Ich-Erzähler: erzählendes und erzähltes Ich

Ich-Erzähler: erzählendes und erzähltes Ich

Ein Ich-Erzäh­ler ist nicht gleich Ich-Erzäh­ler. Am wich­tigs­ten ist dabei die Unter­schei­dung zwi­schen dem erzäh­len­den Ich und dem erzähl­ten Ich. In die­sem Arti­kel geht es in die Untie­fen der erzäh­le­ri­schen Mit­tel und um den Unter­schied zwi­schen den bei­den „Ichs“.

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In der Schu­le haben wir eini­ges über den Ich-Erzäh­ler gelernt. Er …

  • … ist Handlungsfigur.
  • … hat eine begrenz­te Perspektive.
  • … hat eine emo­tio­na­le Nähe zum Geschehen.
  • … ist unzuverlässig.

Das alles ist aber eigent­lich Unsinn. Eine genaue­re Erklä­rung fin­det sich in mei­ner Vor­stel­lung der theo­re­ti­schen Model­le von Stan­zel und Genet­te. Hier aber trotz­dem eine kur­ze Zusammenfassung:

  • Ein „Ich“ ist nicht immer Hand­lungs­fi­gur einer Erzäh­lung, son­dern er kann auch ein unbe­tei­lig­ter Zeu­ge oder ein Her­aus­ge­ber sein.
  • Ein Ich-Erzäh­ler hat auch nicht auto­ma­tisch eine begrenz­te Per­spek­ti­ve. Wis­sen kann näm­lich durch zeit­li­che Distanz zum Gesche­hen oder beson­de­re (magi­sche) Fähig­kei­ten aus­ge­wei­tet sein, sodass er sämt­li­che Details der Geschich­te kennt.
  • Eine emo­tio­na­le Nähe muss auch nicht immer gege­ben sein. Zum Bei­spiel kann sich das „Ich“ durch zeit­li­che Distanz emo­tio­nal vom Gesche­hen ent­fer­nen oder es kann an der Per­sön­lich­keit vom „Ich“ lie­gen – zum Bei­spiel, wenn das „Ich“ gene­rell weni­ger emo­tio­nal ist, viel­leicht auch über­haupt kein Lebe­we­sen ist.
  • Auch dass ein Ich-Erzäh­ler unzu­ver­läs­sig ist, ist kein rich­ti­ges Merk­mal. Denn eigent­lich ist jeder Erzäh­ler poten­zi­ell unzu­ver­läs­sig, weil ein Erzäh­ler immer eine Per­spek­ti­ve hat. Des­we­gen kann ein Ich-Erzäh­ler nicht durch Unzu­ver­läs­sig­keit defi­niert werden.

Das erzählende Ich und das erzählte Ich

Wenn man über den Ich-Erzäh­ler redet, bie­tet es sich viel­mehr an, zwi­schen dem erzähl­ten Ich und dem erzäh­len­den Ich zu unter­schei­den.

Das erzähl­te Ich ist dabei das Ich inner­halb der Erzäh­lung, d.h. die Figur, die denkt, die fühlt, die handelt …

Das erzäh­len­de Ich hin­ge­gen ist das Ich außer­halb der Erzäh­lung. Das heißt: Der Erzäh­ler sagt expli­zit „ich“ und erzählt die Geschichte.

Das Verhältnis zwischen dem erzählenden und dem erzählten Ich

Wich­tig bei einer genaue­ren Betrach­tung ist vor allem das Ver­hält­nis zwi­schen die­sen bei­den „Ichs“: Das erzäh­len­de Ich ist ent­we­der in der­sel­ben Zeit ange­sie­delt wie das erzähl­te Ich oder in einer spä­te­ren Zeit.

Wenn das erzäh­len­de Ich sich in der glei­chen Zeit befin­det wie das erzähl­te Ich, dann berich­tet es von aktu­el­len Ereig­nis­sen. Das pas­siert logi­scher­wei­se im Prä­sens. Der Erzäh­ler gibt direkt das wie­der, was er gera­de im Moment wahr­nimmt, emp­fin­det und denkt. Er weiß nicht, wie die Geschich­te endet. Auf die­se Wei­se ver­schmel­zen das erzähl­te und das erzäh­len­de Ich miteinander:

„Ich sit­ze am Bet­te Kem­me­richs. Er ver­fällt mehr und mehr. Um uns ist viel Radau. Ein Laza­rett­zug ist ange­kom­men, und die trans­port­fä­hi­gen Ver­wun­de­ten wer­den aus­ge­sucht. An Kem­me­richs Bett geht der Arzt vor­bei, er sieht ihn nicht ein­mal an.“
Erich Maria Remar­que: Im Wes­ten nichts Neu­es, Kapi­tel 2.

Wenn das erzäh­len­de Ich sich aber in einer spä­te­ren Zeit befin­det als das erzähl­te Ich, dann berich­tet es von ver­gan­ge­nen Ereig­nis­sen. Das pas­siert meis­tens im Prä­ter­itum. Mit ande­ren Wor­ten: Das erzäh­len­de Ich erzählt von einem spä­te­ren Zeit­punkt aus und weiß, wie die Geschich­te endet. Dabei kann es sich aber sehr unter­schied­lich verhalten:

  • Mög­lich­keit 1: Es hält die­ses Wis­sen bewusst zurück und beschränkt sich dar­auf, die Sicht des erzähl­ten Ich zu über­neh­men. Das ist also im Prin­zip eine gleich­zei­ti­ge Erzäh­lung in der Vergangenheitsform.
  • Mög­lich­keit 2: Das erzäh­len­de Ich nimmt Infor­ma­tio­nen vor­weg. Bei­spiel:

    „Jah­re spä­ter kam ich dar­auf, daß […]“
    Bern­hard Schlink: Der Vor­le­ser, Ers­ter Teil.

    Hier erzählt das erzäh­len­de Ich etwas, das das erzähl­te Ich in der Ver­gan­gen­heit gar nicht wusste.

Neben der gleich­zei­ti­gen Erzäh­lung und der nach­zei­ti­gen Erzäh­lung könn­te es noch eine drit­te Form geben, und zwar den Fall, wenn ein erzäh­len­des Ich sich zeit­lich vor dem erzähl­ten Ich befin­det. Abge­se­hen von Zukunfts­spe­ku­la­tio­nen ist so etwas eher sel­ten. Aber ich möch­te die­se Mög­lich­keit einer Erzäh­lung im Futur nicht kom­plett ausschließen.

Das erzählende Ich in der Erzählung

Grund­sätz­lich lässt sich sagen, dass jeder Erzäh­ler ein erzäh­len­des Ich ist, also ein Sub­jekt, das das Gesche­hen aus einer sub­jek­ti­ven Per­spek­ti­ve betrach­tet. Daher rührt die Unzu­ver­läs­sig­keit eines jeden Erzählers.

Das erzählte Ich in der Erzählung

Das erzähl­te Ich hin­ge­gen kann in einer Erzäh­lung vor­kom­men, muss es aber nicht. Das kann zum Bei­spiel der Fall sein, wenn es sich um ein Ich als Her­aus­ge­ber handelt.

Das erzähl­te Ich kann in eini­gen Fäl­len auch all­wis­send sein. Zum Bei­spiel, wenn das Ich ein Zeu­ge ist, der so sehr mit den ande­ren Figu­ren mit­fühlt, dass er genau weiß, was in ihnen vor­geht. Logisch betrach­tet ist das zwar absurd, aber in gefühls­be­ton­te­ren Lite­ra­tur­epo­chen waren sol­che Erzäh­ler durch­aus sehr üblich.

Selbst im 20. Jahr­hun­dert fin­det sich zum Bei­spiel in Der Weg zurück von Remar­que ein sehr star­kes Sich-Hineinversetzen:

Meh­re­re Freun­de des Prot­ago­nis­ten und Ich-Erzäh­lers bege­hen Selbst­mord und er stellt sich im Nach­hin­ein sehr genau vor, wie das pas­siert ist. Er hat die­sel­ben Pro­ble­me wie sie und kann ihre Hand­lun­gen des­we­gen sehr gut nachvollziehen.

Ich-Erzähler-Ideen zu verschenken!

Wir haben gese­hen: Der Ich-Erzäh­ler bie­tet sehr viel­fäl­ti­ge Mög­lich­kei­ten, die oft lei­der unge­nutzt blei­ben. Vie­le Autoren schei­nen sich sehr peni­bel an die strik­ten Vor­ga­ben zu hal­ten, die sie in der Schu­le gelernt haben. Des­we­gen möch­te ich hier ein paar Ideen vorschlagen:

  • „Ich“ könn­te der fik­ti­ve Schöp­fer der Geschich­te sein.
  • „Ich“ könn­te ein unbe­leb­ter Gegen­stand sein.
  • „Ich“ könn­te ein His­to­ri­ker sein, der sei­ne For­schungs­er­geb­nis­se präsentiert.

Der Krea­ti­vi­tät soll­ten kei­ne Gren­zen gesetzt sein.

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