Erzähltempo: Erzählzeit und erzählte Zeit

Erzähltempo: Erzählzeit und erzählte Zeit

Egal, ob man ein Buch liest oder schreibt, das Erzähl­tem­po spielt immer eine Rol­le. Durch unter­schied­li­che Ver­hält­nis­se von Erzähl­zeit und erzähl­ter Zeit kann der Autor vor allem mit Zeit­raf­fung, Zeit­de­ckung und Zeit­deh­nung spie­len. In die­sem Arti­kel erfährst Du, was es mit die­sen Zeit­spie­le­rei­en auf sich hat.

Die Foli­en für die­ses Video gibt es für Ste­ady-Abon­nen­ten und Kanal­mitglieder auf You­Tube als PDF zum Download.

Es gibt ein schö­nes Zitat von Anselm Paul Johann von Feuerbach:

„Stil ist rich­ti­ges Weg­las­sen des Unwesentlichen.“

Hier kommt sehr gut rüber, dass das Erzäh­len immer ein Fil­ter­vor­gang ist. Zum Bei­spiel wird in der Regel nicht von jedem Toi­let­ten­gang der Figu­ren berich­tet. Ande­rer­seits wer­den manch­mal Per­so­nen und Din­ge so aus­führ­lich beschrie­ben, dass es deut­lich län­ger dau­ert, die Beschrei­bung zu lesen, statt die Per­son oder das Ding zu sehen.

Und damit wären wir auch bei den bei­den Punk­ten, die man von­ein­an­der unter­schei­den muss:

Auf der einen Sei­te haben wir die Erzähl­zeit: die Zeit, die man braucht, um das Werk zu lesen bzw. zu erzählen.

Auf der ande­ren Sei­te haben wir die erzähl­te Zeit: die Zeit, die in der Geschich­te vergeht.

Das Ver­hält­nis von Erzähl­zeit und erzähl­ter Zeit bestimmt das Erzähl­tem­po. Ein Beispiel:

„Ein hal­bes Jahr lang hat Lies­chen Fritz­chen ange­schmach­tet. Letz­te Woche ist sie mit ihm end­lich zusammengekommen.“

Es dau­ert ca. eine Sekun­de, die­se „Geschich­te“ zu lesen. Das ist die Erzähl­zeit. In der „Geschich­te“ selbst ist aber ein hal­bes Jahr ver­gan­gen. Das ist die erzähl­te Zeit.

Erzähltempo in Aktion

Was man mit dem Erzähl­tem­po machen kann, sind drei äußerst nütz­li­che Spielereien:

  • Zeit­raf­fung: Die Erzähl­zeit ist kür­zer als die erzähl­te Zeit. 
    • Erzähltempo: Erzählzeit und erzählte ZeitEffekt: Beschleu­ni­gung der Erzäh­lung.
    • Ver­wen­dung: Man kann Unwich­ti­ges über­sprin­gen, Hin­ter­grund­in­for­ma­tio­nen ver­mit­teln und oft fin­det sich Zeit­raf­fung auch bei Über­gän­gen zwi­schen ein­zel­nen Szenen.
    • Bei­spiel:

      „Zwar hat­ten die Viert­kläss­ler eine Unmen­ge Haus­auf­ga­ben mit in die Feri­en bekom­men, doch wäh­rend der ers­ten frei­en Tage hat­te Har­ry ein­fach kei­ne Lust zu arbei­ten und ließ es sich in den Vor­weih­nachts­ta­gen, wie alle ande­ren auch, mög­lichst gut gehen.“
      J. K. Row­ling: Har­ry Pot­ter und der Feu­er­kelch, Kapi­tel: Der Weihnachtsball.

  • Zeit­de­ckung: Die Erzähl­zeit gleicht in etwa der erzähl­ten Zeit. 
    • Erzähltempo: Erzählzeit und erzählte ZeitEffekt: Der Leser erlebt die Erzäh­lung sozu­sa­gen unmit­tel­bar.
    • Ver­wen­dung: Sekun­den­stil (Sin­nes­wahr­neh­mun­gen und Gescheh­nis­se wer­den sekun­den­ge­nau wie­der­ge­ge­ben), Dia­lo­ge (sind in der Regel zeit­de­ckend); gene­rell gibt die zeit­de­cken­de Erzähl­wei­se dem Leser das Gefühl, direkt vor Ort zu sein, und des­we­gen wird Zeit­de­ckung häu­fig an beson­ders span­nen­den Stel­len verwendet.
    • Bei­spiel:

      „Und Har­ry rann­te, wie er nie in sei­nem Leben gerannt war, warf zwei vor Schreck erstarr­te Todesser um, lief im Zick­zack zwi­schen den Grä­bern hin­durch, spür­te schon, wie ihre Flü­che ihm nach­jag­ten, hör­te, wie sie gegen Grab­stei­ne prall­ten – er wich Flü­chen und Grä­bern aus, stürz­te auf Ced­rics Kör­per zu, den Schmerz in sei­nem Bein nicht mehr spü­rend, sein gan­zes Sein auf das kon­zen­triert, was er tun musste –
      »Schockt ihn!«, hör­te er Vol­de­mort schreien.“
      J. K. Row­ling: Har­ry Pot­ter und der Feu­er­kelch, Kapi­tel: Prio­ri Incantatem.

  • Zeit­deh­nung: Die Erzähl­zeit ist län­ger als die erzähl­te Zeit. 
    • Erzähltempo: Erzählzeit und erzählte ZeitEffekt: Ver­lang­sa­mung der Erzäh­lung.
    • Ver­wen­dung: Es ent­steht ein „Zeit­lu­pen-Effekt“ und gene­rell ein Pau­sie­ren der Erzäh­lung; es kön­nen Bewusst­seins­strö­me wie­der­ge­ge­ben und „Atmo­sphä­re“ auf­ge­baut wer­den (zum Bei­spiel durch aus­führ­li­che Beschreibungen).
    • Bei­spiel:

      „Der Hog­warts-Express mit sei­ner schar­lach­rot leuch­ten­den Dampf­lok stand schon bereit, und im Nebel der Dampf­schwa­den, die aus dem Schorn­stein zisch­ten, wirk­ten die vie­len Hog­warts-Schü­ler und ihre Eltern auf dem Bahn­steig wie dahin­glei­ten­de Schatten.“
      J. K. Row­ling: Har­ry Pot­ter und der Feu­er­kelch, Kapi­tel: Im Hogwarts-Express.

Probleme bei der Arbeit mit Erzählzeit und erzählter Zeit

So viel zu den Zeit­spie­le­rei­en. Zum Schluss möch­te ich aber auch auf die Pro­ble­me ein­ge­hen, die im Zusam­men­hang mit der Erzähl­zeit und der erzähl­ten Zeit auftreten.

Und zwar gibt es bei der Erzähl­zeit das Pro­blem, dass sie nicht mess­bar ist. Wie lan­ge es dau­ert, etwas zu erzäh­len, vari­iert je nach Per­son und Umstän­den. Es gibt ein­fach kei­ne objek­ti­ve Maß­ein­heit – aller­höchs­tens die Sei­ten­an­zahl in einem Buch, wenn man sich vor­her noch auf die Schrift­grö­ße und ande­re Stan­dards geei­nigt hat.

Auch die erzähl­te Zeit ist ohne expli­zi­te Anga­ben kaum mess­bar. Selbst bei wört­li­cher Rede, die in der Regel als zeit­de­ckend gilt, ist oft zum Bei­spiel nicht klar, wie schnell die Wor­te gespro­chen werden.

Wegen die­ser und ande­rer Unge­nau­ig­kei­ten ist das Erzähl­tem­po ins­ge­samt eine eher schwam­mi­ge Sache.

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