Propaganda und Storytelling

Propaganda und Storytelling

Geschich­ten haben eine kraft­vol­le Wir­kung auf unser Den­ken und Füh­len. Und sind damit ein per­fek­tes Mit­tel für Pro­pa­gan­da. Schlim­mer noch, manch­mal pro­pa­giert ein Autor auch bestimm­te Ansich­ten, ohne es selbst zu mer­ken. Wer­fen wir also einen Blick auf das Zusam­men­spiel von Pro­pa­gan­da und Sto­rytel­ling und über­le­gen uns, wie wir als Autoren damit umge­hen können.

Die Foli­en für die­ses Video gibt es für Ste­ady-Abon­nen­ten und Kanal­mitglieder auf You­Tube als PDF zum Download.

Geschich­ten tra­gen zur For­mung von Mei­nun­gen bei. Und dabei ist es egal, ob sie fik­tio­nal sind oder auf rea­len Ereig­nis­sen beru­hen. Denn sie ver­mit­teln Ideen und Wer­te, sie prä­gen unse­re Welt­wahr­neh­mung und fäl­len Urtei­le. Und wenn das Ver­mit­tel­te destruk­tiv ist … Na ja, hier ein Zitat von Vic­tor Klemperer:

„Wor­te kön­nen wie win­zi­ge Arsen­do­sen sein: Sie wer­den unbe­merkt ver­schluckt; sie schei­nen kei­ne Wir­kung zu tun – und nach eini­ger Zeit ist die Gift­wir­kung doch da.“
– Vic­tor Klemperer

Man­che Geschich­ten wer­den bewusst für Pro­pa­gan­da­zwe­cke instru­men­ta­li­siert. Doch auch indi­rekt frisst sich Pro­pa­gan­da durch Geschich­ten in unse­re Köp­fe, näm­lich wenn der Erzäh­ler bzw. Autor eine bestimm­te Denk­wei­se ver­in­ner­licht hat und sie unbe­wusst wei­ter­gibt.

Des­we­gen befas­sen wir uns heu­te mit dem Zusam­men­spiel von Pro­pa­gan­da und dem Geschich­ten­er­zäh­len. Und neben­bei erklä­re ich auch, war­um ich die deut­sche Ver­gan­gen­heits­be­wäl­ti­gung für einen schlech­ten Witz halte.

Vorwort

Das The­ma geht mir in vie­ler­lei Hin­sicht sehr nahe und es ist wohl der per­sön­lichs­te Arti­kel, den ich bis­her geschrie­ben habe. Und gera­de weil er so per­sön­lich ist, war­ne ich jetzt schon mal vor:

Er hat einen sehr sub­jek­ti­ven Cha­rak­ter. Anders kann ich über das The­ma lei­der nicht reden.

Erwar­te daher bit­te kei­ne wis­sen­schaft­li­che Abhand­lung. Vie­les von dem, was ich erzäh­le, hat sei­nen Ursprungs­kern in mei­nem Leben, mei­nen Beob­ach­tun­gen und mei­nem Ver­such, die Din­ge zu deu­ten, manch­mal mit Hil­fe von For­schern und Autoren, die klü­ger sind als ich. Außer­dem sind die Dar­stel­lun­gen der in die­sem Arti­kel ange­schnit­te­nen Sach­ver­hal­te stark zusam­men­ge­kürzt und ver­ein­facht. Den­noch fin­dest Du unter am Ende des Arti­kels eine Lis­te mit Link­tipps, die vor allem als ers­te Anre­gun­gen gemeint sind, wenn Du bes­ser nach­voll­zie­hen möch­test, wo ich ideo­lo­gisch herkomme.

Ich bin mir auch des­sen bewusst, dass Tei­le die­ses Arti­kels (oder der kom­plet­te Arti­kel) nicht jedem Leser schme­cken wer­den. Wenn Du mir nicht zustimmst, darfst Du mir ger­ne in den Kom­men­ta­ren wider­spre­chen, solan­ge Du es höf­lich und kon­struk­tiv tust.

Belei­di­gun­gen ein­zel­ner Per­so­nen oder Grup­pen wer­den gelöscht.

Erwar­te im Übri­gen auch bei einem höf­li­chen Kom­men­tar bit­te nicht, dass ich dis­ku­tie­re. Ers­tens ist das aus Zeit­grün­den schwie­rig und zwei­tens wur­de noch nie jemand durch eine Inter­net-Dis­kus­si­on über­zeugt. Ich lese mir Dei­nen Kom­men­tar ein­fach durch, den­ke nach und ent­schei­de dann für mich selbst, ob ich zustim­me oder nicht.

Ansons­ten bedan­ke ich mich bei der Krea­tiv­Crew für die Anre­gun­gen und das ein oder ande­re gute Stich­wort. Und war­ne außer­dem vor: Es wird um eini­ge hef­ti­ge The­men wie Geno­zid und Kriegs­ver­bre­chen gehen und ich wer­de mei­ne Aus­füh­run­gen im Video zu die­sem Arti­kel an eini­gen Stel­len auch mit ver­stö­ren­den Bil­dern unter­ma­len. Von daher:

Lesen (und anschau­en) auf eige­ne Gefahr!

Wenn Du Dir also sicher bist, dass Du den Arti­kel hand­ha­ben kannst, dann kom­men wir end­lich zum Thema:

Definitionen

Klä­ren wir zunächst ein paar Begrif­fe, damit wir sie spä­ter beden­ken­los ver­wen­den können.

Propaganda

Unter „Pro­pa­gan­da“ ver­steht man laut dem Duden eine

„sys­te­ma­ti­sche Ver­brei­tung poli­ti­scher, welt­an­schau­li­cher o. ä. Ideen und Mei­nun­gen mit dem Ziel, das all­ge­mei­ne Bewusst­sein in bestimm­ter Wei­se zu beeinflussen“.

Im all­ge­mei­nen Sprach­ge­brauch gibt es aber noch eine wei­te­re, „inof­fi­zi­el­le“ Bedeutung:

Pro­pa­gan­da ist alles, was nicht mit der eige­nen Mei­nung bzw. Wahr­neh­mung über­ein­stimmt. Und jeder, der anders denkt als man selbst, ist dumm, hirn­ver­wa­schen etc.

Mei­nen Beob­ach­tun­gen nach wird der Pro­pa­gan­da­be­griff heut­zu­ta­ge meis­tens in der zwei­ten, sub­jek­ti­ven Bedeu­tung gebraucht. Vor allem online. Beson­ders ger­ne, wenn die Poli­tik und die soge­nann­ten „Main­stream-Medi­en“ bzw. auf der ande­ren Sei­te soge­nann­te „Ver­schwö­rungs­theo­re­ti­ker“ und „Wut­bür­ger“ kri­ti­siert wer­den sollen.

Die Schwie­rig­keit ist, dass jeder von uns eine bestimm­te Mei­nung hat. Und wenn einem ein The­ma sehr am Her­zen liegt, dann ver­sucht man, ande­re Men­schen zu beein­flus­sen. Und betreibt somit Propaganda.

Wenn man nun aber ande­ren Pro­pa­gan­da vor­wirft, schwingt in der Regel die Annah­me mit, dass es eine ein­zi­ge Wahr­heit gäbe und das Gegen­über lügen wür­de. Das Gegen­über wie­der­um ver­steht den Pro­pa­gan­da-Vor­wurf nicht, weil es ja von der Wahr­heit der eige­nen Ansich­ten über­zeugt ist. Und so ent­steht ein end­lo­ses Gek­ab­bel, in dem sich bei­de Sei­ten gegen­sei­tig Pro­pa­gan­da vor­wer­fen, ein­an­der nicht zuhö­ren und ein kon­struk­ti­ver Dia­log somit unmög­lich wird.

Die Fol­ge ist, dass die Par­tei­en immer stär­ker aus­ein­an­der­drif­ten und es für bei­de nur noch Schwarz und Weiß gibt. Und die Men­schen zwi­schen den Fron­ten wer­den frü­her oder spä­ter zu einer Ent­schei­dung gedrängt, weil es kei­nen Mit­tel­weg zu geben scheint. Vie­le ent­schei­den sich dann auch. Wer bei­spiels­wei­se auf Miss­stän­de in der Bericht­erstat­tung der Leit­me­di­en auf­merk­sam wird, beginnt ihnen zu miss­trau­en und wird anfäl­lig für Ver­schwö­rungs­theo­rien. Die­ses Prin­zip hat Rezo vor Kur­zem ja in sei­ner Zer­stö­rung der Pres­se vor­bild­lich erläutert.

Dass Pro­pa­gan­da in der Regel ein sehr nega­ti­ves Schlag­wort und ein hef­ti­ger Vor­wurf ist, liegt dar­an, dass vor allem tota­li­tä­re Regime ihre Ideo­lo­gien ger­ne durch staat­lich gelenk­te Pro­pa­gan­da ver­mit­teln, um die Men­schen­mas­sen für eige­ne Zwe­cke aus­zu­nut­zen und sie damit ins Ver­der­ben zu stürzen.

Ich möch­te aller­dings beto­nen, dass das Beein­flus­sen der Mei­nung ande­rer Men­schen an sich erst mal neu­tral ist. Denn wir alle tun das. Die gan­ze Wer­be­indus­trie ist im Prin­zip Pro­pa­gan­da. Und nur in den sel­tens­ten Fäl­len hat das Aus­wir­kun­gen wie im Drit­ten Reich oder in Nordkorea.

Weitere Begriffe

Der Bestä­ti­gungs­feh­ler, auf Eng­lisch con­fir­ma­ti­on bias genannt, ist die Ten­denz, Infor­ma­tio­nen so aus­zu­wäh­len und zu inter­pre­tie­ren, dass sie die eige­nen Ansich­ten und/​oder Erwar­tun­gen bestä­ti­gen. Das geht zum Bei­spiel damit ein­her, dass man „pas­sen­de“ Infor­ma­tio­nen höher bewer­tet und bes­ser in Erin­ne­rung behält als „unpas­sen­de“. Es kann sogar pas­sie­ren, dass man Infor­ma­tio­nen, die den eige­nen Erwar­tun­gen wider­spre­chen, gar nicht erst wahr­nimmt oder sogar gezielt vermeidet.

Ver­wandt damit ist die soge­nann­te Fil­ter- oder Infor­ma­ti­ons­bla­se. Dar­un­ter ver­steht man Algo­rith­men im Inter­net, die die Inter­es­sen eines Nut­zers ana­ly­sie­ren und ihm über­wie­gend Infor­ma­tio­nen anbie­ten, die ihm gefal­len müss­ten. Soll hei­ßen: Wenn Du bei­spiels­wei­se durch den Besuch einer Web­site oder das Anschau­en eines Vide­os Inter­es­se an einer Ver­schwö­rungs­theo­rie gezeigt hast, wer­den die Algo­rith­men Dir ver­stärkt ähn­li­ches Mate­ri­al vor­set­zen. Bei man­chen Men­schen führt das dazu, dass sie von der Ver­schwö­rungs­theo­rie immer mehr über­zeugt werden.

In eine ähn­li­che Rich­tung geht auch der von Timo­thy Lea­ry gepräg­te Begriff des Rea­li­täts­tun­nels (rea­li­ty tun­nel): Laut die­ser Theo­rie hat jeder von uns unter­be­wuss­te Fil­ter von Über­zeu­gun­gen und Erfah­run­gen im Kopf, die unse­re Wahr­neh­mung sub­jek­tiv ein­fär­ben. Das heißt aber nicht, dass es kei­ne objek­ti­ve Wahr­heit gäbe. Viel­mehr sind wir durch unse­re Sin­ne, Erfah­run­gen, Erzie­hung, Glau­bens­sät­ze und ande­re Fak­to­ren ein­fach nicht in der Lage, sie wahr­zu­neh­men. Somit lebt jeder von uns in sei­nem eige­nen Rea­li­täts­tun­nel. (Und das gilt im Übri­gen auch für Grup­pen. Wenn man zum Bei­spiel von der Ber­li­ner Bla­se spricht, dann meint man, dass die Poli­ti­ker und die Eli­ten gene­rell in ihrer eige­nen Welt, in ihrem eige­nen Rea­li­täts­tun­nel, leben und die Rea­li­tät der Bevöl­ke­rung des­we­gen gar nicht wahrnehmen.)

Schließ­lich wol­len wir auch noch den Dun­ning-Kru­ger-Effekt erwäh­nen, näm­lich die Beob­ach­tung, dass unwis­sen­de oder zumin­dest schlecht infor­mier­te Men­schen oft sehr über­zeugt von ihren Annah­men sind und dem­entspre­chend sehr selbst­si­cher auf­tre­ten. Ein Gefühl von 100-pro­zen­ti­ger Sicher­heit ist näm­lich nur bei sehr ober­fläch­li­chen Kennt­nis­sen mög­lich. Denn kennt man sich etwas bes­ser aus, dann weiß man, dass man vie­les nicht weiß, und sich dem­entspre­chend auch leicht irren kann. Selbst Exper­ten sind sich idea­ler­wei­se nie kom­plett sicher. Wobei auch sie dem Dun­ning-Kru­ger-Effekt zum Opfer fal­len kön­nen, denn sie sind oft Fach­idio­ten und durch ihre lang­jäh­ri­ge Erfah­rung mit ihrem The­ma manch­mal auch viel zu sehr von sich selbst über­zeugt. Vor­sicht also, wenn ein „Exper­te“ nicht über sein unmit­tel­ba­res Fach­ge­biet spricht, und hin­ter­fra­ge sei­ne Ansich­ten ruhig, wenn er die Argu­men­te sei­nes Gegen­über zum Bei­spiel nur des­we­gen abtut, weil der­je­ni­ge etwas jün­ger und/​oder weni­ger erfah­ren ist.

Propaganda: Notwendigkeit und Übel

Jetzt, wo wir die Begrif­fe geklärt haben, geht’s end­lich ans Ein­ge­mach­te. Und zwar mit einer pro­vo­kan­ten Behauptung:

Pro­pa­gan­da ist an sich nicht nur nicht schlecht, son­dern sogar notwendig.

War­um?

Mit größ­ter Wahr­schein­lich­keit bist Du zufrie­den, wenn nicht sogar froh, in einer Demo­kra­tie zu leben. Und Du gehst zu den Wah­len, weil Du das für eine wich­ti­ge Säu­le einer funk­tio­nie­ren­den Demo­kra­tie hältst. Doch aus­ge­hend von Alter und Her­kunft des durch­schnitt­li­chen Besu­chers die­ser Web­site muss ich anneh­men, dass Dei­ne Mei­nung zum The­ma Demo­kra­tie wahr­schein­lich gar nicht Dei­ne Mei­nung ist. Denn Du hast – aus­ge­hend von mei­ner Sta­tis­tik – wahr­schein­lich noch nie oder nicht aus­rei­chend lan­ge in einer Dik­ta­tur gelebt, um ver­glei­chen zu kön­nen. Viel eher wur­de Dir Dei­ne Mei­nung über die Demo­kra­tie wäh­rend Dei­ner Kind­heit sys­te­ma­tisch ver­ab­reicht: Sei es in der Schu­le, in den Medi­en oder durch die Kom­mu­ni­ka­ti­on mit ande­ren Men­schen. Du wur­dest von Dei­nem Umfeld ziel­ge­rich­tet geformt, um ein funk­tio­nie­ren­der Bür­ger der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land, der Repu­blik Öster­reich oder der Schwei­ze­ri­schen Eid­ge­nos­sen­schaft zu sein. Denn wenn Du und Mil­lio­nen ande­rer Men­schen in Dei­nem Land nicht ent­spre­chend indok­tri­niert wor­den wären, wür­den sie viel­leicht nicht an die Demo­kra­tie glau­ben und nicht zu den Wah­len gehen und die Demo­kra­tie wür­de nicht funk­tio­nie­ren. Durch die Ver­mitt­lung bestimm­ter Wer­te erhält sich die Demo­kra­tie also selbst auf­recht. – Und das im Prin­zip auf ganz ähn­li­che Wei­se wie jedes ande­re Sys­tem auch: In einer Dik­ta­tur wird man erzo­gen, die Ideo­lo­gie und den Dik­ta­tor anzu­him­meln, in einer Mon­ar­chie lernt man den König oder Kai­ser zu ver­eh­ren etc.

Also kurz zusammengefasst:

Jedes Sys­tem „lebt“ von bestimm­ten Wer­ten und muss sie daher auch pro­pa­gie­ren, um sich selbst zu erhalten.

Propaganda für eine bessere Welt?

Und natür­lich sind Sys­te­me und ihre Wer­te auch stän­dig im Wan­del und die neu­en Wer­te müs­sen eben auch pro­pa­giert wer­den. Wenn wir eine gerech­te­re Gesell­schaft erschaf­fen wol­len, dann müs­sen wir als Gesell­schaft eine ein­heit­li­che Ein­stel­lung zu Din­gen wie bei­spiels­wei­se Ras­sis­mus, Sexis­mus und Mob­bing her­aus­ar­bei­ten. Dabei ist es auch wich­tig zu defi­nie­ren, was unter die­sen Begrif­fen zu ver­ste­hen ist und wor­an man die­se Phä­no­me­ne erkennt: Nicht nur zur „Erzie­hung“ der Täter und der stil­len Zuschau­er, son­dern auch für die Betrof­fe­nen selbst, damit sie erken­nen, was da gera­de mit ihnen pas­siert und dass sie sich weh­ren dür­fen. Und gera­de Letz­te­res fin­de ich per­sön­lich am wich­tigs­ten, weil man oft eben tat­säch­lich zu spät merkt, was einem über­haupt zuge­sto­ßen ist:

Ich als Russ­land­deut­sche zum Bei­spiel habe erst vor ein paar Jah­ren begrif­fen, dass vie­le Erfah­run­gen, die Russ­land­deut­sche und ande­re Men­schen aus den ehe­ma­li­gen Ost­block-Staa­ten in Deutsch­land machen, tat­säch­lich unter die wei­te­re Defi­ni­ti­on von Ras­sis­mus fal­len. D. h. nicht unter das ver­al­te­te Kon­zept von Men­schen­ras­sen (denn die Russ­land­deut­schen sind ja gene­ti­sche Deut­sche und die ande­ren Migran­ten aus dem Ost­block sind häu­fig auch „Wei­ße“), son­dern unter den Ansatz eines Ras­sis­mus ohne Ras­sen, der sich eher auf die ver­meint­li­che Min­der­wer­tig­keit einer Eth­nie oder Kul­tur bezieht.

Was ich also sagen will, ist:

Die Gren­ze zwi­schen Pro­pa­gan­da und Auf­klä­rungs­ar­beit scheint sehr flie­ßend zu sein.

Wenn Men­schen mit kon­ser­va­ti­ver Ein­stel­lung also von „links-grü­ner Pro­pa­gan­da“ schrei­en, ist das an sich eigent­lich gar nicht falsch, wenn damit Auf­klä­rung und die Ver­mitt­lung von Wer­ten und Ideen mit lin­ker und/​oder „grü­ner“ Fär­bung gemeint sind.

Propaganda in der Demokratie

Ich hof­fe, es ist rüber­ge­kom­men, dass Pro­pa­gan­da und Demo­kra­tie sich nicht gegen­sei­tig aus­schlie­ßen. Tat­säch­lich könn­te man sogar sagen, dass Pro­pa­gan­da in den „west­li­chen“ Demo­kra­tien nahe­zu gedeiht. Man nennt sie nur nicht „Pro­pa­gan­da“, son­dern „Public Rela­ti­ons“. Und das mei­ne ich nicht rhe­to­risch, son­dern buch­stäb­lich: Ein Nef­fe von Sig­mund Freud namens Edward Ber­nays nutz­te die For­schung sei­nes Onkels, um – zusam­men mit ande­ren – die moder­ne Pro­pa­gan­da-Theo­rie zu begrün­den. Und der euphe­mis­ti­sche Begriff „Public Rela­ti­ons“ wur­de ganz bewusst gewählt, weil der Begriff „Pro­pa­gan­da“ nach dem Zwei­ten Welt­krieg sehr nega­tiv belas­tet war. Das deut­sche Wort dafür wäre „Öffent­lich­keits­ar­beit“, aber ich wür­de es nicht als exak­te Über­set­zung betrachten.

Und wie Du bestimmt mit­be­kom­men hast, ist Public Rela­ti­ons mehr oder weni­ger omni­prä­sent. Die Wirt­schaft nutzt Public Rela­ti­ons für Wer­be­kam­pa­gnen und die Poli­tik nutzt Public Rela­ti­ons, um die Mas­sen zu mani­pu­lie­ren, Wah­len zu beein­flus­sen und die Men­schen durch das Pro­pa­gie­ren einer Kon­sum-Kul­tur von poli­ti­schem Enga­ge­ment abzu­hal­ten, sowie für die soge­nann­te psy­cho­lo­gi­sche Kriegs­füh­rung. – Und nein, das ist kei­ne Ver­schwö­rungs­theo­rie. Ich emp­feh­le an die­ser Stel­le die Doku­men­ta­ti­on The Cen­tu­ry of the Self.

Natür­lich ist aber nicht alles, was Du siehst und hörst, bewuss­te Pro­pa­gan­da, und ich zumin­dest kann es durch­aus ver­ste­hen, wenn Jour­na­lis­ten durch Pro­pa­gan­da-Vor­wür­fe und Wör­ter wie „Lügen­pres­se“ irri­tiert sind. Dass unse­re heu­ti­ge Bericht­erstat­tung, d. h. die Geschich­ten, die uns tag­täg­lich über unse­re rea­le Welt ver­ab­reicht wer­den, ger­ne mal lücken­haft, feh­ler­be­haf­tet und poli­tisch ten­den­zi­ös ist, hal­te ich dabei aber für eine Tat­sa­che: In die Link­lis­te packe ich Dir ein paar leicht ver­dau­li­che und teils unter­halt­sa­me Anre­gun­gen für eine ver­tie­fen­de Recherche.

Doch obwohl ich die Defi­zi­te in unse­rer Medi­en­land­schaft sehe und auch für bedenk­lich hal­te, fin­de ich es nicht ange­bracht, den Jour­na­lis­ten pau­schal eine böse Absicht zu unter­stel­len, gegen sie zu het­zen und ein Feind­bild zu kreieren.

  • Denn ers­tens macht die schnel­le, gehetz­te Natur unse­rer heu­ti­gen Medi­en­land­schaft eine sorg­fäl­ti­ge Recher­che und Prä­sen­ta­ti­on von Fak­ten äußerst schwer: Neue Nach­rich­ten müs­sen gera­de im Zeit­al­ter von Inter­net und Social Media blitz­schnell raus­ge­hau­en wer­den, sodass für Sorg­falt weni­ger Zeit bleibt als noch vor eini­gen Jah­ren. Zumin­dest mei­nes Wissens.
  • Zwei­tens sind Jour­na­lis­ten Men­schen wie Du und ich mit ihrer eige­nen Fil­ter­bla­se, ihrem eige­nen Rea­li­täts­tun­nel, einer Anfäl­lig­keit für Bestä­ti­gungs­feh­ler und den Dun­ning-Kru­ger-Effekt sowie einer bestimm­ten poli­ti­schen, sozia­len und kul­tu­rel­len Prä­gung, die durch Public-Reala­ti­ons-Aktio­nen beein­flusst ist und unter ande­rem auch durch Geschich­ten ver­mit­telt wird.

Natür­lich erfolgt ten­den­ziö­se Bericht­erstat­tung manch­mal bewusst (im Vor­wort von Crea­ting Rus­so­pho­bia beschreibt Guy Met­tan eini­ge Vor­fäl­le aus sei­ner Ver­gan­gen­heit), oft aber eben auch unbe­wusst und unab­sicht­lich. Schlei­chend. Nach Met­tan ist das im Fall der nega­ti­ven Wahr­neh­mung von Russ­land hier im „Wes­ten“ sogar das Ergeb­nis einer jahr­hun­der­te­lan­gen Tra­die­rung von nega­tiv besetz­ten Ste­reo­ty­pen, Kli­schees und Vor­ur­tei­len. Und unab­hän­gig davon, ob man sei­nen The­sen zur Rus­so­pho­bie im „Wes­ten“ zustimmt oder nicht, muss man doch zuge­ben, dass das Grund­prin­zip dahin­ter durch­aus ein­leuch­tend ist:

Men­schen mit einer bestimm­ten Grund­ein­stel­lung geben die­se Ein­stel­lung durch Geschich­ten an ande­re wei­ter. Und oft mer­ken sie es nicht einmal.

Pro­pa­gan­da repro­du­ziert sich also gewis­ser­ma­ßen von allei­ne. Wie eine Seu­che: Ein Infi­zier­ter steckt ande­re an.

Und wir Autoren, Geschich­ten­er­fin­der und ‑erzäh­ler, sind da mit­ten­drin. Denn auch wir sind sozu­sa­gen „Opfer“ von Pro­pa­gan­da und ver­brei­ten unse­re Ansich­ten in unse­ren Wer­ken weiter.

Und weil wir in der Regel mit sehr künst­le­ri­schen, emo­tio­na­len Geschich­ten han­tie­ren, haben unse­re Wor­te eine beson­ders star­ke Wirkung …

Manipulative Geschichten

Geschich­ten sind in ers­ter Linie emo­tio­nal und wenn sie gut sind, erle­ben die Rezi­pi­en­ten eine Kathar­sis. Sie iden­ti­fi­zie­ren sich mit den oft durch­weg posi­ti­ven fik­ti­ven oder qua­si-rea­len Figu­ren, füh­len sich durch sie moti­viert und nei­gen teil­wei­se auch dazu, nar­ra­ti­ve Struk­tu­ren wie die Hel­den­rei­se auf ihr eige­nes Leben zu über­tra­gen. Es ent­steht eine sehr per­sön­li­che Bezie­hung zur Geschich­te und selbst bei rein fik­tio­na­len Wer­ken glaubt man, irgend­ei­ne Art von Wahr­heit für sich mitzunehmen.

Und des­we­gen sind Geschich­ten bes­tens geeig­net, um bestimm­te Wer­te und Ideo­lo­gien in die Köp­fe der Rezi­pi­en­ten einzupflanzen.

Denn auch wenn die Rezi­pi­en­ten theo­re­tisch wis­sen, dass ein fik­tio­na­les Werk fik­tio­nal und ein auf rea­len Ereig­nis­sen basie­ren­des Werk immer noch eine star­ke fik­tio­na­le Kom­po­nen­te hat, prä­gen sich die ein­zel­nen Bil­der, Figu­ren und Sze­nen in der Pra­xis ein und über­schat­ten even­tu­ell sogar das theo­re­ti­sche Wissen.

Wahrnehmung und Erzählung

In einem frü­he­ren Arti­kel habe ich bereits erläu­tert, war­um schon fak­tua­le Erzäh­lun­gen eine fik­tio­na­le Kom­po­nen­te haben. Ganz kurz zusam­men­ge­fasst: Der Autor einer fak­tua­len Erzäh­lung hat eine bestimm­te Welt­sicht und die­se wie­der­um beein­flusst, wel­che Fak­ten er für sei­ne Dar­stel­lung rea­ler Ereig­nis­se aus­wählt und wie er sie mit­ein­an­der ver­knüpft. Oder wie in einem ande­ren Arti­kel erläutert:

Das Erzäh­len ist auto­ma­tisch eine Ver­fäl­schung der objek­ti­ven Ereignisse.

Für die­sen Arti­kel bedeu­tet das:

Ein His­to­ri­ker kann sich noch so sehr um die Wahr­heit bemü­hen, ein Jour­na­list kann noch so ehr­lich und unvor­ein­ge­nom­men recher­chie­ren und ein Autor von fik­tio­na­len Wer­ken kann sich noch so sehr um kom­ple­xes World-Buil­ding bemü­hen: Das Ergeb­nis wird immer eine bestimm­te Welt­sicht pro­pa­gie­ren. Es liegt ein­fach in der Natur des Erzählens.

Es liegt aber auch in der Natur der Wahr­neh­mung. In einem äußerst span­nen­den TED-Talk erklärt Bob­by Duffy, wie wir unse­re eige­nen „Fake News“ erschaffen:

  • So erwe­cken emo­tio­nal auf­wüh­len­de Geschich­ten Auf­merk­sam­keit und prä­gen sich ein. Im Kopf der Bür­ger sind sie daher prä­sen­ter als objek­ti­ve, sta­tis­tisch nach­weis­ba­re Tat­sa­chen. Daher kön­nen Men­schen fel­sen­fest davon über­zeugt sein, dass Gewalt oder Schwan­ger­schaf­ten bei Teen­agern zuneh­men wür­den, obwohl sie in Wirk­lich­keit abnehmen.
  • Auch soll­te man beden­ken, dass gera­de Nega­ti­ves sich stär­ker in unse­ren Hir­nen ein­nis­tet und wir unse­re Gegen­wart daher als bedroh­li­cher wahr­neh­men, als sie ist, wäh­rend Erin­ne­run­gen die Ver­gan­gen­heit ins Posi­ti­ve ver­zer­ren und wir ver­gan­ge­ne Ereig­nis­se dem­entspre­chend posi­ti­ver in Erin­ne­rung haben als sie tat­säch­lich waren.

Soll also heißen:

Traue weder Dei­ner eige­nen Wahr­neh­mung noch der Wahr­neh­mung ande­rer Leu­te. Denn jede Wahr­neh­mung ist ver­fälscht. (Und die Erzäh­lung des Wahr­ge­nom­me­nen erst recht.)

Topoi und Erzählmuster

Eine wei­te­re span­nen­de Beob­ach­tung zu dem The­ma machen die Autoren von „Opa war kein Nazi“: Hier wer­den inter­ge­ne­ra­tio­nel­le Fami­li­en­ge­sprä­che über die NS-Zeit in deut­schen Fami­li­en wis­sen­schaft­lich unter­sucht. Und beob­ach­tet wer­den unter ande­rem fol­gen­de für das heu­ti­ge The­ma rele­van­te Dinge:

  • Fil­me spie­len eine gro­ße Rol­le bei der Rezep­ti­on, aber auch bei der Pro­duk­ti­on von Zeit­zeu­gen-Erzäh­lun­gen. Soll hei­ßen: Erzäh­lun­gen von Zeit­zeu­gen sind oft so schwam­mig und wider­sprüch­lich, dass man nicht ein­mal weiß, wo oder wann das Erzähl­te statt­ge­fun­den hat und wer was getan hat. Die so ent­stan­de­nen Lücken fül­len die Zuhö­rer oft durch Bil­der aus, die sie aus Doku­men­ta­tio­nen und vor allem aus Spiel­fil­men ken­nen, die oft ja das Gefühl ver­mit­teln, die Gescheh­nis­se selbst erlebt zu haben. Sogar die Zeit­zeu­gen ver­wei­sen teil­wei­se auf die­se Bil­der. Mehr noch, oft wer­den die­se Bil­der auch für ganz ande­re Kon­tex­te ver­wen­det: So wer­den Bil­der vom Holo­caust von den „ari­schen“ Voll­blut­deut­schen bei­spiels­wei­se für die eige­nen tra­gi­schen Erfah­run­gen am Ende des Krie­ges beschworen.
  • Oft fin­det auch eine Vik­ti­mi­sie­rung und/​oder Heroi­sie­rung der eige­nen Ange­hö­ri­gen statt, spe­zi­ell bei der Kin­der- und Enkel­ge­nera­ti­on: Die „Nazis“ waren immer die ande­ren und die Ange­hö­ri­gen der eige­nen Fami­lie waren ein­fach nur Opfer der Umstän­de, die nur aus finan­zi­el­len oder Kar­rie­re-Grün­den in die NSDAP ein­tra­ten, ein Gesta­po-Mann hat „in Wirk­lich­keit“ Juden bei der Flucht aus Deutsch­land gehol­fen und die Oma, die eben noch erzählt hat, wel­che Lügen sie sich hat ein­fal­len las­sen, um bei Kriegs­en­de kei­ne befrei­ten Häft­lin­ge des nahe­ge­le­ge­nen KZs Ber­gen-Bel­sen bei sich ein­quar­tie­ren zu müs­sen, weil sie ja so „wider­lich“ waren, mutiert im Kopf ihrer Enke­lin über Umwe­ge zu einer Hel­din, die wäh­rend der Nazi-Herr­schaft Juden ver­steckt hat. Es ist ein ganz bana­ler Bestä­ti­gungs­feh­ler: Die eige­nen Ange­hö­ri­gen kön­nen kei­ne schlech­ten Men­schen sein, des­we­gen wird jeder noch so klei­ne posi­ti­ve Aspekt maxi­mal her­vor­ge­ho­ben und selbst die empö­rends­ten Erzäh­lun­gen, in denen unmiss­ver­ständ­lich von Kriegs­ver­bre­chen die Rede ist, wer­den ein­fach überhört.
  • Geschich­ten sind in der Regel an bestimm­te Erwar­tun­gen gekop­pelt. Gemeint sind Moti­ve und Mus­ter, die von allen Gesprächs­teil­neh­mern als selbst­ver­ständ­lich akzep­tiert wer­den. Das fängt damit an, dass man auto­ma­tisch annimmt, dass der Held der Geschich­te, näm­lich der Zeit­ge­nos­se, der sich erin­nert, ein in jeder Hin­sicht guter Mensch ist. Und das reicht dann bis hin zu ras­sis­ti­schen Ste­reo­ty­pen, die weder den Zeit­ge­nos­sen noch ihren Zuhö­rern bewusst sind. So beob­ach­te­ten die For­scher unter ande­rem ste­reo­ty­pe Bil­der wie den „bösen Rus­sen“, den „guten Ame­ri­ka­ner“ oder den „rei­chen Juden“. Wenn ein Rus­se in einer Erzäh­lung bei­spiels­wei­se als Ant­ago­nist auf­tritt, wird das vom Publi­kum nickend akzep­tiert und nie­mand denkt dar­an, dass auch Ame­ri­ka­ner Kriegs­ver­bre­chen began­gen haben, die Bri­ten durch ihre Luft­an­grif­fe mas­sen­haft Zivi­lis­ten auf dem Gewis­sen haben und die Rus­sen ers­tens kei­ne homo­ge­ne Grup­pe sind, weil die Bevöl­ke­rung der Sowjet­uni­on sich aus über 100 Eth­ni­en zusam­men­setz­te, und zwei­tens nach dem ras­sis­ti­schen Ver­nich­tungs­krieg gegen sie durch­aus Grund zur Rache hat­ten. Wenn ein Rus­se aber doch eine posi­ti­ve Rol­le in einer Erzäh­lung ein­nimmt, so ist das plötz­lich erklä­rungs­be­dürf­tig, weil der eine „gute“ Rus­se in den Köp­fen der Gesprächs­teil­neh­mer anschei­nend eine Abwei­chung von der Regel dar­stellt. Soll hei­ßen: Es wird mit schwarz-wei­ßen Kli­schees ope­riert, obwohl in der Rea­li­tät jeder Dreck am Ste­cken hat­te. Es wer­den ver­ein­fa­chen­de Prin­zi­pi­en, die man unter ande­rem wohl auch aus fik­tio­na­len Geschich­ten kennt, über die Rea­li­tät gestülpt. – Und ach ja, die „rei­chen Juden“ sind in den Fami­li­en­er­zäh­lun­gen immer nach Ame­ri­ka aus­ge­wan­dert. Von Kon­zen­tra­ti­ons­la­gern hat ja nie­mand etwas gewusst …

Und? Schon das kal­te Kot­zen gekriegt? – Dann wird es Zeit für einen Exkurs …

Exkurs: Vergangenheitsbewältigung und das Suhlen in der Opferrolle

Wie bereits erwähnt, hal­te ich die deut­sche Ver­gan­gen­heits­be­wäl­ti­gung für einen schlech­ten Witz. Das liegt vor allem dar­an, dass sie lücken­haft fak­ten­ori­en­tiert ist, dabei aber kei­ne nen­nens­wer­ten Kon­se­quen­zen gezo­gen wer­den:

  • Die sechs Mil­lio­nen ermor­de­ten Juden sind zwar ein bekann­ter Fakt, aber man spricht eher sel­ten dar­über, inwie­fern der „ari­sche“ Durch­schnitts­deut­sche vom Holo­caust pro­fi­tiert hat. Ich mei­ne: Wenn Du zufäl­lig auto­chthon (d. h. ein­ge­bo­ren) deutsch bist, weißt Du, ob Dei­ne Vor­fah­ren bei­spiels­wei­se neue Eigen­tü­mer von kon­fis­zier­tem jüdi­schem Besitz gewor­den sind? Weißt Du, ob und wie sie im Drit­ten Reich Kar­rie­re gemacht haben, weil sie das Glück hat­ten, als „arisch“ ein­ge­stuft wor­den zu sein? Weißt Du, inwie­fern ihr Sta­tus als „Ari­er“ dazu bei­getra­gen hat, dass sie nicht ver­folgt wur­den und sich fort­pflan­zen und Dir die Exis­tenz ermög­li­chen konnten?
  • Weil ich noch in der Sowjet­uni­on gebo­ren wur­de, stößt mir per­sön­lich immer wie­der auf, wie unwis­send die Deut­schen über das Aus­maß ihrer ras­sis­ti­schen Ver­bre­chen sind, beson­ders in Bezug auf den Ver­nich­tungs­krieg im Osten. Es stimmt zwar, dass Ver­bre­chen auf allen Sei­ten began­gen wur­den, aber den­noch muss man beto­nen, dass die deut­schen Ver­bre­chen durch ihren ras­sis­ti­schen Cha­rak­ter beson­ders her­vor­ste­chen. Im Sin­ne von: Die Ver­bre­chen wur­den nicht nur von durch­ge­dreh­ten Indi­vi­du­en ver­übt, son­dern von vorn­her­ein von ganz oben ange­ord­net. Ich spre­che da zum Bei­spiel vom Kom­mis­sar­be­fehl, einer Anord­nung, Polit­kom­mis­sa­re der Roten Armee sofort zu erschie­ßen und sie dem­entspre­chend nicht als Kriegs­ge­fan­ge­ne zu behan­deln. Ich spre­che da von sowje­ti­schen Kriegs­ge­fan­ge­nen, die als Unter­men­schen in Kon­zen­tra­ti­ons­la­gern gehal­ten wur­den. Ich spre­che von der Lenin­gra­der Blo­cka­de, als die Wehr­macht Lenin­grad, das heu­ti­ge St. Peters­burg, aus­hun­ger­te und bom­bar­dier­te, um die Zivil­be­völ­ke­rung spä­ter, wenn man das Gebiet besetz­te, nicht ver­sor­gen zu müs­sen. Ich spre­che da von der Schaf­fung von „Lebens­raum“ in den besetz­ten Gebie­ten, wo man die Zivil­be­völ­ke­rung ermor­de­te. Und ich spre­che nicht zuletzt auch von Weiß­russ­land, das im Zuge des Krie­ges ein Vier­tel sei­ner Bevöl­ke­rung ver­lo­ren hat. Und wäh­rend Holo­caust­leug­nung Gott sei Dank in Deutsch­land heu­te unter Stra­fe gestellt wird, hört man in Bezug auf den Ver­nich­tungs­krieg im Osten immer wie­der Stim­men, die die Schuld der Sowjet­uni­on selbst in die Schu­he schie­ben. Die­se war zwar alles ande­re als ein Unschulds­lamm, doch die über­wäl­ti­gen­de Mehr­heit der schwe­ren Ver­lus­te geht auf die Deut­schen und ihre Hel­fer zurück. Auch gibt es bis an den heu­ti­gen Tag den Mythos, die Wehr­macht habe im Osten „ehren­haft“ gekämpft, und die bei­den Aus­stel­lun­gen, die in den 90er und frü­hen 2000er Jah­ren über die Ver­bre­chen der Wehr­macht auf­klä­ren soll­ten, ern­te­ten in eini­gen Krei­sen, u. a. sei­tens der CSU, einen Backlash.

Wenn es um die deut­sche Ver­gan­gen­heits­be­wäl­ti­gung geht, hat­te ich schon als Kind ein flau­es Gefühl im Magen. Ich hab’s den auto­chtho­nen Deut­schen ein­fach nicht abge­kauft. Lan­ge Zeit konn­te ich aber nicht genau sagen, war­um. Wahr­schein­lich lag es aber dar­an, dass bei all dem zwar lücken­haft, aber den­noch pene­trant ver­mit­tel­ten Fak­ten­wis­sen kein per­sön­li­cher, emo­tio­na­ler Bezug her­ge­stellt wur­de. Wenn man über „Nazis“ spricht, fühlt sich nie­mand ange­spro­chen, und die jün­ge­ren Gene­ra­tio­nen fra­gen sich: „Was hat das mit mir zu tun?“

  • Nun, es hat, sofern Du auto­chthon deutsch bist, ziem­lich viel mit Dir zu tun, weil Dei­ne als „arisch“ ein­ge­stuf­ten Vor­fah­ren zumin­dest inso­fern pri­vi­le­giert waren, als dass sie nicht ver­folgt oder gar ermor­det wur­den: Du existierst.
  • Es hat auch inso­fern mit Dir zu tun, als dass Du sta­tis­tisch betrach­tet und vor dem Hin­ter­grund der Beob­ach­tun­gen in „Opa war kein Nazi“ wahr­schein­lich ein viel zu gutes Bild von Dei­nen Groß­el­tern bzw. Urgroß­el­tern hast. Durch die ora­le Tra­di­ti­on von Erin­ne­run­gen durch Fami­li­en­ge­sprä­che wer­den Tat­sa­chen, wie bereits erwähnt, ger­ne ins Gegen­teil gekehrt und aus Tätern und Mit­läu­fern wer­den Opfer und Hel­den oder wenigs­tens Bür­ger mit Zivil­cou­ra­ge. Und wie wir alle mitt­ler­wei­le wis­sen soll­ten, war die Anzahl der Men­schen, die tat­säch­lich etwas gegen das Regime unter­nom­men oder Unschul­di­ge beschützt haben, in Wirk­lich­keit ver­schwin­dend gering. Soll hei­ßen: Dei­ne Ange­hö­ri­gen sind nicht auto­ma­tisch bes­se­re Men­schen, nur weil sie Dei­ne Ange­hö­ri­gen sind.
  • Es hat nicht zuletzt inso­fern mit Dir zu tun, als dass Du kein bes­se­rer Mensch bist als die Mit­läu­fer und Täter des Nazi-Regimes. Und ich bin auch kein bes­se­rer Mensch. Die meis­ten von uns haben doch Angst, den Mund auf­zu­ma­chen, wenn wir es eigent­lich soll­ten. Die meis­ten von uns schau­en hilf­los zu, wäh­rend jemand gemobbt wird. Und eini­ge Sach­be­ar­bei­ter in Job­cen­tern haben Bezie­hern von Hartz IV ganz unem­pa­thisch und unhin­ter­fragt sämt­li­che Leis­tun­gen gestri­chen, weil das ihr Job war und 100-pro­zen­ti­ge Sank­tio­nen erst 2019 als ver­fas­sungs­wid­rig ein­ge­stuft wur­den. Soll hei­ßen: Die Prin­zi­pi­en, die Ver­hal­tens­wei­sen, die zu Oppor­tu­nis­mus füh­ren, sind bis an den heu­ti­gen Tag am Werk und wer­den teil­wei­se auch noch belohnt. Die Ver­gan­gen­heits­be­wäl­ti­gung fin­det auf der Ebe­ne von Fak­ten statt, aber von einem rich­ti­gen Umden­ken sind wir noch mei­len­weit entfernt.
  • Und ein letz­ter Punkt stammt aus der Feder des jüdi­schen Autors Charles Lewin­sky. Als Nicht-Jüdin habe ich hier kei­ne Auto­ri­tät und fas­se des­we­gen nur zusam­men: In sei­nem Kam­mer­spiel Ein ganz gewöhn­li­cher Jude kri­ti­siert er unter ande­rem den hyper­sen­si­blen Umgang der heu­ti­gen nicht-jüdi­schen Deut­schen mit jüdi­schen Deut­schen, die aber ger­ne end­lich nicht mehr als eine son­der­li­che Spe­zi­es, son­dern als gewöhn­li­che Mit­deut­sche gese­hen wer­den möch­ten. Es fällt sogar eine ver­stö­ren­de und lei­der wohl auch tref­fen­de Aus­sa­ge: näm­lich dass die Deut­schen den Juden Ausch­witz nie ver­zei­hen werden.

Doch so sehr die Pro­pa­gan­da-Akti­on namens „deut­sche Ver­gan­gen­heits­be­wäl­ti­gung“ auch ein schlech­ter Witz sein mag … Hier kommt die Poin­te: Hier in Deutsch­land gibt es die­sen „Witz“ wenigs­tens. Das kann – zumin­dest mei­ner Beob­ach­tung nach – von den meis­ten ande­ren Natio­nen nicht behaup­tet werden:

  • So hat man Deutsch­lands bes­ten Nazi-Kum­pel Japan vor allem im Zusam­men­hang mit den Atom­an­grif­fen auf Hiro­shi­ma und Naga­sa­ki und auch mit Pearl Har­bor in Erin­ne­rung. Dage­gen hört man wenig über das Mas­sa­ker von Nan­king, ein Ver­bre­chen der japa­ni­schen Besat­zer an der chi­ne­si­schen Bevöl­ke­rung. In einem Zeit­raum von etwa sechs bis sie­ben Wochen wur­den über 200.000 und mög­li­cher­wei­se sogar über 300.000 Men­schen auf teil­wei­se sehr per­fi­de Wei­se gefol­tert und abge­schlach­tet: So gab es bei­spiels­wei­se Wett­be­wer­be, wer 100 Men­schen schnel­ler geköpft bekommt, und Väter wur­den gezwun­gen, ihre eige­nen Töch­ter zu ver­ge­wal­ti­gen. Noch heu­te gibt es in Japan Poli­ti­ker und ande­re Per­so­nen des öffent­li­chen Lebens, die die­ses Mas­sa­ker ver­leug­nen. Die (kul­tu­rel­le) Auf­ar­bei­tung leis­ten mei­nes Wis­sens haupt­säch­lich die Chi­ne­sen, teil­wei­se mit Unter­stüt­zung des „Wes­tens“. Was die japa­ni­sche Auf­ar­bei­tung angeht, so sind mir nur zwei Fil­me bekannt, von denen einer die Kriegs­ver­bre­cher als Mär­ty­rer darstellt.
  • Ein ande­res Bei­spiel, das ich sehr kom­pli­ziert fin­de und das auch mir per­sön­lich nahe­geht, ist die Auf­ar­bei­tung in der ehe­ma­li­gen Sowjet­uni­on. Die­ses Land muss­te ja, wie bereits aus­ge­führt, in einem ras­sis­tisch moti­vier­ten Ver­nich­tungs­krieg um sein Recht auf Exis­tenz kämp­fen und hat dabei 27 Mil­lio­nen Men­schen, dar­un­ter 15,2 Mil­lio­nen Zivi­lis­ten, ver­lo­ren. Dass sich hier im Prin­zip ein eigen­stän­di­ges Gen­re von Kul­tur­gut über den Zwei­ten Welt­krieg und sei­ne Opfer, Mär­ty­rer und Hel­den her­aus­ge­bil­det hat, ist mehr als ver­ständ­lich. Und dass die Deut­schen dar­in meis­tens die „Bösen“ sind, ist auch nach­voll­zieh­bar. Des­we­gen fin­de ich es eben­falls nach­voll­zieh­bar, dass die Plün­de­run­gen und Ver­ge­wal­ti­gun­gen beim Ein­marsch in Deutsch­land kein The­ma waren und es auch immer noch nicht sind. Den­noch haben sie statt­ge­fun­den, sind aber nicht in Köp­fen der Men­schen präsent.
    Was auch wenig Beach­tung fin­det, sind die Kol­lek­tiv­stra­fen gegen gan­ze Eth­ni­en. Der Vor­wurf war, dass sie mehr­heit­lich mit den Deut­schen kol­la­bo­riert haben sol­len. Teil­wei­se stimm­te das und teil­wei­se eben nicht. Und selbst wenn bei einem Volk die Mehr­heit kol­la­bo­riert hat, haben es ja nicht alle getan. Des­we­gen haben unter den Depor­ta­tio­nen auch sehr vie­le Unschul­di­ge gelit­ten und ich fin­de, es wird recht wenig kul­tu­rell auf­ge­ar­bei­tet. Nur hier und da wer­den Fak­ten erwähnt. Und das, obwohl es durch­aus eine Auf­ar­bei­tung ande­rer sta­li­nis­ti­scher Repres­sio­nen gibt.
    Regel­recht gefähr­lich fin­de ich aller­dings die his­to­ri­sche Auf­ar­bei­tung in ehe­ma­li­gen Sowjet­re­pu­bli­ken, in denen Nazi-Kol­la­bo­ra­teu­re heu­te teil­wei­se als Hel­den gefei­ert wer­den: So wur­den wäh­rend des Zwei­ten Welt­krie­ges bei­spiels­wei­se let­ti­sche SS-Ver­bän­de gebil­det, doch heu­te wer­den die­se als „Legio­nä­re“ beti­tel­ten SS-Leu­te von Tei­len der let­ti­schen Bevöl­ke­rung als Frei­heits­kämp­fer ver­ehrt. Und der Kriegs­ver­bre­cher und Nazi-Kol­la­bo­ra­teur Ste­pan Ban­de­ra wird in der West­ukrai­ne von vie­len als Natio­nal­held gese­hen. Natür­lich kann man sich dabei fra­gen, war­um sich man­che über­haupt erst gegen die Sowjet­uni­on gewandt hat­ten bzw. Leu­te fei­ern, die – aus wel­chen per­sön­li­chen Grün­den auch immer – gegen die Sowjet­uni­on gekämpft haben, und man wird eine dre­cki­ge Vor­ge­schich­te ent­de­cken. Gleich­zei­tig aber fra­ge ich mich zumin­dest, inwie­fern es gerecht­fer­tigt ist, sich einem ande­ren ver­bre­che­ri­schen Regime anzu­schlie­ßen, des­sen Taten noch­mal ein ganz neu­es Level erreichen.
  • Und ein letz­tes Bei­spiel schließ­lich betrifft mei­ne eige­ne Min­der­heit, näm­lich die Russ­land­deut­schen. Wenn über uns seri­ös berich­tet wird, dann sind wir meis­tens unschul­di­ge Opfer des Sowjet­re­gimes, und auch in den russ­land­deut­schen Fami­li­en selbst herrscht die­ses Nar­ra­tiv. – Zumin­dest, soweit ich aus mei­ner eige­nen Erfah­rung und Gesprä­chen mit ande­ren Russ­land­deut­schen berich­ten kann. Und auch ich habe das lan­ge Zeit so gese­hen, bis ich von der Geschich­te der deut­schen Schrift­stel­le­rin Her­ta Mül­ler erfuhr. Ihre Fami­lie gehör­te zu einer deut­schen Min­der­heit in Rumä­ni­en und wur­de vom kom­mu­nis­ti­schen Regime repres­siert. Der Grund dafür: Ein gro­ßer Teil der Rumä­ni­en­deut­schen und alle Män­ner ihres Hei­mat­dor­fes, dar­un­ter ihr Vater, waren rei­hen­wei­se frei­wil­lig in die SS ein­ge­tre­ten. Wenn ich an Sta­lins Stel­le so etwas sehen wür­de und wüss­te, dass es in mei­nem eige­nen Land auch deut­sche Min­der­hei­ten gibt, und dann die Deut­schen bei mir ein­mar­schie­ren: Natür­lich las­se ich sie depor­tie­ren. Grau­sam, ja, und unge­recht, aber alles ande­re wäre schlicht und ergrei­fend ver­ant­wor­tungs­los. Und Sta­lin war ja alles Mög­li­che, aber nicht dumm. Zumal das offen­bar auch inter­na­tio­nal in die Kate­go­rie „gän­gi­ge Paxis“ fällt: So wur­den in den USA nach dem Angriff auf Pearl Har­bor 110.000 japa­nisch­stäm­mi­ge Män­ner, Frau­en und Kin­der, mehr als die Hälf­te von ihnen US-Bür­ger, zwangs­um­ge­sie­delt und in Lagern inter­niert. Will­kom­men im tota­len Krieg. (Für Leu­te, die kei­ne Iro­nie ver­ste­hen: Der tota­le Krieg ist sch****. Krieg ist sch**** generell.)
    Weil der Groß­teil der Russ­land­deut­schen nun aber gar nicht erst dazu gekom­men ist, mit den ein­mar­schier­ten „Deutsch­land­deut­schen“ zu kol­la­bo­rie­ren, wer­den wir nie erfah­ren, ob die­se Befürch­tung gerecht­fer­tigt war oder nicht. Aber ich per­sön­lich emp­fin­de den Blick nach Rumä­ni­en als „cree­py“ und bin trotz der Trau­ma­ta, die in mei­ner Fami­lie von Gene­ra­ti­on zu Gene­ra­ti­on ver­erbt wer­den, irgend­wie froh, dass zumin­dest eine Hälf­te mei­ner deut­schen Vor­fah­ren gar nicht erst die Gele­gen­heit bekom­men hat, sich nach­weis­lich zu „beschmut­zen“. Im Gegen­satz zu Gestal­ten wie mei­nem Volks­ge­nos­sen Samu­el Kunz, der andert­halb Jah­re als Wach­mann in einem Ver­nich­tungs­la­ger tätig war. (Bei der ande­ren Hälf­te mei­ner deut­schen Vor­fah­ren weiß ich aller­dings nicht. Es heißt zwar, sie hät­ten nichts ver­zapft, aber so nach der Lek­tü­re von „Opa war kein Nazi“ weiß ich gar nichts mehr.) Jeden­falls fra­ge ich mich durch­aus nach dem „Was wäre, wenn …“, und fin­de es scha­de, dass die­se Fra­ge sonst nie gestellt wird.

Ich hof­fe, ver­deut­licht zu haben, dass Geschich­te vor allem dre­ckig ist und es unter den Kriegs­par­tei­en ver­mut­lich kei­ne Unschulds­läm­mer gibt. (Abge­se­hen von den Juden, Sin­ti und Roma, Homo­se­xu­el­len und ande­ren Ver­folg­ten, die aber nun mal kei­ne Kriegs­par­tei­en bil­de­ten.) Doch die Geschich­te wirkt inso­fern nach, als dass wir bis an den heu­ti­gen Tag nach Schul­di­gen suchen und uns gegen­sei­tig den Schwar­zen Peter zuschie­ben. Mir fällt wirk­lich kei­ne Nati­on, kei­ne Eth­nie, kei­ne Min­der­heit ein, die ihre Ver­gan­gen­heit wirk­lich nüch­tern aufarbeitet.

Jeder suhlt sich in der Opfer­rol­le, statt Ver­ant­wor­tung zu übernehmen.
(Selbst die Deut­schen, die in Sachen Ver­gan­gen­heits­be­wäl­ti­gung wohl am meis­ten leisten.)

Gedenk­ver­an­stal­tun­gen wer­den zu poli­ti­schen Streit­punk­ten und Heu­che­lei-Kon­zer­ten, die Pro­pa­gan­da des Frie­dens ver­sagt kläg­lich. Die schwarz-weiß-male­ri­schen Geschich­ten, die wir uns über die Ver­gan­gen­heit erzäh­len, all die Bücher und Fil­me über strah­len­de Hel­den und böse, böse Orks, leh­ren nicht etwa Ver­ge­bung und Empa­thie für­ein­an­der, son­dern uns gegen­sei­tig anzu­kla­gen und zu hassen.

Kritisch hinterfragen tut weh

Das wird sich wohl auch nicht all­zu bald ändern. Denn uns ste­hen die Loya­li­täts­be­zie­hun­gen zu unse­rer Fami­lie, unser stark sub­jek­ti­ves Schwarz-Weiß-Den­ken sowie ein reli­gi­ös und kul­tu­rell tra­dier­ter Glau­be an gute und böse Men­schen im Weg:

  • Wir selbst sind ja gute Men­schen. Nie­mand wacht mor­gens auf und denkt: „Hey, heu­te bege­he ich etwas ganz Schlim­mes!“ Nur eini­ge weni­ge Psy­cho­pa­then tun das. Und die meis­ten Ver­bre­cher sind eben nor­mal den­ken­de Men­schen wie Du und ich. Aber wir sind gute Men­schen, nicht? Wir wün­schen ja nie­man­dem etwas Böses.

Oder wie die der ver­folg­te Jude Josef in Remar­ques Roman Zeit zu leben und Zeit zu ster­ben es so schön formuliert:

„Es gibt KZ-Kom­man­dan­ten mit Humor, SS-Wachen, die unter­ein­an­der gut­mü­tig und kame­rad­schaft­lich sind. Und es gibt Mit­läu­fer, die sich nur an das soge­nann­te Gute klam­mern und das Grau­en­vol­le über­se­hen oder es als vor­über­ge­hend und har­te Not­wen­dig­keit erklä­ren. Das sind die Leu­te mit dem elas­ti­schen Gewissen.“
E. M. Remar­que: Zeit zu leben und Zeit zu ster­ben, Kapi­tel XXI.

Ich fürch­te, die meis­ten von uns, mich selbst ein­ge­nom­men, haben ein „elas­ti­sches Gewissen“.

  • Wir wol­len unse­re eige­ne Fami­lie nicht hin­ter­fra­gen. Nicht die lie­be Oma oder den lie­ben Opa. Nicht Mama oder Papa. Denn das sind gute Men­schen, denn sie tun uns Gutes, und wir wol­len von der Fami­lie ja auch nicht ver­sto­ßen wer­den. Vor allem wol­len wir nicht als Ange­hö­ri­ge einer Fami­lie von „schlech­ten“ Men­schen gebrand­markt und von der Gesell­schaft ver­sto­ßen werden.

Und unse­re eige­nen Kin­der sind sowie­so Engel. Hier noch ein ande­res, sehr tref­fen­des Zitat:

„Aber jetzt begrei­fe ich, wes­halb ich für die­se schma­le ver­härm­te Frau anders bin als alle Sol­da­ten der Welt: ich bin ihr Kind.

Ich bin es immer für sie geblie­ben, auch als Sol­dat. Sie hat im Krie­ge nur einen Knäu­el gefähr­li­cher Bes­ti­en gese­hen, die ihrem bedroh­ten Kin­de nach dem Leben trach­te­ten. Aber ihr ist nie der Gedan­ke gekom­men, daß die­ses bedroh­te Kind eine eben­so gefähr­li­che Bes­tie für die Kin­der ande­rer Müt­ter war.“

E. M. Remar­que: Der Weg zurück, Drit­ter Teil, II.

An sei­nem Bild der eige­nen Nati­on, Fami­lie oder ander­wei­ti­gen Grup­pe zu krat­zen bedeu­tet, sein Selbst­bild infra­ge zu stel­len. Und wir sind es gewohnt, uns mit den „Guten“ zu iden­ti­fi­zie­ren. Das ist wohl das klas­sischs­te Erzähl­mus­ter über­haupt: Wir sind die Guten und die ande­ren sind die Bösen. Wir neh­men die­se Erzähl­mus­ter dank­bar an. Sei es, wenn wir über die Ver­gan­gen­heit reden oder wenn man uns durch die Medi­en von der Not­wen­dig­keit eines Kriegs über­zeu­gen will.

An die­ser Stel­le ein pas­sen­des Zitat, das zu den­ken geben sollte:

„Mora­li­sche Empö­rung ist der Hei­li­gen­schein der Scheinheiligen.“
– Hel­mut Qualtinger

Viel­leicht habe ich aber auch ein­fach gut reden. Ich mit mei­ner „bun­ten“ Fami­li­en­ge­schich­te. In Wahr­heit bin ich nur eine hal­be Russ­land­deut­sche, die ande­re Hälf­te ist gene­tisch komi-syr­ja­nisch, aber schon seit vie­len Gene­ra­tio­nen fried­lich und schlei­chend rus­si­fi­ziert. Einer mei­ner Urgroß­vä­ter wur­de mit der Unter­schrift eines SS-Sturm­bann­füh­rers ins Deut­sche Reich ein­ge­bür­gert und dien­te in der Wehr­macht. Sein Bru­der, mein Urgroß­on­kel, lan­de­te bei der SS. Ein ande­rer Urgroß­va­ter war ein orden­be­häng­ter Offi­zier der Roten Armee. Die bei­den letz­ten Urgroß­vä­ter, ein deut­scher und ein rus­si­scher, star­ben in sowje­ti­schen Lagern. Ich selbst habe erst im Alter von sie­ben Jah­ren erfah­ren, dass ich hal­be Deut­sche bin, und bin mit dem sowje­tisch-rus­si­schen Nar­ra­tiv vom Zwei­ten Welt­krieg auf­ge­wach­sen, hier in Deutsch­land aber Empa­thie für die „Täter­na­ti­on“ ent­wi­ckelt. Ich bin gewis­ser­ma­ßen pri­vi­le­giert, das Gan­ze aus unter­schied­li­chen Per­spek­ti­ven betrach­ten zu können.

Vor allem aber: Durch den Ver­lauf des Zwei­ten Welt­krie­ges – inklu­si­ve aller Ver­bre­chen – ist es in mei­ner Fami­lie zu Umsied­lun­gen gekom­men, durch die mei­ne deut­schen Groß­el­tern sich über­haupt erst ken­nen­ler­nen und hei­ra­ten konn­ten. Ich gehö­re zu denen, die dem Zwei­ten Welt­krieg wohl am meis­ten ihre Exis­tenz „ver­dan­ken“. Ich muss mich damit aus­ein­an­der­set­zen. Und das ist im Übri­gen auch noch ein letz­ter Punkt, war­um die deut­sche Ver­gan­gen­heit Dich per­sön­lich betrifft, und zwar ganz unab­hän­gig davon, ob Du auto­chthon deutsch bist oder nicht: Ohne den Zwei­ten Welt­krieg, das NS-Regime und sei­ner Ver­bre­chen wür­de es die­sen Kanal nicht geben und Du wür­dest die­sen Arti­kel jetzt, in die­sem Moment, nicht lesen.

Künstlerische Werke: Absichtliche und unabsichtliche Propaganda?

Nun magst Du Dich aber fra­gen, was das alles, wor­über ich eben gere­det habe, mit Pro­pa­gan­da zu tun hat. Ging es doch eher um ver­zerr­te Wahr­neh­mun­gen und den Ein­fluss von Geschich­ten darauf.

Nun, bewuss­te, ziel­ge­rich­te­te Pro­pa­gan­da ver­ab­reicht uns Geschich­ten, die sich in unser Bewusst­sein und unse­re Erzäh­lun­gen fres­sen und uns somit zu unwis­sen­den Trä­gern von Pro­pa­gan­da machen.

Einer der Grün­de, war­um Erzäh­lun­gen vom „bösen Rus­sen“ in den Fami­li­en­ge­sprä­chen über die NS-Zeit so unhin­ter­fragt ange­nom­men wur­den, dürf­te zum Bei­spiel sein, dass die Zuhö­rer, die Kin­der- und Enkel­ge­nera­ti­on, von der rus­so­pho­ben Pro­pa­gan­da des Kal­ten Krie­ges beein­flusst waren.

Ich fin­de daher, dass man per­sön­li­che Wahr­neh­mun­gen, Erin­ne­run­gen und Erzäh­lun­gen nicht strikt von bewuss­ter Pro­pa­gan­da tren­nen kann. Sie sind zu eng mit­ein­an­der ver­schlun­gen. – Vor­aus­ge­setzt natür­lich, die bewuss­ten Pro­pa­gan­da-Bemü­hun­gen pas­sen zu den per­sön­li­chen Wahr­neh­mun­gen und Narrativen:

Denn was durch die Inter­views in „Opa war kein Nazi“ näm­lich auch deut­lich gewor­den ist, ist die Dis­kre­panz zwi­schen Fami­li­en­er­in­ne­run­gen und der Staats­pro­pa­gan­da in der DDR. Die Erzäh­lun­gen des Staa­tes pass­ten nicht zu den per­sön­li­chen Erzäh­lun­gen in der Fami­lie, wes­we­gen das DDR-Nar­ra­tiv von der NS-Zeit in den Köp­fen nicht dau­er­haft Wur­zeln geschla­gen hat.

Propagandistische Werke?

Über­tra­gen lässt sich das Gan­ze aber natür­lich auch auf Kulturgut:

  • Es gibt Geschich­ten, die bewusst zu Pro­pa­gan­da­zwe­cken pro­du­ziert wer­den.

So wur­de die Ver­fil­mung von Geor­ge Orwells Ani­mal Farm aus dem Jah­re 1954 von der CIA finan­ziert. Die pro­pa­gan­dis­ti­sche Absicht liegt hier klar auf der Hand.

  • Es gibt Geschich­ten, die viel­leicht nicht bewusst zu Pro­pa­gan­da­zwe­cken erschaf­fen wur­den, aber den­noch die zu ihrer Zeit pro­pa­gier­ten Wer­te spie­geln.

Nu pogo­di! ist ein sowje­ti­scher Kin­der­se­ri­en-Klas­si­ker. Die Geschich­te spielt in einer ähn­li­chen Welt wie Zoo­ma­nia, in der Tie­re in einer zivi­li­sier­ten Gesell­schaft leben, und es geht um einen Wolf, der einen Hasen ver­folgt, weil er ihn fres­sen will, dabei aber immer wie­der auf amü­san­te Art schei­tert. Ins­ge­samt erin­nert der Plot an Tom und Jer­ry, aber es gibt einen gra­vie­ren­den Unter­schied: Der Hase schlägt nicht zurück. Denn er ist die Per­so­ni­fi­ka­ti­on aller sozia­lis­ti­schen Tugen­den: Er ist jung und ath­le­tisch, klug und wis­sen­schaft­lich inter­es­siert und hat ein gutes Herz vol­ler Mit­ge­fühl, das er sogar dem Wolf ent­ge­gen­bringt. Der Wolf hin­ge­gen per­so­ni­fi­ziert Las­ter: Er ist kri­mi­nell, ein Ket­ten­rau­cher, ver­stößt gegen Regeln und ach­tet nicht auf die Gefüh­le ande­rer. Und das ist auch sein Ver­der­ben, denn sein Schei­tern ist immer selbst­ver­schul­det. In eini­gen Fol­gen bringt er sich sogar in so gro­ße Schwie­rig­kei­ten, dass er vom Hasen geret­tet wer­den muss.
Mit der sowje­ti­schen Ideo­lo­gie deckt sich das inso­fern, als dass Nu pogo­di! das Für-ein­an­der-Daseins pre­digt. Der „Kri­mi­nel­le“ war zumin­dest offi­zi­ell nicht etwas „Böses“, das ver­nich­tet gehört, son­dern muss­te umer­zo­gen wer­den. Vie­le frü­he naiv-ideo­lo­gi­sche sowje­ti­sche Fil­me aus der Schwarz-Weiß-Ära haben genau die­sen Plot und die sta­li­nis­ti­schen Arbeits­la­ger waren eine ziem­lich per­ver­se Aus­prä­gung die­ser Ideologie.
Aller­dings muss man aber sagen, dass der ideo­lo­gi­sche Aspekt in Nu pogo­di! extrem sub­til ist. Ich den­ke daher nicht, dass hier bewusst Pro­pa­gan­da betrie­ben wer­den soll­te, zumal die Serie auch nach dem Zusam­men­bruch der Sowjet­uni­on im glei­chen Sin­ne fort­ge­setzt wur­de. Viel­mehr spie­gelt der Zei­chen­trick ein­fach die Wer­te, die man damals gemein­hin als wich­tig ein­stuf­te: Sei freund­lich, mach Sport, bil­de Dich wei­ter, küm­me­re Dich um Dei­ne Mit­men­schen und stre­cke sogar Leu­ten, die Dir Böses wün­schen, eine hel­fen­de Hand aus.

  • Es gibt Geschich­ten, die die Rea­li­tät für das Ziel­pu­bli­kum bewusst oder unbe­wusst „zurecht­bie­gen“.

So den­ke ich nicht, dass ich noch all­zu groß erklä­ren muss, war­um die Geschich­te des „wei­ßen Man­nes“ ver­bre­che­risch ist. Stich­punkt Kolo­nia­lis­mus, Impe­ria­lis­mus, zahl­rei­che Geno­zi­de etc. Wie erzählt man also Geschich­ten über die­se Ver­bre­chen, ohne dass das „wei­ße“ Ziel­pu­bli­kum sich schlecht füh­len muss? – Ganz ein­fach, man benutzt den Topos des White Savi­or, eines wei­ßen Prot­ago­nis­ten, der sich auf die Sei­te von Far­bi­gen stellt und sie beschützt, weil die­se offen­bar hilf­los sind wie klei­ne Kin­der und nicht für sich selbst ein­tre­ten kön­nen. So kann sich das „wei­ße“ Publi­kum mit einer posi­ti­ven „wei­ßen“ Hel­den­fi­gur iden­ti­fi­zie­ren und die gezeig­ten Miss­stän­de trotz­dem kri­tisch sehen. Die „bösen“ Wei­ßen sind dabei, wie auch die „Nazis“, immer die anderen.

  • Und es gibt auch vie­le Geschich­ten, bei denen man – oder ich zumin­dest – nicht ein­schät­zen kann, inwie­fern sie bewusst oder unbe­wusst pro­pa­gan­dis­tisch sind, die aber durch­aus Fol­gen für unse­re Wahr­neh­mung haben.

Die HBO-Serie Cher­no­byl zum Bei­spiel erweckt leicht den Ein­druck einer authen­ti­schen Dar­stel­lung der Nukle­ar­ka­ta­stro­phe von 1986, arbei­tet aber mit künst­le­ri­schen Über­trei­bun­gen. Somit wer­den die an sich bereits schlim­men Fol­gen und auch das Sowjet­re­gime selbst ins Nega­ti­ve ver­zerrt, ohne dass der durch­schnitt­li­che Zuschau­er das bemerkt. Es prä­gen sich also Bil­der und Fak­ten ins Bewusst­sein ein, die so gar nicht oder nur teil­wei­se stim­men. Das wie­der­um führt zu einer noch stär­ke­ren Ableh­nung der Kern­ener­gie in der Gesell­schaft. – Und das in einer Zeit, in der wir immer mehr Ener­gie ver­brau­chen und dafür durch fos­si­le Brenn­stof­fe unse­re Umwelt ver­schmut­zen, weil erneu­er­ba­re Ener­gien ers­tens noch nicht so weit sind, um unse­ren Bedarf kom­plett zu decken, und zwei­tens auch ihre Schat­ten­sei­ten haben, über die man erstaun­lich wenig redet. Natür­lich will ich nicht sagen, dass Atom­kraft die Lösung aller Pro­ble­me ist, und fin­de, dass hoff­nungs­los ver­al­te­te Kraft­wer­ke wie die von Tscher­no­byl und Fuku­shi­ma lahm­ge­legt gehö­ren. Aller­dings hal­te ich eine welt­wei­te Atom­ka­ta­stro­phe für weni­ger wahr­schein­lich als die kata­stro­pha­len Fol­gen eines unauf­halt­sa­men Kli­ma­wan­dels und befürch­te, dass die Angst­ma­che­rei durch die über­trie­be­ne Dar­stel­lung in der Serie Cher­no­byl eher Leu­ten nützt, die von fos­si­len Brenn­stof­fen pro­fi­tie­ren und sich nicht um die lang­fris­ti­gen Fol­gen fürs Kli­ma kümmern.

Wenn eine Geschichte nicht zur (vermeintlichen) Wahrheit passt

Wie aber bereits ange­deu­tet, kön­nen Pro­pa­gan­da oder unter­be­wuss­te­re For­men der Beein­flus­sung ihre Wir­kung nur ent­fal­ten, wenn ihre Bot­schaft zu dem passt, was in den Köp­fen bereits vor­han­den ist:

  • Viel­leicht reagie­re ich über, aber ich per­sön­lich habe den Ein­druck, dass ame­ri­ka­ni­sche Fil­me über den Zwei­ten Welt­krieg, in denen die Ame­ri­ka­ner als hel­den­haf­te Befrei­er daste­hen, hier­zu­lan­de akzep­tier­ter sind als rus­si­sche Fil­me, in denen die Men­schen der Sowjet­uni­on hel­den­haft ihr Land ver­tei­di­gen. Das heißt, wenn die Deut­schen rus­si­sche Pro­duk­tio­nen über­haupt erst wahr­neh­men … Und die­se feh­len­de Wahr­neh­mung hat Fol­gen: So zeigt eine Stu­die, dass die USA von vie­len als Haupt­ver­ant­wort­li­che für den Sieg über Nazi-Deutsch­land gese­hen wer­den, wäh­rend der Bei­trag der Sowjet­uni­on ger­ne unter­schätzt wird. Die For­scher ver­mu­ten, dass die ver­zerr­te Wahr­neh­mung durch die von Hol­ly­wood domi­nier­te Popu­lär­kul­tur ent­stan­den ist.
  • Etwas bedenk­lich fin­de ich auch die Akzep­tanz gegen­über Fil­men wie Duell – Ene­my at the Gates, eine ame­ri­ka­nisch-west­eu­ro­päi­sche Pro­duk­ti­on über ein Scharf­schüt­zen­du­ell bei Sta­lin­grad, in dem grau­sam über­zo­ge­ne Mythen über Sta­lins Befehl Nr. 227 bestä­tigt und wei­ter­ver­brei­tet wer­den: In Wirk­lich­keit war die Sowjet­uni­on kei­nes­wegs so bekloppt, ihre eige­nen Sol­da­ten zu erschie­ßen, wenn sie vor dem Feind flo­hen. Sol­che Mythen sind u. a. des­we­gen so gefähr­lich, weil sie die schreck­li­che The­se näh­ren, die Sowjet­uni­on sei für ihre schwe­ren Ver­lus­te im Zwei­ten Welt­krieg selbst ver­ant­wort­lich. (Und wenn mir jetzt jemand mit der Mit­schuld der Sowjet­uni­on am Aus­bruch des Zwei­ten Welt­krie­ges kom­men will: Eine Mit­schuld am Aus­bruch des Krie­ges ist eine Sache – aber die Wahl eines ras­sis­tisch moti­vier­ten Ver­nich­tungs­cha­rak­ters des Krie­ges eine völ­lig andere.)

Alles in allem kommt es bei der künst­le­ri­schen Dar­stel­lung von Fak­ten nicht nur dar­auf an, ob die Fak­ten im Werk selbst stim­men, son­dern vor allem auch dar­auf, ob sie ins Welt­bild des Publi­kums pas­sen. Oder wie Hen­ry Kis­sin­ger es formulierte:

„It is not a mat­ter of what is true that counts, but a mat­ter of what is per­cei­ved to be true.“
– Hen­ry Kissinger

Die­ser Punkt dürf­te eine gro­ße Hür­de für „gute“ Pro­pa­gan­da bzw. Auf­klä­rung dar­stel­len. Wenn Du also die­sen Weg beschrei­ten möch­test, soll­test Du Dir wohl sehr gute Argu­men­te zurechtlegen.

Was können wir als Geschichtenerzähler tun?

Was bleibt schließ­lich zu sagen?

Ob Du es wahr­ha­ben willst oder nicht, Du als Geschich­ten­er­zäh­ler bist Trä­ger und Ver­mitt­ler bestimm­ter Wer­te und Ideo­lo­gien.

Kannst Du Dich dem ent­zie­hen? Ich fürch­te, nein. Aber Du kannst kri­tisch hin­ter­fra­gen, recher­chie­ren und ver­meint­li­che Selbst­ver­ständ­lich­kei­ten genau­er unter die Lupe neh­men.

Beden­ke aber, dass das, was Du zusam­men­re­cher­chierst, auch nicht unbe­dingt die Wahr­heit wie­der­spie­gelt. Des­we­gen: Glaub nie­man­dem. Glaub Dir selbst nicht, glaub ande­ren nicht und glaub mir nicht. Selbst noch so sehr um Objek­ti­vi­tät bemüh­te Wis­sen­schaft­ler unter­lie­gen ideo­lo­gi­schen Einflüssen.

Wenn es also einen Weg gibt, der zu einer rei­fen Mei­nung führt, dann ist das, den­ke ich, Demut:

Weni­ger reden, mehr zuhören.

Du bist nun mal von bewuss­ter und unbe­wuss­ter Pro­pa­gan­da umge­ben. Hör also zu, was die ver­schie­de­nen Par­tei­en zu sagen haben. Ler­ne ihre Per­spek­ti­ven ken­nen. Wo lie­gen die Wider­sprü­che und wo über­schnei­den sie sich? Wie neh­men sie sich gegen­sei­tig wahr und gibt es viel­leicht Miss­ver­ständ­nis­se? War­um den­ken die Leu­te so, wie sie den­ken? Wel­che Inter­es­sen haben sie? Wie wur­den sie erzo­gen? Das sind nur eini­ge weni­ge Fra­gen, die Du Dir beim Hin­ter­fra­gen einer Dar­stel­lung stel­len kannst.

Ich fin­de außer­dem, dass wir auf­hö­ren soll­ten, Men­schen, die wir als Täter wahr­neh­men, mit einer Keu­le zu ver­ur­tei­len, und uns statt­des­sen um Empa­thie bemü­hen. Denn Du bist kein bes­se­rer Mensch. Und die Men­schen im NS-Deutsch­land bei­spiels­wei­se waren kei­ne schlech­te­ren Men­schen. – Das ist doch die eigent­li­che Tra­gik des Gan­zen! Die mensch­li­che Natur, die mensch­li­che Gleich­gül­tig­keit, die mensch­li­che Angst, die die Tra­gö­die des Holo­caust über­haupt erst mög­lich gemacht haben! – Und sie sind immer noch da: In Dir. Sich auf das hohe mora­li­sche Ross zu schwin­gen und auf ande­re mit dem Fin­ger zu zei­gen fin­de ich da sehr vermessen.

Das ist im Übri­gen kei­ne rein intel­lek­tu­el­le Über­le­gung von mir, son­dern etwas, das, wie ich fin­de, für mich selbst gut funk­tio­niert hat:

Durch mei­ne Kind­heit in Russ­land ent­wi­ckel­te ich ein Bild, laut dem die deut­schen „Faschis­ten“ eine Art Orks waren. Inter­es­sant ist, dass die­ses Bild in Russ­land sich nur auf Hit­ler­deutsch­land bezieht und die Sicht auf das heu­ti­ge Deutsch­land deut­lich posi­ti­ver ist als die Sicht im heu­ti­gen Deutsch­land auf das heu­ti­ge Russ­land. Daher fand ich Deutsch­land nach unse­rem Umzug hier­her auch ganz cool. Nur als ich etwas älter wur­de, frag­te ich mich, wo denn die Ver­bin­dung zwi­schen den heu­ti­gen Deut­schen und den „Orks“ der NS-Zeit ist. Die „Ork-Bevöl­ke­rung“ wur­de ja nicht ein­fach durch nor­ma­le Men­schen ersetzt.

Die Ant­wort auf die­se Fra­ge erhielt ich, als ich in der Schu­le das Buch Nel­ly war­tet auf den Frie­den lesen muss­te: Nel­ly ist ein ideo­lo­gie­ver­wa­sche­nes Nazi-Mäd­chen und ein Mensch zugleich. Sie wur­de in die Zeit hin­ein­ge­bo­ren, in die sie hin­ein­ge­bo­ren wur­de, sie ist jung und hat kei­nen Grund zum Hin­ter­fra­gen. Eben­so wie auch die erwach­se­nen Men­schen die­ser Zeit ein­fach ihr Leben gelebt haben, auf sich selbst und ihre eige­nen per­sön­li­chen Inter­es­sen fixiert. Wie die Men­schen über­all. Ich ver­gaß den Ver­nich­tungs­krieg nicht, aber ich ent­wi­ckel­te auch Empa­thie für Nel­ly und ihre Fami­lie, Freun­de und Bekann­ten. Auch sie haben in die­ser Zeit gelit­ten. Und so wur­de mir erst­mals klar, dass der Zwei­te Welt­krieg eben nicht schwarz-weiß war. Auf allen Sei­ten waren Men­schen, die sich gegen­sei­tig schlim­me Din­ge ange­tan und gelit­ten haben. Und ich fin­de es tra­gisch, dass bis an den heu­ti­gen Tag zwi­schen den ver­schie­de­nen Natio­nen kein rich­ti­ger groß­flä­chi­ger Aus­tausch über die erlit­te­nen Erfah­run­gen statt­fin­det. Statt­des­sen viel gegen­sei­ti­ge Verteufelung.

Ich mei­ne, mach ruhig Pro­pa­gan­da für Dei­ne Her­zens­an­ge­le­gen­hei­ten. Etwas ande­res kannst Du durch und durch beein­fluss­ba­res und beein­fluss­tes Indi­vi­du­um ja auch nicht tun. Auch die­ser Arti­kel hier ist schließ­lich Pro­pa­gan­da. Zumin­dest ein bewuss­ter Ver­such. Aber ich wür­de Dich bit­ten, Anders­den­ken­de zumin­dest mit Respekt zu behan­deln. Denn sie sind, wie gesagt, kei­ne Orks, son­dern Men­schen wie Du und ich. Hetz­pro­pa­gan­da ist schon vom Prin­zip her sch****.

Mir per­sön­lich wäre es aber am liebs­ten, wenn es mehr Geschich­ten gäbe, die Ver­ständ­nis für­ein­an­der pro­pa­gie­ren. Egal, ob sie in der rea­len oder in einer fik­ti­ven Welt spie­len. Denn Geschich­ten sind, wie hof­fent­lich rüber­ge­kom­men ist, mäch­ti­ger als Fak­ten: Muse­en und Aus­stel­lun­gen wer­den Otto Nor­mal­ver­brau­cher von nichts über­zeu­gen. Aber eine emo­tio­na­le, ergrei­fen­de Geschich­te kann das.

Als Posi­tiv­bei­spiel emp­feh­le ich Remar­ques Zeit zu Leben und Zeit zu ster­ben, einen Roman über den Hei­mat­ur­laub eines Wehr­machts­sol­da­ten. Es ist eine ergrei­fen­de Lie­bes­ge­schich­te, die an die Fra­ge der per­sön­li­chen Mit­schuld des Ein­zel­nen gekop­pelt ist. Emp­feh­len tue ich aber nur die aktu­ells­te Aus­ga­be, die Remar­ques ursprüng­li­chem Manu­skript folgt. Die Erst­aus­ga­be von 1954 wur­de näm­lich für das zar­te deut­sche Nach­kriegs­ge­müt zurechtzensiert.

Rezo ja lol ey: Die Zer­stö­rung der Presse
https://​you​tu​.be/​h​k​n​c​i​j​U​Z​GKA

Katha­ri­na Diet­rich: Jun­ge Spätaussiedler/​innen im Span­nungs­feld zwi­schen Ras­sis­mus­er­fah­run­gen und eige­nen Ras­sis­men. Empi­risch unter­sucht in qua­li­ta­ti­ven Inter­views mit jun­gen Men­schen aus Russ­land und Kasachstan
https://​www​.idaev​.de/​f​i​l​e​a​d​m​i​n​/​u​s​e​r​_​u​p​l​o​a​d​/​p​d​f​/​d​o​w​n​l​o​a​d​/​D​i​e​t​r​i​c​h​_​A​u​s​s​i​e​d​l​e​r​I​n​n​e​n​_​R​a​s​s​i​s​m​u​s​.​pdf

ME!j!N: Nie­mals ange­kom­men (sehr ankla­gen­der Rap über russ­land­deut­sche Aussiedler)
https://​www​.you​tube​.com/​w​a​t​c​h​?​v​=​4​6​U​Z​8​H​l​Q​GWM
(In der Kom­men­tar­sek­ti­on wim­melt es übri­gens von Leu­ten, die sich damit abso­lut iden­ti­fi­zie­ren können.)

Adam Cur­tis: The Cen­tu­ry of the Self 
https://​www​.you​tube​.com/​w​a​t​c​h​?​v​=​e​J​3​R​z​G​o​Q​C4s

Fern­seh­kri­tik-TV: Ukrai­ne-Kon­flikt: 4 Mani­pu­la­tio­nen bei ARD + ZDF
https://​www​.you​tube​.com/​w​a​t​c​h​?​v​=​Z​1​v​X​2​m​j​D​PZM

hei­se online: Ukrai­ne-Kon­flikt: ARD-Pro­gramm­bei­rat bestä­tigt Publikumskritik
https://​www​.hei​se​.de/​t​p​/​f​e​a​t​u​r​e​s​/​U​k​r​a​i​n​e​-​K​o​n​f​l​i​k​t​-​A​R​D​-​P​r​o​g​r​a​m​m​b​e​i​r​a​t​-​b​e​s​t​a​e​t​i​g​t​-​P​u​b​l​i​k​u​m​s​k​r​i​t​i​k​-​3​3​6​7​4​0​0​.​h​tml

Die Anstalt vom 23. Sep­tem­ber 2014
https://​www​.claus​-von​-wag​ner​.de/​t​v​/​a​n​s​t​a​l​t​/​2​0​1​4​0​9​2​3​-​e​r​s​t​e​r​-​w​e​l​t​k​r​ieg

Guy Met­tan: Crea­ting Rus­so­pho­bia: From the Gre­at Reli­gious Schism to Anti-Putin Hysteria
https://​amzn​.to/​2​O​S​j​3w5

Bob­by Duffy: How We Crea­te Our Own Fake News
https://​you​tu​.be/​4​Z​S​X​u​P​Z​q​7nw

Harald Wel­zer, Sabi­ne Mol­ler, Karo­li­ne Tschuggnall: »Opa war kein Nazi«: Natio­nal­so­zia­lis­mus und Holo­caust im Familiengedächtnis
https://​amzn​.to/​2​C​P​J​2Sk

Felix Römer: Der Kom­mis­sar­be­fehl: Wehr­macht und NS-Ver­bre­chen an der Ost­front 1941/​42
https://​amzn​.to/​2​P​f​T​wgl

Ver­stö­ren­de Erin­ne­run­gen und Tage­buch­ein­trä­ge der Opfer der Lenin­gra­der Blockade
https://​www​.hei​se​.de/​t​p​/​f​e​a​t​u​r​e​s​/​H​i​t​l​e​r​-​I​n​-​d​i​e​-​r​u​s​s​i​s​c​h​e​n​-​S​t​a​e​d​t​e​-​g​e​h​e​n​-​w​i​r​-​n​i​c​h​t​-​h​i​n​e​i​n​-​s​i​e​-​m​u​e​s​s​e​n​-​v​o​l​l​s​t​a​e​n​d​i​g​-​e​r​s​t​e​r​b​e​n​-​4​2​8​8​6​2​2​.​h​t​m​l​?​s​e​i​t​e=2

Ire­ne Alten­mül­ler: Wie eine Aus­stel­lung die Deut­schen spaltete
https://​www​.ndr​.de/​g​e​s​c​h​i​c​h​t​e​/​c​h​r​o​n​o​l​o​g​i​e​/​W​e​h​r​m​a​c​h​t​s​a​u​s​s​t​e​l​l​u​n​g​-​l​o​e​s​t​-​1​9​9​5​-​P​r​o​t​e​s​t​e​-​a​u​s​,​w​e​h​r​m​a​c​h​t​s​a​u​s​s​t​e​l​l​u​n​g​1​0​0​.​h​tml

Oli­ver Hirsch­bie­gel: Ein ganz gewöhn­li­cher Jude (Ver­fil­mung von Charles Lewin­skys Kammerspiel)
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Auf Klo: So füh­le ich mich als Jüdin in Deutschland
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Let­ti­sche Waffen-SS
https://de.wikipedia.org/wiki/Lettische_SS-Verb%C3%A4nde

Ste­pan Bandera
https://​de​.wiki​pe​dia​.org/​w​i​k​i​/​S​t​e​p​a​n​_​B​a​n​d​era

Samu­el Kunz, mut­maß­li­cher russ­land­deut­scher NS-Verbrecher
https://​de​.wiki​pe​dia​.org/​w​i​k​i​/​S​a​m​u​e​l​_​K​unz

John Halas, Joy Bat­che­lor: Auf­stand der Tie­re (Nach Ani­mal Farm /​ Farm der Tie­re von Geor­ge Orwell)
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Sojus­multfilm: Hase und Wolf (Nu pogo­di!)
https://​de​.wiki​pe​dia​.org/​w​i​k​i​/​H​a​s​e​_​u​n​d​_​W​olf

The Cyni­cal His­to­ri­an: Cher­no­byl | Based on a True Story
https://​www​.you​tube​.com/​w​a​t​c​h​?​v​=​v​q​m​O​f​b​e​1​YbA

Lukas Wie­sel­berg: Eige­ner Bei­trag wird über­schätzt (Zusam­men­fas­sung der Stu­die: Com­pe­ting natio­nal memo­ries of World War II)
https://​sci​ence​.orf​.at/​v​2​/​s​t​o​r​i​e​s​/​2​9​9​0​6​53/

Micha­el Shel­len­ber­ger: Why rene­wa­bles can’t save the planet
https://youtu.be/N‑yALPEpV4w

TIK: The Myth and Rea­li­ty of Joseph Stalin’s Order No. 227 „Not a Step Back!“
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