Selbstbild, Weltbild und subjektive Realitäten (Wie geht selbstständiges, kritisches Denken? – Teil 1)

Selbstbild, Weltbild und subjektive Realitäten (Wie geht selbstständiges, kritisches Denken? – Teil 1)

Kannst Du kri­tisch den­ken oder glaubst Du das nur? Gera­de in unse­ren heu­ti­gen tur­bu­len­ten Zei­ten ist das The­ma sehr wich­tig, und des­we­gen wagen wir uns an eine Arti­kel-Tri­lo­gie dazu. In die­sem ers­ten Teil geht es um unse­re sub­jek­ti­ven Rea­li­tä­ten: Denk­feh­ler, kogni­ti­ve Blo­cka­den, Her­den­men­ta­li­tät, Auto­ri­täts­hö­rig­keit und war­um unser Selbst- und Welt­bild das kri­ti­sche Den­ken behindert …

Die Foli­en für die­ses Video gibt es für Ste­ady-Abon­nen­ten und Kanal­mitglieder auf You­Tube als PDF zum Download.

Du wirst die­se Serie has­sen. Denn wir alle haben unse­re Über­zeu­gun­gen und Nar­ra­ti­ve, die in unse­rem Hirn abso­lut Sinn erge­ben, und wir alle ste­hen ger­ne posi­tiv da. Dabei kommt es sehr sel­ten vor, dass wir unser eige­nes Selbst­bild her­aus­for­dern und unser Den­ken hin­ter­fra­gen. Was ist also, wenn ich pro­vo­kant frage:

Kannst Du kri­tisch den­ken oder bist Du eine Dumpf­ba­cke, die ein­fach nur frem­de Mei­nun­gen nach­plap­pert und mit dem Strom schwimmt?

Eigent­lich soll­ten gera­de wir Lite­ra­ten doch vor allem eins wissen:

Erzäh­len ist immer eine Ver­fäl­schung der objek­ti­ven Ereig­nis­se.

Und auf unse­re Über­zeu­gun­gen und Nar­ra­ti­ve über­tra­gen bedeu­tet das:

Unse­re Ansich­ten sind nichts wei­ter als Geschich­ten, die wir uns selbst erzäh­len. Die­se Geschich­ten mögen dabei noch so sehr auf Fak­ten beru­hen: Es han­delt sich um Erzäh­lun­gen, und Erzäh­lun­gen sind, wie gesagt, immer eine Ver­fäl­schung der objek­ti­ven Ereig­nis­se.

Somit sind unse­re Ansich­ten und Mei­nun­gen, so sehr wir uns auch um Objek­ti­vi­tät bemü­hen, immer eine ver­fälsch­te Sicht­wei­se auf die Rea­li­tät.

Aus­ge­hend von die­sem Wis­sen aus unse­rem eige­nen Fach­be­reich kön­nen wir also etwas fürs Leben ler­nen. Doch dazu müs­sen wir über unse­ren eige­nen Schat­ten sprin­gen, vor allem, wenn wir in unse­ren Wer­ken irgend­wel­che Bot­schaf­ten, Wer­te und Welt­an­schau­un­gen ver­mit­teln wol­len: Denn in die­ser Serie wer­de ich Dir dar­le­gen, dass Du – zumin­dest in den meis­ten Berei­chen – eine mit­läu­fe­ri­sche Dumpf­ba­cke und sogar ein poten­ti­el­les Arsch­loch bist. Heu­te begin­nend mit dem Thema:

Als nor­mal­sterb­li­cher homo sapi­ens bist Du natur­be­dingt zu doof, um die objek­ti­ve Rea­li­tät auch nur wahrzunehmen.

Gefangen in einer Welt von Illusionen

War­um das Erzäh­len immer auto­ma­tisch eine Ver­fäl­schung ist, haben wir bereits in einem frü­he­ren Arti­kel bespro­chen. Daher sei das Wesent­li­che hier nur schnell aufgefrischt:

Erzäh­len bedeu­tet, unter den wahr­ge­nom­me­nen Vor­fäl­len eine Aus­wahl zu tref­fen, die aus­ge­wähl­ten Vor­fäl­le auf eine bestimm­te Wei­se anzu­ord­nen und anschlie­ßend auf eine bestimm­te Wei­se zu prä­sen­tie­ren.

Und um das Gan­ze noch etwas zu vertiefen:

Für die Aus­wahl, Anord­nung und Prä­sen­ta­ti­on der Vor­fäl­le nut­zen wir immer irgend­wel­che Kri­te­ri­en, deren Aus­wahl wie­der­um irgend­wel­chen Kri­te­ri­en unter­liegt, die wie­der­um irgend­wel­chen Kri­te­ri­en unter­lie­gen, und nach einer schier end­lo­sen Ket­te von Kri­te­ri­en lan­den wir irgend­wann bei qua­si-reli­giö­sen Glau­bens­sät­zen und Annah­men. (Und dann wol­len man­che Leu­te einem erzäh­len, sie wären nicht gläubig. 😜)

Falls Du noch nicht über­zeugt bist, hier ein sehr ein­fa­ches Beispiel …

Ehrliche Unwahrheit

Fritz­chen hat einen Auto­un­fall beob­ach­tet und wird nun von der Poli­zei befragt. Der Unfall­ver­ur­sa­cher hat Fah­rer­flucht began­gen und die Poli­zis­tin möch­te von Fritz­chen eine mög­lichst genaue Beschrei­bung des Autos.

Fritz­chen weiß, dass es am sinn­volls­ten wäre, das Kenn­zei­chen zu nen­nen. Er weiß es nicht, weil er durch eige­ne Ana­ly­sen zu die­sem Ergeb­nis gekom­men ist, son­dern weil man es ihm so ein­ge­trich­tert hat. Somit ist das nicht Wis­sen, son­dern ein Glau­bens­satz – zumin­dest bis Fritz­chen selbst­stän­dig eine Sta­tis­tik dar­über zusam­men­stellt, wie oft das Wis­sen um das Auto­kenn­zei­chen des Täters der Poli­zei tat­säch­lich gehol­fen hat. Und selbst dann kann es noch pas­sie­ren, dass Fritz­chen beim Auf­stel­len einer sol­chen Sta­tis­tik Feh­ler macht. Er müss­te die­se Sta­tis­tik des­we­gen prü­fen las­sen und idea­ler­wei­se soll­ten auch ande­re unab­hän­gig von ihm sol­che Sta­tis­ti­ken zusam­men­stel­len. Wenn also alle die­se Stu­di­en zum sel­ben Ergeb­nis kom­men und auch alle Kri­tik aus­hal­ten, dann kann Fritz­chen erst davon aus­ge­hen, dass sei­ne Annah­me wahr­schein­lich kor­rekt ist. – Eben nur wahr­schein­lich, weil es immer noch sein kann, dass es einen Fak­tor gibt, den nie­mand beach­tet hat.

Nun hat Fritz­chen aber kei­ne sol­che Sta­tis­tik auf­ge­stellt, ver­lässt sich auf sei­nen Glau­ben und ver­sucht, sich an das Kenn­zei­chen zu erin­nern, zumal es mit­ten in sei­nem Blick­feld war. Doch obwohl Fritz­chen das Kenn­zei­chen durch­aus pas­siv wahr­ge­nom­men hat, hat er nicht gezielt dar­auf geach­tet. Wor­auf er ach­tet, wird näm­lich maß­geb­lich vom Kri­te­ri­um „Inter­es­se“ bestimmt, und Auto­kenn­zei­chen fin­det Fritz­chen eben nicht span­nend. Des­we­gen über­legt er, was noch rele­vant sein könn­te, sucht also nach wei­te­ren Kri­te­ri­en, nach denen er eine Aus­wahl der zu berich­ten­den Fak­ten tref­fen kann. Dass das Auto vier Räder hat­te, hält er zum Bei­spiel für irrele­vant, weil die­se Infor­ma­ti­on auf jedes Auto zutref­fen könn­te. Des­we­gen streicht er sie.

Rele­van­ter sind in Fritz­chens sub­jek­ti­ver Wahr­neh­mung die Far­be und die Mar­ke des Autos. Sub­jek­tiv ist die­se Ansicht des­we­gen, weil Fritz­chens Annah­me, dass es bei Far­ben und Mar­ken eine grö­ße­re Viel­falt gibt, auf sei­nen sub­jek­ti­ven Erleb­nis­sen in den weni­gen Städ­ten, in denen er in sei­nem Leben gewe­sen ist, beruht. Fritz­chen kann eigent­lich nicht aus­schlie­ßen, dass es dort, wo er wohnt, zufäl­lig eine grö­ße­re Viel­falt gibt als anders­wo. Und ein grau­er VW zum Bei­spiel wäre in einem Gebiet, das von grau­en VWs bevöl­kert ist, schwer zu fin­den. Die Poli­zei freut sich natür­lich über jedes Detail, das er lie­fern kann, aber um sich eini­ger­ma­ßen sicher zu sein, dass die Infor­ma­ti­on wirk­lich wich­tig sein wird, bräuch­te Fritz­chen eigent­lich eben­falls eine Statistik.

Nun war das Auto aber kein grau­er VW, son­dern Fritz­chen ist sich ziem­lich sicher, einen Mer­ce­des-Stern gese­hen zu haben. Er sagt also, es sei ein Mer­ce­des gewe­sen, weil er davon aus­geht, dass ein Auto mit einem Mer­ce­des-Stern ein Mer­ce­des ist. Die Fest­stel­lung der Auto­mar­ke unter­liegt also dem Kri­te­ri­um von Fritz­chens Wis­sens- oder eher: Glau­benshori­zont. Details, die über die­sen Hori­zont hin­aus­ge­hen, hält Fritz­chen nicht für erwäh­nens­wert. Dabei hat­te das Auto, das Fritz­chen zu beschrei­ben ver­sucht, in Wirk­lich­keit einen zwei­ge­teil­ten, abge­run­de­ten Küh­ler­grill, und das ist ein cha­rak­te­ris­ti­sches Merk­mal von BMWs, die soge­nann­te BMW-Niere.

Was die Far­be angeht, so hat Fritz­chen von sei­nem Augen­arzt gesagt bekom­men, dass er gute Augen hat. Er ver­lässt sich also auf sie, und weil er in sei­nem Leben – im Gegen­satz zu bei­spiels­wei­se Foto­gra­fen – nicht viel mit Licht arbei­tet, denkt er auch nicht an sol­che Fak­to­ren wie opti­sche Täu­schun­gen. Er ist sich also sicher – oder eher: glaubt –, dass das Auto schwarz war. In Wirk­lich­keit aber hat es auf­grund der herr­schen­den Licht­ver­hält­nis­se von sei­nem Stand­punkt aus nur so aus­ge­hen. Eigent­lich war das Auto dunkelblau.

Obwohl Fritz­chen also ehr­lich und auf­rich­tig sein Bes­tes gibt, über­häuft er die Poli­zis­tin mit Falsch­an­ga­ben. Er sagt, das Auto sei ein schwar­zer Mer­ce­des gewe­sen, obwohl es ein dun­kel­blau­er BMW war. Wenn die Poli­zis­tin sei­nen Bericht also für bare Mün­ze nimmt, dann ist sie eine schlech­te Poli­zis­tin und wird den Täter nicht finden.

Unse­re Poli­zis­tin ist aber eine gute Poli­zis­tin und löchert Fritz­chen mit Fra­gen, die sich extra­doof anfüh­len, bei Zeu­gen­be­fra­gun­gen und Ver­hö­ren aber aus gutem Grund oft vorkommen:

„Woher wis­sen Sie, dass es ein Mer­ce­des war?“

„Da war ein Mercedes-Stern.“

„Wie sah er aus?“

„Wie ein Mer­ce­des-Stern eben aussieht.“

„Wie sieht ein Mer­ce­des-Stern aus? Wie vie­le Zacken hat er, zum Beispiel?“

„Na wie ein Stern halt! Fünf Zacken!“

Autsch! Nun weiß die Poli­zis­tin ziem­lich genau, dass Fritz­chen sich mit Auto­mar­ken nicht aus­kennt und das Auto mög­li­cher­wei­se kein Mer­ce­des war. Denn ein Mer­ce­des-Stern hat drei Zacken, nicht fünf. Weil das The­ma Küh­ler­grill nicht erwähnt wird und die Poli­zis­tin auch sonst kei­ne wei­te­ren Anga­ben zur Mar­ke aus dem Nicht-Auto­ken­ner Fritz­chen her­aus­be­kommt, kann sie dazu nichts notie­ren. Aber dafür hat sie eine ande­re wich­ti­ge Infor­ma­ti­on, die Fritz­chen ihr unwis­sent­lich gege­ben hat: Auf dem Auto ist aus irgend­ei­nem Grund eine Deko­ra­ti­on in Form eines fünf­za­cki­gen Sterns mon­tiert, was ein sehr unge­wöhn­li­ches und dadurch auf­fäl­li­ges Merk­mal ist.

In Bezug auf die Far­be weiß unse­re Poli­zis­tin sehr wohl um mög­li­che Täu­schun­gen und befragt Fritz­chen aus­führ­lich zum Wet­ter und den Licht­ver­hält­nis­sen. Am Ende notiert sie sich, dass das Auto mög­li­cher­wei­se schwarz, aber mit größ­ter Wahr­schein­lich­keit zumin­dest dun­kel ist.

Was das Kenn­zei­chen angeht, so hält die Poli­zis­tin die­se Infor­ma­ti­on auf Grund von per­sön­li­cher Erfah­rung, Aus­tausch mit Kol­le­gen und nicht zuletzt durch poli­zei­in­ter­ne Sta­tis­ti­ken für durch­aus sehr wich­tig. Und wenn Fritz­chen nicht von sich aus gesagt hät­te, dass er sich nicht erin­nern kann, hät­te sie ihn danach gefragt. (Eben­so übri­gens, wie sie ihn auch nach der Mar­ke und der Far­be gefragt hät­te.) Dass sie kein Kenn­zei­chen notie­ren kann, ist zwar scha­de, aber sie quetscht ihn trotz­dem wei­ter aus und bekommt wenigs­tens die Infor­ma­ti­on, dass da schwar­ze Buch­sta­ben und Zah­len auf wei­ßem Grund waren. Somit ist das Auto wahr­schein­lich in einem Land regis­triert, in dem wei­ße Pla­ket­ten benutzt wer­den, zum Bei­spiel eher Deutsch­land und nicht etwa Nie­der­lan­de. – Vor­aus­ge­setzt natür­lich, das Num­mern­schild ist echt.

Das End­ergeb­nis ist: Obwohl die Poli­zis­tin durch­aus den Ein­druck hat, dass Fritz­chen, ein Augen­zeu­ge, nach bes­tem Wis­sen und Gewis­sen zu hel­fen ver­sucht, hin­ter­fragt sie jedes Detail sei­ner Anga­ben. Denn Fritz­chen mag den Unfall klar gese­hen haben, aber wie sich her­aus­stellt, hat er nur sehr bedingt ver­stan­den, was er da gese­hen hat. Und durch die­ses Hin­ter­fra­gen fin­det die Poli­zis­tin schließ­lich die Wahr­heit her­aus. So kann der Täter gefasst und bestraft wer­den, das Unfall­op­fer ist nur leicht ver­letzt und schon bald wie­der auf den Bei­nen, bekommt Scha­dens­er­satz und die Geschich­te hat ein Hap­py End.

Denkfehler & Co.: Entstehung und Aufrechterhaltung subjektiver Realitäten

Das war jetzt aber nur ein sehr ver­ein­fach­tes, harm­lo­ses Bei­spiel, mit dem ich zu demons­trie­ren versuche,

wie jede Wahr­neh­mung, jeder Gedan­ke, jede Infor­ma­ti­on, die Du zu wis­sen glaubst, eine indi­vi­du­el­le, phan­tas­ti­sche Par­al­lel­welt kon­stru­ie­ren, die Du aber für die objek­ti­ve Rea­li­tät hältst.

Und wenn jemand Din­ge sagt, die nicht in Dei­ne phan­tas­ti­sche Par­al­lel­welt pas­sen, hältst Du, geblen­det von Dei­nem Glau­ben an Dei­ne Wahr­neh­mung, Dei­ne sub­jek­ti­ven Erfah­run­gen und Dein ver­meint­li­ches Wis­sen, die­se Per­son für dumm oder ver­rückt. Schlimms­ten­falls wirst Du die­ser Per­son gegen­über sogar aggres­siv, weil Du glaubst (so viel Glau­ben hier!), dass ihre Ansich­ten gefähr­lich sind.

Dabei sind so vie­le kom­ple­xe psy­cho­lo­gi­sche und gesell­schaft­li­che Pro­zes­se am Werk, dass es schnell unüber­sicht­lich wird. Ver­su­chen wir den­noch, zumin­dest eini­ge von ihnen auf­zu­zäh­len und in ein Sys­tem zu bringen …

Die Wurzel des Übels: Ego und Selbstbild

Begin­nen wir dabei mit dem Grundlegendsten:

dem mensch­li­chen Bedürf­nis, sich selbst als lebens- und lie­bens­wer­tes Geschöpf zu sehen.

Dabei ver­fal­len Men­schen oft dem Irr­glau­ben, dass sie, sofern sie kei­ne bösen Gedan­ken und Absich­ten haben, auch nichts Böses tun kön­nen. Das stimmt schon allein des­we­gen nicht, weil wir in der Pra­xis stän­dig Inter­es­sen­kon­flik­te beob­ach­ten, für die nie­mand von den Betei­lig­ten etwas kann. Zum Beispiel:

Lies­chen ist talen­tiert und bekommt in der Schu­le, ohne sich groß zu bemü­hen, gute Noten. Ernas Talen­te lie­gen in ande­ren Berei­chen und sie tut sich in der Schu­le schwer. Ernas Eltern machen sich Sor­gen um ihre Toch­ter und wol­len sie zum Ler­nen moti­vie­ren, indem sie ihr Lies­chen als Vor­bild vor­hal­ten. Dass sol­che Ver­glei­che ers­tens ein klas­si­scher Erzie­hungs­feh­ler sind und zwei­tens nicht funk­tio­nie­ren, wenn die Talen­te der Ver­gli­che­nen völ­lig unter­schied­lich ver­teilt sind, kommt ihnen gar nicht in den Sinn, weil ihre eige­nen Talen­te so gestrickt sind, dass sie sich nur bedingt für Psy­cho­lo­gie inter­es­sie­ren. Sie wol­len ein­fach nur das Bes­te für ihre Toch­ter und han­deln nach ihrem bes­ten Wis­sen und Gewis­sen. Für Erna jedoch ist die­ses stän­di­ge Vor­hal­ten Lies­chens als Ide­al frus­trie­rend, sie fühlt sich selbst ent­wer­tet und ent­wi­ckelt einen Hass auf Lies­chen, die wie­der­um nicht ver­ste­hen kann, war­um Erna so kalt zu ihr ist.

Da haben wir also den Salat: Lies­chen ist ein­fach durch ihre blo­ße Exis­tenz zu einem Pro­blem für Erna gewor­den, Ernas Eltern durch ihr mensch­li­ches Unwis­sen zu Aggres­so­ren, die gleich zwei Kin­dern das Leben schwer machen, und das zunächst unschul­di­ge Opfer Erna wird unab­sicht­lich zur Täte­rin. Wir haben einen Kon­flikt, in dem jeder sich mora­lisch im Recht sieht, weil er ja kei­ne bösen Absich­ten hat. Und wenn man die­sen Kon­flikt auf­lö­sen möch­te, müss­ten alle Betei­lig­ten über ihren Schat­ten sprin­gen und vor allem sich selbst ein­ge­ste­hen, dass sie, wenn auch ohne es zu wol­len, Scha­den anrich­ten und jeman­des Leben, zumin­dest in einem Aspekt, ohne sie ange­neh­mer wäre. Und gera­de Letz­te­res ist ein Gedan­ke, den kaum ein Mensch zulas­sen möchte.

Das heißt natür­lich nicht, dass wir uns alle aus dem Weg gehen oder gegen­sei­tig umbrin­gen müss­ten. Aber wir soll­ten ein­se­hen, dass Inter­es­sen­kon­flik­te das Natür­lichs­te der Welt sind. Ich mei­ne, schaue Dir die Nah­rungs­ket­te an: Eine Kat­ze will leben und muss des­we­gen die Maus fres­sen und vor­her mit ihr ihre sadis­ti­schen Spiel­chen trei­ben, um als Jäge­rin in Form zu blei­ben; die Maus will aber auch leben und muss des­we­gen schau­en, wie sie ent­wi­schen kann. Um die Natür­lich­keit von Inter­es­sen­kon­flik­ten jedoch zu akzep­tie­ren, müss­ten wir, den­ke ich, tun, was so ziem­lich jeder Per­sön­lich­keits­coach der Welt predigt:

Hör auf, Dei­nen Selbst­wert an irgend­wel­che Kri­te­ri­en zu koppeln!

Denn sobald Du glaubst – klin­ge­ling! –, dass Du nur dann etwas wert bist oder mehr wert bist, wenn Du mora­lisch, intel­li­gent, beliebt, erfolg­reich oder was auch immer bist, wirst Du sehr schnell Opfer von Mani­pu­la­tio­nen und endest womög­lich sogar als empa­thie­be­hin­der­tes Arsch­loch und merkst es nicht mal. Hier ein paar Beispiele:

  • Bestimmt kennst Du die fast schon kli­schee­haf­ten Mani­pu­la­ti­ons­ver­su­che, mit denen fik­ti­ve Figu­ren Böse­wich­te oft von etwas zu über­zeu­gen ver­su­chen, indem sie auf deren ver­meint­li­che posi­ti­ve Eigen­schaf­ten pochen. Neh­men wir zum Bei­spiel die zwei­te Fol­ge der ers­ten Staf­fel des Brea­king-Bad-Able­gers Bet­ter Call Saul, in der der Anwalt Jim­my McGill, der spä­te­re Saul Good­man, ver­sucht, den bru­ta­len Dro­gen­boss Tuco Sala­man­ca davon zu über­zeu­gen, ihn und sei­ne zwei Kom­pli­zen, die nur ver­se­hent­lich in einen Kon­flikt mit Tuco geschlit­tert sind, am Leben zu las­sen. Dabei benutzt er ein gan­zes Feu­er­werk aus Mani­pu­la­ti­ons­tech­ni­ken. Zum Bei­spiel bestä­tigt er Tucos Selbst­bild mit den Wor­ten: „You’­re tough, but you’­re fair. You’­re all about jus­ti­ce.“ Natür­lich glaubt Tuco ger­ne, dass er gerecht ist, und somit muss Jim­my ihn „nur“ noch davon über­zeu­gen, dass Gerech­tig­keit dar­in besteht, ihn und sei­ne Kom­pli­zen gehen zu lassen.
  • Auch aus der Wer­bung kennst Du die­ses Prin­zip. Zum Bei­spiel: „Die neu­en Schu­he von XY – Die Schu­he für coo­le Kids!“ Wenn Kin­der oder Teen­ager eine Wer­bung von die­sem Typ sehen, dann wird ihnen der Gedan­ke ein­ge­pflanzt: „Wenn ich zu den coo­len Kids gehö­ren will, dann brau­che ich die Schu­he von XY!“ – Und dann kom­men sie alle uni­for­miert in XY-Schu­hen zur Schu­le und kom­men sich sehr indi­vi­du­ell vor.
  • Glaub aber ja nicht, dass nur sozio­pa­thi­sche Mafia­bos­se und Kin­der dar­auf her­ein­fal­len! So hat zum Bei­spiel die Frank­fur­ter All­ge­mei­ne Zei­tung einen sehr mani­pu­la­ti­ven Wer­be­spruch: „Dahin­ter steckt immer ein klu­ger Kopf“. Da schwingt natür­lich mit: „Wenn Du die FAZ liest, bist Du klug.“ Die FAZ posi­tio­niert sich also als Zei­tung für Intel­lek­tu­el­le und prä­sen­tiert sich auch mit ent­spre­chen­den Attri­bu­ten wie bei­spiels­wei­se einem anspruchs­vol­len Schreib­stil. Das ist aber rei­ne Kos­me­tik, Äußer­lich­kei­ten, und ob die FAZ in der Tat ihrem Anspruch gerecht wird, kann man nur fest­stel­len, wenn man den Inhalt ihrer Arti­kel immer wie­der über­prüft. Und mal ehr­lich: Wie vie­le FAZ-Leser kennst Du, die das tun? Es ist eher die Min­der­heit, aber sie alle genie­ßen das Gefühl von intel­lek­tu­el­ler Über­le­gen­heit, das die Mar­ke­ting-Abtei­lung der FAZ auf­baut. Somit läuft ein all­zu unkri­ti­scher FAZ-Leser Gefahr, in Wirk­lich­keit zu einem Papa­gei­en zu ver­kom­men, der ein­fach nur nach­plap­pert, was ande­re ver­meint­lich klu­ge Leu­te sagen, damit er nicht selbst nach­den­ken muss, um klug zu wir­ken. Genau des­we­gen sind Men­schen, die sich selbst für beson­ders intel­li­gent hal­ten, ten­den­zi­ell beson­ders anfäl­lig für Mani­pu­la­tio­nen. Es ist wie in Hans Chris­ti­an Ander­sens berühm­tem Mär­chen Des Kai­sers neue Klei­der: Eine Lüge kann sich äußerst hart­nä­ckig hal­ten, wenn nie­mand sich traut, als dumm dazu­ste­hen. Und daher ist es wich­tig, ganz beson­ders die soge­nann­ten Qua­li­täts­me­di­en zu hin­ter­fra­gen und zu kri­ti­sie­ren: damit sie tat­säch­lich Qua­li­täts­me­di­en blei­ben. – Ab dem Moment, wo Kri­ti­ker von Qua­li­täts­me­di­en ange­grif­fen und dif­fa­miert wer­den, kannst Du Dir so ziem­lich sicher sein, dass da etwas nicht stimmt.
  • Die Mani­pu­la­tio­nen kön­nen dabei nicht nur von außen kom­men, son­dern auch aus Dir selbst her­aus. Das zeigt zum Bei­spiel ein psy­cho­lo­gi­sches Expe­ri­ment an der Uni­ver­si­ty of Cali­for­nia, Irvi­ne. Die Teil­neh­mer soll­ten Mono­po­ly spie­len, aber mit abso­lut unfai­ren Start- und Spiel­be­din­gun­gen: Durch einen Münz­wurf wur­de ent­schie­den, wer ein grö­ße­res Start­ka­pi­tal und mehr Züge hat­te. Natür­lich gewan­nen die Spie­ler, die von vorn­her­ein im Vor­teil waren. Statt aber ein­zu­se­hen, dass sie ein­fach nur Glück hat­ten, führ­ten sie ihren Erfolg auf ihr Kön­nen zurück. Es fühlt sich nun mal sehr ange­nehm an, klug und geschickt zu sein, und es ist ein Betrug, den wir uns selbst ger­ne abkau­fen. Und es macht uns weni­ger empa­thisch gegen­über Men­schen, die weni­ger Glück im Leben haben als wir: Denn wenn wir unse­re eige­nen Errun­gen­schaf­ten auf unser Kön­nen zurück­füh­ren, dann füh­ren wir den Miss­erfolg ande­rer auf deren Nicht­kön­nen zurück. Statt sich also soli­da­risch zu zei­gen, sagen wir lie­ber arro­gant: „Sel­ber schuld!“
  • Äußerst span­nend ist in Sachen Selbst­be­trug auch die men­ta­le Akro­ba­tik, mit der sich Täter und oft auch ihre Ange­hö­ri­gen die Hän­de in Unschuld waschen, um ja nicht als nicht lebens- und lie­bens­wert dazu­ste­hen, vor allem in den eige­nen Augen. „Selbst schuld!“ ist zum Bei­spiel eine belieb­te Aus­re­de von Mob­bern und Ver­ge­wal­ti­gern: Statt Ver­ant­wor­tung für ihre Taten zu über­neh­men, wol­len sie die Schuld ihrem Opfer in die Schu­he schie­ben. Der Fach­be­griff dafür ist vic­tim bla­ming bzw. Täter-Opfer-Umkehr. Was auch vor­kommt, ist eine Art selek­ti­ve Amne­sie, zum Bei­spiel, wenn ein ehe­ma­li­ger Mob­ber sich vie­le Jah­re spä­ter nicht mehr erin­nert, dass er jeman­den gemobbt hat. Und auch bei Opfern kann es zu Ver­zer­run­gen im Erin­ne­rungs­ver­mö­gen kom­men – als Opfer dazu­ste­hen ist eben auch sehr unan­ge­nehm und nicht jeder kann das ertra­gen, also greift das Unter­be­wusst­sein schüt­zend ein.
  • Eine noch kras­se­re Form von Selbst­be­trug lässt sich bei NS-Pro­zes­sen beob­ach­ten. Geis­tig abso­lut gesun­de Men­schen, die, ziem­lich ein­deu­ti­gen Bewei­sen nach zu urtei­len, an Mas­sen­mor­den und ande­ren Ver­bre­chen des Natio­nal­so­zia­lis­mus betei­ligt waren, glau­ben ger­ne bis an ihr Lebens­en­de auf­rich­tig, nach bes­tem Wis­sen und Gewis­sen gehan­delt zu haben und pflicht­be­wuss­te, ehr­li­che und vor­bild­li­che Bür­ger oder Sol­da­ten gewe­sen zu sein. Der nie­der­län­di­sche His­to­ri­ker Dick de Mildt hat die­sem Phä­no­men ein gan­zes – übri­gens äußerst emp­feh­lens­wer­tes – Buch gewid­met: The Palm­ström Syn­dro­me. Und auch Ange­hö­ri­ge von Tätern und Mit­läu­fern sind nicht bes­ser: Im Arti­kel über Pro­pa­gan­da und Sto­rytel­ling haben wir bereits das Buch „Opa war kein Nazi“ bespro­chen. Dabei han­delt es sich um eine Aus­wer­tung von Gesprä­chen über die NS-Zeit in deut­schen Fami­li­en und auf­ge­fal­len ist da unter ande­rem eine Heroi­sie­rung und/​oder Vik­ti­mi­sie­rung der eige­nen Ange­hö­ri­gen: Die Täter waren immer „die ande­ren“ – dass Opa da gera­de erzählt, wie er Kriegs­ver­bre­chen began­gen hat, fällt nie­man­dem auf, zumal die Betei­li­gung der Wehr­macht an den Ver­bre­chen des Ver­nich­tungs­krie­ges immer noch nicht bei allen ange­kom­men zu sein scheint und vie­le die Schuld nach wie vor aus­schließ­lich bei der SS und Kon­sor­ten sehen. Die Zuge­hö­rig­keit zu einer bestimm­ten Fami­lie und ihren Wer­ten hat eben durch­aus einen Ein­fluss auf unser Selbst­bild. Zu einer Fami­lie von Ver­bre­chern, Oppor­tu­nis­ten und Mit­läu­fern zu gehö­ren, ist des­we­gen mora­lisch anstren­gend, auch wenn man selbst nichts getan hat. Die Fol­ge die­ser posi­ti­ven Vor­ein­ge­nom­men­heit gegen­über den eige­nen Ange­hö­ri­gen ist eine recht lücken­haf­te Ver­gan­gen­heits­be­wäl­ti­gung, auf die Deutsch­land sich trotz­dem ganz selbst­herr­lich etwas einbildet.
  • Kras­ser Selbst­be­trug im Zusam­men­hang mit dem Natio­nal­so­zia­lis­mus lässt sich zum Teil auch bei den Opfern beob­ach­ten: 1940 wur­de das War­schau­er Ghet­to als Sam­mel­la­ger für die Mas­sen­ver­nich­tung der Juden errich­tet. Längst nicht jeder dort konn­te mit dem Wis­sen umge­hen, dass er ein­fach so, dafür, dass er war, was er war, für die Schlacht­bank vor­be­rei­tet wur­de und die­sem Trei­ben im Grun­de hilf­los aus­ge­lie­fert war. Statt die Rea­li­tät zu akzep­tie­ren und viel­leicht sogar nach Mög­lich­kei­ten für Flucht oder Wider­stand zu suchen, haben vie­le ver­sucht, sie sich zurecht­zu­bie­gen, also gewis­ser­ma­ßen schön­zu­re­den bzw. zu ver­harm­lo­sen, was sie den Tätern gegen­über natür­lich noch hilf­lo­ser und gehor­sa­mer gemacht hat. Dick de Mildt zitiert in sei­nem Buch die Beob­ach­tun­gen des Leh­rers Cha­im Kapłan:

„The lack of reason for the­se mur­ders espe­ci­al­ly throu­bles the inha­bi­tants of the ghet­to. In order to com­fort our­sel­ves we feel com­pel­led to find some sort of sys­tem to explain the­se night-time mur­ders. Ever­yo­ne, afraid for his own skin, thinks to hims­elf: If the­re is a sys­tem, every mur­der must have a cau­se; if the­re is a cau­se, not­hing will hap­pen to me sin­ce I am abso­lut­e­ly guiltless.“

„Das Feh­len eines Grun­des für die­se Mor­de beun­ru­higt die Bewoh­ner des Ghet­tos beson­ders. Um uns selbst zu trös­ten, füh­len wir uns gezwun­gen, eine Art Sys­tem zu fin­den, um die­se nächt­li­chen Mor­de zu erklä­ren. Jeder hat Angst um sei­ne eige­ne Haut und denkt: Wenn es ein Sys­tem gibt, muss jeder Mord eine Ursa­che haben; wenn es eine Ursa­che gibt, kann mir nichts zusto­ßen, weil ich ganz unschul­dig bin.“

Abra­ham I. Katsch (Hrsg.): Scroll of Ago­ny. The War­saw Dia­ry of Cha­im A. Kaplan, Lon­don 1966, S. 264, zitiert in: Dick de Mildt: The Palm­ström Syn­dro­me. Mass Mur­der and Moti­va­ti­on. A Stu­dy of Reluc­tance, Ber­lin 2020, S. 17, hier über­setzt von Fea­el Silmarien.

Auch Nicht-Opfer – Deut­sche, die ange­sichts des Unrechts ein­fach weg­sa­hen, und die Men­schen in ande­ren Län­dern – taten sich schwer damit, die Ver­bre­chen der Nazis zu glau­ben, und wer auf sie auf­merk­sam mach­te, ern­te­te Gegen­wind. Von unter­las­se­ner Hil­fe­leis­tung gegen­über den Opfern ganz zu schwei­gen. Heu­te hin­ge­gen wer­den die Täter ger­ne als wahn­sin­nig, irra­tio­nal und mora­lisch ver­kom­men dar­ge­stellt, unab­hän­gig davon, dass sie laut Quel­len mehr­heit­lich geis­tig gesund und Men­schen wie du und ich waren: Der Unglau­be, dass Men­schen etwas so Schreck­li­ches tun kön­nen, bleibt also bestehen, indem die Ver­bre­chen in den Bereich der psy­chi­schen Stö­run­gen aus­ge­la­gert wer­den. – Und war­um das alles? Auch das beschreibt Dick de Mildt. Zusam­men­fas­sen lässt sich die Logik hin­ter dem Nicht-sehen-Wol­len in etwa so: Wenn sol­che Grau­sam­kei­ten tat­säch­lich statt­fin­den, dann gibt es offen­bar Men­schen, die dazu mora­lisch in der Lage sind; und wenn die Täter gewöhn­li­che Men­schen sind und auch ich selbst ein gewöhn­li­cher Mensch bin, dann bedeu­tet das ja, dass auch ich selbst zu sol­chen Grau­sam­kei­ten in der Lage sein könn­te. Weil man sein Selbst­bild also nicht anzwei­feln will, sieht man die Mensch­heit ganz all­ge­mein lie­ber als posi­ti­ver, als sie wirk­lich ist. Abwei­chun­gen von die­sem posi­ti­ven Bild wer­den in den Bereich von psy­chi­schen Krank­hei­ten aus­ge­la­gert. Somit gilt hier das­sel­be Prin­zip wie bei der Zuge­hö­rig­keit zu einer bestimm­ten Fami­lie, nur geht es hier noch all­ge­mei­ner um die Zuge­hö­rig­keit zu einer gan­zen Spe­zi­es. Wir pro­ji­zie­ren also das Bild, das wir von uns selbst auf­recht­erhal­ten wol­len, auf ande­re Men­schen, und machen sie somit zu einer Art Zerr­spie­gel, der uns selbst eine bes­se­re Figur vorgaukelt.

Das waren nur eini­ge weni­ge Bei­spie­le, mit denen ich zu zei­gen ver­su­che, wie leicht das ganz nor­ma­le mensch­li­che Bedürf­nis nach einem posi­ti­ven Selbst­bild einen Men­schen zum mani­pu­lier­ba­ren Zom­bie oder rück­sichts­lo­sen Ego­is­ten, wenn nicht sogar Ver­bre­cher, machen kann:

Je mehr Dein Selbst­wert­ge­fühl an irgend­wel­che Kri­te­ri­en, also posi­ti­ve Eigen­schaf­ten, gekop­pelt ist, des­to blin­der bist Du, des­to ego­is­ti­scher wirst Du, und des­to weni­ger bist Du zu kri­ti­schem Den­ken fähig.

Denn nur, wenn Du kei­ne Angst hast, als böse, dumm, unbe­liebt, geschei­tert oder ander­wei­tig blö­der Mensch dazu­ste­hen, kannst Du das Sakrals­te des Sakrals­ten hin­ter­fra­gen: Dein Selbst­bild, Dei­ne Lebens- und Lie­bens­wür­dig­keit. Nur, wenn Du Dich selbst auch dann noch als lebens- und lie­bens­wert betrach­ten kannst, wenn Du Dich als abso­lu­tes Arsch­loch ent­puppst, wenn Du Dei­nen Selbst­wert also aus Dei­ner blo­ßen Exis­tenz schöpfst, weil Du wie alles, was exis­tiert, einen inhä­ren­ten Wert hast, kannst Du wirk­lich unab­hän­gig denken.

Das heißt natür­lich nicht, dass Du Dein Gewis­sen auf­ge­ben musst. Bloß den­ke kri­tisch nach, bevor Du han­delst. Hin­ter­fra­ge, ob die ver­meint­lich gute Tat auch wirk­lich gut wäre, unab­hän­gig davon, was ande­re sagen. Denn manch­mal ist gewis­sen­haf­tes Han­deln, das auf kri­ti­schem Den­ken beruht, damit ver­bun­den, gegen den Strom zu schwim­men und eben als böse, dumm, unbe­liebt, geschei­tert oder ander­wei­tig blöd dazu­ste­hen. Das musst Du aus­hal­ten können.

Oder kurz formuliert:

Geld kor­rum­piert zwar, aber das Gefühl, ein guter, intel­li­gen­ter, belieb­ter, erfolg­rei­cher oder ander­wei­tig tol­ler Mensch zu sein, tut es min­des­tens genauso.

Kognitive Blockaden: Grundpfeiler paralleler Realitäten

Jetzt, wo wir unse­re Moti­va­ti­on hin­ter unse­ren Selbst­lü­gen ken­nen, beschäf­ti­gen wir uns damit, wie wir die­se Lügen auf­recht­erhal­ten. Das ist in der Regel kei­ne bewuss­te Ent­schei­dung, son­dern ein Auto­ma­tis­mus unse­res Unter­be­wusst­seins. Die­ses hat das Ziel, uns funk­ti­ons- und dadurch über­le­bens­fä­hig zu erhal­ten, und wenn wir auf Din­ge tref­fen, die unse­re Welt­sicht, also unse­re Kom­fort­zo­ne, infra­ge stel­len, nutzt es ein brei­tes Arse­nal an Werk­zeu­gen, um sol­che unbe­que­men Din­ge aus unse­rer Wahr­neh­mung herauszufiltern.

Wenn wir also Zwei­fel an unse­rer Lebens- und Lie­bens­wür­dig­keit als exis­tenz­be­dro­hend emp­fin­den, sind wir durch die Machen­schaf­ten unse­res Unter­be­wusst­seins oft rein kogni­tiv nicht in der Lage, uns mit Din­gen aus­ein­an­der­zu­set­zen, die die­se Zwei­fel säen könn­ten.

Wir haben da ein­fach eine inne­re Blo­cka­de, unser Gehirn setzt schlicht und ergrei­fend aus. Der Sinn die­ser Blo­cka­de ist, wie gesagt, der Schutz unse­rer Kom­fort­zo­ne, unse­rer Matrix sozu­sa­gen, und die­se wie­der­um ist das Ergeb­nis unse­res gan­zen bis­he­ri­gen Lebens …

Im besag­ten Arti­kel über Pro­pa­gan­da und Sto­rytel­ling haben wir bereits ange­spro­chen, wie Welt­bil­der und Mei­nun­gen durch Fami­lie, Kul­tur und Staat von Gene­ra­ti­on zu Gene­ra­ti­on wei­ter­ge­ge­ben wer­den. Jeder von uns lebt in einem Sys­tem, das sich kon­ti­nu­ier­lich zu legi­ti­mie­ren und auf­recht­zu­er­hal­ten ver­sucht, weil es ja sonst zusam­men­bre­chen wür­de. Eben­so wie ein Mensch als Indi­vi­du­um sich an sei­ner Lebens- und Lie­bens­wür­dig­keit fest­krallt, tun es auch Grup­pen von Men­schen, die sich auf eine bestimm­te Wei­se orga­ni­sie­ren und die­se Art der Orga­ni­sa­ti­on natür­lich zemen­tie­ren wol­len. Die­se Zemen­tie­rungs­ver­su­che sind nichts ande­res als Pro­pa­gan­da: Wie in dem Arti­kel gesagt, muss auch Demo­kra­tie (bzw. unse­re aktu­el­le Ver­si­on davon) pro­pa­giert wer­den. Und weil der Begriff „Pro­pa­gan­da“ seit dem Zwei­ten Welt­krieg nega­tiv kon­no­tiert ist, spricht man heu­te von Public Rela­ti­ons (PR), poli­ti­scher Kom­mu­ni­ka­ti­on, stra­te­gi­scher Kom­mu­ni­ka­ti­on und Öffent­lich­keits­ar­beit. Und ja, die­se Euphe­mis­men wur­den bewusst ein­ge­führt, um vom Wort „Pro­pa­gan­da“ weg­zu­kom­men, was aber natür­lich nichts dar­an ändert, dass sie das­sel­be Phä­no­men und die­sel­be Tätig­keit beschreiben.

Wir wach­sen auf mit den Glau­bens­mus­tern unse­res Umfelds, wer­den von ver­schie­de­nen Orga­ni­sa­tio­nen unent­wegt und buch­stäb­lich mit Pro­pa­gan­da bear­bei­tet und in unse­ren Köp­fen ent­steht ein Sys­tem von Glau­bens­sät­zen, bei denen wir gar nicht erst auf die Idee kom­men, sie zu hin­ter­fra­gen. Oder wie vie­le Men­schen kennst Du, die ers­tens ernst­haft hin­ter­fra­gen, ob Demo­kra­tie wirk­lich so super­toll ist, und zwei­tens dafür nicht in der Luft zer­ris­sen wer­den, weil sie das Sakrals­te des Sakrals­ten anzwei­feln? Es gibt Din­ge, die all­ge­mein unhin­ter­fragt als Tat­sa­che gel­ten, und wenn man sie anzwei­felt, steht man als Ket­zer da. Dabei muss man, um bei unse­rem Bei­spiel zu blei­ben, nicht ein­mal ein Demo­kra­tie­feind sein, son­dern könn­te ein­fach aus rein wis­sen­schaft­li­chem Inter­es­se theo­re­ti­sche Über­le­gun­gen anstel­len. So ken­ne ich zum Bei­spiel die The­se, dass Demo­kra­tien beson­ders anfäl­lig für ver­deck­te Mani­pu­la­tio­nen durch Geheim­diens­te sind – das ist doch span­nend zu über­prü­fen, allein schon, um das Pro­blem, wenn es tat­säch­lich besteht, zu kor­ri­gie­ren und eine Demo­kra­tie wirk­lich demo­kra­tisch zu halten.

Wir wer­den also von den Glau­bens­sät­zen, die wir ver­ab­reicht bekom­men, beein­flusst, und dann repro­du­zie­ren wir die­se Glau­bens­sät­ze auch selbst, bei­spiels­wei­se in unse­ren Geschich­ten. Wir hel­fen also aktiv mit, die Matrix, in die wir hin­ein­ge­bo­ren wur­den, auf­recht­zu­er­hal­ten. Oder spre­chen wir bes­ser nicht von einer Matrix, son­dern von einem Rea­li­täts­tun­nel, wie Timo­thy Lea­ry das Phä­no­men bezeichnet:

Jeder Mensch hat sei­nen eige­nen sub­jek­ti­ven Rea­li­täts­tun­nel, der ein Sys­tem von unter­be­wuss­ten Fil­tern aus Über­zeu­gun­gen und Erfah­run­gen darstellt.

Und die­se Fil­ter bestim­men, was wir über­haupt wahr­neh­men. Hier eini­ge Phä­no­me­ne, die ich in die­sem Zusam­men­hang erwäh­nen möchte:

  • Wir Men­schen nei­gen grund­sätz­lich zum soge­nann­ten Bestä­ti­gungs­feh­ler (con­fir­ma­ti­on bias): Wir haben unse­re bestimm­ten Ansich­ten und Erwar­tun­gen und wenn wir mit Infor­ma­tio­nen han­tie­ren, wäh­len und inter­pre­tie­ren wir die­se Infor­ma­tio­nen so, dass sie in unser Welt­bild pas­sen. Das bedeu­tet, dass wir „pas­sen­de“ Infor­ma­tio­nen als wich­ti­ger erach­ten und uns bes­ser mer­ken und „unpas­sen­de“ Infor­ma­tio­nen womög­lich gar nicht erst auf­neh­men oder sogar gezielt ver­mei­den. Die­ses Prin­zip lässt sich zum Bei­spiel bei der Red-Pill- und Incel-Com­mu­ni­ty beob­ach­ten: Hier haben wir frus­trier­te Män­ner, die nega­ti­ve Erfah­run­gen mit Frau­en gemacht haben und jedes Ver­hal­ten von Frau­en durch das Pris­ma ihrer Haupt­an­nah­me deu­ten, dass Frau­en nur auf der Suche nach aggres­si­ven, durch­trai­nier­ten, ego­is­ti­schen Alpha­männ­chen sind. All die Frau­en mit einer Schwä­che für sanf­te Ted­dy­bä­ren neh­men sie ent­we­der nicht wahr oder unter­stel­len sol­chen Paa­ren eine Dyna­mik, bei der der Mann ein wil­len­lo­ser Pan­tof­fel­held ist und von sei­ner Frau bei der erst­bes­ten Gele­gen­heit mit einem aggres­si­ven, durch­trai­nier­ten, ego­is­ti­schen Alpha­männ­chen betro­gen wird.
  • Auch kön­nen wir durch unse­ren Rea­li­täts­tun­nel einen Hyper­fo­kus auf bestimm­te The­men ent­wi­ckeln: Wir emp­fin­den die­se The­men als der­ma­ßen wich­tig, dass wir alles, was wir wahr­neh­men, dar­auf zurück­füh­ren und unser Rea­li­täts­tun­nel sich pri­mär um die­se The­men dreht. Wäh­rend wir also die­se super­wich­ti­gen The­men sehr genau wahr­neh­men, wer­den wir buch­stäb­lich blind für alles ande­re. Die­se Unauf­merk­sam­keits­blind­heit wur­de durch eine Stu­die der Uni­ver­si­ty of Illi­nois deut­lich: Die Stu­di­en­teil­neh­mer muss­ten ein Video anschau­en, bei dem sich Spie­ler in wei­ßen und schwar­zen Shirts Bäl­le zuwar­fen. Dabei soll­ten sie zäh­len, wie oft sich das wei­ße Team den Ball zuwirft. Das erstaun­li­che Ergeb­nis der Stu­die war, dass die Test­per­so­nen sich so sehr auf die Spie­ler und die Bäl­le fokus­sier­ten, dass sie völ­lig über­sa­hen, wie eine Frau im Goril­la­kos­tüm mit­ten durchs Bild lief. Erklärt wird die­se Blind­heit damit, dass das mensch­li­che Gehirn nicht die benö­tig­ten Kapa­zi­tä­ten hat, um wirk­lich alles Wahr­ge­nom­me­ne zu ver­ar­bei­ten, und daher Prio­ri­tä­ten set­zen muss. Des­we­gen sind wir in der Lage, uns auf bestimm­te Din­ge zu kon­zen­trie­ren, aber gleich­zei­tig sorgt die­se Kon­zen­tra­ti­on für tote Win­kel in unse­rer Wahr­neh­mung: Wir wer­den buch­stäb­lich blind für eigent­lich offen­sicht­li­che Din­ge. Und was für Bäl­le und Goril­las gilt, wirkt, fürch­te ich, auch in ande­ren Berei­chen des Lebens. Wenn also Unauf­merk­sam­keits­blind­heit und der Bestä­ti­gungs­feh­ler inein­an­der grei­fen, wer­den wir zu buch­stäb­lich blin­den Fana­ti­kern unse­rer Über­zeu­gun­gen – ein Phä­no­men, das sich zum Bei­spiel bei man­chen – beson­ders eif­ri­gen und aggres­si­ven – Akti­vis­ten beob­ach­ten lässt. Sie kämp­fen mit Über­zeu­gung für eine viel­leicht sogar tat­säch­lich gute Sache, aber weil sie die­ser Sache die größ­te Wich­tig­keit bei­mes­sen, wer­den sie blind für ande­re Lösungs­an­sät­ze als ihre eige­nen und den Scha­den, den sie ande­ren Men­schen zufü­gen. Ein kon­struk­ti­ver Dia­log ist nicht mög­lich, weil die Argu­men­te der Gegen­sei­te ein­fach kogni­tiv nicht auf­ge­nom­men und ver­stan­den wer­den können.
  • Eine eben­falls wich­ti­ge Rol­le für die Auf­recht­erhal­tung eines Rea­li­täts­tun­nels spie­len Unwis­sen­heit, Dumm­heit und Selbst­über­schät­zung, auch bekannt als Dun­ning-Kru­ger-Effekt: Damit bezeich­net man das Phä­no­men, dass Men­schen, die sich mit einer Sache nur schlecht aus­ken­nen, häu­fig ehr­lich und auf­rich­tig glau­ben, dass sie sich gut aus­ken­nen, und ihre Ansich­ten mit gro­ßer Selbst­si­cher­heit ver­tre­ten. Mit ande­ren Wor­ten: Sie haben ein biss­chen über ein The­ma erfah­ren und kom­men sich nun wahn­sin­nig intel­li­gent und infor­miert vor und haben des­we­gen eine wahn­sin­nig fes­te Mei­nung. Dabei gibt es aber eine Men­ge Aspek­te, die sie nicht wis­sen und in ihre Mei­nung somit auch nicht ein­kal­ku­lie­ren. Bloß wis­sen sie nicht, dass sie die­se Din­ge nicht wis­sen und unter­lie­gen des­we­gen der Illu­si­on, sie wüss­ten genug. Somit sind all­zu fes­te Mei­nun­gen und abso­lu­te Selbst­si­cher­heit meis­tens ein zuver­läs­si­ges Anzei­chen von Uninformiertheit.

Kom­pe­ten­te Men­schen hin­ge­gen erkennt man in der Regel eher an der Fähig­keit, sich selbst zu hin­ter­fra­gen, oder schlimms­ten­falls sogar an mas­si­ven Selbst­zwei­feln, auch bekannt als Hoch­stap­ler-Syn­drom. Ihnen ist bewusst, wie viel sie nicht wis­sen, und des­we­gen kön­nen sie ihre Mei­nun­gen auch nicht mit abso­lu­ter Selbst­si­cher­heit ver­tre­ten. Doch obwohl die­se Men­schen wesent­lich kom­pe­ten­ter sind als die Selbst­si­che­ren, wird ihnen meis­tens weni­ger zuge­hört, weil wir ober­fläch­li­che Wesen sind und meis­tens auch selbst einem Dun­ning-Kru­ger-Effekt unter­lie­gen, wenn es um die Ein­schät­zung der Kom­pe­tenz ande­rer geht, und glau­ben, dass ein selbst­si­che­rer Mensch sich wohl tat­säch­lich auskennt.

Selbst­über­schät­zung ist dabei an sich nicht schlecht und grund­sätz­lich allen Men­schen eigen: Nur, wenn wir uns an neue, gro­ße Auf­ga­ben trau­en, kön­nen wir wach­sen. Wir neh­men uns die­ser Auf­ga­ben an, schei­tern, ler­nen dar­aus, fin­den eine Lösung und sind am Ende klü­ger. Weil wah­re Klug­heit und Weis­heit somit aber mehr oder weni­ger an Erfah­run­gen des Schei­terns und damit auch Lebens­er­fah­rung gene­rell gekop­pelt sind, sind jun­ge Men­schen beson­ders anfäl­lig für den Dun­ning-Kru­ger-Effekt, nei­gen mehr zu Selbst­über­schät­zung und weni­ger zu kri­ti­schem Den­ken. Des­we­gen sind sie leicht zu mani­pu­lie­ren und wer­den – wenn wir in die Geschich­te schau­en – auch tat­säch­lich bevor­zugt von zwei­fel­haf­ten Ideo­lo­gen anvi­siert. Sei also vor­sich­tig, wenn Du eine Bewe­gung mit vie­len jun­gen Men­schen siehst, und schal­te Dein kri­ti­sches Den­ken ein.

Herdenmentalität: Autoritäten und Konformität

Nun soll­ten wir aber nicht ver­ges­sen, dass ein Mensch nicht ein­fach für sich exis­tiert, son­dern in einer Gesell­schaft. Und die­se Gesell­schaft, das Umfeld, hat eben­falls einen gro­ßen Ein­fluss auf den sub­jek­ti­ven Rea­li­täts­tun­nel.

Der Haupt­grund, war­um wir über­haupt das Grund­be­dürf­nis haben, als lie­bens­wert erach­tet zu wer­den, ist, dass der Mensch im Grun­de ein Her­den­tier ist. Und wenn ein Her­den­tier nicht lie­bens­wert ist, kann es von der Her­de ver­sto­ßen wer­den und sei­ne Über­le­bens­chan­cen sin­ken dann dramatisch.

Das Bedürf­nis nach Lie­be, das, wie wir bereits gese­hen haben, so man­che gru­se­li­ge Aus­wir­kung hat, ist tat­säch­lich von essen­zi­el­ler Bedeu­tung für unser Über­le­ben. Und wenn wir uns selbst nicht aus­rei­chend Lie­be geben kön­nen, viel­leicht, weil unse­re Eltern fata­le Erzie­hungs­feh­ler began­gen haben, dann lau­fen wir Gefahr, zu Mons­tern zu mutie­ren.

Das gilt umso mehr, wenn unser Umfeld uns bestimm­te Ver­hal­tens­wei­sen vor­gibt:

Weil wir von der Grup­pe ja akzep­tiert wer­den wol­len, nei­gen wir dazu, uns anzu­pas­sen – ob bewusst aus Angst vor Ableh­nung oder auch instink­tiv, ohne es zu merken.

Wir nen­nen das Phä­no­men Grup­pen­druck oder Grup­pen­zwang: Wenn alle um Dich her­um die komi­schen XY-Schu­he tra­gen, dann kommst Du Dir irgend­wann wie ein Außen­sei­ter vor und kaufst Dir auch ein Paar. Oder viel­leicht nimmt die Grup­pe das Feh­len die­ser Schu­he zum Anlass, Dich tat­säch­lich aus­zu­gren­zen. Denn wenn Du bei die­sem Mode­trend nicht mit­machst, könn­te es als Ableh­nung und Kri­tik auf­ge­fasst wer­den, und damit auch als Angriff, weil Du ja im Grun­de die Lie­bens­wür­dig­keit der XY-Schu­he anzwei­felst und damit auch die ihrer Trä­ger, weil sie sich offen­bar mit die­sem Mode­trend iden­ti­fi­zie­ren. Und wenn die Grup­pe sich von Dir ange­grif­fen fühlt, schlägt sie zurück. Wie gesagt, jedes Sys­tem ver­sucht, sich selbst zu legi­ti­mie­ren und auf­recht­zu­er­hal­ten, die Her­de hält zusam­men, und wenn jemand sich wider­setzt, wird er ver­nich­tet oder bes­ten­falls sich selbst überlassen.

Wir alle wis­sen instink­tiv um die­se Dyna­mik. Des­we­gen lau­fen die meis­ten von uns bereit­wil­lig mit der Her­de mit, auch wenn sie das Gegen­teil von dem sagt und tut, was wir selbst für rich­tig hal­ten. Zum Bei­spiel gab es das berühm­te Kon­for­mi­täts­expe­ri­ment von Solo­mon Asch, bei dem Grup­pen von Teil­neh­mern Stri­che gezeigt wur­den und die ein­zel­nen Teil­neh­mer nach­ein­an­der den­je­ni­gen benen­nen soll­ten, der die glei­che Län­ge wie der Refe­renz­strich hat­te. Der Witz dabei: Es gab in jeder Grup­pe immer nur einen rich­ti­gen Teil­neh­mer, die ande­ren waren Schau­spie­ler. Nach eini­gen vor­be­rei­ten­den Run­den gaben die Schau­spie­ler alle ein­heit­lich eine offen­sicht­lich fal­sche Ant­wort. Und der ein­zi­ge rich­ti­ge Teil­neh­mer, der theo­re­tisch klar sehen konn­te, wel­cher Strich tat­säch­lich dem Refe­renz­strich ent­sprach, schloss sich in ca. 75 Pro­zent aller Fäl­le der fal­schen Mehr­heits­mei­nung an. Und wenn es schon bei sol­chen harm­lo­sen Din­gen so ein­fach ist, einen gewöhn­li­chen Men­schen zu einem Mit­läu­fer­zom­bie zu machen, dann soll­te es einen auch nicht mehr wun­dern, dass so vie­le damals beim Natio­nal­so­zia­lis­mus begeis­tert mit­ge­lau­fen sind.

Eine fal­sche Min­der­heits­mei­nung hat dabei übri­gens deut­lich weni­ger Chan­cen, eine Ver­suchs­per­son zu über­zeu­gen. Ser­ge Mosco­vici führ­te näm­lich eine Umkeh­rung des Asch-Expe­ri­ments durch, bei der die Teil­neh­mer eine rich­ti­ge Far­be benen­nen soll­ten. Wäh­rend die Mehr­heit der Schau­spie­ler die rich­ti­ge Ant­wort gege­ben hat, gab es einen Abweich­ler mit einer kon­se­quent fal­schen Ant­wort. Gera­de mal 8,42 Pro­zent der rich­ti­gen Ver­suchs­per­so­nen lie­ßen sich von ihm überzeugen.

Wir brau­chen also kei­ne Angst zu haben, dass wir­re Theo­rien die Ober­hand gewin­nenes sei denn, die Mehr­heit erklärt die­se wir­ren Theo­rien zu ihrer Dok­trin, bei­spiels­wei­se durch bewuss­te Mani­pu­la­ti­on der Grup­pe.

So begann Edward Ber­nays, ein Nef­fe von Sig­mund Freud, sein berühm­tes Buch Pro­pa­gan­da mit den Worten:

„Die bewuss­te und intel­li­gen­te Mani­pu­la­ti­on der orga­ni­sier­ten Gewohn­hei­ten und Mei­nun­gen der Mas­sen ist ein wich­ti­ges Ele­ment in der demo­kra­ti­schen Gesell­schaft. Die­je­ni­gen, die die­sen unsicht­ba­ren Mecha­nis­mus der Gesell­schaft mani­pu­lie­ren, bil­den eine unsicht­ba­re Regie­rung, die die wah­re Regie­rungs­macht unse­res Lan­des ist.“
Edward Ber­nays: Pro­pa­gan­da, Kapi­tel: I. Die Ord­nung des Chaos.

Wenn wir uns die­se Wor­te des Vaters der moder­nen Pro­pa­gan­da anschau­en, so müs­sen wir uns fra­gen: Wie demo­kra­tisch ist die Demo­kra­tie eigent­lich wirk­lich? Denn ein Dik­ta­tor, der abso­lu­te Macht hat, kann tun und las­sen, was er will, egal, was sein Volk denkt. Wenn man aber in einer Demo­kra­tie etwas umset­zen will, muss man das Volk über­zeu­gen, also Öffent­lich­keits­ar­beit und stra­te­gi­sche Kom­mu­ni­ka­ti­on betrei­ben – kurz­um: Pro­pa­gan­da. Je demo­kra­ti­scher eine Gesell­schaft ist, des­to mehr wer­den Men­schen mit Inter­es­sen dar­an set­zen, durch Mani­pu­la­ti­ons­stra­te­gien die Mei­nung der Mas­sen zum eige­nen Vor­teil zu steu­ern. Vor die­sem Hin­ter­grund ist es daher gar nicht mal so abwe­gig, wenn man­che Sys­tem­kri­ti­ker mei­nen, in einer Demo­kra­tie gäbe es mehr und raf­fi­nier­te­re Pro­pa­gan­da als in Dik­ta­tu­ren. Denn wäh­rend man in einer Dik­ta­tur nicht alles sagen kann, was man denkt, wäre in einer Demo­kra­tie bei all der Mani­pu­la­ti­on zu hin­ter­fra­gen, inwie­fern die Gedan­ken, die man so hat, wirk­lich die eige­nen sind – und nicht etwa die einer Bernays’schen „unsicht­ba­ren Regie­rung“, die die Her­de manipuliert.

In die­sem Zusam­men­hang ist auch anzu­mer­ken, dass Men­schen, wenn sie ein­se­hen, dass sie mani­pu­liert oder über­haupt irgend­wie beherrscht wer­den, häu­fig von der Grund­an­nah­me aus­ge­hen, dass die Mäch­ti­gen es gut mit ihnen mei­nen. Natür­lich wür­de kaum jemand das genau so for­mu­lie­ren, weil es sich extrem naiv anhört, aber Spiel­ar­ten davon sind durch­aus ver­brei­tet: zum Bei­spiel die Annah­me, dass „die da oben“ schon wis­sen wer­den, was sie tun, weil ihnen ja so vie­le wis­sen­schaft­li­che Exper­ten zur Sei­te ste­hen, oder dass Super­rei­che, die sich als Phil­an­thro­pen insze­nie­ren, sich tat­säch­lich vor allem um ande­re Men­schen sor­gen und kei­ne Hin­ter­ge­dan­ken haben. Dass die Rei­chen und Mäch­ti­gen eher wenig ech­tes Mit­ge­fühl für weni­ger rei­che und mäch­ti­ge Men­schen haben, zeigt allein schon das Mono­po­ly-Expe­ri­ment. Die unter­be­wuss­te Nei­gung, Men­schen, denen man aus­ge­lie­fert ist, bes­se­re Absich­ten zu unter­stel­len, als sie viel­leicht haben, erin­nert hin­ge­gen an die Beob­ach­tun­gen im War­schau­er Ghet­to. Es ist eine Vari­an­te des Selbst­be­trugs, ein ver­brei­te­ter Denk­feh­ler namens Pro­jek­ti­on, der uns gegen­über denen, die Macht über uns haben, noch hilf­lo­ser macht. Des­we­gen dür­fen wir gera­de den Rei­chen und Mäch­ti­gen nicht ver­trau­en. Des­we­gen haben wir die Gewal­ten­tei­lung und alle mög­li­chen Kon­troll­in­stan­zen. Des­we­gen ist Kri­tik an den Rei­chen und Mäch­ti­gen für eine Gesell­schaft, die frei sein will, über­le­bens­not­wen­dig. Und des­we­gen müs­sen wir auch auf­hor­chen, wenn Kri­tik an Macht­ha­bern jeg­li­cher Art als falsch, amo­ra­lisch oder ander­wei­tig ver­werf­lich hin­ge­stellt wird. Vor allem, wenn es die Her­de ist, die die Kri­tik an den Auto­ri­tä­ten ablehnt, denn das bedeu­tet, dass die Mäch­ti­gen die Mas­se tat­säch­lich fest in ihrer Hand haben.

An sich ist es natür­lich weder gut noch schlecht, dass Men­schen sich zu Grup­pen zusam­men­schlie­ßen. Es ist ein­fach unse­re Natur, unser Grund­be­dürf­nis, zu einer Grup­pe zu gehö­ren. Und tat­säch­lich kön­nen wir als Grup­pe auch viel Gutes bewir­ken, was ein Ein­zel­ner nicht errei­chen könn­te. Aller­dings soll­ten wir nie ver­ges­sen, dass es gleich­zei­tig auch unse­re Schwach­stel­le ist. Denn, wie in der Erfor­schung der Grup­pen­psy­cho­lo­gie, mit der sich u. a. eben Sig­mund Freud und Edward Ber­nays befasst haben, schon sehr früh fest­ge­stellt wur­de, las­sen sich eigent­lich ratio­na­le Indi­vi­du­en durch eine star­ke Iden­ti­fi­ka­ti­on mit einer Grup­pe zu wirk­lich hirn­ris­si­gen und sogar grau­sa­men Aktio­nen ver­lei­ten. Grup­pen – Men­schen­mas­sen – den­ken näm­lich nicht ratio­nal, son­dern emo­tio­nal, und sind dadurch hoch­gra­dig mani­pu­lier­bar. Man muss sich dabei nicht ein­mal phy­sisch in einer Men­ge befin­den, um von ihr emo­tio­nal mit­ge­ris­sen zu wer­den: Eine star­ke Iden­ti­fi­ka­ti­on mit einer bestimm­ten Bewe­gung reicht völ­lig aus.

Und dann haben wir den Salat:

Die Mas­se ist mani­pu­lier­bar und han­delt irra­tio­nal und Men­schen, die sich kör­per­lich oder geis­tig (vor dem Com­pu­ter­bild­schirm zum Bei­spiel) mit die­ser Mas­se iden­ti­fi­zie­ren, han­deln dann – ent­ge­gen ihrer eige­nen Ratio­na­li­tät – eben­falls irra­tio­nal.

Wenn wir uns einer emo­tio­nal auf­ge­wühl­ten Grup­pe anschlie­ßen, wer­den wir also buch­stäb­lich düm­mer. Und jetzt den­ke mal an die Iden­ti­täts­po­li­tik und die Kli­ma­be­we­gung, die in den letz­ten Jah­ren umher­gras­sie­ren. An sich ist an Ideen des Schut­zes von Min­der­hei­ten und des Kli­mas nichts aus­zu­set­zen, aber die emo­tio­na­le Auf­la­dung die­ser Bewe­gun­gen soll­te einen auf­hor­chen las­sen: Dass man Feh­ler machen könn­te, auch wenn man sich für eine gute Sache ein­setzt, passt nicht ins Selbst­bild, wird des­we­gen aus der eige­nen Wahr­neh­mung her­aus­ge­fil­tert und wenn man Teil einer gan­zen Bewe­gung ist, kann man eh nicht klar den­ken und merkt es nicht ein­mal. Die Fähig­keit zu kri­ti­schem Den­ken ist lahmgelegt.

Dabei ist noch zu hin­ter­fra­gen, inwie­fern Men­schen über­haupt kri­tisch den­ken wol­len. Unbe­streit­bar ist, dass wir alle ger­ne das Gefühl genie­ßen, klug und infor­miert und kri­tisch den­kend zu sein – über das Bedürf­nis nach einem posi­ti­ven Selbst­bild haben wir ja bereits aus­führ­lich gespro­chen –, aber kri­ti­sches Den­ken ist, wie wir in den spä­te­ren Tei­len die­ser Rei­he noch sehen wer­den, mit sehr viel Arbeit ver­bun­den. Und längst nicht jeder Mensch hat Zeit und Lust dazu. Viel ein­fa­cher ist es, sich jeman­den zu suchen, dem man ver­traut, und ihn die­se Arbeit machen zu lassen.

Also geben wir bereit­wil­lig die Ver­ant­wor­tung für unser Den­ken in die Hän­de von (ver­meint­li­chen) Exper­ten, Jour­na­lis­ten und ande­ren Auto­ri­tä­ten.

So haben wir ja zum Bei­spiel durch­aus schon dar­über gespro­chen, wie die FAZ durch geschick­tes Mar­ke­ting ihren Lesern das Gefühl gibt, klug und gut infor­miert zu sein. Das heißt natür­lich nicht, dass die FAZ immer lügt und abso­lut unzu­ver­läs­sig ist, aber ohne kri­ti­sche Prü­fung der Arti­kel sind wir Leser eben nicht mehr als unkri­ti­sche Papa­gei­en, die frem­de Mei­nun­gen nach­plap­pern und sich dabei als Teil einer intel­lek­tu­el­len Eli­te füh­len. Und was für die FAZ gilt, gilt auch für jede ande­re Zei­tung, jede Nach­rich­ten­agen­tur, jeden Blog, jedes Medi­um, das Du Dir vor­stel­len kannst. Wenn Du nicht skep­tisch bist und prüfst, dann denkst Du nicht kritisch.

Über­haupt kön­nen auch Jour­na­lis­ten und ande­re (ver­meint­li­che) Auto­ri­tä­ten selbst Her­den­mit­läu­fer sein. So haben Sieg­fried Wei­schen­berg, Maja Malik und Armin Scholl in ihrer Stu­die Jour­na­lis­mus in Deutsch­land 2005: zen­tra­le Befun­de der aktu­el­len Reprä­sen­ta­tiv­be­fra­gung deut­scher Jour­na­lis­ten unter ande­rem her­aus­ge­fun­den, dass – zumin­dest damals – 68 Pro­zent der Jour­na­lis­ten, also mehr als zwei Drit­tel, aus der Mit­tel­schicht stamm­ten. Das ist inso­fern inter­es­sant, als dass der Sozio­lo­ge Pierre Bour­dieu in sei­ner auf empi­ri­schen Stu­di­en beru­hen­den Erfor­schung des soge­nann­ten „Raums der Lebens­sti­le“ unter ande­rem fest­ge­stellt hat, dass die Mit­tel­schicht am meis­ten zu Kon­for­mis­mus, Auto­ri­täts­hö­rig­keit und kri­tik­lo­ser Befol­gung von Regeln neigt (vgl. dazu die­sen Arti­kel von Mar­cus Klöck­ner). Und pas­send dazu mein­te auch Han­nah Are­ndt, die als Jüdin aus Hit­ler­deutsch­land emi­grier­te, über 1933, dass nicht die poli­ti­sche Gleich­schal­tung das Pro­blem war, son­dern die „Gleich­schal­tung“ der Freun­de, die in ihrem intel­lek­tu­el­len, aka­de­mi­schen Milieu „sozu­sa­gen die Regel war“ und in den ande­ren Milieus nicht. Wenn die meis­ten Jour­na­lis­ten also aus die­ser sozia­len Schicht stam­men, ist rein sta­tis­tisch die Wahr­schein­lich­keit groß, dass sie auto­ri­täts­hö­ri­ge Mit­läu­fer sind und die Obrig­kei­ten daher nicht aus­rei­chend hin­ter­fra­gen. Sich auf ihre Mei­nun­gen und Ein­schät­zun­gen blind zu ver­las­sen ist somit nicht rat­sam. Und wenn wir uns dann noch erin­nern, dass auch vie­le ande­re wich­ti­ge, gar sys­tem­re­le­van­te Beru­fe der Mit­tel­schicht ange­hö­ren – Leh­rer, Juris­ten, Ärz­te etc. – ver­ste­hen wir sofort ein gutes Stück bes­ser, wie die NS-Dik­ta­tur mög­lich wurde.

Außer­dem soll­test Du Dich auch vor dem soge­nann­ten Halo-Effekt in Acht neh­men: Dar­un­ter ver­steht man eine kogni­ti­ve Ver­zer­rung, bei der wir von einer bekann­ten Eigen­schaft einer Per­son auf unbe­kann­te schlie­ßen. Sehr häu­fig kommt er zum Vor­schein, wenn zum Bei­spiel gut­aus­se­hen­de Men­schen als klü­ger ein­ge­schätzt wer­den als weni­ger gut­aus­se­hen­de, obwohl zwi­schen Aus­se­hen und Klug­heit über­haupt kein Zusam­men­hang besteht. Aber unser Affen­hirn, das nun mal zu Ver­ein­fa­chun­gen neigt, denkt sich: gutes Aus­se­hen = sym­pa­thisch, sym­pa­thi­sche Men­schen sind klug, also gutes Aus­se­hen = klug. Und – wer hät­te das gedacht? – die­se Affen­lo­gik behin­dert natür­lich unser kri­ti­sches Den­ken: Wenn wir zum Bei­spiel Mei­nungs­äu­ße­run­gen von bemer­kens­wer­ten Schrift­stel­lern, Schau­spie­lern oder ande­ren bekann­ten Per­sön­lich­kei­ten hören, nei­gen wir dazu, die­se Mei­nun­gen unkri­tisch zu über­neh­men. Des­we­gen wer­den Pro­mis ger­ne in der Wer­bung ein­ge­setzt. Und des­we­gen hört man auch oft, wie gera­de Men­schen, die sich für beson­ders klug und kul­ti­viert hal­ten, sich in ihren Aus­sa­gen auf irgend­wel­che gro­ßen Schrift­stel­ler beru­fen, ohne dass die­se Schrift­stel­ler irgend­wel­che Kom­pe­ten­zen im jewei­li­gen Bereich hät­ten. Nur, weil jemand ein tol­les Buch geschrie­ben hat, ist er kein Exper­te, der weiß, wie kul­tu­rel­le, sozia­le, poli­ti­sche oder ander­wei­ti­ge Pro­ble­me gelöst gehö­ren. Des­we­gen fin­de ich per­sön­lich es auch pro­ble­ma­tisch, wenn Pro­mis sich zum aktu­el­len Gesche­hen oder gene­rell frem­den Fach­be­rei­chen äußern: Auch sie sind nur Men­schen, kön­nen dem Dun­ning-Kru­ger-Effekt unter­lie­gen und ihre Mei­nun­gen sind des­we­gen nicht zwangs­läu­fig fun­diert. Trotz­dem haben die­se Mei­nun­gen in der Öffent­lich­keit Gewicht, weil wir ger­ne die Ver­ant­wor­tung für unser Den­ken und Han­deln an cha­ris­ma­ti­sche Per­sön­lich­kei­ten abge­ben.

Doch auch aka­de­mi­schen Exper­ten soll­ten wir nicht blind fol­gen. Ich habe irgend­wo einen Spruch auf­ge­schnappt, den ich lei­der als sehr wahr ein­stu­fen muss: Wis­sen­schaft sucht nicht die Wahr­heit, son­dern Finan­zie­rung. – Ernst­haft, frag jeden x‑beliebigen For­scher, was ihm am meis­ten Kopf­schmer­zen berei­tet. Du wirst erstaunt sein, wie oft der Punkt der Finan­zie­rung der For­schungs­ar­beit und damit auch des eige­nen Lebens­un­ter­halts vor­kommt. So habe ich als MS-Kran­ke zum Bei­spiel von For­schungs­an­sät­zen gehört, die die Mul­ti­ple Skle­ro­se heil­bar machen oder zumin­dest die The­ra­pie ver­bes­sern könn­ten. Oft bekom­men sie aber kei­ne Finan­zie­rung, weil das Patent­recht im Weg steht und die Phar­ma­kon­zer­ne auch gene­rell nicht an einer Hei­lung von MS-Pati­en­ten inter­es­siert sind: Durch den Ver­kauf teu­rer Prä­pa­ra­te lässt sich viel mehr Geld ver­die­nen als durch Hei­lung. Selbst wenn Wis­sen­schaft­ler es also gut mei­nen, sind sie sehr stark von ihren Geld­ge­bern abhän­gig. Und die­se kön­nen dann beein­flus­sen, zu wel­chen Fra­gen über­haupt geforscht wird, oder unlieb­sa­men Wis­sen­schaft­lern die Finan­zie­rung ent­zie­hen. Pas­siert ratz­fatz, wes­we­gen man als Wis­sen­schaft­ler im Zwei­fels­fall durch­aus auf­pas­sen muss, was man sagt und was man über­haupt erforscht.

Und abge­se­hen davon soll­ten wir auch nicht ver­ges­sen, dass Wis­sen­schaft­ler und ande­re Exper­ten auch nur Men­schen mit eige­nen Schwä­chen, Vor­ur­tei­len und Inter­es­sen sind. Auch sie wol­len Kar­rie­re machen, ein viel zu gutes Selbst­bild pfle­gen, nei­gen zum Bestä­ti­gungs­feh­ler und ande­ren kogni­ti­ven Blo­cka­den, spin­nen wider­li­che Intri­gen gegen­ein­an­der, und man­che sind sogar kor­rupt. Tat­säch­lich zeigt ein Blick in die Geschich­te, dass der Groß­teil der Wis­sen­schaft und ande­rer Exper­ten, der „wis­sen­schaft­li­che Main­stream“ wenn man so will, sich schon immer äußerst bereit­wil­lig in den Dienst von Auto­ri­tä­ten gestellt hat, sei es, indem er eine ver­meint­lich gött­li­che Abstam­mung der Herr­scher­fa­mi­lie unter­mau­ert, die Geschich­te zuguns­ten der jewei­li­gen Auto­ri­tä­ten umge­schrie­ben oder gar hoch­gra­dig ras­sis­ti­sche The­sen mit ver­meint­li­chen Bele­gen gefüt­tert hat. Mehr noch, als nor­mal­sterb­li­che Men­schen kön­nen sich Wis­sen­schaft­ler auch ganz banal irren! So wur­de zum Bei­spiel ursprüng­lich ange­nom­men, dass der Mega­losau­rus ein Vier­bei­ner war. Heu­te wis­sen wir, dass er auf zwei Bei­nen lief.

Und wann ist ein Exper­te über­haupt ein Exper­te? Zum Bei­spiel habe ich selbst Sla­wis­tik mit Schwer­punkt auf rus­si­scher und pol­ni­scher Lite­ra­tur- und Kul­tur­wis­sen­schaft sowie Geschichts­wis­sen­schaft stu­diert und am Insti­tut für Ost­eu­ro­päi­sche Geschich­te und Lan­des­kun­de an der Uni Tübin­gen als HiWi gear­bei­tet, und schaue des­we­gen genau hin, wer in den Medi­en bei geo­po­li­ti­schen Dis­kus­sio­nen so als „Ost­eu­ro­pa-Exper­te“ sti­li­siert wird: Schließ­lich sind da hin und wie­der Namen dabei, die ich ken­ne. Und was fällt auf? Oft genug kommt es vor, dass die „Exper­ten“ tat­säch­lich etwas mit Ost­eu­ro­pa zu tun haben, aber ihre Exper­ti­se in einem ande­ren Fach­be­reich liegt als in der Geo­po­li­tik, zu der sie sich aber als „Exper­ten“ äußern dür­fen. Ein sol­cher fach­frem­der „Exper­te“ wäre Klaus Gest­wa, Direk­tor des und Pro­fes­sor am Insti­tut für Ost­eu­ro­päi­sche Geschich­te und Lan­des­kun­de an der Uni Tübin­gen, also mein ehe­ma­li­ger Chef. Prü­fun­gen habe ich bei ihm sorg­fäl­tig ver­mie­den, weil ich von ande­ren Stu­den­ten von sei­nen Prü­fungs­me­tho­den gehört habe und sie unpas­send fand. Aber durch mei­nen Job als HiWi ken­ne ich ihn trotz­dem per­sön­lich und kann mit abso­lu­ter Sicher­heit sagen, dass er ein His­to­ri­ker ist und sei­ne Schwer­punk­te in der rus­si­schen und sowje­ti­schen Wirt­schafts- und Wis­sen­schafts­ge­schich­te lie­gen. In letz­ter Zeit tritt er aber als „Ukrai­ne-Exper­te“ auf und äußert sich zu Geo­po­li­tik, was so gar nicht zu sei­nen Publi­ka­tio­nen passt. Somit haben wir hier eher ein Bei­spiel von Selbst­über­schät­zung und einem Dun­ning-Kru­ger-Effekt, und auch Kor­rup­ti­on kann ich grund­sätz­lich nicht aus­schlie­ßen, auch wenn es natür­lich nur rei­ne Inter­pre­ta­ti­on von mei­ner Sei­te ist: Aber rein sub­jek­tiv hat er auf mich damals wäh­rend mei­ner Zeit als HiWi durch­aus den Ein­druck gemacht, ein über­durch­schnitt­li­ches Gel­tungs­be­dürf­nis zu haben, und, wie wir bereits gese­hen haben, kann allein schon das Gefühl, ein tol­ler Mensch zu sein, zum Bei­spiel durch Publi­ci­ty und das Auf­tre­ten als „Exper­te“, kor­rum­pie­rend wir­ken, weil es dem Ego schmeichelt.

Ver­giss auch nicht, dass alle mög­li­chen Arten von Exper­ten in der Geschich­te schon so man­ches Ver­bre­chen began­gen haben. Im Mit­tel­al­ter gal­ten Geist­li­che als Exper­ten für die Aus­le­gung von Got­tes Wil­len, und es kam zu Kreuz­zü­gen, Hexen­ver­fol­gun­gen und ande­ren bru­ta­len Aktio­nen. Wäh­rend der NS-Zeit haben Wis­sen­schaft­ler für das Regime gear­bei­tet, eine pseu­do­wis­sen­schaft­li­che Grund­la­ge für die Ideo­lo­gie erar­bei­tet und grau­sa­me Men­schen­ex­pe­ri­men­te durch­ge­führt. Wie kön­nen wir garan­tie­ren, dass jene, die wir heut­zu­ta­ge als Exper­ten erach­ten, nicht eben­falls in irgend­wel­che dunk­len Machen­schaf­ten ver­strickt sind? – Kön­nen wir gar nicht! Dabei hat das berühm­te Mil­gram-Expe­ri­ment ein­drück­lich gezeigt, wie leicht Men­schen Wis­sen­schaft­ler als Auto­ri­tä­ten akzep­tie­ren und auf deren Anord­nung grau­sa­me Din­ge tun, obwohl sie damit gegen ihre eige­nen Wer­te ver­sto­ßen: Die Test­per­so­nen wur­den ange­wie­sen, einem ver­meint­li­chen Ver­suchs­teil­neh­mer­kol­le­gen, in Wirk­lich­keit einem Schau­spie­ler, elek­tri­sche Strom­stö­ße zu ver­pas­sen, wenn er bei Lern­auf­ga­ben Feh­ler mach­te. Es hieß, man wol­le den Ein­fluss von Bestra­fung auf das Ler­nen unter­su­chen. Und obwohl der „Ler­nen­de“ vor Schmer­zen schrie und um Abbruch bat, befolg­te die Mehr­heit der Teil­neh­mer die Anwei­sun­gen des Expe­ri­ment­lei­ters und mach­te wei­ter. Spä­tes­tens seit die­sem Expe­ri­ment soll­ten wir also wis­sen, dass auch blin­de Wis­sen­schafts­gläu­big­keit nicht mit kri­ti­schem Den­ken ver­ein­bar und in Kom­bi­na­ti­on mit Auto­ri­täts­hö­rig­keit sogar gefähr­lich ist.

Weil wir aber nun wis­sen, dass wir Fak­ten­be­haup­tun­gen nicht blind ver­trau­en kön­nen, sind in den letz­ten Jah­ren unend­lich vie­le soge­nann­te Fak­ten­che­cker wie Pil­ze aus dem Boden gespros­sen. Doch auch die­sen dür­fen wir natür­lich nicht bedin­gungs­los glau­ben. Zwar wer­ben sie damit, dass sie uns Denk- und Recher­che­ar­beit abneh­men, aber sie tun eben genau das: Sie neh­men uns Denk- und Recher­che­ar­beit ab, die wir aber, wenn wir selbst­stän­dig den­ken wol­len, eben selbst­stän­dig erle­di­gen soll­ten. Weil es sich dabei letzt­end­lich auch nur um jour­na­lis­ti­sche Arti­kel han­delt, müs­sen wir mit ihnen genau­so ver­fah­ren wie mit Medi­en und Exper­ten, näm­lich genau hin­schau­en und kei­nen Fak­ten­check akzep­tie­ren, den wir nicht selbst ver­zapft haben. So wird zum Bei­spiel im „Fak­ten­fin­der“ der Tages­schau beim Fak­ten­check von Stim­men, die dar­in als „ver­meint­li­che Exper­ten“ abge­tan wer­den, unter ande­rem unser guter Bekann­ter Klaus Gest­wa in der Funk­ti­on eines „Ukrai­ne-Exper­ten“ zitiert: Es wer­den also Leu­te als „ver­meint­li­che Exper­ten“ hin­ge­stellt, indem ein tat­säch­lich ver­meint­li­cher Exper­te zu Wort kom­men darf und dabei nicht hin­ter­fragt wird. Dabei wer­den die Argu­men­te der kri­ti­sier­ten „ver­meint­li­chen Exper­ten“ nicht sach­lich zer­legt, das heißt, es wird nicht dar­auf ein­ge­gan­gen, wie genau die kri­ti­sier­ten „Exper­ten“ ihre Ansich­ten begrün­den, son­dern es wer­den ein­fach nur Gegen­the­sen prä­sen­tiert, frei nach dem Prin­zip: „X sagt das und das, aber das ist falsch, in Wirk­lich­keit ist das so und so.“ So funk­tio­niert seriö­ser wis­sen­schaft­li­cher Dis­kurs aber nicht. Um die Posi­ti­on der Gegen­sei­te zu wider­le­gen, muss man ihre Argu­men­ta­ti­ons­ket­te und die ange­führ­ten Bele­ge prü­fen. Und viel­leicht haben die Inter­view­part­ner des „Fak­ten­fin­ders“ das sogar gemacht – aber im Arti­kel merkt man nichts davon.

Span­nend ist vor die­sem Hin­ter­grund auch die Fra­ge, wer die Fak­ten­che­cker finan­ziert: Sie selbst mögen sich noch so sehr als „unab­hän­gig“ sti­li­sie­ren, aber wenn ein Löwen­an­teil ihrer Finan­zen von US-ame­ri­ka­ni­schen Mul­ti­mil­li­ar­dä­ren, die kei­nen Hehl aus ihrer poli­ti­schen Agen­da machen, kommt, wie das zum Bei­spiel bei Cor­rec­tiv der Fall ist, das 2022 über eine hal­be Mil­li­on Euro von der Lumi­na­te Foun­da­ti­on, die dem eBay-Grün­der Pierre Omidyar gehört, erhal­ten hat, dann ist die­se Behaup­tung von einer „Unab­hän­gig­keit“ bes­ten­falls unglaubwürdig.

Dass wir ger­ne her­den­haft irgend­wel­chen Auto­ri­tä­ten hin­ter­her­lau­fen, liegt aber nicht nur an unse­rer denk­fau­len Natur, son­dern auch am Bil­dungs­sys­tem: Denkst Du wirk­lich, Schu­len sind aus rei­ner über­gro­ßer Her­zens­gü­te ent­stan­den, damit jun­ge See­len ihr vol­les Poten­ti­al ent­fal­ten kön­nen? Nein. Viel­leicht bist Du selbst so idea­lis­tisch, aber Du bist schlecht bera­ten, wenn Du Dei­ne Wer­te und Idea­le auch ande­ren unter­stellst. Denn hier wären wir wie­der beim Denk­feh­ler der Pro­jek­ti­on. Ver­giss nie, dass Schu­len Geld kos­ten, und wer es inves­tiert, will dafür etwas bekom­men. Bei Pri­vat­schu­len inves­tie­ren die Eltern und bekom­men dafür eine gute Bil­dung für ihre Kin­der. Bei Schu­len für das gemei­ne Volk inves­tie­ren je nach Land und Epo­che der Staat und/​oder super­rei­che ver­meint­li­che Phil­an­thro­pen (in Wirk­lich­keit Fabrik­be­sit­zer und ande­re, sagen wir mal, Olig­ar­chen). Bei­de wol­len aber vor allem eins: Arbeits­kräf­te, die nicht mehr und nicht weni­ger kön­nen als die Arbeit, für die sie her­an­ge­züch­tet wer­den. Die Ursprün­ge des Schul­sys­tems, wie wir es ken­nen, rei­chen ins frü­he 18. Jahr­hun­dert, als in Preu­ßen die Schul­pflicht ein­ge­führt wur­de, um dis­zi­pli­nier­te und aus­rei­chend kom­pe­ten­te Unter­ta­nen zu for­men. Und das ist bis heu­te spür­bar: In einer Sen­dung von SWR1 Leu­te geht der Pro­pa­gan­da­for­scher Jonas Tögel ab Minu­te 29:03 dar­auf ein, dass es an deut­schen Schu­len durch­aus bewuss­te NATO-Pro­pa­gan­da gibt. Und wenn wir uns dar­an erin­nern, dass Sys­te­me sich von Natur aus selbst legi­ti­mie­ren müs­sen, dann ist es ganz logisch, dass es in den Schu­len eines NATO-Lan­des NATO-Pro­pa­gan­da gibt. In Nicht-NATO-Län­dern gibt es ander­wei­ti­ge Pro­pa­gan­da. Sofern Schu­len Teil eines Sys­tems mit bestimm­ten Inter­es­sen sind, solan­ge sie von die­sem Sys­tem Gel­der bekom­men und das Per­so­nal von die­sem Sys­tem aus­ge­bil­det wird, sind sie auch eine Pro­pa­gan­da­in­sti­tu­ti­on zur Her­an­züch­tung bra­ver, mani­pu­lier­ba­rer Bür­ger. Oder wie der US-ame­ri­ka­ni­sche Leh­rer John Tay­lor Gat­to es in sei­nem Buch Dum­bing Us Down so schön formuliert:

„Schools are inten­ded to pro­du­ce, through the appli­ca­ti­on of for­mu­las, for­mu­laic human beings who­se beha­vi­or can be pre­dic­ted and controlled.“

„Schu­len sind dafür gedacht, durch die Anwen­dung von Scha­blo­nen scha­blo­nen­haf­te Men­schen her­vor­zu­brin­gen, deren Ver­hal­ten vor­her­ge­sagt und kon­trol­liert wer­den kann.“

John Tay­lor Gat­to: Dum­bing Us Down: The Hid­den Cur­ri­cu­lum of Com­pul­so­ry Schoo­ling, Kapi­tel: The Psy­cho­pa­thic School, hier über­setzt von Fea­el Silmarien.

Wobei das natür­lich mit allen ande­ren Säu­len von Rea­li­täts­tun­neln Hand in Hand geht: Denn Leh­rer zum Bei­spiel nei­gen ja auch völ­lig ohne bewuss­te Pro­pa­gan­da­ab­sicht zu Denk­feh­lern, Auto­ri­täts­hö­rig­keit und Mit­läu­fer­tum, äußern sich gegen­über ihren Schü­lern (wie mei­ne Assis­ten­tin Lara so schön anmerk­te) aber oft und ger­ne zu The­men, mit denen sie sich eigent­lich nicht aus­ken­nen. Damit wer­den sie also zu Opfern des Dun­ning-Kru­ger-Effekts, was jedoch beson­ders gefähr­lich ist ange­sichts des­sen, dass sie gegen­über Kin­dern, die erst recht noch nicht kri­tisch den­ken kön­nen, als Auto­ri­tä­ten und Vor­bil­der auf­tre­ten und die­se somit unwis­sent­lich und unab­sicht­lich mit fal­schen Infor­ma­tio­nen und Denk­feh­lern indok­tri­nie­ren kön­nen. Und wenn wir von der ers­ten Klas­se an ler­nen, dass Leh­rer mehr oder weni­ger immer recht haben, und Leh­rer auch noch Macht über unse­re Schul­no­ten – und damit über unse­re Zukunft – haben, dann braucht es nicht ein­mal bewuss­te Pro­pa­gan­da im Lehr­plan: Wenn die Leh­rer selbst an das glau­ben, was sie ihren Schü­lern ver­mit­teln sol­len, machen sie die­se Pro­pa­gan­da ganz unbe­wusst und unaufgefordert.

Mit ande­ren Worten:

Unse­re natür­li­che Auto­ri­täts­hö­rig­keit wird durch das Schul­sys­tem, wie wir es heu­te ken­nen, nur noch ver­stärkt.

Dabei wäre es auch ein Feh­ler, mit Auto­ri­tä­ten nur kla­re Befeh­le und Dro­hun­gen zu asso­zi­ie­ren. Viel gefähr­li­cher als sol­che offe­nen Auto­ri­tä­ten sind laut dem Psy­cho­ana­ly­ti­ker Erich Fromm soge­nann­te anony­me Auto­ri­tä­ten. Denn wenn eine offen auto­ri­tä­re Mut­ter dem klei­nen Hans zum Bei­spiel sagt: „Wenn du den Spi­nat nicht isst, dann gibt’s Prü­gel!“, dann kann der klei­ne Hans sich auf­leh­nen, rebel­lie­ren, für sei­ne Rech­te kämp­fen. Anony­me Auto­ri­tät hin­ge­gen wäre, um Fromms eige­nes Bei­spiel zu klau­en, wenn die Mut­ter sagt: „Du kannst essen, was du willst“, dabei aber „ein sehr trau­ri­ges Gesicht“ macht, wenn der klei­ne Hans den Spi­nat nicht isst. Mit ande­ren Wor­ten: Die Mut­ter täuscht den klei­nen Hans, indem sie ihm vor­gau­kelt, er wäre frei in sei­ner Ent­schei­dung, ihm gleich­zei­tig aber zu ver­ste­hen gibt, dass nur eine Ent­schei­dung rich­tig ist. Gegen eine sol­che pas­siv aggres­si­ve Psy­cho­ma­ni­pu­la­ti­on kann man sich kaum weh­ren, weil man ja angeb­lich so frei ist. Denn gegen wen wehrt man sich da? Gegen die lie­be Mama, die einem sagt, man kön­ne doch essen, was man will? Und dann wer­den sol­che Psy­cho­ma­ni­pu­la­tio­nen nicht nur beim Spi­nat ein­ge­setzt, son­dern natür­lich auch in allen ande­ren Lebens­be­rei­chen: In der Schu­le zum Bei­spiel bekom­men wir oft Auf­ga­ben, bei denen wir durch „selbst­stän­di­ges“ Den­ken zur erwünsch­ten „rich­ti­gen“ Ant­wort kom­men müs­sen, und dafür wer­den uns von der Lehr­kraft see­ehr ziel­ge­rich­te­te Tipps gege­ben. Und gene­rell heißt es an jeder Ecke, wir sei­en als Gesell­schaft ja so frei, aber dann erge­ben die Umfra­gen der letz­ten Jah­re, dass immer mehr Deut­sche die Mei­nungs­frei­heit ein­ge­schränkt sehen.

Ansons­ten spie­len ein Stück weit auch kul­tu­rel­le Beson­der­hei­ten eine Rol­le. So wird den Deut­schen im inter­kul­tu­rel­len Ver­gleich immer wie­der eine über­durch­schnitt­li­che Auto­ri­täts­hö­rig­keit attes­tiert. Die Träg­heit des deut­schen Michels mag der Grund für die­se Bereit­wil­lig­keit zum Abtre­ten von Ver­ant­wor­tung an irgend­wel­che Auto­ri­tä­ten sein. Und das wie­der­um bedroht die Fähig­keit zu kri­ti­schem Denken:

Denn kri­ti­sches Den­ken ist selbst­stän­di­ges Den­ken. Und selbst­stän­di­ges Den­ken bedeu­tet, dass man selbst­stän­dig denkt und das Den­ken somit eben nicht an die Her­de, Auto­ri­tä­ten und (ver­meint­li­che) Exper­ten outsourct.

Subjektive Realitäten: Zusammenfassung

Puh, das war viel! Und weil das so viel war, soll­ten wir viel­leicht kurz zusammenfassen:

Das Haupt­pro­blem besteht dar­in, dass wir alle geliebt wer­den wol­len und – sofern wir nicht in der Lage sind, uns selbst genug Lie­be zu geben – dar­auf ange­wie­sen sind, ein posi­ti­ves Selbst­bild zu pfle­gen. Dabei kon­stru­ie­ren wir Men­schen (im Gegen­satz zu Tie­ren) ger­ne Nar­ra­ti­ve bzw. Rea­li­täts­tun­nel, in denen wir selbst (oder auch unse­re Ange­hö­ri­gen) eine Hel­den- oder Opfer­rol­le ein­neh­men. An die­se Nar­ra­ti­ve glau­ben wir dann ehr­lich und auf­rich­tig und errich­ten kogni­ti­ve Fil­ter gegen Infor­ma­tio­nen, die die­sen Nar­ra­ti­ven wider­spre­chen. Außer­dem nei­gen wir dazu, uns selbst, unse­re Fähig­kei­ten und unse­re Bedeu­tung für die Welt zu über­schät­zen und ganz naiv und blau­äu­gig anzu­neh­men, dass wir tat­säch­lich Gutes tun, wenn wir es gut mei­nen, und dass ande­re Men­schen es auch gut mit uns mei­nen. Wir glau­ben ger­ne an das Gute in ande­ren Men­schen, weil wir auch Men­schen sind, und wenn der Mensch an sich gut ist, dann sind wir ja auch selbst gut.

Außer­dem sind wir unver­bes­ser­li­che Her­den­tie­re und geben die Ver­ant­wor­tung für unser Den­ken und Han­deln ger­ne an ver­meint­lich ver­trau­ens­wür­di­ge Auto­ri­tä­ten ab, deren Nar­ra­ti­ve wir nur zu ger­ne unkri­tisch über­neh­men. Dabei blen­den wir aus, dass die­se Auto­ri­tä­ten genau­so feh­ler­an­fäl­li­ge Men­schen wie wir sind. Wie gesagt, wir blen­den gene­rell alles aus, was unse­re rosa­ro­te Bril­le bei der Betrach­tung der Welt und vor allem von uns selbst beein­träch­ti­gen könn­te. Wir sind also von Natur aus nicht zu kri­ti­schem Den­ken ver­an­lagt und es wird von unse­rer Gesell­schaft auch nicht geför­dert. Mehr noch: Wenn wir die Bedro­hun­gen für unser Selbst- und Welt­bild nicht ein­fach aus­blen­den kön­nen, wol­len wir es gewalt­sam ver­tei­di­gen und wer­den aggres­siv, mer­ken es aber häu­fig nicht, weil Aggres­si­on und Bos­haf­tig­keit nicht zu unse­rem freund­li­chen Selbst­bild pas­sen. Und wenn die Her­de auch noch mit­macht, sehen wir erst recht kei­nen Grund, unser Den­ken und Han­deln zu hinterfragen.

Beson­ders fatal ist in die­sem Zusam­men­hang der Indi­vi­dua­lis­mus, weil durch ihn jeder auf sich selbst, sei­ne Wir­kung und sei­nen Rea­li­täts­tun­nel fixiert ist, wir uns sehr stark mit irgend­wel­chen Grup­pen iden­ti­fi­zie­ren, sie als Teil unse­rer Indi­vi­dua­li­tät betrach­ten und uns somit ihren Nar­ra­ti­ven aus­lie­fern, und weil die anony­me Auto­ri­tät, die uns eine Frei­heit zur indi­vi­du­el­len Ent­fal­tung vor­gau­kelt, uns und unse­ren Rea­li­täts­tun­nel in eine bestimm­te Rich­tung zu len­ken versucht.

Also ganz kurz formuliert:

Das Bedürf­nis, als lebens- und lie­bens­wer­tes Geschöpf gese­hen zu wer­den, macht uns mani­pu­lier­bar und schlimms­ten­falls sogar zu men­schen­ver­ach­ten­den Bastarden.

Oder umge­kehrt:

Die meis­ten Arsch­lö­cher wer­den nicht des­we­gen zu Arsch­lö­chern, weil sie Arsch­lö­cher sein, son­dern weil sie als gut und lie­bens­wert gel­ten wollen.

Oder noch kürzer:

Kri­ti­sches Den­ken erfor­dert sehr viel Mut, weil wir uns vor allem uns selbst stel­len müs­sen.

Die Tra­gik hin­ter die­ser Natür­lich­keit von kogni­ti­ven Blo­cka­den, Her­den­men­ta­li­tät und Auto­ri­täts­hö­rig­keit besteht nun dar­in, dass sie auf ganz natür­li­che Wei­se zu Kon­flik­ten führt. Wir hau­en uns gegen­sei­tig die Köp­fe ein, weil wir für das Gute kämp­fen und die Welt ret­ten wol­len, und mer­ken nicht, dass wir selbst genau die Mons­ter sind, die wir zu bekämp­fen glau­ben. Und um die­sen Sach­ver­halt etwas anschau­li­cher dar­zu­stel­len, möch­te ich im zwei­ten Teil die­ser Rei­he detail­lier­ter auf die fata­len Fol­gen von sub­jek­ti­ven Rea­li­tä­ten ein­ge­hen. Denn wäh­rend wir alle uns Sor­gen um Din­ge wie die gesell­schaft­li­che Spal­tung machen, sind die wenigs­ten von uns bereit ein­zu­se­hen, dass wir selbst Teil des Pro­blems sind. Im drit­ten Teil schließ­lich wer­den wir uns kon­kre­ten Schrit­ten für die kri­ti­sche Ana­ly­se von Infor­ma­tio­nen zuwen­den.

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