Neutraler Erzähler und unzuverlässiger Erzähler

Neutraler Erzähler und unzuverlässiger Erzähler

Wenn man über Erzäh­ler­ty­pen redet, taucht unter ande­rem der Begriff „neu­tra­ler Erzäh­ler“ auf. Dabei gilt die Vor­stel­lung von einem neu­tra­len Erzäh­ler in der heu­ti­gen Lite­ra­tur­wis­sen­schaft aus gutem Grund als Unsinn. Denn eigent­lich ist jeder Erzäh­ler poten­ti­ell unzu­ver­läs­sig. – War­um? Das erfährst Du in die­sem Arti­kel: Denn hier geht es um die Irr­tü­mer hin­ter dem neu­tra­len Erzäh­ler und die Logik hin­ter dem unzu­ver­läs­si­gen Erzähler.

Die Foli­en für die­ses Video gibt es für Ste­ady-Abon­nen­ten und Kanal­mitglieder auf You­Tube als PDF zum Download.

Mei­ne Schul­zeit ist nun vie­le Jah­re her und heu­te weiß ich, dass mir dort viel Unsinn bei­gebracht wur­de. Das gilt natür­lich auch für den Deutsch­un­ter­richt: Denn da tauch­te immer wie­der der Begriff „neu­tra­ler Erzäh­ler“ auf. Nach mei­nem lite­ra­tur­wis­sen­schaft­li­chen Stu­di­um weiß ich aber: Ein Erzäh­ler ist nie, nie, NIE! neutral.

Denn jeder Erzäh­ler ist poten­ti­ell unzuverlässig!

Warum ein Erzähler nie neutral ist

1979 erschien die ers­te Aus­ga­be von Theo­rie des Erzäh­lens von Franz Karl Stan­zel. Heu­te gilt es als Stan­dard­werk der Erzähl­theo­rie, aber: Es gab zahl­rei­che Über­ar­bei­tun­gen. Eine beson­ders wesent­li­che war ganz am Anfang:

In der ursprüng­li­chen Ver­si­on hat­te Stan­zels Erzähl­theo­rie näm­lich vier Erzäh­ler­ty­pen:

  • Ich-Erzäh­ler
  • aukt­oria­ler Erzähler
  • per­so­na­ler Erzähler
  • neu­tra­ler Erzähler

Beson­ders bezüg­lich des neu­tra­len Erzäh­lers hagel­te es Kri­tik und bereits in der zwei­ten Aus­ga­be ent­fern­te Stan­zel ihn aus dem Modell.

Aber was heißt das nun? Es gibt kei­nen neu­tra­len Erzäh­ler? Aber was ist mit dem „Came­ra-Eye“? Was ist mit die­ser Art von Erzäh­ler, der ledig­lich nur eine nüch­ter­ne Beschrei­bung der äuße­ren Vor­gän­ge lie­fert, der nicht wer­tet und sich gene­rell im Hin­ter­grund hält und nicht wahr­nehm­bar ist?

„Kamera“ vs. Objektivität

Nun, das „Came­ra-Eye“ fin­det sich in Stan­zels Modell durch­aus: Der aukt­oria­le Erzäh­ler ist jemand, der durch­aus „Ich“ sagen kann, es aber nicht muss. Sagt er „Ich“, macht er sich sicht­bar. Macht er jedoch einen Schritt in Rich­tung der per­so­na­len Erzähl­si­tua­ti­on, wird er zu einem aukt­oria­len Erzäh­ler, der sich im Hin­ter­grund hält.

Und zwi­schen die­sem Punkt und dem Beginn des per­so­na­len Erzäh­lers liegt die „sze­ni­sche Dar­stel­lung“. – Die Dar­stel­lung der Ereig­nis­se wie durch eine Kame­ra: nüch­tern, unsicht­bar und schein­bar neu­tral und objektiv.

Neutraler Erzähler und unzuverlässiger Erzähler

Was man bei „Kame­ras“ aller­dings immer im Hin­ter­kopf behal­ten muss, ist, dass sie nie die objek­ti­ve Rea­li­tät wie­der­ge­ben.

Hier zum Bei­spiel zwei Fotos von mei­nem St. Peters­burg-Urlaub, genau­er gesagt aus dem Dorf Mandrogi:

Neutraler Erzähler und unzuverlässiger Erzähler

Was ist das also für ein Ort? Ein ruhi­ges Plätz­chen, wo man ent­spann­te Wald­spa­zier­gän­ge machen kann?

Äh, nein.

Man­dro­gi ist eine Sta­ti­on für Kreuz­fahrt­schif­fe auf der Stre­cke zwi­schen St. Peters­burg und Mos­kau, den bei­den Haupt­städ­ten Russ­lands. Scha­ren von Tou­ris­ten erkun­den die Muse­en rund um Hand­werk, Tra­di­tio­nen und das Leben auf dem Land gene­rell. Von einem Wod­ka-Muse­um bis zum Strei­chel­zoo ist dort alles ver­tre­ten und man ver­bringt dort ganz locker einen gan­zen aben­teu­er­li­chen, lau­ten Tag. Für mei­ne bei­den obe­ren Fotos habe ich die bei­den wahr­schein­lich ein­zi­gen ruhi­gen Plätz­chen aus­ge­sucht. Jeweils rechts und links von den Bli­cken auf den Wald herrsch­te eigent­lich viel Trubel.

Wir hal­ten also fest:

Eine Kame­ra ist nie neu­tral: Sie zeigt immer nur einen sorg­fäl­tig aus­ge­wähl­ten Aus­schnitt – und wir wis­sen nie, was alles aus dem Bild aus­ge­las­sen wurde.

Neutralität und Unzuverlässigkeit

Das­sel­be Prin­zip wie bei der Kame­ra gilt auch fürs Erzählen:

Denn wenn es eine Erzäh­lung gibt, gibt es immer jeman­den, der erzählt.

Und Erzäh­len ist per defi­ni­tio­nem ein „Fil­ter­pro­zess“:

  • Wel­che Vor­fäl­le wer­den für die Geschich­te ausgewählt?
  • Wie wer­den die­se Vor­fäl­le angeordnet?
  • Wie wer­den die­se Vor­fäl­le präsentiert?

Der­je­ni­ge, der erzählt, bestimmt somit die Aus­wahl, Anord­nung und Prä­sen­ta­ti­on der Vorfälle!

Damit ist Erzäh­len auto­ma­tisch eine Ver­fäl­schung der objek­ti­ven Ereignisse.

Und dar­aus resultiert:

Jeder Erzäh­ler ist poten­ti­ell unzuverlässig!

5 Parameter der Perspektive

Wer die­se Sei­te schon etwas län­ger kennt, weiß, dass ich ein Fan von Wolf Schmid bin. Er ist ein deut­scher Sla­wist und hat außer­dem sei­ne eige­ne Erzähl­theo­rie. Dar­in schlägt er fünf Para­me­ter der Per­spek­ti­ve vor, die man, wie ich fin­de, beson­ders gut anwen­den kann, um das, was der Erzäh­ler einem erzählt, zu hinterfragen:

  • räum­li­che Per­spek­ti­ve: Die Posi­ti­on im Raum bestimmt, wel­che Bruch­tei­le des Gesamt­ge­sche­hens man wahr­nimmt.

    Wenn der Erzäh­ler vor einem Haus steht, weiß er nicht, was sich innen drin oder dahin­ter abspielt. Wenn der Erzäh­ler sich in Ame­ri­ka befin­det, sieht er nicht, was in Afri­ka statt­fin­det. Wenn der Erzäh­ler hin­ter einer ande­ren Per­son steht, sieht er ihr Gesicht nicht.

  • ideo­lo­gi­sche Per­spek­ti­ve: Wis­sen, Denk­wei­se und Wer­te bestim­men mit, was man wie wahr­nimmt.

    Wäh­rend ein Durch­schnitts­bür­ger einen Tipp­feh­ler auf der Geträn­ke­kar­te eines Restau­rants über­se­hen oder igno­rie­ren wird, wird ein Recht­schreib­fe­ti­schist ihm sei­ne gan­ze Auf­merk­sam­keit wid­men. Damit kön­nen zwei unter­schied­li­che Per­so­nen, die sich an ein und dem­sel­ben Ort befin­den und den­sel­ben Vor­fall sehen, völ­lig unter­schied­li­che Din­ge wahr­neh­men. Wir alle haben unse­re indi­vi­du­el­len Schwer­punk­te, wor­auf wir ach­ten, wenn wir durch die Welt gehen.

  • zeit­li­che Per­spek­ti­ve: Der zeit­li­che Abstand zum Gesche­hen beein­flusst eben­falls die Wahr­neh­mung.

    Zwi­schen dem eigent­li­chen Erfas­sen eines Ereig­nis­ses und der Wie­der­ga­be ver­geht in der Regel eini­ge Zeit. Und in die­ser Zeit kann viel pas­sie­ren: Hin­ter­grund­in­for­ma­tio­nen, Neu­be­wer­tung des Wahr­ge­nom­me­nen, Ver­ges­sen von Details.

  • sprach­li­che Per­spek­ti­ve: Durch unter­schied­li­che Spra­che kann das­sel­be Gesche­hen unter­schied­lich prä­sen­tiert wer­den.

    Die Wort­wahl und die kon­kre­ten For­mu­lie­run­gen und Beto­nun­gen kön­nen das Innen­le­ben zum Zeit­punkt des Erfas­sens wie­der­spie­geln oder eben auch nicht. Man kann einen bestimm­ten Slang ver­wen­den – oder auch nicht. Außer­dem hat Spra­che Ein­fluss auf unse­re Gedan­ken­welt und damit auch auf unse­re Wahrnehmung.

  • per­zep­ti­ve Per­spek­ti­ve: Eine Per­spek­ti­ve kann durch das Pris­ma einer Figur geprägt sein oder auch nicht (trotz Innen­sicht).

    Der Erzäh­ler eines fik­tio­na­len Tex­tes hat die Wahl, durch wes­sen „Augen“ er auf das Gesche­hen blickt: Durch sei­ne eige­nen oder die einer bestimm­ten Figur? Und wenn er durch die Augen einer Figur blickt: Über­nimmt er die Wahr­neh­mun­gen der Figur und hält sich im Hin­ter­grund oder hat er trotz glei­cher Augen einen eige­nen Kopf und nimmt Din­ge wahr, die der Figur gar nicht auffallen?

(Wolf Schmid: Ele­men­te der Nar­ra­to­lo­gie, 2. Auf­la­ge 2008, S. 130 ff.)

Die­se fünf Para­me­ter kann man nun auf jede Erzähl­per­spek­ti­ve anwen­den und sehen, wie das Bild, das dem Leser ver­mit­telt wird, über­haupt zustan­de­kommt. Damit bekom­men wir eine unge­fäh­re Ahnung vom Grad der „Ver­fäl­schung“ der objek­ti­ven Ereignisse.

Unzuverlässiger Erzähler ≠ unzuverlässiger Erzähler

Nun will aber natür­lich nicht jeder Autor sei­ne Leser „anlü­gen“, denn:

  • Oft genug wol­len Autoren ein­fach nur eine Geschich­te erzäh­len:
    Der Fokus liegt auf der Hand­lung und was der Erzäh­ler sagt, ist (inner­halb der fik­ti­ven Welt) auch tat­säch­lich so passiert.
  • Oft gibt der Erzäh­ler auch nur die sub­jek­ti­ve Wahr­neh­mung einer Figur wieder:
    Ja, der Erzäh­ler erzählt viel­leicht Din­ge, die nicht stim­men, aber es sind eigent­lich die Irr­tü­mer der Figur, durch deren Pris­ma der Erzäh­ler erzählt. Also die Figur irrt sich und der Erzäh­ler irrt sich mit.
  • Man­che Erzäh­ler laden indi­rekt zum Hin­ter­fra­gen der Erzäh­lung ein:
    In eini­gen Situa­tio­nen ist schnell klar, dass die Erzähl­per­spek­ti­ve eigen­wil­lig und daher zu hin­ter­fra­gen ist.
  • Und eini­ge Erzäh­ler füh­ren den Leser (gezielt) in die Irre:
    Der Erzäh­ler erzählt von Din­gen, die nie oder anders statt­ge­fun­den haben oder lässt auch eini­ge Din­ge weg.

Beispiel 1: Lolita von Vladimir Nabokov

Ein Bei­spiel für einen bewusst unzu­ver­läs­sig kon­zi­pier­ten Erzäh­ler fin­det sich in Nabo­kovs Loli­ta:

In die­sem Roman geht es um die pädo­phi­le Bezie­hung des Ich-Erzäh­lers Hum­bert Hum­bert zu sei­ner Stief­toch­ter „Loli­ta“ (eigent­lich Dolores).

Bei der Lek­tü­re sind u.a. drei Punk­te zu bedenken:

  • Der Leser blickt aus­schließ­lich durch das (ver­stö­ren­de) Pris­ma des Vergewaltigers.
  • Es soll­te klar sein, dass Dolo­res die Din­ge anders wahr­nimmt als der Erzähler.
  • Es soll­te auch klar sein, dass Dolo­res‘ wah­res Innen­le­ben höchs­tens nur ange­deu­tet wird.

Und genau hier hat der Roman ein Pro­blem – näm­lich Leser, die nicht (aus­rei­chend) zwi­schen den Zei­len lesen. In der Kri­tik wur­de Dolo­res oft als gars­ti­ges, ver­zo­ge­nes Mäd­chen beschrie­ben und Nabo­kovs Frau fand, dass die Beschrei­bung ihrer Hilf­lo­sig­keit und ihres Mutes von den Kri­ti­kern nicht bemerkt wurde.

Beispiel 2: Der Postmeister von Alexander Puschkin

Ein ande­res Bei­spiel für eine hin­ter­fra­gungs­wür­di­ge Erzähl­wei­se ist Der Post­meis­ter von Pusch­kin. Die­se Erzäh­lung bie­tet je nach „Grad des Zwi­schen-den-Zei­len-Lesens“ zwei unter­schied­li­che Geschichten:

  • buch­stäb­li­che Lek­tü­re: Das schö­ne Mäd­chen Dun­ja wird von einem Offi­zier verführt.
  • Lek­tü­re zwi­schen den Zei­len: Das schö­ne Mäd­chen Dun­ja ver­führt einen Offizier.

Das kommt dadurch zustan­de, dass der Ich-Erzäh­ler die Sicht­wei­se des Vaters des Mäd­chens über­nimmt und sie für ein hilf­lo­ses Opfer hält (oder hal­ten will). Der Leser kann jedoch ande­re Details und Sym­bo­le bemer­ken. Zum Beispiel:

  • Dun­ja weiß um ihre Schön­heit und flir­tet sehr selbst­be­wusst mit Män­nern. Das fällt gleich am Anfang auf durch die Art und Wei­se, wie sie mit dem Ich-Erzäh­ler umgeht.
  • In einer spä­te­ren Sze­ne sitzt Dun­ja auf der Arm­leh­ne des Ses­sels des Offi­ziers „wie eine Rei­te­rin auf eng­li­schem Sat­tel“ und wickelt sich des­sen Haa­re um den Fin­ger. Hier spielt nicht nur eine Ges­te der Ver­füh­rung eine Rol­le und der Aus­druck: „jeman­den um den Fin­ger wickeln“, son­dern auch die Dar­stel­lung von Dun­ja als akti­ve Rei­te­rin, wäh­rend der Offi­zier offen­bar als meta­pho­ri­sches Pferd fungiert.

Damit hal­ten wir fest: Der Erzäh­ler hier ist kei­nes­wegs per­vers oder ander­wei­tig miss­trau­en­er­we­ckend, aber er über­nimmt die Erzäh­lung des Vaters unhin­ter­fragt und führt unvor­sich­ti­ge Leser damit in die Irre.

Unzuverlässiger Erzähler: Ja oder Nein?

Bei­de Bei­spie­le ver­deut­li­chen, dass Lesen eine Kunst für sich ist, die nicht jeder beherrscht bzw. beherr­schen will:

  • Vie­le Leser wol­len sich ein­fach nur zurück­leh­nen und sich von der Erzäh­lung trei­ben las­sen und nicht hinterfragen.
  • Man­chen Lesern fehlt auch die Auf­merk­sam­keit, um wich­ti­ge klei­ne Details zu erkennen.

Die­se bei­den Umstän­de machen einen bewusst unzu­ver­läs­sig gemach­ten Erzäh­ler zu einem ziem­li­chen Risi­ko. Lohnt sich sowas also überhaupt?

Schreib mir Dei­ne Mei­nung unten in die Kommentare!

Mei­ne eige­ne Mei­nung ist:

Unzu­ver­läs­si­ges Erzäh­len ist span­nend, denn man kann nach- und mit­den­ken und man ist mit der Erzäh­lung ins­ge­samt län­ger und mehr beschäftigt.

Für vor­sich­ti­ge Autoren daher ein ganz sub­jek­ti­ver „Kom­pro­miss-Tipp“ von mir:

Wenn es in der Erzäh­lung kei­ne Auf­lö­sung gibt, in der alles rich­tig­ge­stellt wird, soll­te die Geschich­te in bei­den Lese­wei­sen gut sein!

10 Kommentare

  1. Hal­lo Katha,

    eine tol­le Sei­te hast du hier auf­ge­baut. Gera­de weil es so weni­ge Ver­bin­dun­gen zwi­schen der Theo­rie der Lite­ra­tur­wis­sen­schaft und der Pra­xis des Schrei­bens gibt. Muss noch ein Weil­chen störbern …

    „Unzu­ver­läs­si­ges Erzäh­len ist span­nend, denn man kann nach- und mit­den­ken und man ist mit der Erzäh­lung ins­ge­samt län­ger und mehr beschäftigt.“

    Sehe ich auch so. Daher eig­net es sich auch beson­ders für Roma­ne, die die Leser eher intel­lek­tu­ell ange­hen, wie klas­si­sche Who-Dun­nit-Kri­mis oder anspruchs­vol­le Lite­ra­tur. In Esca­pis­mus-Tex­ten wie Fan­ta­sy oder stark emo­tio­nal ori­en­tier­ten Roma­nen wie Romance dürf­ten sich die Leser hin­ge­gen weni­ger über die Unzu­ver­läs­sig­keit des Erzäh­lers freuen.

    Schö­nen Gruß

    Ste­phan Waldscheidt

    1. Wow, Ste­phan Wald­scheidt, welch hoher Besuch! Ist mir eine Ehre!

      Ja, was gut und was schlecht für eine Geschich­te ist, hängt sehr stark mit dem Gen­re (und damit der Ziel­grup­pe) zusam­men. 100%-ige Zustimmung.

      Vie­len Dank fürs Lob und schö­ne Grü­ße zurück!

      Katha Joos

  2. Wor­um han­delt es sich denn dei­ner Mei­nung nach bei der Mar­qui­se von O.
    Dort kommt es an Schlüs­sel­stel­len zu ein­deu­ti­gem aukt­oria­len und per­so­na­len Erzähl­ver­hal­ten. In wei­ten Tei­len aber weder noch. Wie wür­dest du das nennen?

    Ute Rogge
    1. Das ist eine gute Fra­ge. Ich wür­de sagen, der Erzäh­ler ist auf den ers­ten Blick aukt­ori­al (mit gele­gent­li­chen Ten­den­zen in Rich­tung des per­so­na­len Erzäh­lers). Aber er ist sehr wäh­le­risch, wie viel er von sei­nem All­wis­sen preisgibt …
      Nach Genet­te ist er null­fo­ka­li­siert und hete­ro­die­ge­tisch. Doch auch hier sind Ten­den­zen zur inter­nen und exter­nen Foka­li­sie­rung hin zu beob­ach­ten. Und vor allem ist die Foka­li­sie­rung bzw. Stanzel’sche Erzähl­si­tua­ti­on sehr abhän­gig von der jewei­li­gen Interpretation …
      Kleist zieht alle Regis­ter, damit die Erzäh­lung wie ein authen­ti­scher Bericht wirkt. Und den­noch: Was die Mar­qui­se in ihrer Bewusst­lo­sig­keit nicht wahr­ge­nom­men oder viel­leicht auch aus ihrem Gedächt­nis ver­drängt hat, das ver­schweigt auch der Erzäh­ler. Spä­ter erfah­ren wir dann aber immer wie­der von Din­gen, die die Mar­qui­se nicht (oder erst spä­ter) mitbekommt.
      Ich wür­de also sagen, rein theo­re­tisch wäre der aukt­oria­le bzw. null­fo­ka­li­sier­te Erzäh­ler schon rich­tig. Aber prak­tisch wür­de ich wohl eher von einer varia­blen Foka­li­sie­rung bzw. von einem dyna­mi­schen Erzäh­ler reden. Mit der Beto­nung, dass gera­de die­se Varia­bi­li­tät bzw. Dyna­mik hin­ter der Unzu­ver­läs­sig­keit des Erzäh­lers steckt: Denn als Leser weiß man oft nicht sicher, wel­che Foka­li­sie­rung bzw. Erzähl­si­tua­ti­on gera­de vor­liegt, und ist sei­ner eige­nen Inter­pre­ta­ti­on überlassen.
      Na ja. Ich hof­fe, mei­ne Über­le­gun­gen erge­ben irgend­ei­nen Sinn. Wie gesagt, das ist eine sehr, sehr gute Frage.

  3. Ein ent­schei­den­der Irr­tum ist, wenn man „Erzäh­ler“, „Erzähl­hal­tung“, „Erzähl­ver­hal­ten“ und „Erzähl­stra­te­gie“ gleichsetzt!
    Und es ist eigent­lich jedem, der sich mit Erzähl­theo­rie beschäf­tigt, bewusst, dass das The­ma äußerst kom­plex ist und vie­le Kom­po­nen­ten zu beach­ten sind. Die ver­schie­de­nen Spiel­ar­ten las­sen sich nicht zufrie­den­stel­lend und umfas­send sys­te­ma­ti­sie­ren, und daher han­delt es sich immer um Model­le, die man zu den Vari­an­ten des Erzäh­lens ent­wi­ckelt hat.
    Man redu­ziert (v.a. i der Schu­le!) daher die Phä­no­me­ne auf drei ide­al­ty­pi­sche Erzähl­stra­te­gien. Es han­delt sich dabei um Kon­struk­te, die drei Grund­mög­lich­kei­ten erzäh­le­ri­schen Vor­ge­hens zusammenfasst

    Barbara
    1. Ja, das The­ma ist extrem kom­plex. Und wenn man tief genug gräbt, ist man irgend­wann bei den exis­ten­zi­el­len Fra­gen der Phi­lo­so­phie. Da ist es nur ver­ständn­lich, dass gera­de in der Schu­le die bereits ver­ein­fa­chen­den Model­le noch wei­ter ver­ein­facht und zusam­men­ge­fasst wer­den. Pro­ble­ma­tisch wird es nur, wenn man mit ober­fläch­li­chen Model­len tie­fer­ge­hen­de Ana­ly­sen anstel­len will. Aber dazu lernt man spä­ter an der Uni ja kom­ple­xe­re Model­le. – Denn ganz ohne Model­le kön­nen wir Men­schen wohl nicht auskommen.

  4. Hal­lo Katha! 

    Ich habe dei­nen Bei­trag mit Begeis­te­rung gele­sen, echt ein gros­ses Kom­pli­ment an dich für die tol­le Gestal­tung. Vor allem gefal­len mir auch die Bei­spie­le, die du anführst und ich sehe das ähn­lich wie du. Ich den­ke dabei bei­spiels­wei­se an die Geschich­te von „The Girl on the Train“, dort hat man ja grund­sätz­lich auch eine unzu­ver­läs­si­ge (weil alko­hol­ab­hän­gig) Erzäh­le­rin. Das gesam­te Buch wird vor die­sem Hin­ter­grund noch­mals deut­lich span­nen­der, da man nicht wis­sen kann, was genau der Wahr­heit ent­spricht und was nicht. Das Pro­blem, was ich dabei sehe ist, dass die meis­ten Leu­te, wie du das auch sagst, sich nicht die Mühe machen (wol­len), mehr zu inter­pre­tie­ren und des­we­gen geht die­ser Effekt des unzu­ver­läs­si­gen Erzäh­lers lei­der oft­mals unter. Für den auf­merk­sa­men Leser ist ein unzu­ver­läs­si­ger Erzäh­ler aber eine Her­aus­for­de­rung, da man stän­dig hin­ter­fra­gen muss, was denn nun der Wahr­heit ent­spricht und was dazu gedich­tet wird. Grund­sätz­lich fin­de ich aber span­nend, einen Erzäh­ler zu haben, der nicht zu 100% ver­trau­ens­wür­dig ist. 

    Bes­ten Dank für die tol­len Ausführungen!

    Timon
    1. Herz­li­chen Dank fürs Lob!
      Und ja, der unzu­ver­läs­si­ge Erzäh­ler ist abso­lut span­nend und durch ihn ist eine Erzäh­lung deut­lich mehr als „nur“ eine Geschich­te. Sol­che Erzäh­ler sind immer wie­der eine tol­le Herausforderung.

  5. Hal­lo Katha,

    gera­de dis­ku­tie­ren wir im Mont­se­gur Autoren­fo­rum über Per­spek­ti­ven und dabei bin ich auf dei­ne Sei­te gesto­ßen. Sehr über­sicht­lich, gute Bei­spie­le, gut zu verstehen.
    Ich unter­rich­te auch Krea­ti­ves Schrei­ben und wer­de mei­nen Teil­neh­me­rin­nen die­se Sei­te empfehlen

    Gro­ßes Lob und lie­ben Gruß
    Hen­ning Schöttke

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