Dauer: Geschwindigkeit der Erzählung

Dauer: Geschwindigkeit der Erzählung

Wie lan­ge hält sich der Erzäh­ler mit einem bestimm­ten Ereig­nis in der Geschich­te auf? Fasst er es kurz zusam­men, dür­fen wir Leser es „live“ mit­er­le­ben, hält er sich lan­ge mit bestimm­ten Details auf oder wird die­ses Ereig­nis gar nicht erwähnt? In die­sem Arti­kel spre­chen wir über Genet­tes Ver­ständ­nis vom Tem­po einer Erzäh­lung: über die Sum­ma­ry, die Sze­ne, die Pau­se und die Ellipse.

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Wie wird eine Geschich­te in einer Erzäh­lung unter­ge­bracht? Wie wer­den die ein­zel­nen Ereig­nis­se ange­ord­net, wie aus­führ­lich wer­den sie behan­delt und die oft wer­den sie erwähnt?

Die Ant­wort auf die­se Fra­gen lie­fert die Erzähl­zeit - und der Lite­ra­tur­wis­sen­schaft­ler Gérard Genet­te lie­fert drei Kate­go­rien, um die­se zu analysieren:

  • Ord­nung
  • Dau­er
  • Fre­quenz

Über die Ord­nung ging es bereits im letz­ten Teil der Rei­he. Heu­te hin­ge­gen befas­sen wir uns mit der Dau­er. Es geht also buch­stäb­lich dar­um, wie lan­ge es dau­ert, eine gan­ze Geschich­te und von den ein­zel­nen Ereig­nis­sen dar­in zu erzählen.

Dauer: Die Geschwindigkeit einer Erzählung

Der Stamm­le­ser wird sich sicher­lich an mei­nen frü­he­ren Arti­kel über das Erzähl­tem­po erin­nern. Und in genau die­se Rich­tung geht es heu­te auch. Genet­te hat hier aller­dings eine eige­ne Sicht auf die Din­ge und ope­riert daher mit ande­ren Begrif­fen. Des­we­gen bewe­gen wir uns weg von Zeit­de­ckung, Zeit­raf­fung und Zeit­deh­nung hin zu Ellip­se, Sum­ma­ry, Sze­ne und Pause.

Doch fan­gen wir von vor­ne an:

Die Dau­er einer Erzäh­lung (also wie lan­ge der Leser braucht, um eine Geschich­te auf­zu­neh­men) ist nicht mess­bar!

Anders als bei Film, Musik und sogar Hör­bü­chern, rezi­piert jeder Leser die Geschich­te in sei­ner eige­nen Geschwindigkeit.

Man muss jedoch nicht zwangs­läu­fig die zeit­li­che Dau­er der Erzäh­lung mit der Dau­er der Geschich­te ver­glei­chen. Statt­des­sen kann man mit hand­fes­te­ren Wer­ten arbeiten:

  • Die Geschwin­dig­keit von Bewe­gun­gen im Raum wird ja anhand der Dau­er der Bewe­gung und der zurück­ge­leg­ten Stre­cke gemes­sen, zum Bei­spiel: Kilo­me­ter pro Stunde.
  • Ana­log dazu misst Genet­te die Dau­er einer Erzäh­lung anhand der Zeit, die in der Geschich­te ver­geht, und der Text­län­ge in Zei­len, Sei­ten etc. Zum Bei­spiel: Wird in einem Absatz/​Kapitel/​Abschnitt nur ein Moment oder ein gan­zes Jahr­zehnt beschrieben?

Dabei ist die Geschwin­dig­keit einer Erzäh­lung jedoch nie­mals gleich­mä­ßig. Jede noch so linea­re Geschich­te wird mal schnel­ler und mal lang­sa­mer. Die­se Beschleu­ni­gun­gen und Ver­zö­ge­run­gen nennt Genet­te Aniso­chro­nien.

Die­se las­sen sich jedoch lei­der nicht all­zu klein­ka­riert ana­ly­sie­ren. Denn jeden ein­zel­nen Satz in Bezug auf die erzähl­te Zeit und die Text­län­ge zu ana­ly­sie­ren wür­de einen ers­tens wahn­sin­nig machen und zwei­tens kei­ne aus­sa­ge­kräf­ti­gen Ergeb­nis­se her­vor­brin­gen. Des­we­gen ope­rie­ren wir bei der Ana­ly­se der Dau­er mit Nähe­rungs­wer­ten, d.h. mit gan­zen Textabschnitten.

Tempo: Pause, Szene, Summary, Ellipse

Genet­te beob­ach­tet, dass es vier Mög­lich­kei­ten gibt, wie die Dau­er sich in Text­ab­schnit­ten ver­hal­ten kann. Die­se sind:

  • Pau­se:
    Die Geschich­te steht still. Der Erzäh­ler nimmt sich zum Erzäh­len aber so viel Text wie er will.
  • Sze­ne:
    Die Zeit der Geschich­te und die Text­län­ge hal­ten sich die Waage.
  • Sum­ma­ry:
    In der Geschich­te ver­geht viel Zeit, aber der Erzäh­ler benutzt nur wenig Text, um davon zu berichten.
  • Ellip­se:
    In der Geschich­te ist etwas pas­siert, viel­leicht hat es sogar Jah­re gedau­ert. Doch der Erzäh­ler berich­tet davon gar nicht.

Denk­bar ist außer­dem das Gegen­teil der Sum­ma­ry, näm­lich wenn der Erzäh­ler eine Sze­ne (z.B. einen Dia­log) durch detail­lier­te Schil­de­run­gen von Hand­lun­gen in die Län­ge zieht: Also wenn in der Geschich­te wenig Zeit ver­geht, der Erzäh­ler aber lan­ge braucht, um davon zu berich­ten. Fak­tisch tut sich Genet­te jedoch schwer damit, für die­ses Gedan­ken­ex­pe­ri­ment rea­le Bei­spie­le zu fin­den. Denn in der Pra­xis wer­den Sze­nen in Roma­nen nie­mals wirk­lich ver­lang­samt, son­dern nur durch Pau­sen unter­bro­chen. Und ganz ehr­lich: Wür­dest Du ger­ne eine Sze­ne lesen, in der jede Figur einen vier­zei­li­gen Absatz braucht, um den Kopf zu schüt­teln oder einen Fin­ger zu heben? – Ich zumin­dest nicht.

Wir blei­ben also bei den vier vor­ge­stell­ten Typen der Dau­er und schau­en sie uns nun näher an.

Pause

Vor allem älte­ren Roma­nen hängt das Image an, oft laaaaaaan­ge deskrip­ti­ve Pau­sen zu ver­wen­den. Sich mit irrele­van­ten Beschrei­bun­gen von Details und Natur­phä­no­me­nen auf­zu­hal­ten. Den Leser mit Geschwa­fel in den Schlaf zu wiegen …

Und doch: Genet­te bemerkt, dass die deskrip­ti­ven Pau­sen selbst bei Autoren, die zu lan­gen Beschrei­bun­gen nei­gen, stets nur einen klei­nen Teil des Gesamt­tex­tes ein­neh­men.

Das liegt unter ande­rem dar­an, dass nicht alle deskrip­ti­ven Pas­sa­gen tat­säch­lich eine Pau­se dar­stel­len:

  • Man den­ke zum Bei­spiel an Beschrei­bun­gen von Din­gen, die der Haupt­fi­gur regel­mä­ßig unter die Augen kom­men. Beob­ach­tet Fritz­chen zum Bei­spiel jeden Tag den Kampf der Tau­ben über Brot­kru­men, ist eine ein­zi­ge Beschrei­bung die­ser vie­len ähn­li­chen Augen­bli­cke nicht wirk­lich eine Verzögerung.
  • Man dan­ke außer­dem auch an Fäl­le, wo die Erzäh­lung an einer bestimm­ten Sache hän­gen­bleibt, weil die Reflek­tor­fi­gur mit ihrem Blick dar­an klebt. Wenn Fritz­chen zum Bei­spiel zehn Minu­ten lang ein Gemäl­de stu­diert und der Erzäh­ler dem drei lan­ge Absät­ze wid­met, ist das kei­ne Ver­zö­ge­rung der Geschich­te, son­dern wir fol­gen Fritz­chens Blick und Gedan­ken eins zu eins.

Was jedoch durch­aus eine Pau­se dar­stellt, ist die auß­er­zeit­li­che Deskrip­ti­on: Wenn also der Erzäh­ler Din­ge beschreibt, ohne dass eine Figur sie betrach­tet. Denn hier pau­siert die Hand­lung tat­säch­lich: Nie­mand denkt etwas, nie­mand erin­nert sich an etwas, nie­mand ist fas­zi­niert von bestimm­ten Details. Das Gesche­hen ist eingefroren.

Die fil­mi­sche Ent­spre­chung dazu wäre ein Pau­sie­ren der Wie­der­ga­be, um die Details im Bild zu betrach­ten (im Gegen­satz zu einer Kame­ra, die den schwei­fen­den Blick der Haupt­fi­gur darstellt).

Szene

Der zwei­fel­los häu­figs­te Typ der Dau­er ist die Sze­ne, meist domi­niert vom Dia­log. Die Figu­ren tun etwas, inter­agie­ren mit­ein­an­der, es herrscht Bewegung.

Aller­dings wäre Genet­te nicht Genet­te, wenn er auch hier nicht zwi­schen zwei Unter­ty­pen unter­schei­den würde:

  • dra­ma­ti­sche Sze­nen:
    Die­se trei­ben die Hand­lung vor­an. Es gibt kaum Beschrei­bun­gen, aus­führ­li­ches Nach­den­ken oder Ana­chro­nien. Der Fokus liegt auf dem aktu­el­len Geschehen.
  • typische/​exemplarische Sze­nen:
    Hier tritt die Hand­lung in den Hin­ter­grund. Der Fokus liegt eher auf psy­cho­lo­gi­schen und gesell­schaft­li­chen Cha­rak­te­ri­sie­run­gen. Sol­che Sze­nen ste­hen stell­ver­tre­tend für vie­le ähn­li­che Sze­nen und zei­gen bei­spiels­wei­se einen typi­schen Mor­gen im Leben von Fritz­chen. Und es liegt auf der Hand, dass die­se Sze­nen ger­ne Zusatz­in­for­ma­tio­nen und Erläu­te­run­gen enthalten.

Summary

Das ist wie­der ein Typ, der selbst in älte­ren Wer­ken nur wenig Raum ein­nimmt. Denn wenn ein noch so lan­ges Gesche­hen zusam­men­ge­fasst wird, ist das Ergeb­nis kurz.

Nichts­des­to­trotz ist die Sum­ma­ry wich­tig: Denn zumin­dest bis zum Ende des 19. Jahr­hun­derts bil­de­te sie den nor­ma­len Über­gang zwi­schen zwei Sze­nen. Der Wech­sel von Sum­ma­ry und Sze­ne bil­de­te also lan­ge Zeit den „Grund­rhyth­mus“ eines Romans.

Doch auch heu­te noch ist es schwer, sich einen Roman ohne die ein oder ande­re Sum­ma­ry vor­zu­stel­len: Denn zum Bei­spiel haben die meis­ten Rück­blen­den (vor allem die kom­plet­ten Anal­ep­sen) die Form einer Sum­ma­ry. Wenn Fritz­chen sich also zum Bei­spiel in einem Absatz erin­nert, wie er sei­nen Job bekom­men hat, dann ist bereits eine Sum­ma­ry gegeben.

Ellipse

Die viel­leicht schnells­te und unkom­pli­zier­tes­te Art, ein Ereig­nis abzu­klap­pern, ist, es gar nicht erst zu erwäh­nen. Dau­ert genau 0 Wörter. 😉

Doch obwohl es hier um etwas geht, das eigent­lich fehlt, sieht Genet­te auch hier meh­re­re Arten.

Zunächst unter­schei­det Genet­te zwi­schen bestimm­ten Ellip­sen und unbe­stimm­ten Ellipsen:

  • Bei bestimm­ten Ellip­sen wird dabei die Zeit­span­ne genau ange­ge­ben. Zum Bei­spiel: „Es ver­gin­gen zwei Jahre.“
  • Bei unbe­stimm­ten Ellip­sen hin­ge­gen erfährt der Leser nicht genau, wie viel Zeit über­sprun­gen wur­de. Zum Bei­spiel: „Es ver­gin­gen eini­ge Jahre.“

Außer­dem unter­schei­det er zwi­schen expli­zi­ten, impli­zi­ten und hypo­the­ti­schen Ellipsen:

  • Bei expli­zi­ten Ellip­sen wird der weg­ge­las­se­ne Zeit­raum auf bestimm­te oder unbe­stimm­te Wei­se aus­drück­lich gekenn­zeich­net und geht damit in Rich­tung einer beson­ders stark zusam­men­fas­sen­den Sum­ma­ry (sie­he die bei­den Bei­spie­le eben).
    Die­se expli­zi­ten Ellip­sen kön­nen außer­dem ein wenig durch wei­te­re Infor­ma­tio­nen berei­chert Zum Bei­spiel: „Es ver­gin­gen eini­ge glück­li­che Jahre.“
    Als expli­zit gilt im Übri­gen auch eine nega­ti­ve Kenn­zeich­nung, zum Bei­spiel: „In die­sen Jah­ren ist nichts Inter­es­san­tes passiert.“
  • Dage­gen wer­den impli­zi­te Ellip­sen nur durch chro­no­lo­gi­sche Lücken oder Unterbrechungen 
    Zum Bei­spiel, wenn wir erfah­ren, dass Fritz­chen 2001 die Grund­schu­le abge­schlos­sen hat und 2014 die Uni. Dass dazwi­schen etwas weg­ge­las­sen wur­de, muss der Leser selbst merken.
    Ein ande­res Bei­spiel wäre, wenn der Erzäh­ler Fritz­chens Mon­tag beschreibt, das Kapi­tel dann been­det und das nächs­te Kapi­tel am Frei­tag begin­nen lässt.
  • Sehr mys­te­ri­ös ist die hypo­the­ti­sche Ellip­se: Hier erfährt der Leser nicht genau oder über­haupt nicht, wo das weg­ge­las­se­ne Ereig­nis ange­sie­delt ist. Erst eine Anal­ep­se deu­tet an, dass da über­haupt etwas war.
    Ein Bei­spiel dafür wäre, wenn Fritz­chen sich an eine Begeg­nung erin­nert, aber beim bes­ten Wil­len nicht weiß, wo oder wann das war (und der Leser dadurch eben­falls nur Fra­ge­zei­chen im Kopf hat).

Fazit

Jede Geschich­te wird mal schnel­ler und mal lang­sa­mer. Die­se Aniso­chro­nien sind jedoch nicht nur natür­li­che Phä­no­me­ne des Erzäh­lens, son­dern auch wich­ti­ge Werk­zeu­ge. Nut­ze sie also wei­se und über­le­ge ganz genau, wel­ches Tem­po zu wel­cher Text­stel­le Dei­nes Manu­sk­tipts am bes­ten passt.

4 Kommentare

  1. Hal­lo, ich hät­te eine kur­ze Fra­ge: Ich ver­ste­he jetzt nicht, ob auß­er­zeit­li­che Deskrip­ti­on nur Beschrei­bun­gen von den Erzäh­ler sind, wie die Land­schaft oder z.B wenn eine Figur sich an etwas ehe­ma­li­ges erin­nert (das wur­de in dem Video gesagt) und im blog steht was ande­res. Das wäre sehr hilf­reich. Vie­len Dank für die Erklä­rung sehr hilfreich!

    Anonymous
    1. Es freut mich, wenn ich hel­fen kann! 🙂
      Zu Dei­ner Fra­ge: Als auß­er­zeit­li­che Deskrip­ti­on gilt alles, was vom Erzäh­ler und nicht von den Figu­ren kommt. Wenn z.B. die Figur Fritz­chen eine Vier­tel­stun­de lang eine Land­schaft bedrach­tet oder sich an eine Land­schaft erin­nert, dann deckt sich der lan­ge Beschrei­bungs­ab­satz die­ser vier­tel­stün­di­gen Gehirn­tä­tig­keit Fritz­chens. Wir Schau­en Fritz­chen beim Betrach­ten bzw. Erin­nern zu. Des­we­gen pau­siert die Erzäh­lung hier nicht wirk­lich, es ist also kei­ne auß­er­zeit­li­che Deskrip­ti­on bzw. kei­ne Pau­se. Anders sieht es aus, wenn Fritz­chen ein­fach nur sei­nem All­tag nach­geht und die Land­schaft igno­riert, der Erzäh­ler sie aber trotz­dem aus­führ­lich beschreibt. Oder wenn der Erzäh­ler eine Land­schaft aus Fritz­chens Kind­heit beschreibt, ohne dass Fritz­chen sich gera­de dar­an erinnert.
      Ich hof­fe, ich konn­te es etwas ver­ständ­li­cher erklären.

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