„Fifty Shades of Grey“ von E. L. James

„Fifty Shades of Grey“ von E. L. James

Es ist der Traum eines jeden Autors: Einen Roman schrei­ben und sofort einen Best­sel­ler lan­den. E. L. James ist es mit ihrer Fif­ty Shades-Tri­lo­gie durch­aus gelun­gen. Die Bücher sind aus künst­le­ri­scher Sicht frei­lich alles ande­re als zufrie­den­stel­lend. Aber ihr Erfolg bedeu­tet, dass man von Fif­ty Shades of Grey auch etwas ler­nen kann. Zum Bei­spiel, mit wel­cher Erzähl­per­spek­ti­ve man höchst inten­siv Gefüh­le rüber­brin­gen kann …

(In der Video-Ver­si­on die­ses Arti­kels hat sich bei Genet­tes Kate­go­rie der Ebe­ne lei­der ein Feh­ler ein­ge­schli­chen. Ich kann ihn lei­der nicht mehr kor­ri­gie­ren. Des­we­gen emp­feh­le ich, sich bei die­sem Punkt an die Text-Ver­si­on zu hal­ten. Ich bit­te um Ent­schul­di­gung für die Umstände.)

Die Foli­en für die­ses Video gibt es für Ste­ady-Abon­nen­ten und Kanal­mitglieder auf You­Tube als PDF zum Download.

Ja, aus­ge­rech­net über Fif­ty Shades of Grey von E. L. James zie­he ich immer wie­der ger­ne her. Daher stellt sich als aller­ers­tes die Fra­ge: War­um ana­ly­sie­re ich das dann überhaupt?

Nun denn, ich blei­be mei­ner Mei­nung treu, dass das Buch aus ästhe­ti­scher Sicht viel zu wün­schen übrig lässt. Inter­es­san­ter­wei­se ist das aber auch vie­len Fans bewusst, denn hin und wie­der hört man durch­aus die Mei­nung: Das Buch sei kein Meis­ter­werk, aber es mache „süch­tig“.

Das heißt:

Bei aller berech­tig­ter Kri­tik hat E. L. James etwas Wich­ti­ges sehr rich­tig gemacht.

Ich fin­de, das sind tat­säch­lich sogar meh­re­re rich­ti­ge Din­ge. Aber da das hier eine Erzähl­ana­ly­se wer­den soll, beschäf­ti­gen wir uns heu­te nur mit der Erzählperspektive.

Knappe Zusammenfassung von Fifty Shades of Grey

Die Stu­den­tin Ana­sta­sia Ste­e­le (Ana) lernt den geheim­nis­vol­len Mil­li­ar­där Chris­ti­an Grey kennen
und bei­de füh­len sich zuein­an­der hingezogen.

Als die bei­den sich jedoch näher ken­nen­ler­nen, erfährt Ana, dass Chris­ti­an eine Vor­lie­be für BDSM-Sex hat. Außer­dem muss sie sich damit abfin­den, dass Chris­ti­an kei­ne „klas­si­sche“ Lie­bes­be­zie­hung will.

Doch obwohl Chris­ti­an sich gegen sei­ne Gefüh­le für Ana wehrt, über­häuft er sie mit teu­ren Geschen­ken. Damit ver­wirrt er Ana noch mehr als ohne­hin schon: Sie ist ver­liebt und will eine ganz „nor­ma­le“ Beziehung.

Hin- und her­ge­ris­sen, bit­tet Ana Chris­ti­an schließ­lich, ihr zu zei­gen, wie weit der BDSM-Sex mit ihm gehen kann und er schlägt sie mit einem Gür­tel. Durch den Schmerz sieht Ana ein, dass sie und Chris­ti­an inkom­pa­ti­bel sind, und ver­lässt ihn. (Zumin­dest, bis er sie im nächs­ten Buch recht schnell wie­der zurückerobert.)

Textbeispiel

Um auch einen Ein­druck davon zu geben, wie die Geschich­te erzählt wird, hier ein kur­zes Textbeispiel:

„Frac­tu­red memo­ries of the pre­vious night come slow­ly back to haunt me. The drin­king, oh no the drin­king, the pho­ne call, oh no the pho­ne call, the vomi­ting, oh no the vomi­ting. José and then Chris­ti­an. Oh no. I crin­ge inward­ly. I don’t remem­ber coming here. I’m wea­ring my t‑shirt, bra, and pan­ties. No socks. No jeans. Holy shit.
E. L. James: Fif­ty Shades of Grey, Chap­ter Five.

Was sehen wir also?

Fifty Shades of Grey in Stanzels Typenkreis

Wenn wir den Roman mit Stan­zel ana­ly­sie­ren, beob­ach­ten wir Folgendes:

  • Auf der Ach­se des Modus steht die Figur im Vor­der­grund:
    Ana selbst ist zwar die Erzäh­le­rin, aber der Fokus liegt eher auf dem erle­ben­den Ich, nicht dem erzäh­len­den.
  • Auf der Ach­se der Per­son haben wir es mit einer Ich-Erzähl­si­tua­ti­on zu tun:
    Der Erzäh­ler sagt ganz klar „ich“.
  • Auf der Ach­se der Per­spek­ti­ve haben wir die Innen­per­spek­ti­ve:
    Wir haben Ein­blick in Anas Gedan­ken- und Gefühlswelt.

Damit bewe­gen wir uns im Bereich des erle­ben­den Ich und des Ich des inne­ren Mono­logs.

Analyse von Fifty Shades of Grey mit Genette

Zer­le­gen wir die Erzähl­per­spek­ti­ve mit Genet­te, so beob­ach­ten wir:

  • inter­ne Foka­li­sie­rung: Der Erzäh­ler weiß exakt so viel wie Ana.
  • gleich­zei­ti­ge Nar­ra­ti­on: Der Erzäh­ler bzw. Ana erzählt im Präsens.
  • extra- und int­ra­die­ge­ti­sche Ebe­ne: Die Erzähl­wei­se ist ein­fach, unmit­tel­bar und unverschachtelt.
  • auto­die­ge­ti­sche Erzäh­lung: Ana ist Prot­ago­nis­tin und Erzäh­le­rin zugleich.

Die Wirkung des Erzählers in Fifty Shades of Grey

Die von E. L. James gewähl­te Erzähl­per­spek­ti­ve hat den Effekt, dass die Erzäh­lung im Prin­zip einen ein­zi­gen lan­gen Gedan­ken­strom von Ana dar­stellt. Das ermög­licht unzen­sier­te, unmit­tel­ba­re Live-Ein­bli­cke in ihre Gedan­ken- und Gefühls­welt. Und die­se Gedan­ken- und Gefühls­welt hat sogar zwei Personifikationen:

  • „sub­con­scious“: Die­ses Wort bedeu­tet eigent­lich „Unter­be­wusst­sein“. Aller­dings nimmt Ana bemer­kens­wert bewusst wahr, was in ihrem „Unter­be­wusst­sein“ pas­siert. Des­we­gen ist hier wohl weni­ger das Unter­be­wusst­sein gemeint, son­dern eher die inne­re Stim­me.

    See? Not here to find you at all, my sub­con­scious sneers at me, loud, proud, and pouty.“
    Chap­ter Two.

  • „inner god­dess“: Mit der „inne­ren Göt­tin“ ist Anas Sexu­al­trieb gemeint.

    „Oh, he’s affec­ted all right – and my very small inner god­dess sways in a gent­le vic­to­rious samba.“
    Chap­ter Five.

Die­se bei­den Per­so­ni­fi­ka­tio­nen sind zwei mehr oder weni­ger voll­wer­ti­ge Figu­ren, die Ana stän­dig etwas sagen oder durch die Gegend tan­zen. Die bei­den haben es aber lei­der nicht in die Ver­fil­mung geschafft. Und ich muss sagen: Ohne sie fehlt dem Film das, was das Buch so span­nend oder wahl­wei­se auch lächer­lich macht: näm­lich Anas sehr akti­ons­rei­ches Innenleben.

Fazit

Fif­ty Shades of Grey ist eine Geschich­te, die sich fast aus­schließ­lich um die Gefüh­le der Haupt­fi­gur dreht. Und für eine sol­che Geschich­te hat E. L. James genau die rich­ti­ge Erzähl­per­spek­ti­ve gewählt:

Der Roman ist näm­lich prak­tisch eine Live-Über­tra­gung von Anas emo­tio­na­lem Auf und Ab. Es ste­hen kei­ne beson­ders inter­es­san­ten, lie­bens­wer­ten Figu­ren und auch kein span­nen­der Plot im Vor­der­grund, son­dern ein rei­ner, nack­ter Strom aus Gefühlen.

Und viel­leicht ist es ja gera­de die­se Fül­le an Gefüh­len, die den Fans von Fif­ty Shades of Grey in ihrem All­tags­le­ben fehlt. Denn sei­en wir ehr­lich: Eska­pis­mus ist einer der Haupt­grün­de, war­um wir lesen. Wenn uns im rea­len Leben etwas fehlt, dann holen wir es uns eben aus einem Buch. Und so gese­hen hat Fif­ty Shades of Grey tat­säch­lich sogar eine Exis­tenz­be­rech­ti­gung, obwohl man sich über vie­le Punk­te, die die­ses Buch betref­fen, strei­ten kann und – mei­ner Mei­nung nach – auch sollte.

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