Kategorie der Zeit: Spätere, frühere, gleichzeitige und eingeschobene Narration

Kategorie der Zeit: Spätere, frühere, gleichzeitige und eingeschobene Narration

Die Zeit­form, in der eine Geschich­te geschrie­ben ist, wird von Autoren und Lesern häu­fig unter­schätzt. Aber nicht von der Lite­ra­tur­wis­sen­schaft. Denn die Kate­go­rie der Zeit hat ihren fes­ten Platz in Genet­tes Erzähl­theo­rie. In die­sem Arti­kel gehen wir die vier Typen (spä­te­re, frü­he­re, gleich­zei­ti­ge und ein­ge­scho­be­ne Nar­ra­ti­on) nach­ein­an­der durch und schau­en uns an, was sie in der Pra­xis für eine Wir­kung haben.

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Auf den ers­ten Blick erscheint die Ent­schei­dung, in wel­cher Zeit­form man eine Geschich­te erzählt, rein kos­me­tisch. Prä­ter­itum, Prä­sens … Eine Geschich­te bleibt eine Geschich­te, egal in wel­cher Zeit­form man sie erzählt.

Doch so ein­fach ist es natür­lich nicht.

In sei­ner Erzähl­theo­rie unter­schei­det Gérard Genet­te gan­ze vier Typen der Zeit und jeder von ihnen hat sei­ne höchst eige­nen Beson­der­hei­ten. Die Aus­wahl einer pas­sen­den Zeit­form ist für eine Erzäh­lung wich­tig. Des­we­gen gehen wir in die­sem Arti­kel Genet­tes Typen nach­ein­an­der durch und schau­en uns an, was sie für uns als Autoren und Leser bedeuten.

Modus und Stimme

Zur Wie­der­ho­lung: Genet­te unter­schei­det bei der Erzähl­per­spek­ti­ve ja vor allem zwi­schen Modus und Stimme.

  • Modus gibt dabei an, wer das Gesche­hen wahr­nimmt.
  • Bei der Stim­me geht es dar­um, wer das Gesche­hen wie­der­gibt.

Über den Modus haben wir bereits im ers­ten Teil gespro­chen. Bei der Stim­me hin­ge­gen gibt es drei Kate­go­rien, von denen wir jede in einem eige­nen Arti­kel abhan­deln wer­den. Dabei geht es nicht nur um nack­te Theo­rie, son­dern ich bin so dreist, mei­nen eige­nen, etwas pra­xis­ori­en­tier­te­ren Senf beizumischen.

Der Zeitpunkt des Erzählens

Die ers­te Kate­go­rie der Stim­me ist die Zeit. Hier unter­schei­det Genet­te, wie gesagt, vier Typen. Dabei geht es um den Zeit­punkt des Erzäh­lens in Bezug auf den Zeit­punkt des Gesche­hens. – Klingt viel­leicht etwas kom­pli­ziert, ist aber in Wirk­lich­keit ganz einfach:

  • spä­te­re Nar­ra­ti­on: Die Erzäh­lung fin­det nach dem Gesche­hen statt.
    Das heißt: Es ist etwas pas­siert – und eini­ge Zeit spä­ter wird davon erzählt.
    Gram­ma­tik: Erzäh­lung in der Ver­gan­gen­heits­form (Prä­ter­itum, Per­fekt, Plusquamperfekt).
    Kategorie der Zeit: Spätere, frühere, gleichzeitige und eingeschobene Narration
  • frü­he­re Nar­ra­ti­on: Die Erzäh­lung fin­det vor dem Gesche­hen statt.
    Das heißt: Es wird von zukünf­ti­gen Ereig­nis­sen erzählt. In der Regel han­delt es sich um Vor­her­sa­gen, Hell­se­hen, Pro­phe­zei­hun­gen und so weiter.
    Gram­ma­tik: Erzäh­lung im Futur (aber auch Präsens).Kategorie der Zeit: Spätere, frühere, gleichzeitige und eingeschobene Narration
  • gleich­zei­ti­ge Nar­ra­ti­on: Die Erzäh­lung fin­det zeit­gleich mit dem Gesche­hen statt.
    Das heißt: Der Erzäh­ler berich­tet, das gera­de jetzt, in die­sem Moment, passiert.
    Gram­ma­tik: Erzäh­lung im Präsens.Kategorie der Zeit: Spätere, frühere, gleichzeitige und eingeschobene Narration
  • ein­ge­scho­be­ne Nar­ra­ti­on: Die Erzäh­lung holt die Geschich­te ein, wird immer wie­der aktua­li­siert.
    Das heißt: Das Gesche­hen wird immer wie­der qua­si unter­bro­chen, damit der Erzäh­ler berich­ten kann, was pas­siert ist.
    Gram­ma­tik: Ver­gan­gen­heit und Präsens.Kategorie der Zeit: Spätere, frühere, gleichzeitige und eingeschobene Narration

So viel erst­mal zum Über­blick. Schau­en wir uns nun jeden die­ser Typen etwas genau­er an.

Spätere Narration

Die spä­te­re Nar­ra­ti­on ist der häu­figs­te und auch der natür­lichs­te Fall:

Der Erzäh­ler hat mit einer belie­bi­gen Foka­li­sie­rung das Gesche­hen beob­ach­tet, ver­ar­bei­tet und gibt es nun wieder.

Hier hat der Erzäh­ler ziem­lich viel Spiel­raum. Weil das Gesche­hen in der Ver­gan­gen­heit liegt, hat sich der Erzäh­ler viel­leicht in der Zwi­schen­zeit zusätz­li­che Infor­ma­tio­nen beschaf­fen oder über das Gesche­hen noch ein­mal nach­den­ken kön­nen. Damit kann der Erzäh­ler, wenn er will, auf einen brei­ten Wis­sens­ho­ri­zont zurück­grei­fen, wes­we­gen hier, wie bereits ange­deu­tet, jede Foka­li­sie­rung Sinn macht:

Der Erzäh­ler kann sich sowohl auf das Innen­le­ben einer ein­zi­gen Figur kon­zen­trie­ren als auch all­wis­send auf­tre­ten – oder auch sei­ne Erzäh­lung auf das äußer­lich Wahr­nehm­ba­re beschränken.

Neben den Frei­hei­ten in Bezug auf den Wis­sens­ho­ri­zont hat die spä­te­re Nar­ra­ti­on den Vor­teil, dass sie die wohl authen­tischs­te Erzähl­wei­se ist: Wir kön­nen näm­lich grund­sätz­lich nur von ver­gan­ge­nen Ereig­nis­sen berich­ten. Das und die Tat­sa­che, dass die spä­te­re Nar­ra­ti­on so oft ver­wen­det wird, sorgt dafür, dass der Leser die zeit­li­che Distanz, die durch die gram­ma­ti­ka­li­schen Ver­gan­gen­heits­for­men aus­ge­drückt wird, oft gar nicht mehr wahr­nimmt und sich dem Fluss der Erzäh­lung ein­fach hin­ge­ben kann. Trotz­dem ist es dem Erzäh­ler aber auch mög­lich, über das Gesche­hen all­ge­mein zu reflek­tie­ren und es in grö­ße­re Zusam­men­hän­ge ein­zu­ord­nen, ohne dass der Erzähl­fluss gestört wird.

Hier zwei Beispiele:

„Vie­le Bau­ern hat­ten auf Neu­jahr ein Schwein geschlach­tet, die beschenk­ten die Her­ren Köni­ge aus dem Mor­gen­land reich­lich mit Wurst und Speck.“
Otfried Preuß­ler: Kra­bat, Das ers­te Jahr, Kapi­tel: Die Müh­le im Kosel­bruch.

An die­ser Stel­le berich­tet der Erzäh­ler nicht nur von den Bet­tel­er­fol­gen von Kra­bat und sei­nen Freun­den, die als die hei­li­gen drei Köni­ge ver­klei­det sind, son­dern er erklärt auch, war­um die Bau­ern ihnen so viel Wurst und Speck geben kön­nen: Noch wei­ter in der Ver­gan­gen­heit haben sie Schwei­ne geschlachtet.

You’­re going to thank me for this, Wren kept saying.
The first time she’d said it was back in June.
Cath had alre­a­dy sent in her uni­ver­si­ty housing forms, and of cour­se she’d put Wren down as her room­ma­te – she had­n’t thought twice about it. The two of them had shared a room for eigh­te­en years, why stop now?“
Rain­bow Rowell: Fan­girl, Kapi­tel 1.

Hier schafft der Erzäh­ler den Spa­gat zwi­schen der Dar­stel­lung von Caths sub­jek­ti­ven Emp­fin­dun­gen und der Ein­ord­nung die­ser Emp­fin­dun­gen in einen grö­ße­ren Kontext.

Frühere Narration

Die frü­he­re Nar­ra­ti­on tritt eher sel­ten auf und man wird kaum eine Erzäh­lung fin­den, die kom­plett im Futur ver­fasst ist. Der Grund dafür ist äußerst banal:

Die wenigs­ten von uns haben hell­se­he­ri­sche Kräf­te und des­we­gen ist schon allei­ne die Vor­stel­lung, von etwas zu erzäh­len, das noch nicht statt­ge­fun­den hat, ziem­lich wider­na­tür­lich.

Das hat zur Fol­ge, dass eine Erzäh­lung von zukünf­ti­gen Ereig­nis­sen in der Regel ziem­lich stark ins Auge sticht.

Auch die frü­he­re Nar­ra­ti­on ist natür­lich theo­re­tisch mit jeder Foka­li­sie­rung kom­bi­nier­bar. Prak­tisch jedoch sind Pro­phe­zei­un­gen eher sel­ten intern foka­li­siert. Zumin­dest fin­de ich es schwer, Pro­phe­zei­un­gen zu fin­den, die sich um das Innen­le­ben einer Figur dre­hen. Und wenn man expe­ri­ment­hal­ber beson­ders intern foka­li­sier­te Pas­sa­gen aus Roma­nen ins Futur zu set­zen ver­sucht, kommt es ger­ne zu sehr eigen­ar­ti­gen Ergebnissen:

„Har­ry wird jetzt alles von einem Feu­er­blitz ver­lan­gen; der Wind wird ihm in den Ohren rau­schen; er wird die Hand aus­stre­cken, doch plötz­lich wird der Besen erlahmen -
Ent­setzt wird er sich umdre­hen. Mal­foy wird sich nach vor­ne gewor­fen haben, den Schweif des Feu­er­blit­zes gepackt haben, und ihn zurückzerren.“
Joan­ne K. Row­ling: Har­ry Pot­ter und der Gefan­ge­ne von Aska­ban, Kapi­tel: Das Fina­le, ins Futur gesetzt von Fea­el Silmarien.

Viel natür­li­cher und flüs­si­ger klingt hin­ge­gen das hier:

„Der Schwar­ze Lord ist ein­sam, von Freun­den und Anhän­gern ver­las­sen. Sein Knecht lag zwölf Jah­re in Ket­ten. Heu­te Nacht, vor der zwölf­ten Stun­de, wird der Knecht die Ket­ten abwer­fen und sich auf den Weg zu sei­nem Meis­ter machen. Mit sei­ner Hil­fe wird der Schwar­ze Lord erneut die Macht ergrei­fen und schreck­li­cher herr­schen denn je. Heu­te Nacht … vor der zwölf­ten Stun­de … wird der Knecht sich auf den Weg machen … zurück zu sei­nem Meister …“
Joan­ne K. Row­ling: Har­ry Pot­ter und der Gefan­ge­ne von Aska­ban, Kapi­tel: Pro­fes­sor Tre­law­neys Vor­her­sa­ge.

Obwohl die frü­he­re Nar­ra­ti­on in der Theo­rie vie­le Mög­lich­kei­ten offen lässt, klingt sie meis­tens am bes­ten und sinn­volls­ten, wenn die Erzäh­lung sehr all­ge­mein und vage bleibt.

Gleichzeitige Narration

Viel fle­xi­bler hin­ge­gen ist die gleich­zei­ti­ge Nar­ra­ti­on. Sie wird heut­zu­ta­ge recht häu­fig ver­wen­det, obwohl sie im Gegen­satz zur spä­te­ren Nar­ra­ti­on logisch betrach­tet kei­nen Sinn macht:

Denn man kann nur von etwas erzäh­len, das man bereits gese­hen und gedank­lich ver­ar­bei­tet hat. Das heißt: Man kann nur von ver­gan­ge­nen Ereig­nis­sen erzählen.

Ande­rer­seits wirkt die gleich­zei­ti­ge Nar­ra­ti­on oft gegen­wär­ti­ger und unmit­tel­ba­rer als die spä­te­re Nar­ra­ti­on: Das Gesche­hen liegt nicht irgend­wo in der Ver­gan­gen­heit, son­dern pas­siert genau jetzt! Das mag auch der Grund dafür sein, dass wir im All­tag beim Erzäh­len oft tat­säch­lich auf das Prä­sens zurück­grei­fen. Zum Beispiel:

„Ges­tern woll­te ich Lisa besu­chen. Da ste­he ich also an der Bus­hal­te­stel­le und plötz­lich seh‘ ich Susi.“

Auch Wit­ze wer­den oft im Prä­sens erzählt:

„Kommt Fritz­chen zum Bäcker und sagt …“

Nun sind das Erzäh­len im All­tag und das Erzäh­len im lite­ra­ri­schen Sin­ne nicht immer das Glei­che. Denn wäh­rend die gleich­zei­ti­ge Nar­ra­ti­on zwar theo­re­tisch mit jeder Foka­li­sie­rung kom­bi­nier­bar ist, wür­de ich in der Pra­xis zu Vor­sicht raten, wenn der Erzäh­ler all­zu stark her­vor­tritt:

Denn bei einer gleich­zei­ti­gen Nar­ra­ti­on soll­te der Erzäh­ler zum Bei­spiel nicht wis­sen, was nach dem Gesche­hen passiert.

Am ein­fachs­ten lässt sich das durch einen Ver­gleich demonstrieren:

Spä­te­re Narration:
„Fritz­chen war­te­te gedul­dig am Bahn­steig. Er wuss­te noch nicht, dass der Zug nicht kom­men würde.“

Gleich­zei­ti­ge Narration:
„Fritz­chen war­tet gedul­dig am Bahn­steig. Er weiß noch nicht, dass der Zug nicht kom­men wird.“

Die Infor­ma­ti­on, dass der Zug nicht kommt, fällt bei der spä­te­ren Nar­ra­ti­on kaum auf: Weil das Gesche­hen ja in der Ver­gan­gen­heit liegt, ist das Aus­fal­len des Zuges zum Zeit­punkt des Erzäh­lens ja bereits passiert.

Bei der gleich­zei­ti­gen Nar­ra­ti­on hin­ge­gen kommt auto­ma­tisch die Fra­ge auf: Woher weiß der Erzäh­ler denn, dass der Zug nicht kom­men wird?

Je nach Erzähl­per­spek­ti­ve kann man das natür­lich erklä­ren, wenn der Erzäh­ler zum Bei­spiel die Infor­ma­ti­on von einem Bahn­mit­ar­bei­ter bekom­men hat, hell­se­he­ri­sche Kräf­te besitzt oder es klar gemacht wird, dass das Prä­sens hier – wie bei den bereits erwähn­ten All­tags­er­zäh­lun­gen – etwas Ver­gan­ge­nes beschreibt.

Wenn die­se Erklä­rung sich aber nicht von selbst aus der Erzäh­lung ergibt, reißt die­se Infor­ma­ti­on über die Zukunft den Leser aus dem Lese­fluss und schafft Distanz zur Figur. – Was natür­lich aber auch als Kunst­griff ver­wen­det wer­den kann.

Noch spür­ba­rer ist es im Fal­le einer Ich-Erzählung:

Spä­te­re Narration:
„Ich war­te­te gedul­dig am Bahn­steig. Ich wuss­te noch nocht, dass der Zug nicht kom­men würde.“

Gleich­zei­ti­ge Narration:
„Ich war­te gedul­dig am Bahn­steig. Ich weiß noch nicht, dass der Zug nicht kom­men wird.“

Wie kann ich von etwas erzäh­len, von dem ich nichts weiß? Durch das Prä­sens wird die Gren­ze zwi­schen dem erzähl­ten Ich und dem erzäh­len­den Ich nor­ma­ler­wei­se fast unsicht­bar gemacht. Aber dadurch, dass das erzäh­len­de Ich Infor­ma­tio­nen ein­bringt, die dem erzähl­ten Ich nicht zur Ver­fü­gung ste­hen, tritt die­se Gren­ze wie­der scharf her­vor und schafft Distanz. Der Fokus geht weg vom Gesche­hen und den Figu­ren und ver­la­gert sich mehr zur Erzählinstanz.

Damit ist die gleich­zei­ti­ge Nar­ra­ti­on ein Ent­we­der-Oder:

Ent­we­der macht sich die Erzähl­in­stanz bzw. das erzäh­len­de Ich mög­lichst unsicht­bar und die Erzäh­lung dreht sich um die Reflek­tor­fi­gur bzw. das erzähl­te Ich und bie­tet dem Leser das Gesche­hen qua­si haut­nah;

oder die Erzähl­in­stanz tritt klar her­vor und schafft eine Kluft zwi­schen Leser und Gesche­hen.

Bei­des hat sei­ne Exis­tenz­be­rech­ti­gung. Bloß soll­te man beden­ken, dass hier selbst kleins­te Feh­ler den Leser aus dem Erzähl­fluss rei­ßen können.

Eingeschobene Narration

Der „tech­nisch“ gese­hen viel­leicht inter­es­san­tes­te Typ ist die ein­ge­scho­be­ne Nar­ra­ti­on. Wenn wir sagen, dass die Erzäh­lung immer wie­der aktua­li­siert wird, dann spre­chen wir vom Erzäh­len durch Tage­bü­cher und Brie­fe:

Das Gesche­hen geschieht, dann erzählt der Erzäh­ler davon. Dann geschieht wie­der etwas – und der Erzäh­ler aktua­li­siert sei­ne Erzäh­lung. Und so weiter.

Das Inter­es­san­te an der ein­ge­scho­be­nen Nar­ra­ti­on ist, dass der Text ger­ne Erzäh­lung und Hand­lungs­ele­ment zugleich ist: Die Erzäh­lung exis­tiert inner­halb der Erzäh­lung. Das wird beson­ders bei Brief­ro­ma­nen mit meh­re­ren Schrei­bern deut­lich, wenn sie auf­ein­an­der reagie­ren. Die­se Ver­wick­lung tritt zwar nicht in allen Erzäh­lun­gen mit der ein­ge­scho­be­nen Nar­ra­ti­on auf (oft genug lässt sich das Tage­buch aus der Hand­lung weg­den­ken, ohne dass etwas ver­lo­ren geht), aber sie ist mög­lich und man kann sich beim Ana­ly­sie­ren sehr schnell in ihr verheddern.

Ich hät­te zwar nicht gedacht, dass ich hier mal einen Roman zu einem Video­spiel zitie­ren wür­de, aber ich fin­de, Assassin’s Creed: For­sa­ken, der Roman zum Spiel Assassin’s Creed III, ist ein pas­sen­des Beispiel:

Der Roman selbst ist das Tage­buch von Hay­tham Ken­way. Er ist der Vater und im Spiel ein Ant­ago­nist des Prot­a­nonis­ten Con­nor. Und wäh­rend der Roman über­wie­gend von Hay­tham selbst geschrie­ben ist, wur­den der Pro­log und der Epi­log von Con­nor ver­fasst. In sei­nem letz­ten Ein­trag, bevor er von Con­nor im Kampf getö­tet wird, schreibt Hay­tham in sein Tagebuch:

„I hope that Con­nor, my own son, will read this jour­nal, and per­haps, when he knows a litt­le about my own jour­ney through life, under­stand me, may­be even for­gi­ve me. My own path was paved with lies, my mis­trust for­ged from tre­a­chery. But my own father never lied to me and, with this jour­nal, I pre­ser­ve that custom.
I pre­sent the truth, Con­nor, that you may do with it as you will.“
Oli­ver Bow­den: Assassin’s Creed: For­sa­ken, Kapi­tel: 16 Sep­tem­ber 1781.

Hay­thams Hoff­nung hat sich erfüllt, denn schon im Pro­log schreibt Connor:

„I never knew him. Not real­ly. I thought I had, but it was­n’t until I read his jour­nal that I rea­li­zed I had­n’t real­ly known him at all. And it’s too late now. Too late to tell him I mis­jud­ged him. Too late to tell him I’m sorry.“
Oli­ver Bow­den: Assassin’s Creed: For­sa­ken, Kapi­tel: Prologue.

Man könn­te sagen, dass die ein­ge­scho­be­ne Nar­ra­ti­on etwas wie eine Mischung aus spä­te­rer und gleich­zei­ti­ger Nar­ra­ti­on ist. Der Erzäh­ler erzählt zwar von Ver­gan­ge­nem (meis­tens mit nur einer leich­ten Zeit­ver­schie­bung), doch die Gedan­ken und Gefüh­le sind aktu­ell. Hier ein Bei­spiel aus einem klas­si­schen Briefroman:

„Die Erin­ne­rung einer sol­chen Sze­ne, wobei ich gegen­wär­tig war, fiel mit gan­zer Gewalt bei die­sen Wor­ten über mich. Ich nahm das Schnupf­tuch vor die Augen und ver­ließ die Gesell­schaft, und nur Lot­tens Stim­me, die mir rief: wir wol­len fort, brach­te mich zu mir selbst. Und wie sie mich auf dem Wege schalt, über den zu war­men Anteil an allem, und dass ich drü­ber zugrun­de gehen wür­de! dass ich mich scho­nen soll­te! – O der Engel! Um dei­net­wil­len muss ich leben!“
Johann Wolf­gang Goe­the: Die Lei­den des jun­gen Wert­her, Kapi­tel: Am 1. Julius.

Wert­her zeigt hier drei Din­ge zugleich: Er beschreibt ver­gan­ge­nes Gesche­hen, ver­gan­ge­ne Gefüh­le und schließ­lich drückt er sei­ne aktu­el­len Gefüh­le aus.

Schlusswort

So viel heu­te zur Kate­go­rie der Zeit. Wir haben uns die vier Typen ange­schaut, die Genet­te in sei­ner Erzähl­theo­rie bespricht, und ich hof­fe, ich konn­te zei­gen, dass die Wahl der Zeit­form vor allem eine struk­tu­rel­le Ent­schei­dung ist:

Wie natür­lich soll sich der Erzähl­akt anfühlen?

Wie viel Distanz soll der Leser zum Gesche­hen fühlen?

Wel­che Schwer­punk­te will ich in mei­ner Erzäh­lung setzen?

All die­se Fra­gen sind eng mit der Wahl eines pas­sen­den Zeit­typs verknüpft.

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