Opponenten, Antagonisten und das Böse

Opponenten, Antagonisten und das Böse

Ein Ant­ago­nist ist nicht ein­fach nur ein Ant­ago­nist. Er ist ein sehr wich­ti­ges Zahn­rad im Mecha­nis­mus einer Geschich­te und muss des­we­gen haar­fein auf die­se abge­stimmt sein. Des­we­gen spre­chen wir in die­sem Arti­kel sowohl über die „tech­ni­schen“ Aspek­te von Ant­ago­nis­ten als auch gene­rell über das brei­te Spek­trum der Moral in Geschichten.

Die Foli­en für die­ses Video gibt es für Ste­ady-Abon­nen­ten und Kanal­mitglieder auf You­Tube als PDF zum Download.

Alle has­sen plat­te, ein­di­men­sio­na­le Böse­wich­te. Und den­noch höre ich immer wie­der auch Stim­men, die sich mehr klas­si­sche, wirk­lich böse Ant­ago­nis­ten mit tief­schwar­zer See­le wün­schen. Ande­re wie­der­um wol­len über­haupt kein Schwarz-Weiß, son­dern ein Ensem­ble von unter­schied­lich grau­en Figuren.

Doch ist das alles wirk­lich nur Geschmacks­sa­che? Oder gibt es etwas wie Richt­li­ni­en oder unver­zeih­li­che Feh­ler, die einen guten bzw. schlech­ten Ant­ago­nis­ten ausmachen?

Ich per­sön­lich glau­be, dass man in die­ser Debat­te in aller­ers­ter Linie zwi­schen der Funk­ti­on des Ant­ago­nis­ten inner­halb der Geschich­te und sei­ner Moral tren­nen muss. Und das ist gleich­zei­tig auch an die Prä­mis­se der Geschich­te und vor allem an den Prot­ago­nis­ten geknüpft.

Und damit mei­ne ich:

Jede Geschich­te, die einen Kon­flikt beinhal­tet, braucht ihren ganz eige­nen Ant­ago­nis­ten. Es gibt somit kei­ne uni­ver­sel­le For­mel, um einen guten Ant­ago­nis­ten zu erschaf­fen. Aber es gibt durch­aus Din­ge, die man falsch machen kann.

Des­we­gen spre­chen wir heu­te über Ant­ago­nis­ten, klä­ren zunächst die Begrif­fe und die Theo­rie und wid­men uns anschlie­ßend den ver­schie­de­nen Spiel­ar­ten des Bösen in Geschichten.

Definition: Was ist ein Antagonist?

Las­sen wir zunächst die mora­li­sche Kom­po­nen­te weg und schau­en uns allein die Funk­ti­on des Ant­ago­nis­ten an.

Im Alt­grie­chi­schen bedeu­tet ἀνταγωνιστής buch­stäb­lich „Gegen­spie­ler“. Ein ande­res Wort ist „Oppo­nent“, und ich wer­de etwas spä­ter erläu­tern, war­um ich die­sen Begriff bevor­zu­ge. Die Bedeu­tung ist aber eigent­lich die­sel­be, näm­lich „Geg­ner“:

Wenn der Prot­ago­nist ein Ziel hat, und das ist nor­ma­ler­wei­se der Fall, weil sonst sel­ten eine erzäh­lens­wer­te Geschich­te zustan­de kommt, dann steht der Ant­ago­nist ihm beim Errei­chen die­ses Ziels im Weg. Und wenn eine Geschich­te eine Bot­schaft ent­hält und der Prot­ago­nist somit die The­se ver­kör­pert, dann ist der Ant­ago­nist die per­so­ni­fi­zier­te Anti­the­se: eine ande­re Sicht auf das zen­tra­le The­ma der Geschich­te, die gegen­über der Sicht des Prot­ago­nis­ten ver­liert, gewinnt oder sich als eben­bür­tig erweist.

Egal, wie man es also dreht und wendet,

der Ant­ago­nist ist das Gegen­stück zum Prot­ago­nis­ten und wird somit auch spe­zi­ell für ihn erschaf­fen.

In der Regel läuft es dar­auf hin­aus, dass die bei­den mehr oder weni­ger das­sel­be Ziel haben bzw. dass ihre Inter­es­sen unver­ein­bar sind: Bei­de wol­len den­sel­ben Wett­be­werb gewin­nen, den­sel­ben Thron erobern, den­sel­ben Job bekom­men – oder aber der eine will zer­stö­ren, was der ande­re erhal­ten will, die bei­den kön­nen sich in einer bestimm­ten Sache nicht auf einen Kon­sens eini­gen … Sie haben eben einen Kon­flikt, und ein Kon­flikt kann nicht ent­ste­hen, wenn die Inter­es­sen der Betei­lig­ten nicht in irgend­ei­nem Punkt kollidieren.

Weil der Prot­ago­nist und der Ant­ago­nist aber in die­sem Punkt irgend­wie auf­ein­an­der­tref­fen, gibt es häu­fig Ähn­lich­kei­ten zwi­schen ihnen: Wenn bei­de den­sel­ben Thron wol­len, dann sind bei­de aller­we­nigs­tens ambi­tio­niert und macht­hung­rig. Oder aber sie sind wirk­lich maxi­ma­le Gegen­tei­le: ein klei­ner, unschein­ba­rer Stall­bur­sche und ein uralter, mäch­ti­ger Dämo­nen­kö­nig, zum Bei­spiel. In jedem Fall aber gibt es irgend­ei­ne Art von Ver­bin­dung, die bei­den tref­fen nicht zufäl­lig auf­ein­an­der, son­dern wer­den vom Autor sorg­fäl­tig auf­ein­an­der abgestimmt.

Die­se Abstim­mung sieht in der Pra­xis oft so aus, dass der Prot­ago­nist ein Reprä­sen­tant des „Guten“ ist und somit über „gute“ Eigen­schaf­ten ver­fügt, wäh­rend der Ant­ago­nist als Reprä­sen­tant des „Bösen“ sich durch „böse“ Eigen­schaf­ten aus­zeich­net. Als Bei­spiel neh­me man klas­si­sche Mär­chen mit guten Prin­zes­sin­nen und bösen Stief­müt­tern. Dabei kann es aber auch hier Ähn­lich­kei­ten zwi­schen Prot­ago­nist und Ant­ago­nist geben, so bei­spiels­wei­se zwi­schen dem schö­nen und guten Schnee­witt­chen und der eben­falls schö­nen, aber bösen Königin.

Die Moral kann aber auch umge­kehrt sein, näm­lich wenn der Prot­ago­nist ein Anti­held ist und sein Gegen­spie­ler even­tu­ell mora­lisch deut­lich „bes­ser“ ist als er. Oder bei­de sind mora­lisch irgend­wo in der Grau­zo­ne. Die anschau­lichs­ten Bei­spie­le hier­für sind Geschich­ten über expli­zi­te Ver­bre­cher: Death Note han­delt von einem genia­len Schü­ler, der ein magi­sches Notiz­buch benutzt, um Ver­bre­cher zu ermor­den, also um durch Seri­en­mor­de eine in sei­ner Vor­stel­lung bes­se­re Welt zu erschaf­fen, und dabei einen Gott­kom­plex ent­wi­ckelt. Sein Gegen­spie­ler ist der eben­falls genia­le Pri­vat­de­tek­tiv L, der jedoch mit der Poli­zei koope­riert und somit auf der Sei­te des Geset­zes steht, was aber nicht auto­ma­tisch bedeu­tet, dass er immer per­fekt mora­lisch handelt.

Konflikt und Charakter-Arcs

Wie auch immer die Moral von Prot­ago­nist und Ant­ago­nist aus­se­hen mag, wich­tig ist, dass der Kon­flikt zwi­schen ihnen inter­es­sant ist. Und für den Ant­ago­nis­ten bedeu­tet das:

Er muss eine gut her­aus­ge­ar­bei­te­te Figur (oder ein gut durch­dach­tes Phä­no­men) sein und eine wirk­lich ernst­haf­te Bedro­hung dar­stel­len, d. h., die Schwä­chen des Prot­ago­nis­ten angrei­fen wie kein ande­rer. Denn es ist die Über­win­dung oder Nicht-Über­win­dung die­ser Schwä­chen, die den Arc des Prot­ago­nis­ten aus­macht und den Aus­gang der Geschich­te bestimmt.

Im Arti­kel über die Moti­va­ti­on der Figu­ren haben wir ja schon dar­über gespro­chen, dass zumin­dest die wich­tigs­ten Akteu­re einer Geschich­te Ziel, Schwä­che und Bedürf­nis haben soll­ten. In dem Arti­kel über Cha­rak­ter-Arcs haben wir das Gan­ze noch um die Lüge und die Geis­ter der Ver­gan­gen­heit ergänzt. Und im Arti­kel über die Figu­ren-Kon­stel­la­ti­on haben wir die Abstim­mung des Gegen­spie­lers auf den Prot­ago­nis­ten ange­schnit­ten. Hier also das Gan­ze noch ein­mal, bloß mit Fokus auf den Antagonisten:

Ziel, Schwä­che, Lüge, Bedürf­nis und Geis­ter der Ver­gan­gen­heit des Prot­ago­nis­ten gehen aus der Prä­mis­se der Geschich­te her­vor und bestim­men sei­nen Cha­rak­ter-Arc. Für den Ant­ago­nis­ten legen wir eben­falls Ziel, Schwä­che, Lüge, Bedürf­nis und even­tu­ell noch die Geis­ter der Ver­gan­gen­heit fest.

Grei­fen wir das Bei­spiel aus den Arti­keln über Moti­va­ti­on und Cha­rak­ter-Arcs auf und erin­nern uns an Ale­jan­dro Mur­rie­ta aus Die Mas­ke des Zor­ro:

  • Ziel: Ale­jan­dro will sei­nen Bru­der rächen und spä­ter Skla­ven retten.
  • Schwä­che: Ale­jan­dro ist kri­mi­nell, ein schlech­ter Kämp­fer und extrem hitzköpfig.
  • Lüge: „Jeder ist für sich, ich muss über mei­ne Taten und ihre Aus­wir­kun­gen nicht nach­den­ken und durch hirn­lo­se, rohe Gewalt errei­che ich, was ich will.“
  • Bedürf­nis: Er braucht Dis­zi­plin und eine geschei­te Kampf­aus­bil­dung und außer­dem ent­deckt er, des­sen Ban­di­ten­da­sein sich bis­her nur um sei­nen per­sön­li­chen Vor­teil gedreht hat, die Mög­lich­keit, für Schwä­che­re einzustehen.
  • Geis­ter der Ver­gan­gen­heit: Er wur­de durch sei­ne Kind­heit in Armut und sei­ne kri­mi­nel­le Ver­gan­gen­heit geprägt, zumal er offi­zi­ell ein gesuch­ter Ver­bre­cher ist. Auch lähmt der Rache­durst und Hass auf Cap­tain Har­ri­son Love, den Mör­der sei­nes Bru­ders, sein Denkvermögen.

Durch die Erfül­lung der Bedürf­nis­se über­win­det Ale­jan­dro sei­ne Schwä­chen und damit auch sei­ne Lüge und sei­ne Geis­ter der Ver­gan­gen­heit, wird zum neu­en Zor­ro und erreicht sei­ne Zie­le. Ein sehr klas­si­scher posi­ti­ver Arc à la Hollywood.

Der auf Ale­jan­dro abge­stimm­te Ant­ago­nist ist der bereits erwähn­te Cap­tain Har­ri­son Love, des­sen Figu­ren­pro­fil wir im Grun­de ähn­lich gestal­ten wie das des Protagonisten:

  • Ziel: Cap­tain Love jagt Ban­di­ten und ist des­we­gen für den Tod von Ale­jan­dros Bru­der ver­ant­wort­lich. Gern wür­de er auch Ale­jan­dro selbst schnap­pen. Außer­dem dient er kor­rup­ten Rei­chen und betei­ligt sich somit an der Aus­beu­tung von Sklaven.
  • Schwä­che: Cap­tain Love ist sehr von sich über­zeugt und zugleich herz­los bis hin zur Per­ver­si­on: Er sam­melt allen Erns­tes Ein­mach­glä­ser mit Kör­per­tei­len von sei­nen Geg­nern, aus denen er regel­mä­ßig trinkt.
  • Lüge: „Durch mei­ne Stär­ke und mei­nen Ver­stand kann ich alles bekom­men, was ich will. Ich bin bes­ser als der Pöbel und muss dar­auf kei­ne Rück­sicht neh­men. Ich kann Men­schen, die mir unter­le­gen sind, sogar ein­fach töten.“
  • Bedürf­nis: Sei­ner gerech­ten Stra­fe kann er nur ent­ge­hen, wenn er Demut und Mit­ge­fühl lernt und sich auf die Sei­te des lei­den­den Vol­kes stellt. Das pas­siert jedoch nicht und Cap­tain Love bezahlt dafür mit sei­nem Leben.
  • Geis­ter der Ver­gan­gen­heit: Was Har­ri­son Love zu dem gemacht hat, was er ist, wird im Film nicht beleuch­tet. Wir kön­nen nur spe­ku­lie­ren, dass er wohl durch sei­nen Beruf als Offi­zier gegen­über Gewalt ein­fach abge­stumpft ist und sei­ne Selbst­über­zeugt­heit durch sei­ne ver­gan­ge­nen Erfol­ge ent­wi­ckelt hat. Oder er ist ein­fach als Psy­cho­path auf die Welt gekommen.

Obwohl Cap­tain Love am Anfang in einer bes­se­ren Posi­ti­on ist als Ale­jan­dro, erreicht er sei­ne Zie­le nicht, weil er sei­ne Bedürf­nis­se nicht erfüllt. Er erliegt sei­nen Schwä­chen und sei­ner Lüge. Ein typi­scher nega­ti­ver Arc.

Beson­de­re Auf­merk­sam­keit möch­te ich hier aber vor allem auf die Lüge und das Bedürf­nis len­ken. Denn in die­sen Punk­ten sind Ale­jan­dro und Love sich tat­säch­lich sehr ähn­lich: Bei­de glau­ben an ihre Stär­ke als legi­ti­mes Mit­tel zum Errei­chen ihrer Zie­le und neh­men auf ande­re kei­ne Rück­sicht. Um erfolg­reich zu sein, müss­ten bei­de Demut und Mit­ge­fühl ent­wi­ckeln. Und wäh­rend Ale­jan­dro sei­ne Schwä­chen als sol­che erkennt und unter der Anlei­tung des alten Zor­ro an ihnen arbei­tet und am Ende Erfolg hat, glaubt Cap­tain Love bis zum Ende an sei­ne Lüge und ändert dem­entspre­chend auch nichts an sei­nen Schwä­chen. Dafür wird er mit dem Tod bestraft.

Und um die Ähn­lich­keit und den Kon­trast zwi­schen Prot­ago­nist und Ant­ago­nist noch mehr zu beto­nen, hofie­ren Ale­jan­dro und Love – zusätz­lich zum Kon­flikt um den Bru­der und die Skla­ven – die­sel­be Frau und sie sind auch visu­ell ziem­li­che Gegen­tei­le von­ein­an­der: Wäh­rend der brü­net­te Ale­jan­dro – wenn er nicht gera­de als Spi­on in den höhe­ren Krei­sen unter­wegs ist – unor­dent­lich oder zumin­dest läs­sig geklei­det ist, tritt der blon­de Cap­tain Love stets wie aus dem Ei gepellt in Erscheinung.

Nun ist das Ver­hält­nis zwi­schen den Figu­ren­pro­fi­len des Prot­ago­nis­ten und Ant­ago­nis­ten aber noch nicht maxi­mal sicht­bar. Des­we­gen kön­nen wir uns die­ses noch genau­er anschau­en und ihre Stär­ken und Schwä­chen expli­zit gegen­über­stel­len:

  • Ale­jan­dro Mur­rie­ta a.k.a. der neue Zorro: 
    • Ziel: Cap­tain Love töten, Ver­sklav­te retten
    • Stär­ke: Auch wenn Ale­jan­dro ein ego­is­ti­scher Ban­dit ist, hat er den­noch das Herz am rech­ten Fleck und ist zu Mit­ge­fühl fähig. Auch erkennt er sei­ne Unfä­hig­keit und bringt die Demut auf, um sich vom alten Zor­ro aus­bil­den zu lassen.
    • Schwä­che: Er ist ein hitz­köp­fi­ger Ban­dit ohne nen­nens­wer­te Kampf­tech­nik und er denkt nicht nach, bevor er handelt.
  • Cap­tain Har­ri­son Love:
    • Ziel: Ale­jan­dro töten, Ver­sklav­te ausbeuten
    • Stär­ke: Im Gegen­satz zu Ale­jan­dro ist Cap­tain Love ein pro­fes­sio­nel­ler Sol­dat, ein erbar­mungs­lo­ser Kil­ler, der jede Bewe­gung per­fekt ein­stu­diert hat. Außer­dem steht er als offi­zi­el­ler Mili­tär­an­ge­hö­ri­ger auf der Sei­te des Geset­zes, auch wenn er de fac­to einer kor­rup­ten Eli­te dient.
    • Schwä­che: Er ist selbst­über­zeugt und kaltblütig.

Wir sehen also: Ale­jan­dro besiegt Cap­tain Love nicht so sehr, weil er am Ende des Films ein bes­se­rer Kämp­fer ist, son­dern weil er sich zu einem bes­se­ren Men­schen ent­wi­ckelt hat. Empa­thie­fä­hig­keit ist Ale­jan­dros wich­tigs­te Stär­ke und Loves wich­tigs­te Schwä­che. Zwar ist Love durch sei­ne mili­tä­ri­sche Aus­bil­dung, sei­nen Ver­stand und sei­nen Sta­tus am Anfang deut­lich über­le­gen, aber weil er – im Gegen­satz zu Ale­jan­dro – nicht an sei­nen Schwä­chen arbei­tet, ist er am Ende doch unterlegen.

Um das Ver­hält­nis zwi­schen dem Prot­ago­nis­ten und dem Ant­ago­nis­ten in Die Mas­ke des Zor­ro also kurz zusammenzufassen:

Gewis­ser­ma­ßen sind die bei­den Dop­pel­gän­ger – und zugleich kom­plet­te Gegen­tei­le voneinander.

Das ist aber, wie gesagt, nur ein sehr ein­fa­ches, klas­si­sches Hol­ly­wood-Block­bus­ter-Sche­ma. Wenn Dei­ne Geschich­te kom­ple­xer ist, kannst Du beim Ant­ago­nis­ten, wie auch beim Prot­ago­nis­ten, mit einer psy­cho­lo­gi­schen und mora­li­schen Schwä­che und einem psy­cho­lo­gi­schen und mora­li­schen Bedürf­nis arbei­ten. Und ein posi­ti­ver Arc des Prot­ago­nis­ten bedeu­tet auch nicht auto­ma­tisch einen nega­ti­ven Arc beim Ant­ago­nis­ten:

  • Bei­de könn­ten zum Bei­spiel einen posi­ti­ven Arc durch­ma­chen und am Ende Freun­de oder sogar ein Lie­bes­paar werden.
  • Auch kön­nen bei­de einen nega­ti­ven Arc durch­ma­chen und sich gegen­sei­tig ins Ver­der­ben stürzen.
  • Der Prot­ago­nist könn­te einen fla­chen Arc durch­ma­chen, wäh­rend der Ant­ago­nist sich zum Posi­ti­ven oder Nega­ti­ven verändert.
  • Oder es ist der Prot­ago­nist, der sich zum Posi­ti­ven oder Nega­ti­ven ver­än­dert – wäh­rend der Ant­ago­nist einen fla­chen Arc hat.
  • Und natür­lich ist es auch mög­lich, dass der Prot­ago­nist einen nega­ti­ven Arc durch­macht, wäh­rend sich für den Ant­ago­nis­ten alles zum Posi­ti­ven verändert.
  • Grund­sätz­lich ist außer­dem vor­stell­bar, dass bei­de einen fla­chen Arc haben, aber ich den­ke, es ist zumin­dest sehr schwie­rig, da eine wirk­lich inter­es­san­te Geschich­te zu erzäh­len, weil ja offen­bar nir­gend­wo eine nen­nens­wer­te Ent­wick­lung stattfindet.

Opponenten, Antagonisten, Bösewichte: Der Unterschied

Nun bist Du eben aber viel­leicht kurz auf­ge­schreckt: Was, ein Ant­ago­nist kann als Freund oder sogar Lie­bes­part­ner des Prot­ago­nis­ten enden? – Ja, genau. Denn tat­säch­lich ist in vie­len Lie­bes­ge­schich­ten der struk­tu­rel­le Gegen­spie­ler des Prot­ago­nis­ten sein Love-Inte­rest, bei­spiels­wei­se in Stolz und Vor­ur­teil oder auch Fif­ty Shades of Grey, obwohl es in die­sem Fall schwer fällt, die­sen Gegen­spie­ler als Ant­ago­nis­ten zu bezeich­nen. Und das ist auch der wich­tigs­te Grund, war­um ich den Begriff „Oppo­nent“ bevor­zu­ge:

Obwohl „Ant­ago­nist“ und „Oppo­nent“ von der wört­li­chen Bedeu­tung her das­sel­be sind, wecken sie unter­schied­li­che Konnotationen.

Denn kor­ri­gie­re mich bit­te, wenn ich mich zu weit aus dem Fens­ter leh­ne, aber beim Wort „Ant­ago­nist“ schwingt eine gewis­se Feind­se­lig­keit mit. Man denkt da eher an jeman­den, der sehr ziel­ge­rich­tet gegen den Prot­ago­nis­ten arbei­tet. Beim Oppo­nen­ten hin­ge­gen denkt man an eine ganz bana­le Kol­li­si­on von Inter­es­sen. Oder um es mal an einem Bei­spiel zu illustrieren:

In Har­ry Pot­ter sind Figu­ren wie Vol­de­mort, Umbridge und Bel­la­trix Lestran­ge ein­deu­tig Ant­ago­nis­ten. Wenn aber Ron und Her­mi­ne im drit­ten Band stän­dig Zoff haben, weil Her­mi­nes Kater Rons Rat­te jagt, dann sind die bei­den ein­fach nur Oppo­nen­ten in einem Kon­flikt, wie er in jeder Freund­schaft vorkommt.

Ich wür­de daher sagen:

„Oppo­nent“ ist ein viel wei­ter gefass­ter Begriff und bezeich­net ein­fach nur die Gegen­sei­te in einem Kon­flikt, völ­lig frei von Moral und Verurteilungen.

Und das wie­der­um bedeutet:

Jeder Ant­ago­nist ist ein Oppo­nent, aber nicht jeder Oppo­nent ist ein Ant­ago­nist.

Geschich­ten han­deln eben nicht nur von Kon­flik­ten zwi­schen Fein­den, son­dern auch zwi­schen Freun­den, Fami­li­en­mit­glie­dern und Lie­ben­den. Und selbst wenn eine Geschich­te von einer Feind­schaft han­delt, heißt das noch lan­ge nicht, dass der Ant­ago­nist wirk­lich böse sein muss. Wie gesagt, der „Böse“ kann auch der Prot­ago­nist sein oder bei­de kön­nen sich in einem „mora­lisch grau­en“ Bereich bewegen.

Wir hal­ten also zusätz­lich fest:

Nicht jeder Ant­ago­nist ist ein Bösewicht.

Phänomene als Opponenten/​Antagonisten

Außer­dem ist nicht jeder Oppo­nent eine Per­son. Denn statt eines ganz kon­kre­ten Haupt­geg­ners könn­te sich der zen­tra­le Kon­flikt des Prot­ago­nis­ten auch in Bezug auf die Gesell­schaft, die Natur, eine Orga­ni­sa­ti­on oder eine ander­wei­ti­ge Grup­pe, eine Ideo­lo­gie, eine Krank­heit, einen Fluch, die eige­ne Ver­gan­gen­heit oder was auch immer entfalten.

  • Man den­ke zum Bei­spiel an San­si­bar oder der letz­te Grund von Alfred Andersch, wo die Nazis, die durch­weg gesichts­los als „die Ande­ren“ bezeich­net wer­den, den Ant­ago­nis­ten aller fünf Prot­ago­nis­ten darstellen.
  • Oder an Im Wes­ten nichts Neu­es und Der Weg zurück von Erich Maria Remar­que, wo der Krieg bzw. sei­ne Fol­gen den Haupt­ant­ago­nis­ten darstellen.
  • Oder man den­ke auch an das gan­ze Gen­re der Kata­stro­phen­fil­me, in denen der zen­tra­le Kon­flikt eben von der Kata­stro­phe ausgeht.

Der Haken bei sol­chen Kon­flik­ten zwi­schen Prot­ago­nist und Phä­no­men ist nun aber, dass man ein Phä­no­men oft nur sehr bedingt an den Prot­ago­nis­ten anpas­sen kann: Wenn der Kon­flikt sich dar­um dreht, dass der Prot­ago­nist durch einen Unfall sei­ne Bei­ne ver­liert und nun ler­nen muss, damit zurecht­zu­kom­men, dann kann man da schlecht ein Cha­rak­t­er­pro­fil für den Ant­ago­nis­ten anle­gen, weil er über­haupt kein Cha­rak­ter ist und somit auch kei­ne Schwä­chen hat und nicht an eine Lüge glaubt.

Aber kei­ne Sor­ge! Denn wer nach wie vor Schwä­chen und den gro­ßen gan­zen Rest hat, ist der Prot­ago­nist. Und die­se Schwä­chen kön­nen von einem nicht­mensch­li­chen Phä­no­men genau­so ange­grif­fen wer­den wie von einer Person.

Erklä­re also, war­um aus­ge­rech­net das Phä­no­men, das Du als Ant­ago­nist gewählt hast, die Schwä­chen des Prot­ago­nis­ten so beson­ders stark angreift.

Denn so zynisch das auch klingt: Für jeman­den, der im Büro arbei­tet, sich also haupt­be­ruf­lich den Hin­tern platt sitzt, ist der Ver­lust der Bei­ne erträg­li­cher als für einen Pro­fi­ath­le­ten oder ein Super­mo­del. Wäh­rend der Büro­frit­ze nach aus­rei­chen­der The­ra­pie „nur“ mit sei­nem ver­än­der­ten Kör­per und einem ver­än­der­ten All­tag zurecht­kom­men muss, wird beim Pro­fi­ath­le­ten und beim Super­mo­del der gan­ze Beruf infra­ge gestellt. Und wenn die­se Per­so­nen ihren gan­zen Lebens­sinn in ihrem Beruf gese­hen haben, ver­lie­ren sie durch den Unfall weit mehr als ihre Bei­ne. Ent­we­der len­ken sie also ihr gan­zes Leben in eine völ­lig neue Rich­tung oder sie ver­su­chen, die Gren­zen des schein­bar Mög­li­chen zu durch­bre­chen, und wer­den zum Bei­spiel Behin­der­ten­sport­ler oder inklu­si­ves Model.

Ich sage nicht, dass jede Geschich­te über den Ver­lust von Bei­nen sich zwangs­läu­fig um Pro­fi­ath­le­ten und Super­mo­dels dre­hen muss, aber durch das ant­ago­nis­ti­sche Phä­no­men soll­te für Dei­nen Prot­ago­nis­ten in irgend­ei­ner Form die Welt zusam­men­bre­chen. So kann der Büro­frit­ze sich viel­leicht nicht dar­an erfreu­en, dass ihm sein Beruf erhal­ten bleibt, weil es ihm eher dar­um geht, die Lie­be sei­nes Love-Inte­rests zu gewin­nen und er meint, dass der Love-Inte­rest kei­nen „Krüp­pel“ möch­te. Oder der Büro­frit­ze ohne Bei­ne kann sich nicht mehr so wie frü­her um sei­ne Kin­der küm­mern, wo er mit ihnen frü­her doch so gern Fuß­ball gespielt hat. Die Mög­lich­kei­ten sind endlos …

Netz von Opponenten/​Antagonisten

Und wo ich schon wie selbst­ver­ständ­lich von Hauptant­ago­nis­ten gespro­chen habe … Mein ver­ehr­ter John Tru­by bemerkt in The Ana­to­my of Sto­ry völ­lig zu Recht:

„Your moral argu­ment will always be sim­pli­stic if you use a two-part oppo­si­ti­on, like good ver­sus evil. Only a web of moral oppo­si­ti­ons […] can give the audi­ence a sen­se of the moral com­ple­xi­ty of real life.“
John Tru­by: The Ana­to­my of Sto­ry, Chap­ter 5: Moral Argu­ment, Split­ting the The­me into Oppo­si­ti­ons, The Cha­rac­ters’ Values in Conflict.

„Ihr mora­li­sches Argu­ment wird immer sim­plis­tisch sein, wenn Sie eine Zwei­er­op­po­si­ti­on ver­wen­den, wie zum Bei­spiel Gut gegen Böse. Nur ein Netz mora­li­scher Oppo­si­tio­nen […] kann dem Publi­kum ein Gefühl der mora­li­schen Kom­ple­xi­tät wie im rea­len Leben vermitteln.“
Über­set­zung von Fea­el Silmarien.

Das The­ma der Oppo­si­ti­ons­net­ze haben wir bereits im Arti­kel über die Figu­ren-Kon­stel­la­ti­on ange­schnit­ten und in dem Arti­kel über Hel­den­grup­pen an einem Bei­spiel umge­setzt. Spe­zi­ell auf Ant­ago­nis­ten bezo­gen bleibt also noch ein­mal zu betonen,

dass der Prot­ago­nist durch­aus meh­re­re Oppo­nen­ten haben kann, und meh­re­re von die­sen Oppo­nen­ten kön­nen auch rich­ti­ge, feind­se­li­ge Ant­ago­nis­ten sein.

Und auch hier sind, wie immer, alle denk­ba­ren Spie­le­rei­en möglich:

  • Der Prot­ago­nist könn­te gegen meh­re­re gleich­ran­gi­ge Ant­ago­nis­ten antreten.
  • Der Prot­ago­nist kann einen Haupt­ant­ago­nis­ten und meh­re­re Neben­ant­ago­nis­ten haben.
  • Der Prot­ago­nist könn­te Sei­te an Sei­te mit einem Kame­ra­den gegen die Ant­ago­nis­ten kämp­fen, wobei er mit die­sem Kame­ra­den eben­falls einen Kon­flikt hat, was jenen zu einem wei­te­ren Oppo­nen­ten macht.
  • Die Geschich­te kann völ­lig frei von Ant­ago­nis­ten sein oder die Ant­ago­nis­ten spie­len nur eine sehr hin­ter­grün­di­ge Rol­le, wäh­rend der Haupt­kon­flikt sich inner­halb der Hel­den­grup­pe entfaltet.
  • Und so wei­ter und so fort …

Und ver­giss auch nicht, dass die Figu­ren im Ver­lauf der Geschich­te durch­aus ihre Funk­ti­on ändern kön­nen – ins­be­son­de­re kön­nen Oppo­nen­ten zu Ver­bün­de­ten wer­den und Ver­bün­de­te zu Oppo­nen­ten. Wenn es eben das ist, was Dei­ne Geschich­te braucht. Denn letzt­end­lich – und ich wer­de nicht müde, es zu beto­nen – hängt alles von Dei­ner Prä­mis­se ab.

Wich­tig ist aber vor allem, dass das Oppo­si­ti­ons­netz sich um das zen­tra­le The­ma her­um ent­fal­tet. Ob Ant­ago­nist, nicht-feind­se­li­ger Oppo­nent, Ver­bün­de­ter oder was auch immer:

Ein Figu­ren­ge­flecht mit all sei­nen Oppo­si­tio­nen spie­gelt Facet­ten und Spiel­ar­ten des zen­tra­len The­mas. Figu­ren, die mit dem zen­tra­len The­ma nichts am Hut haben, haben unter den Haupt- und wich­ti­ge­ren Neben­fi­gu­ren, und damit unter den Betei­lig­ten am Haupt­kon­flikt, nichts zu suchen.

Aber dar­über haben wir schon im Arti­kel über Figu­ren-Kon­stel­la­tio­nen gespro­chen, des­we­gen gehen wir an die­ser Stel­le über zur Moral von Antagonisten.

Moral: Typologie der Opponenten

Gene­rell ist Moral eine sehr phi­lo­so­phi­sche Ange­le­gen­heit. Wel­che Eigen­schaf­ten der Autor sei­nem Prot­ago­nis­ten und sei­nem Ant­ago­nis­ten ver­passt, hängt daher sehr stark von sei­ner eige­nen Welt­an­schau­ung ab. Das darf man natür­lich nicht zu wört­lich neh­men, denn es gibt, wie gesagt, auch amo­ra­li­sche Prot­ago­nis­ten und mora­li­sche Ant­ago­nis­ten, aber

dass irgend­wel­che Figu­ren bzw. ihre Eigen­schaf­ten über­haupt als mehr oder weni­ger mora­lisch dar­ge­stellt wer­den, sagt eini­ges über die phi­lo­so­phi­schen Ansich­ten des Autors aus.

Und zumin­dest heut­zu­ta­ge sind die phi­lo­so­phi­schen Ansich­ten von Men­schen oft so gestrickt, dass man Moral als durch­aus kom­ple­xe Ange­le­gen­heit betrach­tet. Ein rei­nes Schwarz-Weiß-Sche­ma, kla­res Gut und Böse, wird meis­tens als platt und ein­falls­los emp­fun­den. Was uns aber kei­nes­falls dar­an hin­dert, klas­si­sche, tief­schwar­ze Böse­wich­te zu mögen. – Wie passt das zusammen?

Zunächst möch­te ich natür­lich auf die Prä­mis­se ver­wei­sen und noch ein­mal betonen,

dass jede Geschich­te ihren höchst eige­nen, indi­vi­du­el­len Haupt­op­po­nen­ten erfordert.

Und wenn die­ser Haupt­op­po­nent ein klas­si­scher böser Lord sein muss, dann ist es eben so. Er kann trotz­dem inter­es­sant und gut her­aus­ge­ar­bei­tet sein. Oder es kann auch sein, dass er absicht­lich „platt“ ist, weil die Prä­mis­se das so erfordert.

Weil Ant­ago­nis­ten so extrem indi­vi­du­ell sind, ist es schwie­rig, all­ge­mei­ne Richt­li­ni­en für die Her­aus­ar­bei­tung ihrer Moral zu for­mu­lie­ren. Wir kön­nen aber durch­aus eine klei­ne Typo­lo­gie auf­stel­len und wenigs­tens all­ge­mein zu jedem Typ eini­ge Fein­hei­ten beleuch­ten. Zu beach­ten wäre dabei, dass

  • in einem ein­zi­gen Werk Oppo­nen­ten unter­schied­li­cher Typen vor­kom­men können,

  • die Gren­zen zwi­schen den Typen flie­ßend sind und

  • ein Oppo­nent sei­nen Typ im Ver­lauf der Geschich­te auch ändern kann.

Alles ande­re wür­de das Modell extrem rigi­de machen und könn­te all den vie­len ver­schie­de­nen Ant­ago­nis­ten, denen wir in Geschich­ten begeg­nen, nie­mals gerecht werden.

Der Opponent/​Antagonist wird nicht (wirklich) moralisch bewertet

Hier steht der Oppo­nent mora­lisch nicht schlech­ter oder bes­ser als der Prot­ago­nist da, son­dern zwi­schen den bei­den besteht ein­fach nur ein Inter­es­sen­kon­flikt.

Häu­fig sieht man das in Geschich­ten mit zwei Prot­ago­nis­ten: über zwei Freun­de, ein Lie­bes­paar, Fami­li­en­mit­glie­der … Men­schen mit unter­schied­li­cher Wahr­neh­mung, die zuein­an­der fin­den müs­sen. Aber auch in Geschich­ten mit einem viel prä­sen­te­ren mora­li­schen Schwarz-Weiß kom­men sol­che Oppo­nen­ten vor:

So hat das Video­spiel Fable 3 bei aller Kri­tik, die es ein­ste­cken muss­te, einen höchst inter­es­san­ten Twist parat: Die Spie­ler­fi­gur ist das jün­ge­re Geschwis­ter­chen des tyran­ni­schen Königs und muss aus dem Palast flie­hen. Wäh­rend der jun­ge Prinz bzw. die Prin­zes­sin durch das Land reist, sieht er bzw. sie das Lei­den der Bür­ger, hilft ihnen und sam­melt Mit­strei­ter, um den eige­nen Bru­der vom Thron zu stür­zen. Der Bru­der wirkt also wie ein klas­si­scher böser Lord, der Schwä­che­re aus­beu­tet und gestürzt wer­den muss, damit das Gute tri­um­phiert. Bloß endet das Spiel nicht mit dem Sturz des Königs und der Bestei­gung des Throns durch die Spie­ler­fi­gur: Denn der Bru­der ent­hüllt, dass er das Volk nur des­we­gen aus­ge­quetscht hat, weil dem Land eine gro­ße Gefahr droht und er Maß­nah­men finan­zie­ren woll­te, um das Volk vor der Ver­nich­tung zu bewah­ren. Und jetzt, wo die Spie­ler­fi­gur auf dem Thron sitzt, hat eben sie die­ses Dilem­ma am Hals. Was ist also mora­lisch rich­ti­ger: dem Volk ein schö­nes Leben gön­nen und sei­ne Ver­spre­chen ein­hal­ten oder alle vor der Ver­nich­tung bewah­ren? Oder schafft der Spie­ler es, bei­des zu errei­chen und mora­lisch kom­plett makel­los davon­zu­kom­men? Der Bru­der hat jeden­falls kein Hin­ter­tür­chen gefun­den, um aus dem Dilem­ma aus­zu­bre­chen, aber das ändert nichts dar­an, dass er trotz­dem ehr­lich und auf­rich­tig sein Bes­tes gege­ben hat, um sein Reich zu retten.

Ein Oppo­nent vom Typ „nicht (wirk­lich) mora­lisch bewer­tet“ mag also durch­aus „böse“ bzw. gegen die Inter­es­sen des Prot­ago­nis­ten han­deln, ist dabei aber als Per­son nicht „böse“ bzw. tut ein­fach das, was er aus sei­ner eige­nen Sicht für rich­tig oder zumin­dest für weni­ger falsch hält. Dass er in Kon­flikt mit dem Prot­ago­nis­ten gerät, kann dabei vie­le ver­schie­de­ne Ursa­chen haben:

  • Er könn­te für den Prot­ago­nis­ten das Bes­te wol­len, bloß ist der Prot­ago­nist ande­rer Mei­nung, was die­ses Bes­te sein soll.
  • Es könn­te sich um ein ein­zi­ges gro­ßes Miss­ver­ständ­nis handeln.
  • Es könn­te um eine mora­lisch kom­ple­xe Situa­ti­on gehen, in der der Prot­ago­nist und der Oppo­nent ver­schie­de­ne Ansich­ten dar­über haben, was das gerin­ge­re Übel wäre.
  • Bei­de könn­ten glei­cher­ma­ßen kor­rupt sein und den jeweils ande­ren aus Macht­grün­den ver­nich­ten wollen.
  • Es könn­te ein­fach ein Sze­na­rio sein, in dem aus irgend­wel­chen Grün­den nur einer von bei­den über­le­ben kann.
  • Und so wei­ter und so fort …

Wie Dir zwei­fel­los auf­ge­fal­len ist, haben sol­che Oppo­nen­ten eine fili­gran her­aus­ge­ar­bei­te­te und zumin­dest aus ihrer eige­nen Posi­ti­on her­aus abso­lut legi­ti­me Sicht der Din­ge. Die­se Sicht kann natür­lich auch feh­ler­haft sein: Man den­ke zum Bei­spiel an Fitz­wil­liam Dar­cy in Jane Aus­tens Stolz und Vor­ur­teil, der auch eini­ge Din­ge falsch deu­tet und der Fami­lie der Prot­ago­nis­tin des­we­gen eini­ges Leid zufügt. Aber sein Han­deln ent­steht eben nicht ein­fach aus Bosheit.

Und gera­de weil sol­che Oppo­nen­ten eine fili­gra­ne Her­aus­ar­bei­tung ihrer Per­spek­ti­ve erfor­dern, gehen sie in der Regel mit einer kom­ple­xen und facet­ten­rei­chen Beleuch­tung des zen­tra­len The­mas ein­her. Ver­schie­de­ne Sicht­wei­sen tref­fen auf­ein­an­der, haben alle eine gewis­se Exis­tenz­be­rech­ti­gung und oft läuft die Lösung des Kon­flikts dar­auf hin­aus, dass ein gemein­sa­mer Nen­ner gefun­den wer­den muss. – Und wenn es ein tra­gi­sches Ende gibt, dann besteht es eben dar­in, dass die­ser gemein­sa­me Nen­ner nicht gefun­den oder nicht in die Tat umge­setzt wer­den kann.

Der Opponent/​Antagonist hat eine komplexe Hintergrundgeschichte

Hier ist der Oppo­nent ein­deu­tig „böse“ oder „gut“, zumin­dest wird er im Text so dar­ge­stellt. Er hat jedoch eine fili­gran her­aus­ge­ar­bei­te­te Ver­gan­gen­heit, die nach­voll­zieh­bar erklärt, war­um er so ist, wie er ist.

Häu­fig han­delt es sich um soge­nann­te Anti-Schur­ken. Das klas­si­sche Bei­spiel sind all die Böse­wich­te, die durch tra­gi­sche Erleb­nis­se zu Böse­wich­ten gewor­den sind. Es ist ein­deu­tig schreck­lich, was sie tun, aber man kann sie auch ver­ste­hen und hofft in eini­gen Fäl­len, dass sie ihre Feh­ler ein­se­hen und sich doch noch auf die Sei­te des Guten schla­gen.

Und kaum eine ande­re Geschich­te ver­kör­pert die­ses Prin­zip so gut wie das Naruto-Fran­chise. Dort fal­len fast alle Ant­ago­nis­ten in die­se Kate­go­rie und die größ­te Super­kraft des Prot­ago­nis­ten besteht dar­in, durch sog. „talk no jutsu“, das Füh­ren höchst emo­tio­na­ler Gesprä­che wäh­rend des Kamp­fes, sei­ne Geg­ner zum Guten zu bekehren.

Das mit dem Hof­fen, dass sol­che Ant­ago­nis­ten die Sei­ten wech­seln, ist aber ganz optio­nal. Vol­de­mort, den Ober­bö­se­wicht der Har­ry-Pot­ter-Rei­he, zum Bei­spiel kann man sich nur schwer in einer ande­ren Rol­le als der des dunk­len Lords vor­stel­len. Trau­ma­ti­sche Kind­heit hin oder her, für ihn kommt schein­bar jede Hil­fe zu spät.

Die Vari­an­te mit einem mora­lisch guten Oppo­nen­ten die­ser Art kommt deut­lich sel­te­ner vor, aber ein Bei­spiel sei trotz­dem genannt:

Rodi­on Ras­kol­ni­kow, der Prot­ago­nist von Dos­to­jew­skijs Ver­bre­chen und Stra­fe bzw. Schuld und Süh­ne, ist ein Mör­der, zugleich aber durch­aus ein Mensch mit Herz. Damit ist er ein Anti­held, ein mora­lisch sehr ambi­va­len­ter Mensch, und die meis­ten ande­ren Figu­ren sind eben­falls mora­lisch ambi­va­lent. Was jedoch die Exis­tenz der regel­recht hei­li­gen Son­ja Mar­me­la­do­wa nicht aus­schließt. Zwar übt sie den sehr unhei­li­gen Beruf einer Pro­sti­tu­ier­ten aus, aber sie tut es nur, um ihre Fami­lie zu ver­sor­gen, und ist zutiefst reli­gi­ös. Sie stammt aus der Armut, sie lebt in Armut und opfert sich dabei auch noch für ande­re. Dank ihrem Glau­ben behält sie nach allem, was ihr wider­fah­ren ist, eine gera­de­zu makel­los rei­ne See­le und ist der wich­tigs­te Ein­fluss, der Ras­kol­ni­kow schließ­lich dazu bringt, sich der Poli­zei zu stel­len und die Ver­ant­wor­tung für sei­nen Dop­pel­mord auf sich zu nehmen.

Ins­ge­samt lässt sich also sagen, dass Oppo­nen­ten die­ses Typs mora­li­sches Schwarz-Weiß mit the­ma­ti­scher und/​oder psy­cho­lo­gi­scher Kom­ple­xi­tät kom­bi­nie­ren. Ein häu­fi­ger Irr­tum ist näm­lich, dass Geschich­ten mit Tief­gang nur mit mora­lisch grau­en Figu­ren mög­lich sind oder wenn der Autor kei­ne ein­deu­ti­gen Moral­ur­tei­le durch­schei­nen lässt. Die Kom­ple­xi­tät eines Wer­kes ist in Wirk­lich­keit jedoch über­haupt nicht an die Dar­stel­lung der mora­li­schen Vor­stel­lun­gen des Autors gekop­pelt. Eine Geschich­te kann von einem mehr oder weni­ger ein­deu­ti­gen Gut-gegen-Böse han­deln und trotz­dem anspruchs­voll sein.

Der Opponent/​Antagonist hat Gründe

Auch hier ist der Oppo­nent ein­deu­tig „böse“ oder „gut“, aber sei­ne Moti­va­ti­on ist recht sim­pel bzw. wird nur mini­mal beleuch­tet.

Denn nicht immer ist mora­li­sche Kom­ple­xi­tät der Sinn der Sache. Man­che Geschich­ten brau­chen ein­fach nur rein funk­tio­nal jeman­den, der dem Prot­ago­nis­ten Stei­ne in den Weg legt, mehr nicht. Ob Aben­teu­er­ge­schich­te oder Roman­ze, Mär­chen oder Thril­ler – in jedem Gen­re kann es sinn­voll sein, den Ant­ago­nis­ten nicht all­zu kom­pli­ziert zu gestal­ten. Der Fokus liegt dann eher auf dem Über­win­den der Hür­den, auf den Aben­teu­ern, den Hor­ror­ele­men­ten, den Bezie­hun­gen zwi­schen den Haupt­fi­gu­ren … Der Ant­ago­nist ist eher hin­ter­grün­dig, was eine fili­gran her­aus­ge­ar­bei­te­te Ver­gan­gen­heit unnö­tig oder sogar stö­rend macht.

Damit ein sol­cher Ant­ago­nist nicht all­zu „platt“ und lang­wei­lig wird, bekommt er aber eine simp­le Erklä­rung, war­um er han­delt, wie er han­delt. In der Regel han­delt es sich dabei um eine nega­ti­ve Eigen­schaft: Der Ant­ago­nist ist ganz banal macht­hung­rig, gie­rig, nei­disch, eifer­süch­tig, rache­durs­tig … oder auch ein­fach nur geis­tes­krank oder gar ein Psychopath.

Die­se Ein­fach­heit macht sol­che Ant­ago­nis­ten aber kei­nes­wegs auto­ma­tisch lang­wei­lig. So ziem­lich die meis­ten klas­si­schen Dis­ney-Böse­wich­te fal­len in die­se Kate­go­rie, und sie gehö­ren zu den wohl cha­ris­ma­tischs­ten Figu­ren der Pop­kul­tur. Der Grad ihrer Selbst­ver­liebt­heit ist maxi­mal unter­halt­sam, oft haben sie Marot­ten, die sie sogar irgend­wie lie­bens­wert machen, oder sie haben eine der­ma­ßen böse Aura, dass man vor Ehr­furcht erschaudert.

Auch der von uns bereits zer­leg­te Cap­tain Har­ri­son Love gehört in die­se Kate­go­rie. Wie gesagt, wir erfah­ren nicht viel über sei­nen Hin­ter­grund, aber das haben wir auch nicht nötig: Er ist Sol­dat, er macht sei­nen Job, er scheint psy­cho­pa­thi­sche Ten­den­zen zu haben und dient kor­rup­ten Eli­ten. Mehr brau­chen wir nicht zu wis­sen, um die Geschich­te um Ale­jan­dros Ent­wick­lung vom ein­fa­chen Ban­di­ten zum Beschüt­zer der Schwa­chen gespannt zu ver­fol­gen. Ein all­zu kom­pli­zier­ter Cap­tain Love wür­de vom Wesent­li­chen sogar eher ablenken.

Genau­so ver­hält es sich in Geschich­ten, in denen der Prot­ago­nist ein Anti­held ist und der Ant­ago­nist bzw. Oppo­nent daher der eigent­li­che, mora­li­sche Held: Der Ant­ago­nist macht dann ein­fach nur sei­nen Job als Ord­nungs­hü­ter, ist ein selbst­lo­ser Kämp­fer für Gerech­tig­keit und/​oder ein Idea­list, der alles liebt, was kreucht und fleucht.

Und weil Dos­to­jew­skijs Ver­bre­chen und Stra­fe bzw. Schuld und Süh­ne mit sei­nem mör­de­ri­schen Prot­ago­nis­ten ein regel­rech­tes Bio­top für inter­es­san­te Oppo­nen­ten aller mora­li­scher Schat­tie­run­gen dar­stellt, fin­den wir dort auch für die­sen Typ ein Bei­spiel: Ras­kol­ni­kows Haupt­op­po­nent, Porf­irij Petro­witsch, ist der Ermitt­ler, der dem Mord­fall nach­geht und Ras­kol­ni­kow schon sehr früh ver­däch­tigt. Er ist zwar kein Held in strah­len­der Rüs­tung, aber er ist die juris­ti­sche Anti­the­se zu Ras­kol­ni­kows Ideo­lo­gie, die sei­nem Ver­bre­chen zugrun­de liegt, ohne dabei unmensch­lich zu wer­den. Aus Ras­kol­ni­kows Sicht wirkt er zwei­fel­los bedroh­lich, weil Porf­irij extrem gut in sei­nem Job ist und den Prot­ago­nis­ten mit mani­pu­la­ti­ven Psy­cho­spiel­chen zer­mar­tert. Aber er hat durch­aus Empa­thie und anschei­nend auch Sym­pa­thie für Ras­kol­ni­kow, auch wenn er sei­ne Ansich­ten und Moral­vor­stel­lun­gen nicht teilt. Tat­säch­lich rät auch er dem Mör­der, sich zu stel­len, und setzt sich sogar für eine Straf­mil­de­rung ein. Dabei erfährt der Leser nie, was ihn außer sei­nem Beruf eigent­lich bewegt. Er macht ein­fach sei­nen Job, hat einen sehr inter­es­san­ten Cha­rak­ter und auch ein Herz. Alles ande­re bleibt unbe­kannt und ist für die Geschich­te auch nicht relevant.

Alles in allem eig­nen sich sol­che Ant­ago­nis­ten für Geschich­ten, deren Schwer­punkt auf der Ent­wick­lung des Prot­ago­nis­ten, einer bestimm­ten Atmo­sphä­re, rei­ner Action etc. liegt. Die­se Ein­fach­heit durch Fokus­sie­rung auf sehr bestimm­te Schwer­punk­te schließt eine facet­ten­rei­che Beleuch­tung des zen­tra­len The­mas und psy­cho­lo­gi­sche Kom­ple­xi­tät aber auch nicht unbe­dingt aus. Ähn­lich wie bei den Ant­ago­nis­ten mit einer detail­lier­ten Hin­ter­grund­ge­schich­te, schei­nen hier kla­re Moral­ur­tei­le des Autors durch, bloß geht es bei einer sol­chen Geschich­te eben noch mehr um einen ganz bestimm­ten Aspekt, ein ganz kon­kre­tes Ziel, und der Oppo­nent ist unterm Strich nur Mit­tel zum Zweck. Wobei der Zweck aber über­all zwi­schen pri­mi­tiv-unter­halt­sam und hoch­kom­plex ange­sie­delt sein kann.

Der Opponent/​Antagonist ist böse, weil Keks

Hier ist der Oppo­nent eben­falls ein­deu­tig „böse“ (oder eben „gut“), aller­dings ohne jede Erklä­rung. Er legt dem Prot­ago­nis­ten Stei­ne in den Weg und fer­tig. Punkt.

Er ist also nicht ein­mal ein Psy­cho­path oder ein Hei­li­ger. Denn das wären schon Erklä­run­gen für sei­ne Hand­lun­gen. Er tut, was er tut, ein­fach weil er es tut. Weil der Autor meint, einen Ant­ago­nis­ten zu brau­chen, sich aber nicht die Mühe gemacht hat, ihn sinn­voll in die Geschich­te zu inte­grie­ren. Und weil eine Moti­va­ti­on fehlt, fehlt meis­tens auch die Anbin­dung an das zen­tra­le The­ma der Geschich­te, und des­we­gen füh­len sich sol­che Ant­ago­nis­ten oft über­flüs­sig oder zumin­dest lang­wei­lig an. Auf jeden Fall aber „platt“.

Ich wür­de mich also so weit aus dem Fens­ter leh­nen, dass ich meine:

In 99,9 Pro­zent aller Fäl­le deu­ten sol­che Ant­ago­nis­ten auf schreib­hand­werk­li­che Defi­zi­te hin.

Häu­fig ste­hen Kin­der­ge­schich­ten im Ver­dacht, mit sol­chen Ant­ago­nis­ten zu ope­rie­ren, aber ich möch­te an die­ser Stel­le dar­an erin­nern, dass die bes­ten Dis­ney-Ant­ago­nis­ten, die ja nicht umsonst gera­de­zu ein Güte­sie­gel sind, durch­aus ein Motiv haben, wenn auch ein sehr ein­fa­ches. Um den Unter­schied zu ver­deut­li­chen, kön­nen wir zwei Klas­si­ker der Dis­ney-Renais­sance vergleichen:

Im Arti­kel über Cha­rak­ter-Arcs haben wir ja bereits die Cha­rak­ter­struk­tur in Die Schö­ne und das Biest zer­legt. Das zen­tra­le The­ma ist inne­re Schön­heit und der dar­auf ange­pass­te Ant­ago­nist ist Gas­ton, der äußer­lich zwar schön, inner­lich aber abgrund­tief häss­lich ist. Der Sieg über Gas­ton ist somit der Tri­umph der wah­ren, inne­ren Schön­heit über die hoh­le, äuße­re Schön­heit. Gas­tons Moti­va­ti­on ist dabei sehr sim­pel: Er ist ein Nar­zisst und als er nicht bekommt, was er will, ver­sucht er, es sich mit Gewalt zu holen. Es gibt kei­ne kom­ple­xe Hin­ter­grund­ge­schich­te, son­dern nur einen zen­tra­len Cha­rak­ter­man­gel, der für die Zwe­cke der Gesamt­ge­schich­te aber per­fekt ist.

Mein Gegen­bei­spiel, um den Typ „weil Keks“ zu illus­trie­ren, stammt iro­ni­scher­wei­se aus einem mei­ner per­sön­li­chen Lieb­lings­fil­me: Mulan. Hier bleibt es näm­lich den gan­zen Film über schlei­er­haft, war­um die Hun­nen unter der Füh­rung von Shan Yu Chi­na angrei­fen: Sie bre­chen ein­fach über das Land her­ein wie eine Natur­ka­ta­stro­phe. Nur, dass sie eben kei­ne Natur­ka­ta­stro­phe sind, son­dern Men­schen, die töten und ver­nich­ten, ein­fach weil Keks. An einer ein­zi­gen Stel­le gibt Shan Yu frei­lich eine sehr kryp­ti­sche Erklä­rung: „[Der Kai­ser] hat die­se Mau­er [die Chi­ne­si­sche Mau­er] gebaut und mich her­aus­ge­for­dert! Ich möch­te die­se Her­aus­for­de­rung anneh­men.“ Aber wer ist dar­aus schlau gewor­den? Macht­gier oder Psy­cho­pa­thie sind Moti­ve, die ein nor­ma­ler Mensch durch­aus nach­voll­zie­hen kann. Zumin­dest wis­sen die meis­ten Men­schen, dass es so etwas gibt. Aber dass jemand sich von der blo­ßen Exis­tenz einer gro­ßen Mau­er getrig­gert fühlt und dann auch noch eine gigan­ti­sche Armee von Gleich­ge­sinn­ten zusam­men­trom­meln kann – das wirkt dann doch etwas zu weit hergeholt.

Des­we­gen lässt Shan Yu einen stut­zend zurück, und zwar stut­zend, ver­wirrt im nega­ti­ven Sin­ne: Es blei­ben Fra­gen offen, die nicht offen blei­ben soll­ten. Dabei wäre es, zumin­dest mei­ner Ein­schät­zung nach, so ein­fach gewe­sen, die­ses Pro­blem zu umge­hen: Denn wenn es in Mulan pri­mär um Iden­ti­tät und Aner­ken­nung geht und die Prot­ago­nis­tin sich auf natür­li­che Wei­se beweist, durch har­te Arbeit sowie das Ent­de­cken ihrer wah­ren Stär­ken und ihres authen­ti­schen Ichs, könn­te Shan Yu jemand sein, der ein bestimm­tes Bild von sich gewalt­sam erzwin­gen und bei­spiels­wei­se zum größ­ten Feld­herrn der Welt auf­stei­gen will, indem er das Reich der Mit­te bezwingt. Sein Heer wür­de ihm dann aus Begeis­te­rung über sein Cha­ris­ma als eben poten­ti­ell größ­ter Feld­herr der Welt fol­gen. Und für die­se Ände­rung müss­te man die Geschich­te nicht ein­mal groß­ar­tig ändern, nur hier und da ein paar Dia­lo­ge. – Tat­säch­lich glau­be ich sogar, dass Shan Yu ursprüng­lich in etwa so kon­zi­piert wur­de, bloß kommt das in dem Film selbst nicht ganz rüber.

Nun ist Shan Yu aber der zen­tra­le Ant­ago­nist in Mulan und ist des­we­gen zwar „platt“, aber nicht über­flüs­sig, weil es ohne ihn die gan­ze Geschich­te nicht gäbe. Wenn ein Oppo­nent die­ses Schlags jedoch nicht ein­mal in den Haupt­kon­flikt invol­viert ist, dann ist er sehr schnell ein Kan­di­dat für inhalt­li­che Kürzungen:

Ein ande­res Lieb­lings­werk von mir ist der Film Shop­a­ho­lic – Die Schnäpp­chen­jä­ge­rin. Es han­delt sich um leich­te Unter­hal­tung mit einer cha­ris­ma­ti­schen Prot­ago­nis­tin namens Rebec­ca Bloom­wood, die an Shop­ping­sucht lei­det, extre­me Schul­den hat und sich des­we­gen in einem Berg abstru­ser Lügen ver­gräbt. Der Haupt­ant­ago­nist ist der Schul­den­ein­trei­ber Derek Sme­ath, der ein­fach nur äußerst beharr­lich sei­nem Job nach­geht und das Leben der Prot­ago­nis­tin zur Höl­le macht. Er ist also ein klas­si­scher Ant­ago­nist vom Typ „hat Grün­de“ und funk­tio­niert als sol­cher sehr gut: ein unnach­gie­bi­ger, gera­de­zu herz­lo­ser Ter­mi­na­tor von einem Lang­wei­ler, der sich in den Fall der bun­ten und fan­ta­sie­be­gab­ten Becky ver­bis­sen hat und sie auf ihrer Flucht vor ihm in immer absur­de­re Lügen treibt, bis das gan­ze Lügen­kon­strukt über ihrem Kopf zusam­men­bricht und sie all ihre Freun­de ver­liert. Im Kon­trast dazu wirft die Exis­tenz von Ali­cia Bil­ling­ton, einer typi­schen Schi­cki-Micki-Bitch von neben­an, nur eine Rei­he von Fra­gen auf: Sie schnappt Becky ihren Traum­job weg, behan­delt sie her­ab­las­send, und zwar noch bevor sie Grund hat, in Becky eine Kon­kur­ren­tin zu sehen, sie intri­giert gegen sie und ver­sucht, ihr ihren Freund aus­zu­span­nen – nur wozu? In den Büchern gibt es offen­bar eine Erklä­rung, aber im Film kann man nur ver­mu­ten, dass sie und Becky mög­li­cher­wei­se eine Vor­ge­schich­te haben. Erklärt wird nichts, und Ali­cia hat mit dem Haupt­kon­flikt auch nichts zu tun, außer dass sie Derek Sme­ath ein­mal einen Tipp gibt. Im Gro­ßen und Gan­zen soll sie wohl eine Kon­trast­fi­gur zu Becky sein, kann im Grun­de aber recht unkom­pli­ziert gestri­chen wer­den, ohne dass die Geschich­te dar­un­ter leidet.

Ich will nicht grund­sätz­lich aus­schlie­ßen, dass es auch gut gemach­te Ant­ago­nis­ten vom Typ „weil Keks“ geben könn­te, aber die weni­gen Bei­spie­le, die mir ein­fal­len, sind humo­ris­ti­scher Art:

Allem vor­an wäre da Fies­oduck aus der Zei­chen­trick­se­rie Dark­wing Duck. Er ist Dark­wings böser Dop­pel­gän­ger und wäh­rend Dark­wing aus Spaß an der Freu­de ein Super­held ist, ist Fies­oduck ein Super­schur­ke aus Spaß an der Freu­de. Das Stif­ten von Cha­os ist für ihn ein Selbst­zweck. Er tut es, weil Keks. Ein­fach, weil er Zer­stö­rung mag. Weil alles, was irgend­wie nega­ti­ve Asso­zia­tio­nen weckt, ihm ehr­li­che, kind­li­che Freu­de berei­tet: Waf­fen, Ske­let­te, Van­da­lis­mus … In der Serie gibt es meh­re­re Ver­sio­nen sei­ner Hin­ter­grund­ge­schich­te, aber es bleibt schlei­er­haft, ob auch nur eine davon ernst zu neh­men ist. Fies­heit ist eben sei­ne gan­ze Iden­ti­tät, und dabei ist er – im Gegen­satz zum Joker, dem Gegen­spie­ler von Bat­man, – nicht ein­mal ein Psy­cho­path oder irgend­wie ver­rückt, zumin­dest nicht nach den Begriff­lich­kei­ten des Dark­wing-Duck-Uni­ver­sums. Als er in einer Fol­ge die Ver­rückt­heit eines ande­ren Super­schur­ken absor­biert, steht die­se ihm sogar im Weg. In ein­zel­nen Fol­gen wird er frei­lich durch­aus von Geld, Macht oder dem Ehr­geiz, im Super­schur­ken-Ran­king auf dem ers­ten Platz zu ste­hen, moti­viert, aber wirk­lich kon­stant ist nur sei­ne Lie­be zum Cha­os. Es ist ein­fach sei­ne Art, Lebens­freu­de zu emp­fin­den. Und gera­de das macht ihn so amü­sant und regel­recht knuffig.

Ansons­ten soll­te es sich von allei­ne ver­ste­hen, dass auch mora­lisch gute Ant­ago­nis­ten ohne auch nur den Hauch einer Moti­va­ti­on „platt“ wir­ken, auch wenn sie eher sel­ten vor­kom­men. Wir mer­ken uns also:

Eine Min­dest­vor­aus­set­zung, damit Dein Ant­ago­nist nicht „platt“ wirkt, ist die Exis­tenz einer Moti­va­ti­on.

Das heißt nicht, dass ein Ant­ago­nist mit Moti­va­ti­on auto­ma­tisch gut ist: Er muss auch zur Gesamt­ge­schich­te, zum zen­tra­len The­ma und vor allem zum Prot­ago­nis­ten pas­sen. Aber wenn unklar ist, war­um Dein Ant­ago­nist tut, was er tut, hast Du von Anfang an ver­lo­ren. – Es sei denn, Du bekommst irgend­wie einen Aus­nah­me­fall hin. Aber gene­rell, wür­de ich sagen, funk­tio­nie­ren sol­che Ant­ago­nis­ten nur, wenn Du bewusst auf unmo­ti­vier­te Absur­di­tä­ten aus bist.

Der Opponent/​Antagonist ist das abstrakte Böse

Hier geht es nicht so sehr um eine kon­kre­te Per­son, son­dern viel­mehr um das Böse (oder Gute) an sich, das mora­li­sche Prin­zip in sei­ner Essenz.

Man könn­te das als Spiel­art von Phä­no­men-als-Oppo­nent sehen, bloß geht es uns hier ja um die mora­li­sche Dimen­si­on und wäh­rend eine Krank­heit zum Bei­spiel an sich weder gut noch böse ist, son­dern ein­fach objek­tiv exis­tiert, fällt das Phä­no­men des Bösen als Idee durch­aus in den Rah­men des Kon­zepts von einer mora­li­schen Dualität.

Manch­mal – nicht immer – ent­hal­ten sol­che Geschich­ten in Bezug auf Gut und Böse ein phi­lo­so­phi­sches Kon­zept. Es wer­den nicht ein­fach bestimm­te Eigen­schaf­ten und Ver­hal­tens­wei­sen als gut und ande­re als böse abge­stem­pelt, son­dern es wird ein regel­recht tech­ni­sches Prin­zip dargelegt.

Eins der pro­mi­nen­tes­ten Bei­spie­le wäre hier Der Herr der Rin­ge von J. R. R. Tol­ki­en. Auch wenn Sau­ron auf den ers­ten Blick wie der typi­sche böse Over­lord vom Typ „weil Keks“ wirkt, offen­bart ein Blick auf die Natur des Bösen bei Tol­ki­en und die Art und Wei­se, wie es besiegt wird, ein zutiefst phi­lo­so­phi­sches Kon­zept. Denn obwohl vie­le den Ring­krieg auf einen bana­len Kampf der Guten gegen die Bösen redu­zie­ren, sind es bei Tol­ki­en nicht die Guten, die Sau­ron besie­gen, son­dern das Böse zer­stört sich selbst, wäh­rend die Leis­tung der Guten haupt­säch­lich dar­in besteht, dem Bösen in sich zu widerstehen.

Dem grö­ße­ren Kon­text des Legen­da­ri­ums kön­nen wir ent­neh­men, dass das Böse haupt­säch­lich der Wunsch ist, Gott zu spie­len. Der eine Schöp­fer­gott, Eru Ilú­vat­ar, erschuf näm­lich zuerst die Ainur, Engel, wenn man so will, die dar­auf­hin unter Ilú­vat­ars Direk­ti­on die Welt gestal­te­ten. Bloß woll­te Mel­kor, der mäch­tigs­te von ihnen, selbst ger­ne Schöp­fer­gott spie­len und begann, die gött­li­che Schöp­fung zu zer­stö­ren und zu ver­un­stal­ten – denn etwas wirk­lich Eige­nes erschaf­fen kann nur Ilú­vat­ar bzw. man kann es nur unter sei­ner Anlei­tung tun. Das Böse ist bei Tol­ki­en also nicht ein­fach nur böse, son­dern es ist böse, weil es aus der gött­li­chen Ord­nung aus­bricht und die gött­li­che Schöp­fung per­ver­tiert. Kon­kret äußert sich das in der Zer­stö­rung der Natur, der Ent­stel­lung von Lebe­we­sen zu Mons­tern und der gewalt­sa­men Unter­drü­ckung der Frei­en Völ­ker, damit sie die per­ver­tier­te, künst­li­che Schöp­fung akzeptieren.

Die­ser grö­ße­re Kon­text wird im Herrn der Rin­ge nicht haar­klein erklärt, aber er kommt durch­aus rüber, wenn wir uns die Natur des Bösen dar­in anschau­en: Die Orks sind eine per­ver­tier­te Lebens­form, die Men­schen, die auf Sau­rons Sei­te kämp­fen, sind Opfer einer Lüge, also einer Per­ver­si­on bzw. Ver­dre­hung, und zahl­rei­che Figu­ren wie Sar­uman, Grí­ma Schlan­gen­zun­ge, Den­ethor, Isil­dur, Boro­mir und Gollum, die eigent­lich auf der Sei­te der Guten sein soll­ten, wer­den vom Bösen kor­rum­piert, ver­un­stal­tet oder zumin­dest mani­pu­liert. Nicht zuletzt ist auch Sau­ron selbst in ers­ter Linie ein von Mel­kor kor­rum­pier­ter Ainu bzw. „Engel“. Die Bes­ten unter den Guten dage­gen – sei­en es Gan­dalf, Galadri­el, Ara­gorn, Sam oder Fro­do – zeich­nen sich dadurch aus, dass sie den Impul­sen, den Einen Ring an sich zu rei­ßen und damit auf ihre eige­ne Wei­se Gott zu spie­len, wider­ste­hen. Und es ist auch nicht das Heer der Guten, das bei der fina­len Schlacht vor dem Schwar­zen Tor den gro­ßen Sieg erringt, son­dern Fro­dos und vor­her noch Bil­bos Güte: Die bei­den haben Gollum ver­schont und Fro­do hat sogar die letz­ten Über­res­te des Guten in ihm her­vor­ge­bracht, sodass es über­haupt erst mög­lich wur­de, den Einen Ring zum Schil­ck­sals­berg zu brin­gen. Zwar hat Gollum Fro­do spä­ter betro­gen, aller­dings hat auch das zur Ret­tung der Welt bei­getra­gen: Letzt­end­lich ist Fro­do ja doch ein­ge­knickt, hat im ent­schei­den­den Moment dem Bösen nach­ge­ge­ben, und nur das ande­re Böse, das in eben die­sem Moment in Form von Gollum auf­ge­taucht ist, Fro­do den Fin­ger mit dem Einen Ring abge­bis­sen hat und anschlie­ßend aus über­schwäng­li­cher Freu­de her­aus mit dem Ring ins Lava gestürzt ist, hat die Welt geret­tet. Im Grun­de bestand Fro­dos ent­schei­den­der Bei­trag also dar­in, dem Bösen so lan­ge zu wider­ste­hen, bis die­ses Böse am rich­ti­gen Punkt war, um sich selbst zu ver­nich­ten. Somit siegt das Gute über das Böse bei Tol­ki­en nicht mili­tä­risch, son­dern vor allem durch Auf­recht­erhal­tung der inne­ren Moral.

Das phi­lo­so­phi­sche Kon­zept dahin­ter könn­te man also fol­gen­der­ma­ßen zusam­men­fas­sen: Das Böse ist die Kor­rup­ti­on des Guten und man besiegt es, indem man sei­ner eige­nen inne­ren Kor­rup­ti­on wider­steht. – Etwas, das Tol­ki­en von sei­nen zahl­rei­chen Nach­ah­mern unter­schei­det, die durch viel zu buch­stäb­li­ches Ver­ständ­nis sei­nes Werks nur ober­fläch­li­che Kopien produzieren.

Doch nicht nur in Fan­ta­sy haben wir es mit dem Bösen als Prin­zip zu tun und nicht immer taucht es in Gestalt eines dunk­len Lords auf:

Wenn wir schon Dos­to­jew­ski ange­spro­chen haben, so han­delt Ver­bre­chen und Stra­fe bzw. Schuld und Süh­ne im Grun­de vom Kampf zwi­schen Gut und Böse inner­halb der mensch­li­chen See­le des Prot­ago­nis­ten. Das Böse sind dabei sein Ego und die ideo­lo­gi­schen Kon­struk­te in sei­nem Kopf, die ihn über­haupt erst dazu brin­gen, den Mord zu bege­hen: Er geht davon aus, dass es eine Art Über­men­schen gibt, die über der Moral ste­hen, und maßt sich an, dar­über urtei­len zu kön­nen, wer leben darf und wer nicht. – Bzw. er will zumin­dest aus­tes­ten, ob er ein sol­cher Über­mensch ist. Das Gute ist sein Gewis­sen, sei­ne mora­lisch lei­den­de See­le, die auch kör­per­li­che Krank­heits­sym­pto­me ver­ur­sacht. Als Ras­kol­ni­kow sich schließ­lich der Poli­zei stellt, macht er den ers­ten ent­schei­den­den Schritt zur Bes­se­rung. Auch wenn er noch einen see­ehr lan­gen Weg vor sich hat.

Noch kla­rer tritt das abs­trak­te Böse bei Dos­to­jew­ski in Die Dämo­nen bzw. Die Teu­fel bzw. Die Beses­se­nen bzw. Böse Geis­ter her­vor. Das zeigt allein schon der Titel bzw. die zahl­rei­chen Über­set­zun­gen des Titels. In die­sem Roman wid­met sich Dos­to­jew­ski den revo­lu­tio­nä­ren Bewe­gun­gen im Russ­land des 19. Jahr­hun­derts, einer Kli­en­tel, zu der er in sei­nen Jugend­jah­ren selbst gehört hat­te und die er dem­entspre­chend sehr gut kann­te und die er in sei­nem Roman in recht nega­ti­vem Licht dar­stellt. Die Ange­hö­ri­gen der revo­lu­tio­nä­ren Grup­pie­rung und ihre Ver­bün­de­ten sind dabei nicht per se böse Men­schen, son­dern eher eine Ansamm­lung von Losern: Fana­ti­kern, nai­ven Idea­lis­ten, Nihi­lis­ten, Mit­läu­fern … Sie alle wer­den von einem noch grö­ße­ren, ego­ma­ni­sche­ren und skru­pel­lo­se­ren Loser mani­pu­liert, haben – ähn­lich wie Ras­kol­ni­kow – einen ego­be­ding­ten Gel­tungs­drang, der sie über­haupt erst so kor­rum­pier­bar macht, und wol­len zer­stö­ren, um auf den Rui­nen des Alten eine neue Ord­nung zu erschaf­fen. – Dass es an Tol­ki­ens Phi­lo­so­phie erin­nert, ist dabei nicht ver­wun­der­lich: Tol­ki­en war ein gläu­bi­ger Katho­lik und Dos­to­jew­ski war rus­sisch ortho­dox, aber unterm Strich waren sie bei­de zutiefst kon­ser­va­ti­ve Christen.

Eine Beson­der­heit von Dos­to­jew­skis Dämo­nen ist jedoch, dass das abs­trak­te Böse, je nach Inter­pre­ta­ti­on, durch­aus auch eine phy­si­sche Gestalt bekommt, näm­lich in der Figur des Niko­lai Staw­ro­gin. Er ist ein teuf­lisch gut­aus­se­hen­der, intel­li­gen­ter, gebil­de­ter, talen­tier­ter, rei­cher, aris­to­kra­ti­scher und cha­ris­ma­ti­scher jun­ger Mensch, der jedoch jah­re­lang ein abso­lut amo­ra­li­sches Leben geführt hat. Er ist nur teil­wei­se mit der revo­lu­tio­nä­ren Grup­pie­rung ver­bun­den, obwohl er sie inspi­riert hat und vom Ober­lo­ser fana­tisch, gera­de­zu reli­gi­ös, ver­ehrt wird. Im Gegen­satz zu den Losern und Fana­ti­kern hängt Staw­ro­gin auch kei­ner Ideo­lo­gie an, son­dern sein Pro­blem besteht eher dar­in, dass er see­lisch kom­plett leer ist, an nichts wirk­lich glaubt und anschei­nend auch kein rich­ti­ges Gefühl für Gut und Böse hat. Er ist sehr gut dar­in, ande­ren Men­schen – aus einer Art see­li­schem Vam­pi­ris­mus her­aus – aller­lei Gedan­ken in den Kopf zu set­zen, bekehrt zum Bei­spiel den Einen zum Glau­ben und den Ande­ren zum Athe­is­mus, und er ergötzt sich an pein­li­chen und gar ver­bre­che­ri­schen Hand­lun­gen. Staw­rog­ins see­li­sche Lee­re und die dar­aus resul­tie­ren­den Spie­le­rei­en mit den See­len ande­rer Men­schen stel­len das Böse somit als eine Art para­si­tä­res Phä­no­men dar, das auf Kos­ten ande­rer exis­tiert und sich von ihnen ernährt. Es ist eine Mas­ke ohne eige­ne Über­zeu­gun­gen und ohne eige­ne Lebens­kraft. Und es zer­stört sich selbst, als es kurz davor steht, sich durch Buße zu läu­tern, letzt­end­lich aber doch Selbst­mord begeht.

Inter­es­sant ist, dass Staw­ro­gin, obwohl er ein Mensch ist und rein theo­re­tisch die Opti­on einer Hei­lung durch Buße hat, durch­aus an klas­si­sche Teu­fels­fi­gu­ren erin­nert. Zwar bege­ben wir uns hier wie­der in den Bereich des Phan­tas­ti­schen, aber das Magisch-Teuf­li­sche nimmt eben nicht immer die Gestalt eines dunk­len Lords mit einer Armee ganz in Schwarz an:

Wie gesagt, die klas­si­schen Teu­fels­fi­gu­ren in mit­tel­al­ter­li­chen Sagen und Legen­den wären da ein Bei­spiel. Oder die Figur des Mephis­to­phe­les im Faust­stoff. Eine moder­ne Inkar­na­ti­on die­ser Gestalt ist Gaun­ter O’Dimm in Hearts of Stone, einer Erwei­te­rung des Video­spiels The Wit­cher 3: Wild Hunt. Manch­mal extra­va­gant und manch­mal eher unschein­bar, bewe­gen sich die­se Teu­fels­fi­gu­ren durch die Welt der Sterb­li­chen und erfül­len Wün­sche, stür­zen die Wün­schen­den und oft auch ihre Ange­hö­ri­gen aber gleich­zei­tig ins Ver­der­ben. Sie nut­zen die Schwä­chen ihrer Opfer, um sie in einen Ver­trag zu locken, bei dem sie ihre See­le ver­kau­fen. Sie spie­len mit Schick­sa­len, mani­pu­lie­ren und ver­füh­ren. Somit haben wir auch hier ein Böse, das kor­rum­piert und para­si­tiert. Und meis­tens kann man ihm nur inner­lich wider­ste­hen, sich nicht von der Erfül­lung sei­ner Wün­sche ver­füh­ren las­sen. Man­che ver­su­chen zwar, die­se Teu­fels­fi­gu­ren aus­zu­trick­sen, aber nur den Wenigs­ten gelingt das. Die meis­ten bezah­len mit ihrer See­le und den Leben ihrer Liebsten.

Eine sol­che phi­lo­so­phi­sche Dimen­si­on hat das abs­trak­te Böse aber, wie gesagt, nicht immer. Man neh­me zum Bei­spiel das abs­trak­te Böse in all den Tol­ki­en-Nach­ah­mungs­wer­ken, in denen das Böse ein­fach nur abs­trakt böse ist, den Guten Leid zufügt und des­we­gen bekämpft wird. Das ist im Grun­de etwas wie: das abs­trak­te Böse, weil Keks. Es hat kei­ne beson­de­re Natur, außer dass es halt abs­trakt böse ist, ohne dass das Böse irgend­wie defi­niert wird. Es läuft ein­fach häss­lich und in schwar­zer Rüs­tung durch die Gegend und rich­tet Scha­den an. Punkt.

Doch nicht jede Spiel­art des abs­trak­ten Bösen ohne phi­lo­so­phi­sche Grund­la­ge zeugt von nied­ri­ger schrift­stel­le­ri­scher Qualität:

Die chi­ne­si­sche Serie Eter­nal Love of Dream ist in ers­ter Linie eine Fan­ta­sy-Lie­bes­ge­schich­te zwi­schen zwei unsterb­li­chen Gott­hei­ten. Das Böse in Form der Dämo­nen­kö­ni­gin Miao Luo spielt nur im Hin­ter­grund eine Rol­le: Den Groß­teil der Geschich­te über ist sie magisch ver­sie­gelt, ver­sucht aus­zu­bre­chen und schafft für die bei­den Prot­ago­nis­ten Hür­den, aber im Vor­der­grund steht den­noch die Lie­bes­ge­schich­te. Nur ganz am Ende muss sich das zen­tra­le Lie­bes­paar Miao Luo stel­len, die ihre Ket­ten abge­wor­fen hat und die Welt zer­stö­ren will. Dabei ist sie der­ma­ßen böse, „weil Keks“, dass es schwer ist, sie als Per­son zu sehen. Und genau hier kommt der Clou: Sie ist buch­stäb­lich ein Bün­del dunk­ler Ener­gie, per­so­ni­fi­zier­te Zer­stö­rungs­ge­walt. Das ist es, was sie bei­spiels­wei­se von Shan Yu unter­schei­det: Sie ist eben tat­säch­lich kein Mensch, kei­ne rich­ti­ge Per­son. – Ganz im Gegen­satz zu ihren dämo­ni­schen Unter­ta­nen, von denen die meis­ten nicht gera­de scharf auf ihre Rück­kehr sind und als Ers­te unter ihr zu lei­den haben, als sie aus­bricht. Alles in allem ist das Böse in Eter­nal Love of Dream eine abs­trak­te Ener­gie, die nicht näher prä­zi­siert wird und es auch nicht braucht, weil es in der Geschich­te um etwas völ­lig ande­res geht: Der zen­tra­le Kon­flikt dreht sich um das Lie­bes­paar, nicht um Miao Luo. Zumal es wirk­lich schon eine per­so­ni­fi­zier­te magi­sche Natur­ka­ta­stro­phe braucht, um für die mäch­tigs­te Gott­heit des Uni­ver­sums, den hoff­nungs­los über­power­ten männ­li­chen Teil des Lie­bes­paars, eine ernst­zu­neh­men­de Gefahr dar­zu­stel­len und somit gera­de im Fina­le Span­nung zu erzeu­gen: Krie­gen die Lie­ben­den sich und über­le­ben sie überhaupt?

Was das abs­trak­te Gute angeht, so gilt alles, was wir über das abs­trak­te Böse gesagt haben, nur umgekehrt:

Abge­se­hen von der Bibel und den hei­li­gen Schrif­ten ande­rer Reli­gio­nen, fin­den wir es zum Bei­spiel in der Figur des Löwen Aslan in den Chro­ni­ken von Nar­nia von C. S. Lewis oder auch, wenn wir schon so aus­führ­lich über Dos­to­jew­ski gespro­chen haben, in Fürst Mysch­kin im Roman Der Idi­ot. Wäh­rend Aslan eine buch­stäb­li­che Jesus-Alle­go­rie dar­stellt, ist Mysch­kin ein zutiefst rei­ner Mensch, der selbst mit den schlimms­ten Men­schen, auch mit denen, die ihn auf­grund von sei­ner Nai­vi­tät ver­ach­ten, mit­fühlt, der ihre per­sön­li­chen Pro­ble­me durch­schaut und das Leid, das sie vor allem sich selbst zufü­gen, und des­we­gen am Ende den Ver­stand ver­liert. Ein abs­trak­te­res Bei­spiel für das abs­trak­te Gute wäre die Lie­be in Har­ry Pot­ter, denn es ist unterm Strich die Macht, die Vol­de­mort, das Böse, das aus Lie­bes­man­gel so böse wur­de, zu Fall bringt: die Mut­ter­lie­be von Lily Pot­ter und Nar­cis­sa Mal­foy, Sna­pes Lie­be zu Lily, Har­rys Lie­be zu sei­nen Mit­strei­tern, Lie­be in Form von Freund­schaft etc.

Wie Dir aber sicher­lich auf­ge­fal­len ist, sind das alles kei­ne Bei­spie­le für das abs­trak­te Gute als Ant­ago­nist oder zumin­dest Oppo­nent. Viel­leicht bin ich ja auch ein­fach nur doof, aber mir fal­len tat­säch­lich kei­ne Bei­spie­le für Geschich­ten ein, in denen der Prot­ago­nist in Oppo­si­ti­on zur blo­ßen Idee des Guten steht. Da wäre höchs­tens der bereits erwähn­te Staw­ro­gin in Dos­to­jew­skis Dämo­nen, der wäh­rend der Ereig­nis­se des Romans inner­lich zer­ris­sen ist, weil er eben an nichts glaubt, an etwas glau­ben will, es aber nicht kann. Aller­dings wer­den sei­ne Schwä­chen vom abs­trak­ten Guten nicht aktiv ange­grif­fen, son­dern er ver­zwei­felt an ihnen selbst und zer­stört sich dem­entspre­chend auch selbst. Das abs­trak­te Gute exis­tiert einfach.

Figu­ren wie Staw­ro­gin sind aber extrem sel­ten, sodass ich einen unaus­ge­spro­che­nen zwi­schen­mensch­li­chen Kon­sens vermute:

Das abs­trak­te Gute ist nie­mals feind­se­lig oder ander­wei­tig in Oppo­si­ti­on zu einem.

Sonst wäre es ja nicht das abs­trak­te Gute. Und Figu­ren, die sich gegen das wen­den, was gemein­hin als Gut ange­se­hen wird, wen­den sich dem­entspre­chend auch nicht wirk­lich gegen die Idee des Guten, son­dern sie haben höchs­tens ver­dreh­te Vor­stel­lun­gen davon, was gut und erstre­bens­wert ist. Denn letzt­end­lich wer­den Geschich­ten von Men­schen erschaf­fen und Men­schen wer­den von Din­gen moti­viert, die sie als irgend­wie posi­tiv emp­fin­den. Ich mei­ne, selbst Fies­oduck hasst zwar Blu­men und Nied­lich­keit, aber dafür liebt er ja Ske­let­te und Waf­fen, emp­fin­det sie also als etwas Posi­ti­ves. Daher scheint eine Ableh­nung und eben nicht etwa bloß eine Per­ver­si­on des Guten nicht ganz mit der mensch­li­chen Natur ver­ein­bar zu sein. Aber wenn Du Bei­spie­le kennst, in denen der Prot­ago­nist in Oppo­si­ti­on zur blo­ßen Idee des Guten steht, schreib mir ger­ne in die Kommentare!

Was sind überhaupt Gut und Böse?

So unter­schied­lich die Dar­stel­lung des Bösen aber auch aus­fal­len mag, stellt sich immer noch die schwie­ri­ge phi­lo­so­phi­sche Fra­ge, was Gut und Böse über­haupt sind. Und ich habe kei­ner­lei Anspruch, sie erschöp­fend zu beant­wor­ten. Denn die Dis­kus­sio­nen dazu lau­fen schon seit Jahr­tau­sen­den und es besteht noch immer kei­ne Einigkeit.

Was ich aber durch­aus kann, ist, eini­ge Punk­te anzu­spre­chen, die ich für uns Autoren als beson­ders wich­tig erach­te. Allem vor­an möch­te ich noch ein­mal betonen:

Was Du in Dei­nem Werk als mora­lisch oder amo­ra­lisch dar­stellst, hängt allein von dem Welt­bild bzw. der Phi­lo­so­phie ab, die Du ver­mit­teln willst und viel­leicht sogar auch per­sön­lich vertrittst.

Das macht das Welt­bild bzw. die Phi­lo­so­phie nicht auto­ma­tisch kor­rekt und auch wenn so man­che Lite­ra­tur­wis­sen­schaft­ler mir jetzt an die Gur­gel sprin­gen wer­den: Es sagt vor allem über Dich selbst etwas aus. Denn was Du für gut und rich­tig bzw. für falsch und böse hältst, ist in der Regel das Ergeb­nis Dei­ner Lebens­er­fah­rung, Erzie­hung, Kul­tur … und allein schon der mora­li­sche Dua­lis­mus von Gut und Böse an sich ist ein kul­tu­rell sehr ein­ge­schränk­tes Kon­strukt. Es gibt zwar vie­le Men­schen, die an die Exis­tenz uni­ver­sel­ler Wer­te glau­ben, aber als Mensch mit Migra­ti­ons­hin­ter­grund und bikul­tu­rel­ler Prä­gung möch­te ich da eins loswerden:

Kulturelle Unterschiede

Als ich mit sie­ben­ein­halb Jah­ren ganz frisch in Deutsch­land war und auf eine deut­sche Grund­schu­le ging, hat­te ich ratz­fatz das Gefühl, der ein­zi­ge zivi­li­sier­te Mensch unter wil­den Affen zu sein, die in den Bäu­men sit­zen, mit Stö­cken wedeln und „Uga-uga!“ schrei­en. Oder um es kon­kre­ter zu for­mu­lie­ren und alles Nega­ti­ve, was ich über die Ein­hei­mi­schen jemals gedacht habe, über­spitzt in Wor­te zu fassen:

„Deut­sche sind see­lisch, emo­tio­nal, kul­tu­rell und gesell­schaft­lich unter­ent­wi­ckel­te, aber den­noch selbst­herr­li­che Arro­ganz­beu­tel mit sehr schlech­ter All­ge­mein­bil­dung. Dar­über hin­aus sind sie nicht zu Lie­be oder Freund­schaft fähig, weil ihr Den­ken, Han­deln und Füh­len sich nur um ihre ego­is­ti­schen und meis­tens sehr mate­ri­el­len Inter­es­sen dreht. Ins­ge­samt sind es aso­zia­le Wil­de mit High­tech, das im inter­na­tio­na­len Ver­gleich inzwi­schen aber auch schon ver­al­tet ist.“

Wie gesagt, das ist über­spitzt und spie­gelt auch nicht das vol­le Spek­trum mei­ner Gefüh­le gegen­über Deut­schen wider, denn ich habe die deut­sche See­le mit den Jah­ren dann doch etwas bes­ser ken­nen und schät­zen gelernt. Außer­dem sind sol­che ras­sis­ti­schen Gedan­ken auch völ­lig nor­mal, wenn man einen Kul­tur­schock erlei­det: Etwas, das einem hei­lig ist, wird von einer ande­ren Kul­tur völ­lig anders gehand­habt und die ers­te natür­li­che Reak­ti­on dar­auf ist Ableh­nung und mora­li­sche Ver­ur­tei­lung. Und auch wenn ich mei­ne Kul­tur­schocks mit der Zeit über­wun­den zu haben glau­be, bin ich häu­fig am Lachen, Nicken und Zustim­men, wenn „fri­sche­re“ Migran­ten über Deut­sche her­zie­hen: Ich stim­me ihnen zwar nicht kom­plett zu, aber ich ver­ste­he sehr gut, wo sie herkommen.

Nun haben Men­schen mit Migra­ti­ons­hin­ter­grund oft aber kei­ne Wahl, als sich an die herr­schen­de Kul­tur anzu­pas­sen. Und das ist rich­tig so – sage ich als Mensch mit Migra­ti­ons­hin­ter­grund. Wer sich mit der Kul­tur des Lan­des, in das er gekom­men ist, nicht anfreun­den kann oder will, muss sich halt ein ande­res Land suchen. Pro­ble­ma­tisch fin­de ich aber auch, wenn Ein­hei­mi­sche Frem­de ins Land las­sen, ohne die­se Leu­te über­haupt ken­nen­zu­ler­nen und sich auf inter­kul­tu­rel­le Pro­ble­me gefasst zu machen. Denn selbst wenn das nicht in gegen­sei­ti­gen Ras­sis­mus aus­ar­tet und die Migran­ten sich an die Leit­kul­tur anpas­sen, haben wir immer noch ein Ungleich­ge­wicht von Men­schen mit Migra­ti­ons­hin­ter­grund, die in meh­re­ren Para­dig­men und mora­li­schen Wer­te­sys­te­men den­ken kön­nen, und Ein­hei­mi­schen, die an den Macht­he­beln sit­zen, aber nicht mer­ken, wie ein­ge­schränkt ihr Hori­zont ist und dass ihre nega­ti­ven Urtei­le über ande­re Kul­tu­ren eher von Unver­ständ­nis her­rüh­ren, was wie­der­um zu Dis­kri­mi­nie­rung und Frust sei­tens der Migran­ten führt.

Was ich also sagen will, ist:

Du hast jedes Recht der Welt, Dei­ne Vor­stel­lun­gen von Gut und Böse und von Rich­tig und Falsch zu haben. – Um Him­mels Wil­len, ohne irgend­ei­ne Art von Glau­ben endest Du womög­lich sogar wie Staw­ro­gin! Aber ich möch­te davor war­nen, die eige­nen Wer­te für uni­ver­sell zu erklä­ren. Denn das ist ein direk­ter Weg zu Hass und Ras­sis­mus, und das auch dann, wenn Du Dich selbst für einen Anti­ras­sis­ten hältst. Tat­säch­lich wür­de ich, aus­ge­hend von mei­ner per­sön­li­chen Erfah­rung, sogar sagen, dass selbst­er­klär­te Anti­ras­sis­ten oft die schlimms­ten Ras­sis­ten sind. – Eben weil sie an ver­meint­li­che uni­ver­sel­le Wer­te glau­ben und dann ent­setzt sind, wenn ande­re ihre mora­li­schen Vor­stel­lun­gen nicht teilen.

In die­sem Sinne:

Leben und leben las­sen! – Und not­falls fried­lich ver­han­deln und die Wer­te des Gegen­über zu ver­ste­hen versuchen.

Empathie und Psychopathie

Ande­re gehen bei ihrer Defi­ni­ti­on von Gut und Böse aber auch die Rou­te, das Gan­ze von der Empa­thie­fä­hig­keit eines Men­schen abhän­gig zu machen. Das ulti­ma­ti­ve Böse sind dem­nach Psy­cho­pa­then und Nar­ziss­ten. Das Böse wird somit in den Bereich psy­chi­scher Stö­run­gen aus­ge­la­gert. War­um das jedoch gefähr­lich ist, haben wir im zwei­ten Teil mei­ner Tri­lo­gie über kri­ti­sches Den­ken aus­ein­an­der­ge­nom­men. Denn die Geschich­te zeigt,

dass die schlimms­ten Ver­bre­chen nicht von Psy­cho­pa­then began­gen oder zumin­dest zuge­las­sen wer­den, son­dern von gewöhn­li­chen Men­schen wie Du und ich.

Umge­kehrt führt Empa­thie auch nicht zwangs­läu­fig zu guten Hand­lun­gen. Denn den abfäl­li­gen Begriff „Gut­mensch“ gibt es nicht umsonst:

Ein Gut­mensch ist näm­lich kein guter Mensch, son­dern einer, der es zwar sein will, dabei aber mehr Scha­den als Nut­zen anrich­tet.

Sehr emp­feh­lens­wert fin­de ich hier das Video von Sel­fless by Hyram mit dem Titel: I Was a Huma­ni­ta­ri­an… and I Reg­ret It. Eine Geschich­te, die er erzählt, ist dabei sehr beispielhaft:

Er freun­de­te sich mit zwei Jun­gen an und als er her­aus­fand, wie arm sie sind, woll­te er ihnen sei­ne eige­nen Klei­der spen­den. Doch als er die­se Klei­der der Mut­ter der Jungs über­gab und ihren Blick sah, begriff er, dass er sie öffent­lich demü­tig­te, indem er in Anwe­sen­heit ihrer Freun­de sug­ge­rier­te, dass sie offen­bar nicht fähig war, ihre Kin­der ange­mes­sen zu versorgen.

Ein ande­res Bei­spiel von toxi­schem Gut­men­schen­tum ist das Füt­tern von Stra­ßen­kat­zen, ohne sie zu kastrieren:

Ja, das Leben auf der Stra­ße ist hart und selbst wenn sich für jede Stra­ßen­kat­ze ein Zuhau­se fin­den lie­ße, will nicht jede Stra­ßen­kat­ze bei Men­schen woh­nen. Kat­zen haben aller­dings die Eigen­art, dass sie sich wie Kar­ni­ckel ver­meh­ren, was sehr schnell zu einer Über­be­völ­ke­rung führt. Und dar­un­ter lei­den nicht nur die Kat­zen selbst, weil es immer weni­ger Fut­ter gibt, son­dern auch ande­re Tier­ar­ten, beson­ders Vögel und Nager, weil ihre Über­le­bens­chan­cen bei so vie­len Jägern dras­tisch schwin­den. Vor allem in Län­dern wie Aus­tra­li­en ist das ein Pro­blem, weil Kat­zen beim Jagen kei­nen Unter­schied machen zwi­schen gewöhn­li­chen 0815-Mäu­sen und vom Aus­ster­ben bedroh­ten Tierarten.

Also kurz­um:

Was sich für einen empa­thi­schen Men­schen kurz­fris­tig als gut und rich­tig anfühlt, kann lang­fris­tig ver­hee­ren­de Kon­se­quen­zen haben und sich somit als „böse“ entpuppen.

Behal­te das also im Auge, wenn Du in Dei­nen Geschich­ten Wer­te ver­mit­telst! Denn was in einer kon­kre­ten Situa­ti­on wirk­lich gut und rich­tig ist, weiß man oft nur, wenn man kri­tisch hin­ter­fragt.

Theorie und Praxis

Ein wei­te­rer Punkt, der mir beim The­ma Gut und Böse in Geschich­ten beson­ders auf­fällt, ist die Dis­kre­panz zwi­schen Theo­rie und Pra­xis. Du kennst es sicherlich:

Die Prot­ago­nis­tin Lies­chen wird vom Erzäh­ler und den ande­ren Figu­ren als ach so freund­lich, rück­sichts­voll und empa­thisch gehypt, aber als sie im Café sitzt, macht sie sich über den Kell­ner lus­tig, ohne dass er ihr irgend­et­was getan hat. Und im wei­te­ren Text fin­det sich nichts, was dar­auf hin­wei­sen könn­te, dass die­se Heu­che­lei bewusst ein­ge­baut wurde.

Tat­säch­lich sind Gut und Böse in vie­len Geschich­ten ent­ge­gen der Cha­rak­te­ri­sie­rung im Erzähl­text sehr sub­jek­tiv bzw. durch die Per­spek­ti­ve bedingt: Der Erzäh­ler (und oft auch der Autor) sym­pa­thi­siert klar mit dem Prot­ago­nis­ten und sei­nen Ver­bün­de­ten und beschreibt sie mit lau­ter posi­ti­ven und mora­li­schen Adjek­ti­ven, wäh­rend der Ant­ago­nist und sei­ne Mit­strei­ter in nega­ti­vem Licht daste­hen. Aber wenn man die Bewer­tun­gen im Text weg­lässt und nüch­tern und unpar­tei­isch die Taten der einen und der ande­ren Sei­te anschaut, sind sie gar nicht so unterschiedlich.

Bei allen Qua­li­tä­ten, die die Har­ry-Pot­ter-Rei­he durch­aus hat und von denen wir ler­nen kön­nen, machen man­che Din­ge dar­in doch sehr stut­zig: Einer­seits ist es bööö­se, bööö­se, bööö­se, wenn dunk­le Zau­be­rer und ihre Sym­pa­thi­san­ten Mug­gel­ge­bo­re­ne dis­kri­mi­nie­ren, aber wenn die Erzäh­lung durch Har­rys Pris­ma zahl­rei­che Vor­ur­tei­le gegen Über­ge­wich­ti­ge und gene­rell gegen Men­schen, die nicht sei­nem opti­schen Geschmack ent­spre­chen, durch­blit­zen lässt, ist das offen­bar in Ord­nung. – Davon, dass Har­ry und sei­ne Mit­strei­ter gegen­über Vol­de­mort ein bereits sehr gru­se­li­ges Sys­tem ver­tei­di­gen mit einem Minis­te­ri­um, des­sen Macht nicht von ande­ren Instan­zen kon­trol­liert wird, das nicht­mensch­li­che intel­li­gen­te Lebe­we­sen wie Elfen und Kobol­de dis­kri­mi­niert, von Fol­ter­ge­fäng­nis­sen Gebrauch macht und ras­sis­ti­sche Ver­bre­cher reha­bi­li­tiert und auf Macht­po­si­tio­nen setzt, mal abge­se­hen. Und ja, ich weiß, das Minis­te­ri­um wird durch­aus kri­tisch beleuch­tet, aber das Trei­ben des Ordens des Phö­nix, der ein­deu­tig „Guten“, ist nicht dar­auf aus­ge­rich­tet, der Zau­be­rer­welt eine Alter­na­ti­ve anzu­bie­ten. Sein Ziel ist eher das Wie­der­her­stel­len des alten Sta­tus quo, bloß mit bes­se­rem Per­so­nal – bzw. mit Leu­ten, die die Ordens­mit­glie­der als bes­ser erach­ten. Womit wir wie­der bei den sub­jek­ti­ven Sym­pa­thien wären.

Ich sage nicht, dass es grund­sätz­lich falsch ist, mit der sub­jek­ti­ven Moral der Figu­ren zu ope­rie­ren, aber ich den­ke, man soll­te sich des­sen bewusst sein, dass man das tut.

Zum Bei­spiel wur­de der Film 1917 dafür kri­ti­siert, dass die Deut­schen dar­in als ein­sei­tig nega­tiv gezeigt wer­den. Das ist natür­lich nur mei­ne eige­ne Mei­nung, aber ich möch­te dar­auf erwi­dern, dass die Geschich­te sehr expli­zit aus bri­ti­scher Sicht erzählt wird. Die deut­schen Sol­da­ten sind selbst­ver­ständ­lich die Fein­de der Prot­ago­nis­ten, aber sie tun eigent­lich nicht mehr und nicht weni­ger als das, was Sol­da­ten einer feind­li­chen Armee im Krieg tun. Man ver­glei­che die­se Dar­stel­lung zum Bei­spiel mit Fil­men, in denen die geg­ne­ri­sche Armee als beson­ders grau­sam und unmensch­lich gezeigt wird. In 1917 hin­ge­gen sind die deut­schen Sol­da­ten ein­fach nur Sol­da­ten der geg­ne­ri­schen Kriegs­par­tei, die tun, was sie als Sol­da­ten eben tun müs­sen. Ich wür­de daher nicht sagen, dass 1917 die deut­sche Sei­te als „böse“ dar­stellt: Es sind ein­fach nur die Rea­li­en des Ers­ten Welt­kriegs, und die geschil­der­te Geschich­te wäre mit deut­schen Prot­ago­nis­ten und bri­ti­schen Ant­ago­nis­ten wohl genau­so ver­lau­fen. Des­we­gen sehe ich da kei­ne mora­li­sche Bewer­tung der Kriegs­par­tei­en. Bloß wird nur aus einer Sicht berich­tet und dem­entspre­chend sind auch die Zuschau­er auf die­ser Seite.

Eben­so wie die „guten“ Figu­ren sich bei genaue­rem Hin­se­hen als deut­lich weni­ger gute Men­schen ent­pup­pen kön­nen, pas­siert es oft, dass böse, böse Ant­ago­nis­ten Sym­pa­thien wecken. Doch wie man sicher­geht, dass die Unsym­pa­then wirk­lich unsym­pa­thisch sind, haben wir schon in einem frü­he­ren Arti­kel bespro­chen. Und auch ein Arti­kel über das Erschaf­fen sym­pa­thi­scher Figu­ren ist bereits vorhanden.

Des­we­gen nur noch eine klei­ne Anmer­kung dar­über, dass allein schon ein Kon­text­wech­sel die Per­spek­ti­ve auf eine Figur ver­än­dern kann:

Das ist zum Bei­spiel die Prä­mis­se von The Devil Is a Part-Timer!, wo der dunk­le Lord Satan aus sei­ner Fan­ta­sy-Welt, die er fast erobert hat, flüch­ten muss und in unse­rer Welt lan­det. Abge­se­hen davon, dass er aus sei­ner eige­nen Per­spek­ti­ve her­aus über­haupt nicht böse ist, machen sei­ne Beharr­lich­keit, Ziel­stre­big­keit und Ambi­tio­niert­heit ihn zum Mus­ter­an­ge­stell­ten der Fast-Food-Ket­te MgRonald’s, wobei sei­ne beschei­de­ne Situa­ti­on ihn auch nicht im Gerings­ten dar­an hin­dert, eine Wie­der­erobe­rung sei­ner Hei­mat­welt zu planen.

Alles in allem lau­tet mein Hin­weis an die­ser Stel­le also:

Dei­ne Figu­ren kom­men even­tu­ell anders rüber, als Du Dir vor­stellst. Ach­te des­we­gen dar­auf, dass sie auch in der Pra­xis das erfül­len, was Du in ihre Beschrei­bung gepackt hast. Und wenn Du Lust hast, kannst Du damit sogar spie­len.

Indoktrination und Entmenschlichung

Der letz­te Punkt, den ich in Bezug auf Gut und Böse anspre­chen möch­te, ist, dass Schwarz-Weiß-Male­rei, wie ich im drit­ten Teil mei­ner Rei­he über kri­ti­sches Den­ken erläu­tert habe, in der Regel ein sehr siche­res Anzei­chen von Pro­pa­gan­da ist. Und das unab­hän­gig davon, ob die­se Pro­pa­gan­da bewusst ein­ge­baut wird oder der Autor ein­fach nur unre­flek­tiert sei­ne eige­ne Welt­sicht darlegt.

Weil fik­tio­na­le Geschich­ten sehr oft mit Gut und Böse ope­rie­ren, rutscht man bei Ant­ago­nis­ten vom Typ „hat Grün­de“ und „weil Keks“ häu­fig in die­sen sim­plis­ti­schen Dua­lis­mus, bei dem das „Böse“ unver­bes­ser­lich böse ist und nur durch bana­le Ver­nich­tung besiegt wer­den kann. Nicht alle Geschich­ten brau­chen eine mora­li­sche Kom­ple­xi­tät, aber wenn die­se mora­li­sche Ein­fach­heit mit Ver­wei­sen auf Phä­no­me­ne oder Grup­pen in der rea­len Welt ein­her­geht, dann kann man Dir als Autor – durch­aus zu Recht, wie ich fin­de, – vor­wer­fen, Du wür­dest Het­ze betrei­ben. Denn es ist eine Sache, irgend­wel­che fan­ta­sie­vol­len Orks, die es in der rea­len Welt gar nicht gibt, als böse dar­zu­stel­len, aber wenn Dei­ne Orks an irgend­wel­che real exis­tie­ren­den Grup­pen erin­nern, dann schwingt da mit: Die Grup­pe XY ist böse und gehört, eben­so wie auch die von Grund auf bösen Orks, aus­ge­rot­tet! Es fin­det also eine Über­tra­gung der sim­plis­ti­schen Moral aus der Geschich­te in die Rea­li­tät statt, die Per­spek­ti­ve und die Beweg­grün­de der Grup­pe XY fal­len unter den Tisch und ihre Mit­glie­der wer­den der Mensch­lich­keit beraubt. Und wer die­ser Über­tra­gung erliegt – in der Regel unbe­wusst –, neigt dazu, der Grup­pe XY gegen­über weni­ger empa­thisch zu sein.

Jede men­schen­ver­ach­ten­de Ideo­lo­gie hat mit sol­chen Dar­stel­lun­gen angefangen!

Viel­leicht erin­nerst Du Dich an die­ser Stel­le auch an mei­nen Arti­kel über das Erschaf­fen inter­es­san­ter Figu­ren, wo ich nicht nur Schwarz-Weiß, son­dern auch „Grau­stu­fen“ ableh­ne. In dem Arti­kel tue ich das, weil ich Schwarz-Weiß und Grau­stu­fen nicht für eine gute Grund­la­ge für das Erschaf­fen inter­es­san­ter Figu­ren hal­te, aber gene­rell leh­ne ich Schwarz-Weiß und Grau­stu­fen auch wegen der in die­sem gan­zen letz­ten Drit­tel dar­ge­leg­ten Aspek­te ab:

Denn hin­ter Grau­stu­fen ver­birgt sich immer noch eine Vor­stel­lung von uni­ver­sel­lem Schwarz und Weiß, bloß in einer Mischung.

Aber bedeu­tet das, dass ich grund­sätz­lich gegen die Exis­tenz von Ant­ago­nis­ten ohne nach­voll­zieh­ba­re Hin­ter­grund­ge­schich­te bin?

Natür­lich nicht.

Viel­mehr möch­te ich dazu auf­ru­fen, nicht die Men­schen in Schwarz, Weiß oder eben Grau­tö­ne zu unter­tei­len, son­dern ihre Hand­lun­gen bzw. deren Aus­wir­kun­gen.

Denn es gibt – und dabei blei­be ich – kei­ne guten oder schlech­ten Cha­rak­ter­ei­gen­schaf­ten, son­dern ein­fach nur ver­schie­de­ne Eigen­schaf­ten, die sich in ver­schie­de­nen Situa­tio­nen und Kon­tex­ten mal pro­duk­tiv und mal destruk­tiv äußern.

Und ja, nicht ein­mal Psy­cho­pa­thie wür­de ich als schlech­te Eigen­schaft ein­stu­fen. Wie ich im Arti­kel über Macht­struk­tu­ren ange­schnit­ten habe, nei­gen Psy­cho­pa­then im Schnitt zwar tat­säch­lich stär­ker zu kri­mi­nel­lem Ver­hal­ten, aber grund­sätz­lich ist zwi­schen „toxi­schen“ und „gut­ar­ti­gen“ Psy­cho­pa­then zu unter­schei­den. Letz­te­re kön­nen ihre Furcht­lo­sig­keit und Durch­set­zungs­fä­hig­keit in den Dienst der Gemein­schaft stel­len und her­vor­ra­gen­de Feu­er­wehr­leu­te, Not­fall­ärz­te und Kri­sen­ma­na­ger abge­ben. Alles hängt davon ab, wofür der indi­vi­du­el­le Psy­cho­path sei­ne Psy­cho­pa­thie einsetzt.

In dem Sinne:

Lass uns wei­ter­hin über Gut und Böse schrei­ben, ver­schie­de­ne Wert- und Moral­kon­struk­te erfor­schen und span­nen­de Antagonisten/​Opponenten erschaf­fen, dabei aber nie­mals ver­ges­sen, dass wir alle Men­schen sind.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert