erfordern, gehen sie in der Regel mit einer komplexen und facettenreichen Beleuchtung des zentralen Themas einher. Verschiedene Sichtweisen treffen aufeinander, haben alle eine gewisse Existenzberechtigung und oft läuft die Lösung des Konflikts darauf hinaus, dass ein gemeinsamer Nenner gefunden werden muss. – Und wenn es ein tragisches Ende gibt, dann besteht es eben darin, dass dieser gemeinsame Nenner nicht gefunden oder nicht in die Tat umgesetzt werden kann.
Der Opponent/Antagonist hat eine komplexe Hintergrundgeschichte
Hier ist der Opponent eindeutig „böse“ oder „gut“, zumindest wird er im Text so dargestellt. Er hat jedoch eine filigran herausgearbeitete Vergangenheit, die nachvollziehbar erklärt, warum er so ist, wie er ist.
Häufig handelt es sich um sogenannte Anti-Schurken. Das klassische Beispiel sind all die Bösewichte, die durch tragische Erlebnisse zu Bösewichten geworden sind. Es ist eindeutig schrecklich, was sie tun, aber man kann sie auch verstehen und hofft in einigen Fällen, dass sie ihre Fehler einsehen und sich doch noch auf die Seite des Guten schlagen.
Und kaum eine andere Geschichte verkörpert dieses Prinzip so gut wie das Naruto-Franchise. Dort fallen fast alle Antagonisten in diese Kategorie und die größte Superkraft des Protagonisten besteht darin, durch sog. „talk no jutsu“, das Führen höchst emotionaler Gespräche während des Kampfes, seine Gegner zum Guten zu bekehren.
Das mit dem Hoffen, dass solche Antagonisten die Seiten wechseln, ist aber ganz optional. Voldemort, den Oberbösewicht der Harry-Potter-Reihe, zum Beispiel kann man sich nur schwer in einer anderen Rolle als der des dunklen Lords vorstellen. Traumatische Kindheit hin oder her, für ihn kommt scheinbar jede Hilfe zu spät.
Die Variante mit einem moralisch guten Opponenten dieser Art kommt deutlich seltener vor, aber ein Beispiel sei trotzdem genannt:
Rodion Raskolnikow, der Protagonist von Dostojewskijs Verbrechen und Strafe bzw. Schuld und Sühne, ist ein Mörder, zugleich aber durchaus ein Mensch mit Herz. Damit ist er ein Antiheld, ein moralisch sehr ambivalenter Mensch, und die meisten anderen Figuren sind ebenfalls moralisch ambivalent. Was jedoch die Existenz der regelrecht heiligen Sonja Marmeladowa nicht ausschließt. Zwar übt sie den sehr unheiligen Beruf einer Prostituierten aus, aber sie tut es nur, um ihre Familie zu versorgen, und ist zutiefst religiös. Sie stammt aus der Armut, sie lebt in Armut und opfert sich dabei auch noch für andere. Dank ihrem Glauben behält sie nach allem, was ihr widerfahren ist, eine geradezu makellos reine Seele und ist der wichtigste Einfluss, der Raskolnikow schließlich dazu bringt, sich der Polizei zu stellen und die Verantwortung für seinen Doppelmord auf sich zu nehmen.
Insgesamt lässt sich also sagen, dass Opponenten dieses Typs moralisches Schwarz-Weiß mit thematischer und/oder psychologischer Komplexität kombinieren. Ein häufiger Irrtum ist nämlich, dass Geschichten mit Tiefgang nur mit moralisch grauen Figuren möglich sind oder wenn der Autor keine eindeutigen Moralurteile durchscheinen lässt. Die Komplexität eines Werkes ist in Wirklichkeit jedoch überhaupt nicht an die Darstellung der moralischen Vorstellungen des Autors gekoppelt. Eine Geschichte kann von einem mehr oder weniger eindeutigen Gut-gegen-Böse handeln und trotzdem anspruchsvoll sein.
Der Opponent/Antagonist hat Gründe
Auch hier ist der Opponent eindeutig „böse“ oder „gut“, aber seine Motivation ist recht simpel bzw. wird nur minimal beleuchtet.
Denn nicht immer ist moralische Komplexität der Sinn der Sache. Manche Geschichten brauchen einfach nur rein funktional jemanden, der dem Protagonisten Steine in den Weg legt, mehr nicht. Ob Abenteuergeschichte oder Romanze, Märchen oder Thriller – in jedem Genre kann es sinnvoll sein, den Antagonisten nicht allzu kompliziert zu gestalten. Der Fokus liegt dann eher auf dem Überwinden der Hürden, auf den Abenteuern, den Horrorelementen, den Beziehungen zwischen den Hauptfiguren … Der Antagonist ist eher hintergründig, was eine filigran herausgearbeitete Vergangenheit unnötig oder sogar störend macht.
Damit ein solcher Antagonist nicht allzu „platt“ und langweilig wird, bekommt er aber eine simple Erklärung, warum er handelt, wie er handelt. In der Regel handelt es sich dabei um eine negative Eigenschaft: Der Antagonist ist ganz banal machthungrig, gierig, neidisch, eifersüchtig, rachedurstig … oder auch einfach nur geisteskrank oder gar ein Psychopath.
Diese Einfachheit macht solche Antagonisten aber keineswegs automatisch langweilig. So ziemlich die meisten klassischen Disney-Bösewichte fallen in diese Kategorie, und sie gehören zu den wohl charismatischsten Figuren der Popkultur. Der Grad ihrer Selbstverliebtheit ist maximal unterhaltsam, oft haben sie Marotten, die sie sogar irgendwie liebenswert machen, oder sie haben eine dermaßen böse Aura, dass man vor Ehrfurcht erschaudert.
Auch der von uns bereits zerlegte Captain Harrison Love gehört in diese Kategorie. Wie gesagt, wir erfahren nicht viel über seinen Hintergrund, aber das haben wir auch nicht nötig: Er ist Soldat, er macht seinen Job, er scheint psychopathische Tendenzen zu haben und dient korrupten Eliten. Mehr brauchen wir nicht zu wissen, um die Geschichte um Alejandros Entwicklung vom einfachen Banditen zum Beschützer der Schwachen gespannt zu verfolgen. Ein allzu komplizierter Captain Love würde vom Wesentlichen sogar eher ablenken.
Genauso verhält es sich in Geschichten, in denen der Protagonist ein Antiheld ist und der Antagonist bzw. Opponent daher der eigentliche, moralische Held: Der Antagonist macht dann einfach nur seinen Job als Ordnungshüter, ist ein selbstloser Kämpfer für Gerechtigkeit und/oder ein Idealist, der alles liebt, was kreucht und fleucht.
Und weil Dostojewskijs Verbrechen und Strafe bzw. Schuld und Sühne mit seinem mörderischen Protagonisten ein regelrechtes Biotop für interessante Opponenten aller moralischer Schattierungen darstellt, finden wir dort auch für diesen Typ ein Beispiel: Raskolnikows Hauptopponent, Porfirij Petrowitsch, ist der Ermittler, der dem Mordfall nachgeht und Raskolnikow schon sehr früh verdächtigt. Er ist zwar kein Held in strahlender Rüstung, aber er ist die juristische Antithese zu Raskolnikows Ideologie, die seinem Verbrechen zugrunde liegt, ohne dabei unmenschlich zu werden. Aus Raskolnikows Sicht wirkt er zweifellos bedrohlich, weil Porfirij extrem gut in seinem Job ist und den Protagonisten mit manipulativen Psychospielchen zermartert. Aber er hat durchaus Empathie und anscheinend auch Sympathie für Raskolnikow, auch wenn er seine Ansichten und Moralvorstellungen nicht teilt. Tatsächlich rät auch er dem Mörder, sich zu stellen, und setzt sich sogar für eine Strafmilderung ein. Dabei erfährt der Leser nie, was ihn außer seinem Beruf eigentlich bewegt. Er macht einfach seinen Job, hat einen sehr interessanten Charakter und auch ein Herz. Alles andere bleibt unbekannt und ist für die Geschichte auch nicht relevant.
Alles in allem eignen sich solche Antagonisten für Geschichten, deren Schwerpunkt auf der Entwicklung des Protagonisten, einer bestimmten Atmosphäre, reiner Action etc. liegt. Diese Einfachheit durch Fokussierung auf sehr bestimmte Schwerpunkte schließt eine facettenreiche Beleuchtung des zentralen Themas und psychologische Komplexität aber auch nicht unbedingt aus. Ähnlich wie bei den Antagonisten mit einer detaillierten Hintergrundgeschichte, scheinen hier klare Moralurteile des Autors durch, bloß geht es bei einer solchen Geschichte eben noch mehr um einen ganz bestimmten Aspekt, ein ganz konkretes Ziel, und der Opponent ist unterm Strich nur Mittel zum Zweck. Wobei der Zweck aber überall zwischen primitiv-unterhaltsam und hochkomplex angesiedelt sein kann.
Der Opponent/Antagonist ist böse, weil Keks
Hier ist der Opponent ebenfalls eindeutig „böse“ (oder eben „gut“), allerdings ohne jede Erklärung. Er legt dem Protagonisten Steine in den Weg und fertig. Punkt.
Er ist also nicht einmal ein Psychopath oder ein Heiliger. Denn das wären schon Erklärungen für seine Handlungen. Er tut, was er tut, einfach weil er es tut. Weil der Autor meint, einen Antagonisten zu brauchen, sich aber nicht die Mühe gemacht hat, ihn sinnvoll in die Geschichte zu integrieren. Und weil eine Motivation fehlt, fehlt meistens auch die Anbindung an das zentrale Thema der Geschichte, und deswegen fühlen sich solche Antagonisten oft überflüssig oder zumindest langweilig an. Auf jeden Fall aber „platt“.
Ich würde mich also so weit aus dem Fenster lehnen, dass ich meine:
In 99,9 Prozent aller Fälle deuten solche Antagonisten auf schreibhandwerkliche Defizite hin.
Häufig stehen Kindergeschichten im Verdacht, mit solchen Antagonisten zu operieren, aber ich möchte an dieser Stelle daran erinnern, dass die besten Disney-Antagonisten, die ja nicht umsonst geradezu ein Gütesiegel sind, durchaus ein Motiv haben, wenn auch ein sehr einfaches. Um den Unterschied zu verdeutlichen, können wir zwei Klassiker der Disney-Renaissance vergleichen:
Im Artikel über Charakter-Arcs haben wir ja bereits die Charakterstruktur in Die Schöne und das Biest zerlegt. Das zentrale Thema ist innere Schönheit und der darauf angepasste Antagonist ist Gaston, der äußerlich zwar schön, innerlich aber abgrundtief hässlich ist. Der Sieg über Gaston ist somit der Triumph der wahren, inneren Schönheit über die hohle, äußere Schönheit. Gastons Motivation ist dabei sehr simpel: Er ist ein Narzisst und als er nicht bekommt, was er will, versucht er, es sich mit Gewalt zu holen. Es gibt keine komplexe Hintergrundgeschichte, sondern nur einen zentralen Charaktermangel, der für die Zwecke der Gesamtgeschichte aber perfekt ist.
Mein Gegenbeispiel, um den Typ „weil Keks“ zu illustrieren, stammt ironischerweise aus einem meiner persönlichen Lieblingsfilme: Mulan. Hier bleibt es nämlich den ganzen Film über schleierhaft, warum die Hunnen unter der Führung von Shan Yu China angreifen: Sie brechen einfach über das Land herein wie eine Naturkatastrophe. Nur, dass sie eben keine Naturkatastrophe sind, sondern Menschen, die töten und vernichten, einfach weil Keks. An einer einzigen Stelle gibt Shan Yu freilich eine sehr kryptische Erklärung: „[Der Kaiser] hat diese Mauer [die Chinesische Mauer] gebaut und mich herausgefordert! Ich möchte diese Herausforderung annehmen.“ Aber wer ist daraus schlau geworden? Machtgier oder Psychopathie sind Motive, die ein normaler Mensch durchaus nachvollziehen kann. Zumindest wissen die meisten Menschen, dass es so etwas gibt. Aber dass jemand sich von der bloßen Existenz einer großen Mauer getriggert fühlt und dann auch noch eine gigantische Armee von Gleichgesinnten zusammentrommeln kann – das wirkt dann doch etwas zu weit hergeholt.
Deswegen lässt Shan Yu einen stutzend zurück, und zwar stutzend, verwirrt im negativen Sinne: Es bleiben Fragen offen, die nicht offen bleiben sollten. Dabei wäre es, zumindest meiner Einschätzung nach, so einfach gewesen, dieses Problem zu umgehen: Denn wenn es in Mulan primär um Identität und Anerkennung geht und die Protagonistin sich auf natürliche Weise beweist, durch harte Arbeit sowie das Entdecken ihrer wahren Stärken und ihres authentischen Ichs, könnte Shan Yu jemand sein, der ein bestimmtes Bild von sich gewaltsam erzwingen und beispielsweise zum größten Feldherrn der Welt aufsteigen will, indem er das Reich der Mitte bezwingt. Sein Heer würde ihm dann aus Begeisterung über sein Charisma als eben potentiell größter Feldherr der Welt folgen. Und für diese Änderung müsste man die Geschichte nicht einmal großartig ändern, nur hier und da ein paar Dialoge. – Tatsächlich glaube ich sogar, dass Shan Yu ursprünglich in etwa so konzipiert wurde, bloß kommt das in dem Film selbst nicht ganz rüber.
Nun ist Shan Yu aber der zentrale Antagonist in Mulan und ist deswegen zwar „platt“, aber nicht überflüssig, weil es ohne ihn die ganze Geschichte nicht gäbe. Wenn ein Opponent dieses Schlags jedoch nicht einmal in den Hauptkonflikt involviert ist, dann ist er sehr schnell ein Kandidat für inhaltliche Kürzungen:
Ein anderes Lieblingswerk von mir ist der Film Shopaholic – Die Schnäppchenjägerin. Es handelt sich um leichte Unterhaltung mit einer charismatischen Protagonistin namens Rebecca Bloomwood, die an Shoppingsucht leidet, extreme Schulden hat und sich deswegen in einem Berg abstruser Lügen vergräbt. Der Hauptantagonist ist der Schuldeneintreiber Derek Smeath, der einfach nur äußerst beharrlich seinem Job nachgeht und das Leben der Protagonistin zur Hölle macht. Er ist also ein klassischer Antagonist vom Typ „hat Gründe“ und funktioniert als solcher sehr gut: ein unnachgiebiger, geradezu herzloser Terminator von einem Langweiler, der sich in den Fall der bunten und fantasiebegabten Becky verbissen hat und sie auf ihrer Flucht vor ihm in immer absurdere Lügen treibt, bis das ganze Lügenkonstrukt über ihrem Kopf zusammenbricht und sie all ihre Freunde verliert. Im Kontrast dazu wirft die Existenz von Alicia Billington, einer typischen Schicki-Micki-Bitch von nebenan, nur eine Reihe von Fragen auf: Sie schnappt Becky ihren Traumjob weg, behandelt sie herablassend, und zwar noch bevor sie Grund hat, in Becky eine Konkurrentin zu sehen, sie intrigiert gegen sie und versucht, ihr ihren Freund auszuspannen – nur wozu? In den Büchern gibt es offenbar eine Erklärung, aber im Film kann man nur vermuten, dass sie und Becky möglicherweise eine Vorgeschichte haben. Erklärt wird nichts, und Alicia hat mit dem Hauptkonflikt auch nichts zu tun, außer dass sie Derek Smeath einmal einen Tipp gibt. Im Großen und Ganzen soll sie wohl eine Kontrastfigur zu Becky sein, kann im Grunde aber recht unkompliziert gestrichen werden, ohne dass die Geschichte darunter leidet.
Ich will nicht grundsätzlich ausschließen, dass es auch gut gemachte Antagonisten vom Typ „weil Keks“ geben könnte, aber die wenigen Beispiele, die mir einfallen, sind humoristischer Art:
Allem voran wäre da Fiesoduck aus der Zeichentrickserie Darkwing Duck. Er ist Darkwings böser Doppelgänger und während Darkwing aus Spaß an der Freude ein Superheld ist, ist Fiesoduck ein Superschurke aus Spaß an der Freude. Das Stiften von Chaos ist für ihn ein Selbstzweck. Er tut es, weil Keks. Einfach, weil er Zerstörung mag. Weil alles, was irgendwie negative Assoziationen weckt, ihm ehrliche, kindliche Freude bereitet: Waffen, Skelette, Vandalismus … In der Serie gibt es mehrere Versionen seiner Hintergrundgeschichte, aber es bleibt schleierhaft, ob auch nur eine davon ernst zu nehmen ist. Fiesheit ist eben seine ganze Identität, und dabei ist er – im Gegensatz zum Joker, dem Gegenspieler von Batman, – nicht einmal ein Psychopath oder irgendwie verrückt, zumindest nicht nach den Begrifflichkeiten des Darkwing-Duck-Universums. Als er in einer Folge die Verrücktheit eines anderen Superschurken absorbiert, steht diese ihm sogar im Weg. In einzelnen Folgen wird er freilich durchaus von Geld, Macht oder dem Ehrgeiz, im Superschurken-Ranking auf dem ersten Platz zu stehen, motiviert, aber wirklich konstant ist nur seine Liebe zum Chaos. Es ist einfach seine Art, Lebensfreude zu empfinden. Und gerade das macht ihn so amüsant und regelrecht knuffig.
Ansonsten sollte es sich von alleine verstehen, dass auch moralisch gute Antagonisten ohne auch nur den Hauch einer Motivation „platt“ wirken, auch wenn sie eher selten vorkommen. Wir merken uns also:
Eine Mindestvoraussetzung, damit Dein Antagonist nicht „platt“ wirkt, ist die Existenz einer Motivation.
Das heißt nicht, dass ein Antagonist mit Motivation automatisch gut ist: Er muss auch zur Gesamtgeschichte, zum zentralen Thema und vor allem zum Protagonisten passen. Aber wenn unklar ist, warum Dein Antagonist tut, was er tut, hast Du von Anfang an verloren. – Es sei denn, Du bekommst irgendwie einen Ausnahmefall hin. Aber generell, würde ich sagen, funktionieren solche Antagonisten nur, wenn Du bewusst auf unmotivierte Absurditäten aus bist.
Der Opponent/Antagonist ist das abstrakte Böse
Hier geht es nicht so sehr um eine konkrete Person, sondern vielmehr um das Böse (oder Gute) an sich, das moralische Prinzip in seiner Essenz.
Man könnte das als Spielart von Phänomen-als-Opponent sehen, bloß geht es uns hier ja um die moralische Dimension und während eine Krankheit zum Beispiel an sich weder gut noch böse ist, sondern einfach objektiv existiert, fällt das Phänomen des Bösen als Idee durchaus in den Rahmen des Konzepts von einer moralischen Dualität.
Manchmal – nicht immer – enthalten solche Geschichten in Bezug auf Gut und Böse ein philosophisches Konzept. Es werden nicht einfach bestimmte Eigenschaften und Verhaltensweisen als gut und andere als böse abgestempelt, sondern es wird ein regelrecht technisches Prinzip dargelegt.
Eins der prominentesten Beispiele wäre hier Der Herr der Ringe von J. R. R. Tolkien. Auch wenn Sauron auf den ersten Blick wie der typische böse Overlord vom Typ „weil Keks“ wirkt, offenbart ein Blick auf die Natur des Bösen bei Tolkien und die Art und Weise, wie es besiegt wird, ein zutiefst philosophisches Konzept. Denn obwohl viele den Ringkrieg auf einen banalen Kampf der Guten gegen die Bösen reduzieren, sind es bei Tolkien nicht die Guten, die Sauron besiegen, sondern das Böse zerstört sich selbst, während die Leistung der Guten hauptsächlich darin besteht, dem Bösen in sich zu widerstehen.
Dem größeren Kontext des Legendariums können wir entnehmen, dass das Böse hauptsächlich der Wunsch ist, Gott zu spielen. Der eine Schöpfergott, Eru Ilúvatar, erschuf nämlich zuerst die Ainur, Engel, wenn man so will, die daraufhin unter Ilúvatars Direktion die Welt gestalteten. Bloß wollte Melkor, der mächtigste von ihnen, selbst gerne Schöpfergott spielen und begann, die göttliche Schöpfung zu zerstören und zu verunstalten – denn etwas wirklich Eigenes erschaffen kann nur Ilúvatar bzw. man kann es nur unter seiner Anleitung tun. Das Böse ist bei Tolkien also nicht einfach nur böse, sondern es ist böse, weil es aus der göttlichen Ordnung ausbricht und die göttliche Schöpfung pervertiert. Konkret äußert sich das in der Zerstörung der Natur, der Entstellung von Lebewesen zu Monstern und der gewaltsamen Unterdrückung der Freien Völker, damit sie die pervertierte, künstliche Schöpfung akzeptieren.
Dieser größere Kontext wird im Herrn der Ringe nicht haarklein erklärt, aber er kommt durchaus rüber, wenn wir uns die Natur des Bösen darin anschauen: Die Orks sind eine pervertierte Lebensform, die Menschen, die auf Saurons Seite kämpfen, sind Opfer einer Lüge, also einer Perversion bzw. Verdrehung, und zahlreiche Figuren wie Saruman, Gríma Schlangenzunge, Denethor, Isildur, Boromir und Gollum, die eigentlich auf der Seite der Guten sein sollten, werden vom Bösen korrumpiert, verunstaltet oder zumindest manipuliert. Nicht zuletzt ist auch Sauron selbst in erster Linie ein von Melkor korrumpierter Ainu bzw. „Engel“. Die Besten unter den Guten dagegen – seien es Gandalf, Galadriel, Aragorn, Sam oder Frodo – zeichnen sich dadurch aus, dass sie den Impulsen, den Einen Ring an sich zu reißen und damit auf ihre eigene Weise Gott zu spielen, widerstehen. Und es ist auch nicht das Heer der Guten, das bei der finalen Schlacht vor dem Schwarzen Tor den großen Sieg erringt, sondern Frodos und vorher noch Bilbos Güte: Die beiden haben Gollum verschont und Frodo hat sogar die letzten Überreste des Guten in ihm hervorgebracht, sodass es überhaupt erst möglich wurde, den Einen Ring zum Schilcksalsberg zu bringen. Zwar hat Gollum Frodo später betrogen, allerdings hat auch das zur Rettung der Welt beigetragen: Letztendlich ist Frodo ja doch eingeknickt, hat im entscheidenden Moment dem Bösen nachgegeben, und nur das andere Böse, das in eben diesem Moment in Form von Gollum aufgetaucht ist, Frodo den Finger mit dem Einen Ring abgebissen hat und anschließend aus überschwänglicher Freude heraus mit dem Ring ins Lava gestürzt ist, hat die Welt gerettet. Im Grunde bestand Frodos entscheidender Beitrag also darin, dem Bösen so lange zu widerstehen, bis dieses Böse am richtigen Punkt war, um sich selbst zu vernichten. Somit siegt das Gute über das Böse bei Tolkien nicht militärisch, sondern vor allem durch Aufrechterhaltung der inneren Moral.
Das philosophische Konzept dahinter könnte man also folgendermaßen zusammenfassen: Das Böse ist die Korruption des Guten und man besiegt es, indem man seiner eigenen inneren Korruption widersteht. – Etwas, das Tolkien von seinen zahlreichen Nachahmern unterscheidet, die durch viel zu buchstäbliches Verständnis seines Werks nur oberflächliche Kopien produzieren.
Doch nicht nur in Fantasy haben wir es mit dem Bösen als Prinzip zu tun und nicht immer taucht es in Gestalt eines dunklen Lords auf:
Wenn wir schon Dostojewski angesprochen haben, so handelt Verbrechen und Strafe bzw. Schuld und Sühne im Grunde vom Kampf zwischen Gut und Böse innerhalb der menschlichen Seele des Protagonisten. Das Böse sind dabei sein Ego und die ideologischen Konstrukte in seinem Kopf, die ihn überhaupt erst dazu bringen, den Mord zu begehen: Er geht davon aus, dass es eine Art Übermenschen gibt, die über der Moral stehen, und maßt sich an, darüber urteilen zu können, wer leben darf und wer nicht. – Bzw. er will zumindest austesten, ob er ein solcher Übermensch ist. Das Gute ist sein Gewissen, seine moralisch leidende Seele, die auch körperliche Krankheitssymptome verursacht. Als Raskolnikow sich schließlich der Polizei stellt, macht er den ersten entscheidenden Schritt zur Besserung. Auch wenn er noch einen seeehr langen Weg vor sich hat.
Noch klarer tritt das abstrakte Böse bei Dostojewski in Die Dämonen bzw. Die Teufel bzw. Die Besessenen bzw. Böse Geister hervor. Das zeigt allein schon der Titel bzw. die zahlreichen Übersetzungen des Titels. In diesem Roman widmet sich Dostojewski den revolutionären Bewegungen im Russland des 19. Jahrhunderts, einer Klientel, zu der er in seinen Jugendjahren selbst gehört hatte und die er dementsprechend sehr gut kannte und die er in seinem Roman in recht negativem Licht darstellt. Die Angehörigen der revolutionären Gruppierung und ihre Verbündeten sind dabei nicht per se böse Menschen, sondern eher eine Ansammlung von Losern: Fanatikern, naiven Idealisten, Nihilisten, Mitläufern … Sie alle werden von einem noch größeren, egomanischeren und skrupelloseren Loser manipuliert, haben – ähnlich wie Raskolnikow – einen egobedingten Geltungsdrang, der sie überhaupt erst so korrumpierbar macht, und wollen zerstören, um auf den Ruinen des Alten eine neue Ordnung zu erschaffen. – Dass es an Tolkiens Philosophie erinnert, ist dabei nicht verwunderlich: Tolkien war ein gläubiger Katholik und Dostojewski war russisch orthodox, aber unterm Strich waren sie beide zutiefst konservative Christen.
Eine Besonderheit von Dostojewskis Dämonen ist jedoch, dass das abstrakte Böse, je nach Interpretation, durchaus auch eine physische Gestalt bekommt, nämlich in der Figur des Nikolai Stawrogin. Er ist ein teuflisch gutaussehender, intelligenter, gebildeter, talentierter, reicher, aristokratischer und charismatischer junger Mensch, der jedoch jahrelang ein absolut amoralisches Leben geführt hat. Er ist nur teilweise mit der revolutionären Gruppierung verbunden, obwohl er sie inspiriert hat und vom Oberloser fanatisch, geradezu religiös, verehrt wird. Im Gegensatz zu den Losern und Fanatikern hängt Stawrogin auch keiner Ideologie an, sondern sein Problem besteht eher darin, dass er seelisch komplett leer ist, an nichts wirklich glaubt und anscheinend auch kein richtiges Gefühl für Gut und Böse hat. Er ist sehr gut darin, anderen Menschen – aus einer Art seelischem Vampirismus heraus – allerlei Gedanken in den Kopf zu setzen, bekehrt zum Beispiel den Einen zum Glauben und den Anderen zum Atheismus, und er ergötzt sich an peinlichen und gar verbrecherischen Handlungen. Stawrogins seelische Leere und die daraus resultierenden Spielereien mit den Seelen anderer Menschen stellen das Böse somit als eine Art parasitäres Phänomen dar, das auf Kosten anderer existiert und sich von ihnen ernährt. Es ist eine Maske ohne eigene Überzeugungen und ohne eigene Lebenskraft. Und es zerstört sich selbst, als es kurz davor steht, sich durch Buße zu läutern, letztendlich aber doch Selbstmord begeht.
Interessant ist, dass Stawrogin, obwohl er ein Mensch ist und rein theoretisch die Option einer Heilung durch Buße hat, durchaus an klassische Teufelsfiguren erinnert. Zwar begeben wir uns hier wieder in den Bereich des Phantastischen, aber das Magisch-Teuflische nimmt eben nicht immer die Gestalt eines dunklen Lords mit einer Armee ganz in Schwarz an:
Wie gesagt, die klassischen Teufelsfiguren in mittelalterlichen Sagen und Legenden wären da ein Beispiel. Oder die Figur des Mephistopheles im Fauststoff. Eine moderne Inkarnation dieser Gestalt ist Gaunter O’Dimm in Hearts of Stone, einer Erweiterung des Videospiels The Witcher 3: Wild Hunt. Manchmal extravagant und manchmal eher unscheinbar, bewegen sich diese Teufelsfiguren durch die Welt der Sterblichen und erfüllen Wünsche, stürzen die Wünschenden und oft auch ihre Angehörigen aber gleichzeitig ins Verderben. Sie nutzen die Schwächen ihrer Opfer, um sie in einen Vertrag zu locken, bei dem sie ihre Seele verkaufen. Sie spielen mit Schicksalen, manipulieren und verführen. Somit haben wir auch hier ein Böse, das korrumpiert und parasitiert. Und meistens kann man ihm nur innerlich widerstehen, sich nicht von der Erfüllung seiner Wünsche verführen lassen. Manche versuchen zwar, diese Teufelsfiguren auszutricksen, aber nur den Wenigsten gelingt das. Die meisten bezahlen mit ihrer Seele und den Leben ihrer Liebsten.
Eine solche philosophische Dimension hat das abstrakte Böse aber, wie gesagt, nicht immer. Man nehme zum Beispiel das abstrakte Böse in all den Tolkien-Nachahmungswerken, in denen das Böse einfach nur abstrakt böse ist, den Guten Leid zufügt und deswegen bekämpft wird. Das ist im Grunde etwas wie: das abstrakte Böse, weil Keks. Es hat keine besondere Natur, außer dass es halt abstrakt böse ist, ohne dass das Böse irgendwie definiert wird. Es läuft einfach hässlich und in schwarzer Rüstung durch die Gegend und richtet Schaden an. Punkt.
Doch nicht jede Spielart des abstrakten Bösen ohne philosophische Grundlage zeugt von niedriger schriftstellerischer Qualität:
Die chinesische Serie Eternal Love of Dream ist in erster Linie eine Fantasy-Liebesgeschichte zwischen zwei unsterblichen Gottheiten. Das Böse in Form der Dämonenkönigin Miao Luo spielt nur im Hintergrund eine Rolle: Den Großteil der Geschichte über ist sie magisch versiegelt, versucht auszubrechen und schafft für die beiden Protagonisten Hürden, aber im Vordergrund steht dennoch die Liebesgeschichte. Nur ganz am Ende muss sich das zentrale Liebespaar Miao Luo stellen, die ihre Ketten abgeworfen hat und die Welt zerstören will. Dabei ist sie dermaßen böse, „weil Keks“, dass es schwer ist, sie als Person zu sehen. Und genau hier kommt der Clou: Sie ist buchstäblich ein Bündel dunkler Energie, personifizierte Zerstörungsgewalt. Das ist es, was sie beispielsweise von Shan Yu unterscheidet: Sie ist eben tatsächlich kein Mensch, keine richtige Person. – Ganz im Gegensatz zu ihren dämonischen Untertanen, von denen die meisten nicht gerade scharf auf ihre Rückkehr sind und als Erste unter ihr zu leiden haben, als sie ausbricht. Alles in allem ist das Böse in Eternal Love of Dream eine abstrakte Energie, die nicht näher präzisiert wird und es auch nicht braucht, weil es in der Geschichte um etwas völlig anderes geht: Der zentrale Konflikt dreht sich um das Liebespaar, nicht um Miao Luo. Zumal es wirklich schon eine personifizierte magische Naturkatastrophe braucht, um für die mächtigste Gottheit des Universums, den hoffnungslos überpowerten männlichen Teil des Liebespaars, eine ernstzunehmende Gefahr darzustellen und somit gerade im Finale Spannung zu erzeugen: Kriegen die Liebenden sich und überleben sie überhaupt?
Was das abstrakte Gute angeht, so gilt alles, was wir über das abstrakte Böse gesagt haben, nur umgekehrt:
Abgesehen von der Bibel und den heiligen Schriften anderer Religionen, finden wir es zum Beispiel in der Figur des Löwen Aslan in den Chroniken von Narnia von C. S. Lewis oder auch, wenn wir schon so ausführlich über Dostojewski gesprochen haben, in Fürst Myschkin im Roman Der Idiot. Während Aslan eine buchstäbliche Jesus-Allegorie darstellt, ist Myschkin ein zutiefst reiner Mensch, der selbst mit den schlimmsten Menschen, auch mit denen, die ihn aufgrund von seiner Naivität verachten, mitfühlt, der ihre persönlichen Probleme durchschaut und das Leid, das sie vor allem sich selbst zufügen, und deswegen am Ende den Verstand verliert. Ein abstrakteres Beispiel für das abstrakte Gute wäre die Liebe in Harry Potter, denn es ist unterm Strich die Macht, die Voldemort, das Böse, das aus Liebesmangel so böse wurde, zu Fall bringt: die Mutterliebe von Lily Potter und Narcissa Malfoy, Snapes Liebe zu Lily, Harrys Liebe zu seinen Mitstreitern, Liebe in Form von Freundschaft etc.
Wie Dir aber sicherlich aufgefallen ist, sind das alles keine Beispiele für das abstrakte Gute als Antagonist oder zumindest Opponent. Vielleicht bin ich ja auch einfach nur doof, aber mir fallen tatsächlich keine Beispiele für Geschichten ein, in denen der Protagonist in Opposition zur bloßen Idee des Guten steht. Da wäre höchstens der bereits erwähnte Stawrogin in Dostojewskis Dämonen, der während der Ereignisse des Romans innerlich zerrissen ist, weil er eben an nichts glaubt, an etwas glauben will, es aber nicht kann. Allerdings werden seine Schwächen vom abstrakten Guten nicht aktiv angegriffen, sondern er verzweifelt an ihnen selbst und zerstört sich dementsprechend auch selbst. Das abstrakte Gute existiert einfach.
Figuren wie Stawrogin sind aber extrem selten, sodass ich einen unausgesprochenen zwischenmenschlichen Konsens vermute:
Das abstrakte Gute ist niemals feindselig oder anderweitig in Opposition zu einem.
Sonst wäre es ja nicht das abstrakte Gute. Und Figuren, die sich gegen das wenden, was gemeinhin als Gut angesehen wird, wenden sich dementsprechend auch nicht wirklich gegen die Idee des Guten, sondern sie haben höchstens verdrehte Vorstellungen davon, was gut und erstrebenswert ist. Denn letztendlich werden Geschichten von Menschen erschaffen und Menschen werden von Dingen motiviert, die sie als irgendwie positiv empfinden. Ich meine, selbst Fiesoduck hasst zwar Blumen und Niedlichkeit, aber dafür liebt er ja Skelette und Waffen, empfindet sie also als etwas Positives. Daher scheint eine Ablehnung und eben nicht etwa bloß eine Perversion des Guten nicht ganz mit der menschlichen Natur vereinbar zu sein. Aber wenn Du Beispiele kennst, in denen der Protagonist in Opposition zur bloßen Idee des Guten steht, schreib mir gerne in die Kommentare!
Was sind überhaupt Gut und Böse?
So unterschiedlich die Darstellung des Bösen aber auch ausfallen mag, stellt sich immer noch die schwierige philosophische Frage, was Gut und Böse überhaupt sind. Und ich habe keinerlei Anspruch, sie erschöpfend zu beantworten. Denn die Diskussionen dazu laufen schon seit Jahrtausenden und es besteht noch immer keine Einigkeit.
Was ich aber durchaus kann, ist, einige Punkte anzusprechen, die ich für uns Autoren als besonders wichtig erachte. Allem voran möchte ich noch einmal betonen:
Was Du in Deinem Werk als moralisch oder amoralisch darstellst, hängt allein von dem Weltbild bzw. der Philosophie ab, die Du vermitteln willst und vielleicht sogar auch persönlich vertrittst.
Das macht das Weltbild bzw. die Philosophie nicht automatisch korrekt und auch wenn so manche Literaturwissenschaftler mir jetzt an die Gurgel springen werden: Es sagt vor allem über Dich selbst etwas aus. Denn was Du für gut und richtig bzw. für falsch und böse hältst, ist in der Regel das Ergebnis Deiner Lebenserfahrung, Erziehung, Kultur … und allein schon der moralische Dualismus von Gut und Böse an sich ist ein kulturell sehr eingeschränktes Konstrukt. Es gibt zwar viele Menschen, die an die Existenz universeller Werte glauben, aber als Mensch mit Migrationshintergrund und bikultureller Prägung möchte ich da eins loswerden:
Kulturelle Unterschiede
Als ich mit siebeneinhalb Jahren ganz frisch in Deutschland war und auf eine deutsche Grundschule ging, hatte ich ratzfatz das Gefühl, der einzige zivilisierte Mensch unter wilden Affen zu sein, die in den Bäumen sitzen, mit Stöcken wedeln und „Uga-uga!“ schreien. Oder um es konkreter zu formulieren und alles Negative, was ich über die Einheimischen jemals gedacht habe, überspitzt in Worte zu fassen:
„Deutsche sind seelisch, emotional, kulturell und gesellschaftlich unterentwickelte, aber dennoch selbstherrliche Arroganzbeutel mit sehr schlechter Allgemeinbildung. Darüber hinaus sind sie nicht zu Liebe oder Freundschaft fähig, weil ihr Denken, Handeln und Fühlen sich nur um ihre egoistischen und meistens sehr materiellen Interessen dreht. Insgesamt sind es asoziale Wilde mit Hightech, das im internationalen Vergleich inzwischen aber auch schon veraltet ist.“
Wie gesagt, das ist überspitzt und spiegelt auch nicht das volle Spektrum meiner Gefühle gegenüber Deutschen wider, denn ich habe die deutsche Seele mit den Jahren dann doch etwas besser kennen und schätzen gelernt. Außerdem sind solche rassistischen Gedanken auch völlig normal, wenn man einen Kulturschock erleidet: Etwas, das einem heilig ist, wird von einer anderen Kultur völlig anders gehandhabt und die erste natürliche Reaktion darauf ist Ablehnung und moralische Verurteilung. Und auch wenn ich meine Kulturschocks mit der Zeit überwunden zu haben glaube, bin ich häufig am Lachen, Nicken und Zustimmen, wenn „frischere“ Migranten über Deutsche herziehen: Ich stimme ihnen zwar nicht komplett zu, aber ich verstehe sehr gut, wo sie herkommen.
Nun haben Menschen mit Migrationshintergrund oft aber keine Wahl, als sich an die herrschende Kultur anzupassen. Und das ist richtig so – sage ich als Mensch mit Migrationshintergrund. Wer sich mit der Kultur des Landes, in das er gekommen ist, nicht anfreunden kann oder will, muss sich halt ein anderes Land suchen. Problematisch finde ich aber auch, wenn Einheimische Fremde ins Land lassen, ohne diese Leute überhaupt kennenzulernen und sich auf interkulturelle Probleme gefasst zu machen. Denn selbst wenn das nicht in gegenseitigen Rassismus ausartet und die Migranten sich an die Leitkultur anpassen, haben wir immer noch ein Ungleichgewicht von Menschen mit Migrationshintergrund, die in mehreren Paradigmen und moralischen Wertesystemen denken können, und Einheimischen, die an den Machthebeln sitzen, aber nicht merken, wie eingeschränkt ihr Horizont ist und dass ihre negativen Urteile über andere Kulturen eher von Unverständnis herrühren, was wiederum zu Diskriminierung und Frust seitens der Migranten führt.
Was ich also sagen will, ist:
Du hast jedes Recht der Welt, Deine Vorstellungen von Gut und Böse und von Richtig und Falsch zu haben. – Um Himmels Willen, ohne irgendeine Art von Glauben endest Du womöglich sogar wie Stawrogin! Aber ich möchte davor warnen, die eigenen Werte für universell zu erklären. Denn das ist ein direkter Weg zu Hass und Rassismus, und das auch dann, wenn Du Dich selbst für einen Antirassisten hältst. Tatsächlich würde ich, ausgehend von meiner persönlichen Erfahrung, sogar sagen, dass selbsterklärte Antirassisten oft die schlimmsten Rassisten sind. – Eben weil sie an vermeintliche universelle Werte glauben und dann entsetzt sind, wenn andere ihre moralischen Vorstellungen nicht teilen.
In diesem Sinne:
Leben und leben lassen! – Und notfalls friedlich verhandeln und die Werte des Gegenüber zu verstehen versuchen.
Empathie und Psychopathie
Andere gehen bei ihrer Definition von Gut und Böse aber auch die Route, das Ganze von der Empathiefähigkeit eines Menschen abhängig zu machen. Das ultimative Böse sind demnach Psychopathen und Narzissten. Das Böse wird somit in den Bereich psychischer Störungen ausgelagert. Warum das jedoch gefährlich ist, haben wir im zweiten Teil meiner Trilogie über kritisches Denken auseinandergenommen. Denn die Geschichte zeigt,
dass die schlimmsten Verbrechen nicht von Psychopathen begangen oder zumindest zugelassen werden, sondern von gewöhnlichen Menschen wie Du und ich.
Umgekehrt führt Empathie auch nicht zwangsläufig zu guten Handlungen. Denn den abfälligen Begriff „Gutmensch“ gibt es nicht umsonst:
Ein Gutmensch ist nämlich kein guter Mensch, sondern einer, der es zwar sein will, dabei aber mehr Schaden als Nutzen anrichtet.
Sehr empfehlenswert finde ich hier das Video von Selfless by Hyram mit dem Titel: I Was a Humanitarian… and I Regret It. Eine Geschichte, die er erzählt, ist dabei sehr beispielhaft:
Er freundete sich mit zwei Jungen an und als er herausfand, wie arm sie sind, wollte er ihnen seine eigenen Kleider spenden. Doch als er diese Kleider der Mutter der Jungs übergab und ihren Blick sah, begriff er, dass er sie öffentlich demütigte, indem er in Anwesenheit ihrer Freunde suggerierte, dass sie offenbar nicht fähig war, ihre Kinder angemessen zu versorgen.
Ein anderes Beispiel von toxischem Gutmenschentum ist das Füttern von Straßenkatzen, ohne sie zu kastrieren:
Ja, das Leben auf der Straße ist hart und selbst wenn sich für jede Straßenkatze ein Zuhause finden ließe, will nicht jede Straßenkatze bei Menschen wohnen. Katzen haben allerdings die Eigenart, dass sie sich wie Karnickel vermehren, was sehr schnell zu einer Überbevölkerung führt. Und darunter leiden nicht nur die Katzen selbst, weil es immer weniger Futter gibt, sondern auch andere Tierarten, besonders Vögel und Nager, weil ihre Überlebenschancen bei so vielen Jägern drastisch schwinden. Vor allem in Ländern wie Australien ist das ein Problem, weil Katzen beim Jagen keinen Unterschied machen zwischen gewöhnlichen 0815-Mäusen und vom Aussterben bedrohten Tierarten.
Also kurzum:
Was sich für einen empathischen Menschen kurzfristig als gut und richtig anfühlt, kann langfristig verheerende Konsequenzen haben und sich somit als „böse“ entpuppen.
Behalte das also im Auge, wenn Du in Deinen Geschichten Werte vermittelst! Denn was in einer konkreten Situation wirklich gut und richtig ist, weiß man oft nur, wenn man kritisch hinterfragt.
Theorie und Praxis
Ein weiterer Punkt, der mir beim Thema Gut und Böse in Geschichten besonders auffällt, ist die Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis. Du kennst es sicherlich:
Die Protagonistin Lieschen wird vom Erzähler und den anderen Figuren als ach so freundlich, rücksichtsvoll und empathisch gehypt, aber als sie im Café sitzt, macht sie sich über den Kellner lustig, ohne dass er ihr irgendetwas getan hat. Und im weiteren Text findet sich nichts, was darauf hinweisen könnte, dass diese Heuchelei bewusst eingebaut wurde.
Tatsächlich sind Gut und Böse in vielen Geschichten entgegen der Charakterisierung im Erzähltext sehr subjektiv bzw. durch die Perspektive bedingt: Der Erzähler (und oft auch der Autor) sympathisiert klar mit dem Protagonisten und seinen Verbündeten und beschreibt sie mit lauter positiven und moralischen Adjektiven, während der Antagonist und seine Mitstreiter in negativem Licht dastehen. Aber wenn man die Bewertungen im Text weglässt und nüchtern und unparteiisch die Taten der einen und der anderen Seite anschaut, sind sie gar nicht so unterschiedlich.
Bei allen Qualitäten, die die Harry-Potter-Reihe durchaus hat und von denen wir lernen können, machen manche Dinge darin doch sehr stutzig: Einerseits ist es böööse, böööse, böööse, wenn dunkle Zauberer und ihre Sympathisanten Muggelgeborene diskriminieren, aber wenn die Erzählung durch Harrys Prisma zahlreiche Vorurteile gegen Übergewichtige und generell gegen Menschen, die nicht seinem optischen Geschmack entsprechen, durchblitzen lässt, ist das offenbar in Ordnung. – Davon, dass Harry und seine Mitstreiter gegenüber Voldemort ein bereits sehr gruseliges System verteidigen mit einem Ministerium, dessen Macht nicht von anderen Instanzen kontrolliert wird, das nichtmenschliche intelligente Lebewesen wie Elfen und Kobolde diskriminiert, von Foltergefängnissen Gebrauch macht und rassistische Verbrecher rehabilitiert und auf Machtpositionen setzt, mal abgesehen. Und ja, ich weiß, das Ministerium wird durchaus kritisch beleuchtet, aber das Treiben des Ordens des Phönix, der eindeutig „Guten“, ist nicht darauf ausgerichtet, der Zaubererwelt eine Alternative anzubieten. Sein Ziel ist eher das Wiederherstellen des alten Status quo, bloß mit besserem Personal – bzw. mit Leuten, die die Ordensmitglieder als besser erachten. Womit wir wieder bei den subjektiven Sympathien wären.
Ich sage nicht, dass es grundsätzlich falsch ist, mit der subjektiven Moral der Figuren zu operieren, aber ich denke, man sollte sich dessen bewusst sein, dass man das tut.
Zum Beispiel wurde der Film 1917 dafür kritisiert, dass die Deutschen darin als einseitig negativ gezeigt werden. Das ist natürlich nur meine eigene Meinung, aber ich möchte darauf erwidern, dass die Geschichte sehr explizit aus britischer Sicht erzählt wird. Die deutschen Soldaten sind selbstverständlich die Feinde der Protagonisten, aber sie tun eigentlich nicht mehr und nicht weniger als das, was Soldaten einer feindlichen Armee im Krieg tun. Man vergleiche diese Darstellung zum Beispiel mit Filmen, in denen die gegnerische Armee als besonders grausam und unmenschlich gezeigt wird. In 1917 hingegen sind die deutschen Soldaten einfach nur Soldaten der gegnerischen Kriegspartei, die tun, was sie als Soldaten eben tun müssen. Ich würde daher nicht sagen, dass 1917 die deutsche Seite als „böse“ darstellt: Es sind einfach nur die Realien des Ersten Weltkriegs, und die geschilderte Geschichte wäre mit deutschen Protagonisten und britischen Antagonisten wohl genauso verlaufen. Deswegen sehe ich da keine moralische Bewertung der Kriegsparteien. Bloß wird nur aus einer Sicht berichtet und dementsprechend sind auch die Zuschauer auf dieser Seite.
Ebenso wie die „guten“ Figuren sich bei genauerem Hinsehen als deutlich weniger gute Menschen entpuppen können, passiert es oft, dass böse, böse Antagonisten Sympathien wecken. Doch wie man sichergeht, dass die Unsympathen wirklich unsympathisch sind, haben wir schon in einem früheren Artikel besprochen. Und auch ein Artikel über das Erschaffen sympathischer Figuren ist bereits vorhanden.
Deswegen nur noch eine kleine Anmerkung darüber, dass allein schon ein Kontextwechsel die Perspektive auf eine Figur verändern kann:
Das ist zum Beispiel die Prämisse von The Devil Is a Part-Timer!, wo der dunkle Lord Satan aus seiner Fantasy-Welt, die er fast erobert hat, flüchten muss und in unserer Welt landet. Abgesehen davon, dass er aus seiner eigenen Perspektive heraus überhaupt nicht böse ist, machen seine Beharrlichkeit, Zielstrebigkeit und Ambitioniertheit ihn zum Musterangestellten der Fast-Food-Kette MgRonald’s, wobei seine bescheidene Situation ihn auch nicht im Geringsten daran hindert, eine Wiedereroberung seiner Heimatwelt zu planen.
Alles in allem lautet mein Hinweis an dieser Stelle also:
Deine Figuren kommen eventuell anders rüber, als Du Dir vorstellst. Achte deswegen darauf, dass sie auch in der Praxis das erfüllen, was Du in ihre Beschreibung gepackt hast. Und wenn Du Lust hast, kannst Du damit sogar spielen.
Indoktrination und Entmenschlichung
Der letzte Punkt, den ich in Bezug auf Gut und Böse ansprechen möchte, ist, dass Schwarz-Weiß-Malerei, wie ich im dritten Teil meiner Reihe über kritisches Denken erläutert habe, in der Regel ein sehr sicheres Anzeichen von Propaganda ist. Und das unabhängig davon, ob diese Propaganda bewusst eingebaut wird oder der Autor einfach nur unreflektiert seine eigene Weltsicht darlegt.
Weil fiktionale Geschichten sehr oft mit Gut und Böse operieren, rutscht man bei Antagonisten vom Typ „hat Gründe“ und „weil Keks“ häufig in diesen simplistischen Dualismus, bei dem das „Böse“ unverbesserlich böse ist und nur durch banale Vernichtung besiegt werden kann. Nicht alle Geschichten brauchen eine moralische Komplexität, aber wenn diese moralische Einfachheit mit Verweisen auf Phänomene oder Gruppen in der realen Welt einhergeht, dann kann man Dir als Autor – durchaus zu Recht, wie ich finde, – vorwerfen, Du würdest Hetze betreiben. Denn es ist eine Sache, irgendwelche fantasievollen Orks, die es in der realen Welt gar nicht gibt, als böse darzustellen, aber wenn Deine Orks an irgendwelche real existierenden Gruppen erinnern, dann schwingt da mit: Die Gruppe XY ist böse und gehört, ebenso wie auch die von Grund auf bösen Orks, ausgerottet! Es findet also eine Übertragung der simplistischen Moral aus der Geschichte in die Realität statt, die Perspektive und die Beweggründe der Gruppe XY fallen unter den Tisch und ihre Mitglieder werden der Menschlichkeit beraubt. Und wer dieser Übertragung erliegt – in der Regel unbewusst –, neigt dazu, der Gruppe XY gegenüber weniger empathisch zu sein.
Jede menschenverachtende Ideologie hat mit solchen Darstellungen angefangen!
Vielleicht erinnerst Du Dich an dieser Stelle auch an meinen Artikel über das Erschaffen interessanter Figuren, wo ich nicht nur Schwarz-Weiß, sondern auch „Graustufen“ ablehne. In dem Artikel tue ich das, weil ich Schwarz-Weiß und Graustufen nicht für eine gute Grundlage für das Erschaffen interessanter Figuren halte, aber generell lehne ich Schwarz-Weiß und Graustufen auch wegen der in diesem ganzen letzten Drittel dargelegten Aspekte ab:
Denn hinter Graustufen verbirgt sich immer noch eine Vorstellung von universellem Schwarz und Weiß, bloß in einer Mischung.
Aber bedeutet das, dass ich grundsätzlich gegen die Existenz von Antagonisten ohne nachvollziehbare Hintergrundgeschichte bin?
Natürlich nicht.
Vielmehr möchte ich dazu aufrufen, nicht die Menschen in Schwarz, Weiß oder eben Grautöne zu unterteilen, sondern ihre Handlungen bzw. deren Auswirkungen.
Denn es gibt – und dabei bleibe ich – keine guten oder schlechten Charaktereigenschaften, sondern einfach nur verschiedene Eigenschaften, die sich in verschiedenen Situationen und Kontexten mal produktiv und mal destruktiv äußern.
Und ja, nicht einmal Psychopathie würde ich als schlechte Eigenschaft einstufen. Wie ich im Artikel über Machtstrukturen angeschnitten habe, neigen Psychopathen im Schnitt zwar tatsächlich stärker zu kriminellem Verhalten, aber grundsätzlich ist zwischen „toxischen“ und „gutartigen“ Psychopathen zu unterscheiden. Letztere können ihre Furchtlosigkeit und Durchsetzungsfähigkeit in den Dienst der Gemeinschaft stellen und hervorragende Feuerwehrleute, Notfallärzte und Krisenmanager abgeben. Alles hängt davon ab, wofür der individuelle Psychopath seine Psychopathie einsetzt.
In dem Sinne:
Lass uns weiterhin über Gut und Böse schreiben, verschiedene Wert- und Moralkonstrukte erforschen und spannende Antagonisten/Opponenten erschaffen, dabei aber niemals vergessen, dass wir alle Menschen sind.