Das erzähltheoretische Modell von Gérard Genette

Das erzähltheoretische Modell von Gérard Genette

Genet­tes erzähl­theo­re­ti­sches Modell ist eine Alter­na­ti­ve zu Stan­zels Typen­kreis, die sich beson­ders im aka­de­mi­schen Bereich durch­ge­setzt hat. Es zeich­net sich vor allem durch eine Tren­nung von Modus (Foka­li­sie­rung) und Stim­me (Zeit, Ebe­ne, homo-/he­tero­die­ge­tisch) aus und ermög­licht somit eine fei­ne­re Ana­ly­se des Erzäh­lers. Die­ser Arti­kel ist eine kur­ze Zusammenfassung.

(In der Video-Ver­si­on die­ses Arti­kels hat sich bei der Erläu­te­rung der Kate­go­rie der Ebe­ne lei­der ein Feh­ler ein­ge­schli­chen. Ich kann ihn lei­der nicht mehr kor­ri­gie­ren. Des­we­gen emp­feh­le ich, sich bei die­sem Punkt an die Text-Ver­si­on zu hal­ten. Ich bit­te um Ent­schul­di­gung für die Umstände.

Außer­dem noch ein klei­ner Feh­ler in der Video-Ver­si­on: Es heißt natür­lich nicht „Alter­na­tio­nen“, son­dern „Altera­tio­nen“.)

Die Foli­en für die­ses Video gibt es für Ste­ady-Abon­nen­ten und Kanal­mitglieder auf You­Tube als PDF zum Download.

Gérard Genet­te wur­de 1930 gebo­ren und ist ein fran­zö­si­scher Lite­ra­tur­wis­sen­schaft­ler. Er ist vor allem dadurch bekannt, dass er vie­le heu­te sehr wich­ti­ge Begrif­fe ein­ge­führt hat. Unter ande­rem hat er zum Bei­spiel den Begriff der Die­ge­se neu geprägt.

Sei­ne Theo­rie ver­öf­fent­lich­te er bereits 1974, aller­dings wur­de sie erst 1994 ins Deut­sche über­setzt. Des­we­gen gilt sie im deut­schen Raum immer noch als neu. Die Mono­gra­phie, in der sein Modell prä­sen­tiert wird, heißt Die Erzäh­lung und aktu­ell ist die 3. Auf­la­ge von 2010.

Modus und Stimme

Bevor wir einen genaue­ren Blick auf das Modell wer­fen, ist es wich­tig zu begrei­fen, dass der Erzäh­ler laut Genet­te immer ein „Ich“ ist. Unab­hän­gig davon, ob er sich im Text bemerk­bar macht und ob er expli­zit „Ich“ sagt:

Der Erzäh­ler ist immer ein Subjekt.

Aller­dings liegt bei die­sem Sub­jekt durch­aus eine Spal­tung vor: Und zwar unter­schei­det Genet­te klar und deut­lich zwi­schen Modus und Stimme.

Modus ist die Fra­ge danach, wer das Gesche­hen wahr­nimmt.

Bei der Stim­me hin­ge­gen fragt man danach, wer spricht.

Und das kön­nen zwei durch­aus ver­schie­de­ne Per­spek­ti­ven sein.

Um die Fra­gen „Wer sieht?“ und „Wer spricht?“ zu beant­wor­ten, hat Genet­te eine Rei­he Kate­go­rien aufgestellt:

Beim Modus sind es drei Foka­li­sie­run­gen, nament­lich: die Null­fo­ka­li­sie­rung, die inter­ne Foka­li­sie­rung und die exter­ne Foka­li­sis­erung. Bei der Stim­me sind es: Zeit, Ebe­ne, und die Iden­ti­fi­zie­rung des Erzäh­lers als homo- oder heterodiegetisch.

Die Fokalisierung nach Genette

Die drei Foka­li­sie­run­gen beim Modus defi­niert Genet­te wie folgt:

  • Null­fo­ka­li­sis­erung:
    Der Erzäh­ler weiß mehr als die Figuren.
    Bei­spiel: „Sie war in Deutsch­land. Sie ahn­te nicht, dass in Chi­na ein Sack Reis umkippte.“
  • inter­ne Fokalisierung:
    Der Erzäh­ler weiß exakt so viel wie die Figuren.
    Bei­spiel: „Wer war der Mör­der? Sie war ratlos.“
  • exter­ne Fokalisierung:
    Der Erzäh­ler weiß weni­ger als die Figuren.
    Bei­spiel: „Sie ging die Stra­ße ent­lang. Ihr Gesicht hat­te einen uner­gründ­li­chen Ausdruck.“

Die Foka­li­sie­run­gen erin­nern auf den ers­ten Blick an Stan­zels Typen­kreis. So gibt es eine gewis­se Ähn­lich­keit zwi­schen der Null­fo­ka­li­sie­rung und dem aukt­oria­len Erzäh­ler bei Stan­zel. Die inter­ne Foka­li­sie­rung erin­nert an die per­so­na­le Erzähl­si­tua­ti­on und die exter­ne Foka­li­sie­rung lässt an den neu­tra­len Erzäh­ler denken.

Gera­de wegen die­ser Ähn­lich­kei­ten soll­te man im Hin­ter­kopf behal­ten, dass es sich um zwei ver­schie­de­ne Model­le han­delt und das eine Modell nicht direkt in das ande­re über­setz­bar ist. Bei der Foka­li­sie­rung geht es aus­schließ­lich um den Wis­sens­ho­ri­zont von Erzäh­ler und Figu­ren, der in unter­schied­li­chen Kom­bi­na­tio­nen mit den Kate­go­rien der Stim­me auf­tritt. Bei Stan­zels Typen­kreis hin­ge­gen ist der Wis­sens­ho­ri­zont ein Bestand­teil von typi­schen Erzähl­si­tua­tio­nen, die sich durch eine bestimm­te fes­te Kom­bi­na­ti­on von Eigen­schaf­ten auszeichnen.

Eben­so wie Stan­zel berück­sich­tigt Genet­te aber den Fall, dass die Foka­li­sie­rung bzw. die Erzähl­per­spek­ti­ve sich wäh­rend des Erzäh­lens ver­än­dern kann. Genet­te spricht in die­sem Fall von varia­bler Foka­li­sie­rung. Sofern die Ände­run­gen aber nur sel­ten vor­kom­men, spricht er von Altera­tio­nen. Und wenn es kei­nen herr­schen­den Code gibt, wenn die Foka­li­sie­rung unre­gel­mä­ßig von einer Foka­li­sis­erung zur ande­ren springt, spricht Genet­te von Poly­mo­da­li­tät.

Die Kategorien der Stimme

Der Modus bzw. die Foka­li­sie­run­gen geben Auf­schluss dar­über, wie der Erzäh­ler das Gesche­hen wahr­nimmt. Wie er das Gesche­hen wie­der­gibt, zei­gen die drei Kate­go­rien der Stim­me, die sich wie­der­um in Unter­ka­te­go­rien auf­tei­len lassen:

Zeit

  • spä­te­re Narration:
    Die Erzäh­lung fin­det nach dem Ereig­nis statt. Es wird etwas Ver­gan­ge­nes erzählt. Das ist der mit Abstand häu­figs­te Fall.
    Bei­spiel: „Ich schau­te aus dem Fenster.“
  • frü­he­re Narration:
    Die Erzäh­lung fin­det vor dem Ereig­nis statt. Es geht um Ereig­nis­se, die in Zukunft statt­fin­den. Mit ande­ren Wor­ten: Hier geht es um eine Vor­her­sa­ge, Hell­se­hen, Pro­phe­zei­un­gen und so weiter.
    Bei­spiel: „Ich wer­de aus dem Fens­ter schauen.“
  • gleich­zei­ti­ge Narration:
    Die Erzäh­lung fin­det gleich­zeitg mit dem Ereig­nis statt: Etwas pas­siert und der Erzäh­ler kom­men­tiert das simultan.
    Bei­spiel: „Ich schaue aus dem Fenster.“
  • ein­ge­scho­be­ne Narration:
    Die Erzäh­lung holt die Geschich­te ein. Hier meint Genet­te vor allem sol­che Erzähl­for­men wie Brie­fe: Es wird Ver­gan­ge­nes berich­tet, aber die Reak­ti­on dar­auf ist aktuell.
    Bei­spiel: „Als ich heu­te aus dem Fens­ter schau­te, habe ich einen süßen Hund gese­hen. Ich will auch so einen.“

Ebene

  • ext­ra­die­ge­tisch:
    Die äußers­te Ebe­ne der Erzäh­lung. Hier befin­den sich der Erzäh­ler und sein Publikum.
  • int­ra­die­ge­tisch:
    Das, was der Erzäh­ler erzählt. Meis­tens fin­det sich hier die eigent­li­che Geschich­te. Wenn es eine Rah­men­hand­lung gibt, dann liegt die­se Rah­men­hand­lung auf der int­ra­die­ge­ti­schen Ebene.
  • meta­die­ge­tisch:
    Eine Erzäh­lung inner­halb der Erzäh­lung. Die Erzäh­lung einer Figur. Wenn die int­ra­die­ge­ti­sche Ebe­ne nur die Rah­men­hand­lung beinhal­tet, dann liegt die eigent­li­che Geschich­te als Bin­nen­er­zäh­lung auf der meta­die­ge­ti­schen Ebene.
  • Und so geht es im Prin­zip wei­ter: Zum Bei­spiel kann es auch eine meta­me­ta­die­ge­ti­sche Ebe­ne geben. Eine Erzäh­lung inner­halb der Erzäh­lung inner­halb der Erzäh­lung. Die nächs­te Ebe­ne wäre dann meta­me­ta­me­ta­die­ge­tisch. Und so geht es dann wei­ter bis in die Unendlichkeit.

Zu den Ebe­nen muss man anmer­ken, dass sie nicht immer starr sind, son­dern auch inein­an­der über­ge­hen kön­nen. Die­ser Fall, wenn die nar­ra­ti­ven Ebe­nen sich ver­mi­schen, nennt Genet­te Meta­lep­se. Das kann der Fall sein, wenn zum Bei­spiel ein Leser zu einer Figur in der Erzäh­lung wird. Die­ses Phä­no­men ken­nen wir unter ande­rem aus der Unend­li­chen Geschich­te von Micha­el Ende, wo Bas­ti­an, der Prot­ago­nist, ein Buch liest und dann in die Welt die­ses Buches gelangt.

Hetero-/homodiegetisch

  • hete­ro­die­ge­tisch:
    Der Erzäh­ler ist nicht Teil der nar­ra­ti­ven Welt. Er befin­det sich nicht in der­sel­ben Welt wie die Figuren.
  • homo­die­ge­tisch:
    Der Erzäh­ler ist Teil der erzähl­ten Welt. Er befin­det sich also in der­sel­ben Welt wie die Figuren.
  • auto­die­ge­tisch:
    Son­der­form der homo­die­ge­ti­schen Erzäh­lung. Der Erzäh­ler ist nicht nur Teil der nar­ra­ti­ven Welt, son­dern auch die Haupt­fi­gur. Er erzählt sei­ne eige­ne Geschichte.

So viel zu den Werk­zeu­gen, die Genet­te vor­schlägt, um die Erzähl­per­spek­ti­ve in epi­schen Tex­ten zu ana­ly­sie­ren. Das hier ist nur eine sehr knap­pe Zusam­men­fas­sung und wie auch bei Stan­zel gilt: Wer es im Detail nach­le­sen möch­te, dem emp­feh­le ich Genet­tes Werk Die Erzäh­lung.

Vor- und Nachteile von Genettes Modell

Was ich an Genet­tes Modell rich­tig groß­ar­tig fin­de, ist, dass er sehr vie­le Aspek­te bedacht hat. Ich glau­be, es ist auf­ge­fal­len, dass er sehr viel deut­li­che­re Unter­schei­dun­gen trifft als Stan­zel mit sei­ner Typo­lo­gie. Und damit im Zusam­men­hang steht, dass Genet­te ein wirk­lich rei­ches Voka­bu­lar zur prä­zi­sen Beschrei­bung eines Erzäh­lers liefert.

Zu den Nach­tei­len des Modells:

Es ist sicher­lich ins Auge gesto­chen, dass die­ses Modell nicht sehr anschau­lich ist. Ver­gli­chen mit Stan­zels schön anschau­li­chem Kreis wirkt Genet­tes Modell extrem verschachtelt.

Außer­dem kön­nen die Begrif­fe wirk­lich sehr leicht mit­ein­an­der ver­wech­selt wer­den. Gera­de Begrif­fe wie „homo- und hete­ro­die­ge­tisch“ und „extra- und int­ra­die­ge­tisch“: Die Begrif­fe klin­gen so ähn­lich, dass man ger­ne denkt, dass sie zur sel­ben Kate­go­rie gehö­ren, was sie aber nicht tun.

Mein drit­ter Punkt ist Kri­tik an einem Begriff, näm­lich an der Null­fo­ka­li­sie­rung: Genet­tes Defi­ni­ti­on ist grund­sätz­lich klar. Aller­dings ist der Begriff an sich, „Null­fo­ka­li­sie­rung“, rela­tiv unsin­nig, ein­fach weil jedes Erzäh­len Schwer­punk­te hat: Ein Fokus ist immer vor­han­den. Des­we­gen: Hier hät­te Genet­te mei­ner Mei­nung nach ein ele­gan­te­res Wort fin­den können.

Genettes Modell heute

Das Modell mit Modus und Stim­me wur­de eben­so wie das von Stan­zel rauf und run­ter kri­ti­siert seit es exis­tiert. Aber trotz allem wur­de Genet­tes Modell im aka­de­mi­schen Bereich seit den 1990er Jah­ren gebräuch­li­cher als Stan­zels Typen­kreis.

2 Kommentare

  1. Das ist eine sehr über­sicht­li­che Zusam­men­fas­sung von Genet­te, ich wür­de sie mei­nen Schü­lern emp­feh­len. Sie ent­hält lei­der ein paar Recht­schreib­feh­ler: Pro­phe­zei­ung ohne das zwei­te „h“ und bei aus­schließ­lich fehlt das „ch“.
    LG

    Meike
    1. Vie­len Dank für den Hin­weis! Bei fast 80 Arti­keln auf die­ser Web­site gehen mir lei­der dann doch zu vie­le Tipp­feh­ler durch die Lappen.
      Dan­ke sehr auch fürs Lob! Von dem Modell habe ich übri­gens noch eine neue­re und aus­führ­li­che­re Zusam­men­fas­sung, bestehend aus sie­ben Tei­len: https://​die​-schreib​tech​ni​ke​rin​.de/​l​i​t​e​r​a​t​u​r​w​i​s​s​e​n​s​c​h​a​f​t​-​d​e​f​i​n​i​t​i​o​n​e​n​-​m​o​d​e​l​l​e​/​e​r​z​a​e​h​l​t​h​e​o​r​i​e​/​g​e​n​e​t​t​e​s​-​e​r​z​a​e​h​l​t​h​e​o​r​ie/.

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