Unzuverlässiges Erzählen

Unzuverlässiges Erzählen

Nicht jeder Erzäh­ler berich­tet die Wahr­heit. Und dann muss man als Leser die Erzäh­lung hin­ter­fra­gen. Doch wor­an erkennt man, dass man vom Erzäh­ler hin­ters Licht geführt wird, und wie funk­tio­niert das unzu­ver­läs­si­ge Erzäh­len über­haupt? War­um wäh­len Autoren einen unzu­ver­läs­si­gen Erzäh­ler und wel­che Typen des unzu­ver­läs­si­gen Erzäh­lens gibt es? – Um die­se Fra­gen geht es in die­sem Artikel.

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Jeder Erzäh­ler ist poten­ti­ell unzu­ver­läs­sig. – Das haben wir bereits in einem frü­he­ren Arti­kel fest­ge­stellt. Der Grund ist: Das Erzäh­len ist an sich auto­ma­tisch eine Ver­fäl­schung der objek­ti­ven Ereig­nis­se. Es ist immer mit einer Per­spek­ti­ve ver­bun­den und eine Per­spek­ti­ve ist eine Ein­schrän­kung des Wahrnehmungshorizonts.

Das ändert aber nichts dar­an, dass man als Leser den meis­ten Erzäh­lern in fik­tio­na­len Wer­ken durch­aus glau­ben kann und soll. Dass ein Erzäh­ler den Leser absicht­lich hin­ters Licht führt, pas­siert eher sel­ten. Aber es pas­siert. Und des­we­gen set­zen wir uns heu­te mit die­sem Phä­no­men auseinander:

Wel­che Arten des unzu­ver­läs­si­gen Erzäh­lens gibt es? Wie funk­tio­niert es und wor­an erkennt man es? Und wie­so wählt man einen sol­chen Erzäh­ler überhaupt?

Dar­um geht’s in die­sem Artikel!

Objektivität, Fiktionalität und Unzuverlässigkeit

Bevor man sich dem unzu­ver­läs­si­gen Erzäh­ler in fik­tio­na­len Tex­ten wid­met, muss man zumin­dest kurz auf einen wich­ti­gen Aspekt eingehen:

Fik­tio­na­le Tex­te erzäh­len per defi­ni­tio­nem von Din­gen, die objek­tiv nicht wahr sind.

Oder wie es die Lite­ra­tur­wis­sen­schaft­ler Matí­as Mar­tí­nez und Micha­el Schef­fel formulieren:

„Einer­seits erhe­ben die in fik­tio­na­ler Rede geäu­ßer­ten Sät­ze, als Ima­gi­na­tio­nen eines rea­len Autors, kei­nen Anspruch auf Refe­renz in unse­rer Welt; ande­rer­seits erhe­ben sie, als Behaup­tun­gen eines fik­ti­ven Erzäh­lers, durch­aus einen Wahr­heits­an­spruch in der erzähl­ten Welt.“
Matí­as Mar­tí­nez, Micha­el Schef­fel: Ein­füh­rung in die Erzähl­theo­rie, 10., über­ar­bei­te­te und aktua­li­sier­te Auf­la­ge, II. Das <Wie>: Dar­stel­lung, 5. Unzu­ver­läs­si­ges Erzählen.

Soll hei­ßen:

Die Dar­stel­lung rea­ler Tat­sa­chen ist nicht der Sinn und Zweck fik­tio­na­ler Tex­te. Doch inner­halb der Welt, die in einem fik­tio­na­len Text erschaf­fen wird, kön­nen die Aus­sa­gen des Erzäh­lers wahr sein. Es ist dann eine Art fik­ti­ve Wahr­heit.

Das gilt im Übri­gen auch für Per­so­nen, Orte und Ereig­nis­se, die der Rea­li­tät ent­nom­men sind. Wie im Arti­kel, in dem ich mit Ver­weis auf Wolf Schmid den Begriff „Fik­ti­on“ defi­niert habe, bereits erläu­tert, wer­den rea­le Din­ge, die mit fik­ti­ven Din­gen ver­knüpft wer­den, eben­falls fik­tiv bzw. qua­si-real.

Wenn also fik­ti­ve Figu­ren bei­spiels­wei­se bei rea­len his­to­ri­schen Ereig­nis­sen mit­mi­schen, sind die­se Ereig­nis­se nur noch qua­si-his­to­risch: Inner­halb der erzähl­ten Welt mag die Dar­stel­lung die­ser Ereig­nis­se wahr sein, doch für unse­re rea­le Welt hat die­se Dar­stel­lung kei­ne Gültigkeit.

Erzählerrede und Figurenrede

Wenn es nun um Wahr­heit und Unwahr­heit inner­halb der erzähl­ten Welt geht, muss man zunächst zwi­schen Erzäh­ler­re­de und Figu­ren­re­de unterscheiden.

Denn Figu­ren sind in der Regel gewöhn­li­che Bewoh­ner ihrer jewei­li­gen Welt und haben selbst­ver­ständ­lich eine ein­ge­schränk­te Per­spek­ti­ve oder Inter­es­sen, die sie zum Lügen ver­an­las­sen. Es ist daher nichts Beson­de­res, wenn ihre Aus­sa­gen nicht ganz zuver­läs­sig sind.

Anders ver­hält es sich mit den Aus­sa­gen eines Erzäh­lers: Er kennt die Geschich­te von Anfang bis Ende, er ist das ein­zi­ge Fens­ter, durch das der Leser in die erzähl­te Welt bli­cken kann, und in vie­len Geschich­ten macht er sich sogar so unsicht­bar, dass der Leser nicht ein­mal merkt, dass er da ist.

Des­we­gen wird dem Erzäh­ler meis­tens auto­ma­tisch unter­stellt, er wür­de die Wahr­heit sagen.

Doch wie Mar­tí­nez und Schef­fel es so schön formulieren:

„Es gibt auch Erzäh­ler, deren Behaup­tun­gen, zumin­dest teil­wei­se, als falsch gel­ten müs­sen mit Bezug auf das, was in der erzähl­ten Welt der Fall ist.“
Matí­as Mar­tí­nez, Micha­el Schef­fel: Ein­füh­rung in die Erzähl­theo­rie, 10., über­ar­bei­te­te und aktua­li­sier­te Auf­la­ge, II. Das <Wie>: Dar­stel­lung, 5. Unzu­ver­läs­si­ges Erzählen.

Das trifft natür­lich ger­ne homo­die­ge­ti­sche Erzäh­ler: also sol­che Erzäh­ler, die als Figu­ren in der erzähl­ten Welt vor­kom­men. Und weil sie eben Figu­ren sind, kann der Leser sich in der Regel damit arran­gie­ren, dass die Dar­stel­lung nicht ganz wahr­heits­ge­treu ist.

Heik­ler wird es mit hete­ro­die­ge­ti­schen Erzäh­lern, die wie Göt­ter über ihren erzähl­ten Wel­ten schwe­ben oder so tun, als wären sie nur eine „Kame­ra“. Immer­hin erwar­tet man von einem Gott auto­ma­tisch All­wis­sen und von einer Kame­ra Objek­ti­vi­tät. Wenn der Leser von einem „Gott“ oder einer „Kame­ra“ also „betro­gen“ wird, fällt er aus allen Wol­ken – und das tut oft weh. Das heißt zwar nicht, dass man einen sol­chen Erzäh­ler nicht unzu­ver­läs­sig machen darf, aber man soll­te es sich zumin­dest gut überlegen.

Nun sind hete­ro­die­ge­ti­sche Erzäh­ler aber nicht immer „Göt­ter“ oder „Kame­ras“, son­dern sie schau­en oft auch intern foka­li­siert durch das Pri­ma einer Figur: Hier wird die Erzäh­ler­re­de ger­ne durch Mit­tel wie erleb­te Rede mit Merk­ma­len der Figu­ren­re­de ange­rei­chert. (Was für’n Satz!) Außer­dem bie­tet ein sol­cher Erzäh­ler ja nur die ein­ge­schränk­te Wahr­neh­mung der Reflek­tor­fi­gur, die durch­aus falsch sein kann. Daher ist eine Unzu­ver­läs­sig­keit eines sol­chen Erzäh­lers für den Leser etwas leich­ter zu akzeptieren.

Erzähler und Autor

Eine wei­te­re wich­ti­ge Unter­schei­dung ist die zwi­schen Erzäh­ler und Autor. Sie bil­det auch den Kern der Defi­ni­ti­on von Way­ne C. Booth, der den Begriff „unzu­ver­läs­si­ger Erzäh­ler“ über­haupt erst geprägt hat. Er sagt:

„I have cal­led a nar­ra­tor relia­ble when he speaks for or acts in accordance with the norms of the work (which is to say the impli­ed author’s norms), unre­lia­ble when he does not.“
Way­ne C. Booth: The Rhe­to­ric of Fic­tion, Second Edi­ti­on, Part I: Artis­tic Puri­ty and the Rhe­to­ric of Fic­tion, Chap­ter Six: Types of Nar­ra­ti­on, Varia­ti­ons of Distance.

Booth unter­schei­det also zwi­schen dem Erzäh­ler und dem impli­zi­ten Autor. Unter dem impli­zi­ten Autor ver­steht er dabei das Bild vom Autor, das sich der Leser bei der Lek­tü­re eines Tex­tes machen kann. Die­ser Begriff beinhal­tet dabei die Struk­tur und Bedeu­tung eines Tex­tes sowie das ver­mit­tel­te Wer­te- und Nor­men­sys­tem und ist einer­seits eine Art Selbst­por­trät des Autors, ande­rer­seits aber auch ein leser­ge­ne­rier­tes Bild.

Und wich­tig ist der impli­zi­te Autor für das unzu­ver­läs­si­ge Erzäh­len des­we­gen, weil er im Fall eines unzu­ver­läs­si­gen Erzäh­lers dem Leser am Erzäh­ler vor­bei die „Wahr­heit“ ver­mit­telt.

Das Kon­zept „impli­zi­ter Autor“ steht aller­dings zu Recht in der Kri­tik und auch ich selbst wür­de sagen, dass der impli­zi­te Autor unmög­lich zu grei­fen ist: Kei­ne zwei Leser wür­den sich je dar­auf eini­gen, wie der impli­zi­te Autor in einem Werk gestrickt ist, weil jeder Leser sei­ne höchst eige­ne, indi­vi­du­el­le Vor­stel­lung vom Autor ent­wi­ckelt. Wie kann man da also dar­über reden, was die­ser unfass­ba­re impli­zi­te Autor sich gedacht und am Erzäh­ler vor­bei im Text ver­steckt hat?

Nichts­des­to­trotz ist eine sol­che Unter­schei­dung wich­tig, denn sie ver­deut­licht, dass unzu­ver­läs­si­ges Erzäh­len oft eben tat­säch­lich am Erzäh­ler vor­bei funk­tio­niert: Der Erzäh­ler, das ein­zi­ge Fens­ter in die erzähl­te Welt, irrt sich oder lügt, aber der Leser sieht trotz­dem Din­ge, die die­ses Fens­ter nicht zeigt.

Typen des unzuverlässigen Erzählens

Wie kön­nen wir unzu­ver­läs­si­ges Erzäh­len also iden­ti­fi­zie­ren? Wie mer­ken wir, dass wir vom Erzäh­ler in die Irre geführt werden?

Um die­se Fra­ge zu beant­wor­ten, soll­ten wir uns zunächst anschau­en, wel­che Typen des unzu­ver­läs­si­gen Erzäh­lens es über­haupt gibt. Und dazu wie­der­um müs­sen wir den Unter­schied zwi­schen mime­ti­schen und theo­re­ti­schen Aus­sa­gen des Erzäh­lers lernen:

Mime­ti­sche Aus­sa­gen bezie­hen sich auf Fak­ten rund um die fik­ti­ve Welt, wäh­rend theo­re­ti­sche Aus­sa­gen sich um Din­ge wie ethi­sche Vor­stel­lun­gen, Geschmacks­ur­tei­le und Mei­nun­gen drehen.

Wenn der Erzäh­ler zum Bei­spiel sagt, dass Fritz­chen eine häss­li­che Jeans trägt, dann ist das Tra­gen der Jeans durch Fritz­chen eine Fak­ten­be­haup­tung, also mime­tisch. Dass die Jeans häss­lich ist, ist dage­gen ein Geschmacks­ur­teil des Erzäh­lers und damit theoretisch.

Mit die­ser Unter­schei­dung im Hin­ter­kopf kön­nen wir uns nun den drei Typen des unzu­ver­läs­si­gen Erzäh­lens wid­men, wie sie von Mar­ti­nez und Schef­fel defi­niert wurden:

  • theo­re­tisch unzu­ver­läs­si­ges Erzäh­len:
    Hier sind die mime­ti­schen Aus­sa­gen kor­rekt bzw. zuver­läs­sig, die theo­re­ti­schen Aus­sa­gen aber unzuverlässig.
    Das heißt: Fritz­chen trägt tat­säch­lich eine Jeans, aber sie ist nicht häss­lich, son­dern schön – bzw. die meis­ten Men­schen wür­den sie als schön bezeich­nen. Der Erzäh­ler offen­bart also sei­nen schlech­ten Modegeschmack.
  • mime­tisch teil­wei­se unzu­ver­läs­si­ges Erzäh­len:
    Hier kön­nen sowohl theo­re­ti­sche als auch mime­ti­sche Aus­sa­gen falsch sein.
    Das heißt: Fritz­chens Jeans ist nicht nur nicht häss­lich, son­dern in Wirk­lich­keit sogar eine Hose aus einem ande­ren Stoff. Viel­leicht ist es auch ein Rock. Oder der Trä­ger ist gar nicht Fritz­chen, son­dern Lieschen.
  • mime­tisch unent­scheid­ba­res Erzäh­len:
    Hier ist gar nicht klar, was wahr und was falsch ist. Wir erfah­ren die Wahr­heit schlicht und ergrei­fend nicht oder nicht genau.
    Das heißt: Wir erfah­ren nie, wer denn nun eine Jeans getra­gen hat oder ob es wirk­lich eine Jeans war. Es kann sogar sein, dass wir bis ans Ende aller Zeit rät­seln müs­sen, ob über­haupt irgend­ein Klei­dungs­stück getra­gen wurde.

Unzuverlässiges Erzählen identifizieren

Jetzt, wo wir die Typen ken­nen, kön­nen wir end­lich dar­über reden, wie wir sie erkennen:

  • Zunächst erst mal erken­nen wir Unzu­ver­läs­sig­keit dar­an, dass die Wahr­heit in der Erzäh­lung irgend­wann klar­ge­stellt wird. Häu­fig ist die­ser Moment ein Plot-Twist. Und wenn der Autor den Twist gut ange­deu­tet hat, fal­len dem Leser bei der zwei­ten Lek­tü­re Stel­len auf, an denen er dem Erzäh­ler schon bei der ers­ten Lek­tü­re hät­te miss­trau­en kön­nen: Mani­pu­liert er die Wahr­neh­mung des Lesers durch sub­jek­ti­ve Wer­tun­gen und erzählt theo­re­tisch unzu­ver­läs­sig? Oder hat er die Din­ge falsch wahr­ge­nom­men oder bewusst ver­fälscht und erzählt mime­tisch teil­wei­se unzuverlässig?
  • Gene­rell erken­nen wir Unzu­ver­läs­sig­keit wie ein guter Detek­tiv auch durch Unstim­mig­kei­ten im Text. Wenn Behaup­tung A und Behaup­tung B ein­an­der wider­spre­chen, kann eine die­ser Behaup­tun­gen ja nicht stim­men. Wenn eine Behaup­tung unse­rem all­ge­mei­nen Welt­wis­sen wider­spricht, ist das eben­falls ver­däch­tig. Und ent­we­der wird die­ser Wider­spruch spä­ter durch eine Erklä­rung „offi­zi­ell“ auf­ge­löst oder der Leser muss sich durch Inter­pre­ta­ti­on selbst eine Erklä­rung zusam­men­puz­zeln. Ers­te­res wird vom Leser in der Regel akzep­tiert, weil die Geschich­te nur durch die Auf­lö­sung Sinn ergibt. Letz­te­res ist im Fall des mime­tisch unent­scheid­ba­ren Erzäh­lens eine span­nen­de Her­aus­for­de­rung. Es ist jedoch auch anzu­mer­ken, dass Unstim­mig­kei­ten im Text auch Feh­ler sei­tens des Autors sein können.
  • Beson­ders auf­pas­sen soll­ten wir, wie bereits ange­deu­tet, bei homo­die­ge­ti­schen und intern foka­li­sier­ten hete­ro­die­ge­ti­schen Erzäh­lern: Denn hier ist die Erzähl­per­spek­ti­ve expli­zit durch das Pris­ma einer Figur ein­ge­färbt, die die Ereig­nis­se mög­li­cher­wei­se falsch bewer­tet, wich­ti­ge Details nur am Ran­de erwähnt, opti­schen Täu­schun­gen aus­ge­lie­fert ist, etwas nicht wahr­ha­ben und/​oder die Wahr­heit bewusst ver­fäl­schen will und viel­leicht auch gene­rell nicht ganz rich­tig tickt. Sol­ches Erzäh­len kann sogar ins mime­tisch Unent­scheid­ba­re rei­chen, bei­spiels­wei­se durch extre­men inne­ren Mono­log oder einen Bewusstseinsstrom.

Schlusswort: Warum unzuverlässig erzählen? Warum nicht?

So viel zur Natur und den Typen des unzu­ver­läs­si­gen Erzäh­lers. Aber war­um wählt man einen sol­chen Erzäh­ler überhaupt?

Nun, das ist zwi­schen den Zei­len bereits immer wie­der angeklungen:

  • Oft macht ein unzu­ver­läs­si­ger Erzäh­ler eine Erzäh­lung inter­es­san­ter. Plot-Twists stel­len die Geschich­te auf den Kopf und oft will man eine Geschich­te gleich noch­mal durch­ge­hen und all die Stel­len ent­de­cken, an denen man hät­te etwas ahnen können/​sollen. Viel­leicht ist das Gan­ze aber auch ein­fach ein guter Gag und der Leser lacht dar­über, wie er an der Nase her­um­ge­führt wurde.
  • Ein Erzäh­ler, dem man nicht ver­trau­en kann, moti­viert auch zum Mit­den­ken. Der Leser setzt sich mehr mit der Geschich­te aus­ein­an­der und sucht nach ver­steck­ten Bedeutungen.
  • Und nicht zuletzt kann Unzu­ver­läs­sig­keit auch gra­vie­rend zur Gesamt­aus­sa­ge der Geschich­te bei­tra­gen. Ent­deckt der Prot­ago­nist ver­steck­te Sei­ten sei­ner selbst? Soll sich der Leser wie ein Detek­tiv füh­len? Oder soll die Welt­wahr­neh­mung des Lesers in einem bestimm­ten Punkt auf den Kopf gestellt werden?

Doch natür­lich tut ein unzu­ver­läs­si­ger Erzäh­ler nicht jeder Erzäh­lung gut:

  • Oft geht es nur dar­um, ein­fach eine Geschich­te zu erzäh­len. Der Leser soll sich zurück­leh­nen und sich vom Erzähl­strom trei­ben las­sen. Ein unzu­ver­läs­si­ger Erzäh­ler wäre da nur im Weg.
  • Gene­rell lebt unzu­ver­läs­si­ges Erzäh­len auch davon, dass der Leser mit­denkt und hin­ter­fragt. Wenn man es mit einer Ziel­grup­pe zu tun hat, die es nicht ger­ne tut, dann tut man ihr kei­nen Gefal­len, wenn man ihr einen extrem unzu­ver­läs­si­gen Erzäh­ler auf­zwingt – oder schlim­mer noch: mime­tisch unent­scheid­ba­res Erzäh­len. Man kann den unzu­ver­läs­si­gen Erzäh­ler oft aber immer noch in Maßen ein­brin­gen, bei­spiels­wei­se durch lügen­de Neben­fi­gu­ren. Damit gibt es immer noch über­ra­schen­de Twists und Ent­hül­lun­gen, aber der Leser muss nicht die gan­ze Erzäh­lung hin­ter­fra­gen oder sich mit Wider­sprü­chen quä­len, die nie auf­ge­löst werden.
  • Ein ähn­li­cher Fall liegt vor, wenn die Ziel­grup­pe mit­den­ken will, die­ses sich aber auf das Lösen bestimm­ter Rät­sel bezieht: Wenn die Leser viel Ener­gie in Lösungs­ver­su­che und Theo­rien gesteckt haben, dann ist die Ent­täu­schung groß, wenn sich am Ende her­aus­stellt, dass das Rät­sel an sich nur eine Täu­schung ist. Oder dass es über­haupt kei­ne Lösung gibt. Dann fühlt man sich als Leser ein­fach nur hin­ter­gan­gen. – Wenn das also nicht die beab­sich­tig­te Wir­kung ist, soll­te man bei sol­chen Ziel­grup­pen und ent­spre­chen­den Gen­res von all­zu unzu­ver­läs­si­gem Erzäh­len daher die Fin­ger las­sen bzw. es in Maßen halten.
  • Und nicht zuletzt soll­te der Autor in der Lage sein, den unzu­ver­läs­si­gen Erzäh­ler zu hand­ha­ben: Bei­spiels­wei­se soll­te der auf­lö­sen­de Plot-Twist nicht aus dem Nichts kom­men und der unzu­ver­läs­si­ge Erzäh­ler soll­te auch nicht um sei­ner selbst wil­len exis­tie­ren. Nicht, um den Leser ein­fach nur zu ver­wir­ren oder damit der Autor sich beson­ders intel­li­gent füh­len kann. Bevor also der Leser mit­den­ken soll, müss­te der Autor selbst gut nach­ge­dacht haben.

4 Kommentare

  1. Sehr gute Ausarbeitung.
    Lei­der ist die­se Tech­nik nicht so sehr gelit­ten. Das Plot­ten in zwei Main-Plots macht es leich­ter. Bei­spiel Plot A=Zuverlässiger Erzäh­ler; Plot B= unzu­ver­läs­si­ger Erzähler.
    In Soaps wird eine abge­wandl­te Tech­nik zur Span­nungs­ver­bes­se­rung eingesetzt.
    „Jetzt pas­siert was!?“ der nicht. „Was pas­siert, wenn etwas passiert?!“
    In Lie­bes­ro­ma­nen eben­falls beliebt: Sie schloss die Augen und näher­te sich sei­nem Gesicht. Als wäre er mit Kat­ja durch Dräh­te ver­bun­den, folg­te er ihr. In ihren Gesich­ter misch­ten sich Hoff­nung und Sehn­sucht. Dann, Jan konn­te ihre Wär­me erah­nen, zog er sch zurück. /​CUT
    Was pas­siert mit den Bei­den nun? Wes­halb hat Jan so gehandlet.
    Ich wünsch­te nur die Hälf­te der mir zuge­sand­ten Manu­skrip­te hät­ten hin und an sol­che Lecker­chen im Text.
    Mein Tip: Knap­pe Spra­che, Kur­ze Sät­ze, und inner­halb der ers­ten vier Sei­ten Span­nung aufbauen.
    Geht mal in die Buch­hand­lung. Egal in wel­cher Abtei­lung. Die meis­ten Kun­den ver­rei­ßen inner­halb der ers­ten vier Seiten.
    LG Banja

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