„Die Nacht von Lissabon“ von Erich Maria Remarque

„Die Nacht von Lissabon“ von Erich Maria Remarque

Was kann eigent­lich ein Ich-Erzäh­ler? In Die Nacht von Lis­sa­bon hat Remar­que gleich zwei davon inein­an­der ver­schach­telt. Weil die­se Ent­schei­dung stark mit der zen­tra­len Meta­pher des Romans ver­knüpft ist, trägt die Erzähl­per­spek­ti­ve hier zur Bot­schaft des Romans bei. Damit gehört Remar­que klar zu den Grö­ßen, von denen man vir­tuo­ses Erzäh­len ler­nen kann und muss. Denn bes­ser schrei­ben ler­nen tut man am bes­ten, indem man den Meis­tern über die Schul­ter schaut …

(In der Video-Ver­si­on die­ses Arti­kels hat sich bei Genet­tes Kate­go­rie der Ebe­ne lei­der ein Feh­ler ein­ge­schli­chen. Ich kann ihn lei­der nicht mehr kor­ri­gie­ren. Des­we­gen emp­feh­le ich, sich bei die­sem Punkt an die Text-Ver­si­on zu hal­ten. Ich bit­te um Ent­schul­di­gung für die Umstände.)

Die Foli­en für die­ses Video gibt es für Ste­ady-Abon­nen­ten und Kanal­mitglieder auf You­Tube als PDF zum Download.

Die Nacht von Lis­sa­bon lehrt uns eine Men­ge über die Anwen­dungs­mög­lich­kei­ten des Ich-Erzäh­lers.

Hier ist er näm­lich vor allem ver­schach­telt: Der Roman ent­hält eine Rah­men­hand­lung und eine Bin­nen­er­zäh­lung und bei­de haben einen Ich-Erzäh­ler. Das ermög­licht einer­seits inti­me Ein­bli­cke in bei­de Geschich­ten, ande­rer­seits aber auch meh­re­re Perspektiven.

Die Wahl die­ses ver­schach­tel­ten Ich-Erzäh­lers ist gleich­zei­tig stark mit der zen­tra­len Meta­pher des Romans ver­knüpft. Damit trägt die Wahl des Erzäh­lers zur Bot­schaft des Romans bei.

Bevor wir jedoch zur eigent­li­chen Ana­ly­se kom­men, stellt sich natür­lich die Frage:

Worum geht es in Die Nacht von Lissabon eigentlich?

Die Rah­men­hand­lung spielt 1942. Der Ich-Erzäh­ler und sei­ne Frau Ruth sind aus Deutsch­land geflo­hen, blei­ben aber in Lis­sa­bon ste­cken. Denn um in die USA aus­rei­sen zu kön­nen, brau­chen sie Geld und Visa. Wie der Ich-Erzäh­ler es gleich im ers­ten Kapi­tel tref­fend auf den Punkt bringt:

„Der Mensch war um die­se Zeit nichts mehr; ein gül­ti­ger Paß alles.“

Als alle Hoff­nung ver­lo­ren zu sein scheint, trifft der Ich-Erzäh­ler einen Mann, der ihm völ­lig umsonst zwei Schiffs­kar­ten nach New York und zwei Päs­se mit ame­ri­ka­ni­schen Visa anbie­tet. Dabei stellt er nur eine ein­zi­ge Bedin­gung: Der Ich-Erzäh­ler soll mit dem Frem­den die gan­ze Nacht von Knei­pe zu Knei­pe zie­hen und sich des­sen Geschich­te anhö­ren. Die­se Geschich­te, also die Bin­nen­er­zäh­lung, ist die eigent­li­che Geschich­te des Romans und der Frem­de wird dar­in selbst zum Ich-Erzähler.

Der Frem­de nennt sich Josef Schwarz und ist mit sei­ner Frau Helen aus Deutsch­land geflo­hen. Nach vie­len Her­aus­for­de­run­gen hat er Geld, Fahr­kar­ten und ame­ri­ka­ni­sche Visa. Aller­dings hat sich zum Ende hin her­aus­ge­stellt, dass Helen an Krebs litt. Am Tag vor der Abrei­se hat sie sich mit Gift das Leben genom­men. Schwarz selbst will nun in die Frem­den­le­gi­on ein­tre­ten und braucht die Kar­ten und die Visa nicht mehr.

Die Vererbung einer Identität

In der Rah­men­hand­lung geht es um die Ver­er­bung einer Iden­ti­tät. Und wie sich her­aus­stellt, ist Josef Schwarz nicht der ers­te Trä­ger die­ser Identität.

  • Der ers­te Josef Schwarz, näm­lich der ech­te Besit­zer, ist längst verstorben.
  • Der Frem­de, der die Geschich­te in der Geschich­te erzählt und der eigent­li­che Prot­ago­nist der Hand­lung ist, ist der zwei­te Besit­zer die­ser Identität.
  • Der Name Josef Schwarz geht dann auf den Ich-Erzäh­ler über, also auf den Prot­ago­nis­ten der Rahmenhandlung.
  • Und am Ende des Romans schließ­lich gibt er den Pass wei­ter an einen rus­si­schen Emigranten.

Die wah­ren Namen des Ich-Erzäh­lers und des Frem­den erfah­ren wir nicht. Damit kommt dem Pass eine ganz beson­e­re Rol­le zu:

„Der Paß ist die zen­tra­le Meta­pher des Romans für die Ent­hu­ma­ni­sie­rung des Indi­vi­du­ums durch Staat und Bürokratie.“
Til­man West­pha­len im Nachwort.

Die Nacht von Lissabon in Stanzels Typenkreis

Hier fällt vor allem auf, dass der Erzäh­ler im Vor­der­grund steht. Wir haben eine Rah­men­hand­lung und eine Bin­nen­er­zäh­lung, und bei­de Erzäh­ler sind klar sicht­bar, weil bei­de ein „Ich“ sind.

Wei­ter­hin haben wir den Fall einer Iden­ti­tät der Seins­be­rei­che von Erzäh­ler und Figu­ren. – Mehr noch: Bei­de Erzäh­ler befin­den sich nicht nur in der­sel­ben Welt wie die Figu­ren, son­dern sind gleich­zei­tig auch die Prot­ago­nis­ten ihrer jewei­li­gen Geschich­ten. Bei Schwarz, dem „Ich“ der Bin­nen­er­zäh­lung, muss man aller­dings anmer­ken, dass das „Ich“ sehr erzäh­lend ist und die Erzäh­lung durch all­ge­mei­ne Refle­xio­nen unter­bricht. Damit haben wir bei Schwarz eine klar sicht­ba­re zeit­li­che Distanz zum Geschehen.

In Bezug auf die Per­spek­ti­ve haben wir es über­wie­gend mit der Innen­per­spek­ti­ve zu tun. Durch den Erzäh­ler der Rah­men­hand­lung haben wir aber auch eine Außen­per­spek­ti­ve auf die Geschich­te von Schwarz, denn der Ich-Erzäh­ler stellt Fra­gen und macht Kom­men­ta­re eines Außen­ste­hen­den, der aber zum Teil vie­le ähn­li­che Din­ge erlebt hat. Ein Bei­spiel dafür ist die­se Stel­le hier:

„»Mein Ent­schluß, offen über die Gren­ze zu gehen, hat­te etwas in mir befreit«, sag­te Schwarz. »Ich fürch­te­te mich plötz­lich nicht mehr. Ein Poli­zist auf der Stra­ße ließ mein Herz nicht mehr sto­cken; er gab mir noch einen Schock, aber einen mil­den, gera­de stark genug, daß mir im nächs­ten Moment mei­ne Frei­heit um so mehr bewußt wurde.«
Ich nick­te. »Das erhöh­te Lebens­ge­fühl durch die Gegen­wart der Gefahr. Aus­ge­zeich­net, solan­ge die Gefahr nur den Hori­zont belebt.«“
Kapi­tel 9.

Wir haben hier also einen Josef Schwarz, der über sei­ne Gefüh­le spricht, und ein „Ich“, das die­se Gefüh­le von Außen iden­ti­fi­ziert, benennt und kommentiert.

Trägt man die­se Beob­ach­tun­gen als Punk­te im Typen­kreis ein, haben wir ein erle­ben­des Ich, ein erzäh­len­des Ich und ein Ich als Zeu­ge. Schwarz fun­giert dabei als das erle­ben­de Ich in der Bin­nen­er­zäh­lung und gleich­zei­tig als das erzäh­len­de Ich, das die­se Erzäh­lung wie­der­gibt. Das „Ich“ der Rah­men­hand­lung ist eben­falls ein erle­ben­des Ich, aber im Gegen­satz zu Schwarz lässt es sich die zeit­li­che Distanz zum Gesche­hen nicht all­zu­sehr anmer­ken. Dafür aber fun­giert „Ich“ als Zeu­ge des­sen, wie Schwarz sei­ne Geschich­te erzählt: Er beob­ach­tet Schwarz und inter­pre­tiert sei­ne Wor­te und Handlungen.

"Die Nacht von Lissabon" von Erich Maria Remarque

Analyse der Nacht von Lissabon nach Genette

Hier stellt man zunächst fest, dass der Ich-Erzäh­ler der Rah­men­hand­lung grund­sätz­lich intern foka­li­siert ist: Er erzählt zwar in der Ver­gan­gen­heits­form, aber er macht kei­ne Vor­aus­deu­tun­gen, was spä­ter pas­sie­ren wird. Statt­des­sen ver­folgt der Leser nur das, was der Ich-Erzäh­ler gera­de erlebt.

Aller­dings, wie bei Stan­zel gera­de ange­merkt, hat der Ich-Erzäh­ler auch eine Außen­sicht bzw. eine extern foka­li­sier­te Sicht auf Schwarz und des­sen Geschich­te. Wie gesagt, er beob­ach­tet ihn von Außen und zieht sei­ne Schlüsse:

„Ich ver­stand den Mann nicht.“
Kapi­tel 1.

Bei Schwarz selbst liegt eine varia­ble Foka­li­sie­rung vor: Bei kon­kre­ten Sze­nen, die den Groß­teil sei­ner Erzäh­lung aus­ma­chen (zum Bei­spiel: Dia­lo­ge), ist die Foka­li­sie­rung intern. Aber dadurch, dass Schwarz sei­ne Erleb­nis­se kom­men­tiert, Erklä­run­gen rein­bringt, aus zeit­li­cher Distanz reflek­tiert und auch andeu­tet, was spä­ter pas­siert … Durch das alles schleicht sich auch eine Null­fo­ka­li­sie­rung mit ein:

„[Schwarz:] Vor der Flucht hat­te sie [Helen] mir ver­spro­chen, sich von mir schei­den zu las­sen. Es soll­te ihr Schwie­rig­kei­ten erspa­ren. Eini­ge Jah­re glaub­te ich auch, sie hät­te es getan.“
Kapi­tel 1.

Schwarz sagt das ganz zu Anfang – zu einem Zeit­punkt, wo der Schwarz in der Bin­nen­er­zäh­lung noch gar nicht wuss­te, dass sei­ne Frau sich nicht hat von ihm schei­den las­sen. Aber der Schwarz, der die Geschich­te erzählt, weiß es und deu­tet es an die­ser Stel­le an.

In Bezug auf die Stim­me ist der Roman weni­ger kom­pli­ziert: Es liegt bei bei­den Erzäh­lun­gen eine spä­te­re Nar­ra­ti­on vor und wir haben ganz klar eine int­ra­die­ge­ti­sche Ebe­ne mit der Rah­men­er­zäh­lung und eine meta­die­ge­ti­sche Ebe­ne mit der eigent­li­chen Geschich­te von Schwarz. In Bezug auf homo- und hete­ro­die­ge­tisch kann man klar sagen, dass wir hier eine auto­die­ge­ti­sche Erzäh­lung in einer auto­die­ge­ti­schen Erzäh­lung haben.

Die Wirkung des verschachtelten Ich-Erzählers

Wo der Roman im „tech­ni­schen“ Sin­ne also am span­nends­ten ist, ist die Foka­li­sie­rung. So, wie sie von Remar­que gehand­habt wird, hat sie den Effekt, dass die meta­die­ge­ti­sche Erzäh­lung aus unter­schied­li­chen Per­spek­ti­ven (erzähl­tes Ich, zeit­li­che Distanz, ande­re Per­son) erzählt wird. Die Ich-Erzähl­si­tua­ti­on an sich ermög­licht dabei sehr inti­me Ein­bli­cke in die Geschich­te. Gleich­zei­tig ermög­li­chen die zeit­li­che Distanz und die Anwe­sen­heit einer ande­ren Per­son die Ein­ord­nung der Erzäh­lung in grö­ße­re Kon­tex­te wie Geschich­te, Emi­gra­ti­on und so weiter …

Weil zwei auto­die­ge­ti­sche Erzäh­ler vor­lie­gen, las­sen sich die intra- und die meta­die­ge­ti­sche Ebe­ne kaum von­ein­an­der unter­schei­den. – Auf den ers­ten Blick nur anhand der Anfüh­rungs­stri­che der wört­li­chen Rede (dop­pel­te Anfüh­rungs­stri­che bei der int­ra­die­ge­ti­schen Ebe­ne, ein­fa­che Anfüh­rungs­stri­che bei der meta­die­ge­ti­schen). Dadurch wirkt es so, als wür­den die bei­den Ich-Erzäh­ler mit­ein­an­der ver­schmel­zen. Die Geschich­te von Schwarz wird Teil der Geschich­te des Ich-Erzäh­lers der Rah­men­hand­lung. Und damit kom­men wir zurück zum The­ma der ver­erb­ten Identität …

Die Verknüpfung der Erzählperspektive mit der zentralen Metapher

In Kapi­tel 1 fragt Schwarz den Ich-Erzäh­ler: „Glau­ben Sie an ein Wei­ter­le­ben nach dem Tode?“ Schwarz selbst glaubt nicht dar­an, aber am Ende des Romans ent­hüllt er, war­um er sei­ne Geschich­te wei­ter­ge­ben will:

„Jemand muß es hal­ten! Es soll nicht fort sein! Wir sind nur noch zwei. Bei mir ist es nicht sicher. […] mein Gedächt­nis wird die Erin­ne­rung zu zer­stö­ren ver­su­chen. […] Schon in eini­gen Wochen könn­te ich Ihnen das nicht mehr erzäh­len, was ich Ihnen heu­te erzählt habe. […] In Ihnen bleibt es unver­fälscht, weil es für Sie nicht gefähr­lich ist.“
Kapi­tel 18.

Zwar mag Schwarz in Bezug auf Men­schen nicht an ein Wei­ter­le­ben nach dem Tode glau­ben, aber er ver­sucht sei­ne Erin­ne­rung wei­ter­le­ben zu las­sen – wenn auch in einem ande­ren Men­schen. Er gibt sie zusam­men mit dem Pass weiter.

Inter­es­san­ter­wei­se bleibt die ver­erb­te Iden­ti­tät tat­säch­lich bis zu einem gewis­sen Grad haf­ten. Der Ich-Erzäh­ler beobachtet:

„Son­der­ba­rer­wei­se begann ich mich für Male­rei zu inter­es­sie­ren, die ich frü­her kaum beach­tet hat­te – als wäre das eine Erb­schaft des fer­nen toten Ur-Schwarz. Ich dach­te auch oft an den ande­ren, der viel­leicht noch leb­te, und bei­de ver­misch­ten sich zu einem geis­ter­haf­ten Rauch, den ich manch­mal um mich zu spü­ren glaub­te, als habe er Ein­fluß auf mich, obschon ich doch wuß­te, daß es Unsinn war.“
Kapi­tel 18.

Fazit

Am Ende las­sen sich vor allem zwei Punk­te festhalten:

Durch den Dia­log zwi­schen zwei Ich-Erzäh­lern gelingt Remar­que eine meis­ter­haf­te Ver­bin­dung von Inti­mi­tät und Pan­ora­ma: Die Erin­ne­rung, das The­ma Migra­ti­on und Flucht, wird auf ein­drucks­vol­le Wei­se konserviert.

Außer­dem spie­gelt die Erzähl­per­spek­ti­ve auch die Ver­er­bung einer Iden­ti­tät und die grau­sa­me Wahr­heit aus dem ers­ten Kapitel:

„Der Mensch war um die­se Zeit nichts mehr; ein gül­ti­ger Paß alles.“

2 Kommentare

  1. Ich habe nicht eine direk­te Fra­ge zu ihrem inter­es­san­ten Arti­kel! Und den­noch möch­te vor­an noch Ihnen für ihre tol­le Arbeit loben 😊
    Soll­te oder Kann man in einem typi­schen Gen­re­ro­man, wie zum Bei­spiel in einem Cozy Mys­tery Kri­mi­nal­ro­man eine Bin­nen. und Rah­men­hand­lung ein­fü­gen. Mein Haupt­plot habe ich schon fer­tig. Bin nur jetzt. fast schon am Ver­zwei­feln, an der Hand­lung des Erzäh­lers 🤔 Viel­leicht kon­nen Sie mir ein Tipp geben. Vie­len lie­ben Dank! 🙋‍♂️🌈📖🚀💫😊👍

    Oliver
    1. Herz­li­chen Dank fürs Lob! 😊
      Was die Fra­ge angeht, so kann es da kei­ne all­ge­mein­gül­ti­gen Tipps geben. Es kommt eben immer auf das indi­vi­du­el­le Kon­zept an. Ganz ober­fläch­lich kann ich an die­ser Stel­le daher nur auf mei­nen Arti­kel über nar­ra­ti­ve Ebe­nen (nach Genet­te) ver­wei­sen. Da bespre­che ich das Wich­tigs­te zum The­ma Rah­men- und Bin­nen­er­zäh­lun­gen. Und ansons­ten gäbe es auch noch die Mög­lich­keit, eine Autoren­be­ra­tung bei mir zu buchen. Da könn­ten wir uns die Geschich­te ganz indi­vi­du­ell angucken.

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