Charakter-Arcs: Die Entwicklung Deiner Figuren

Charakter-Arcs: Die Entwicklung Deiner Figuren

Inter­es­san­te Figu­ren ent­wi­ckeln sich und/​oder ver­än­dern ihre Umwelt. Doch wie funk­tio­niert so ein Cha­rak­ter-Arc? Wor­aus setzt er sich zusam­men? Und wel­che Typen gibt es? In die­sem Arti­kel schau­en wir uns das an …

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In einem frü­he­ren Arti­kel haben wir das Erzäh­len vor allem als das Beschrei­ben einer Zustands­ver­än­de­rung defi­niert. Und wenn wir dazu noch sagen, dass Figu­ren das Herz­stück einer Erzäh­lung sind, kom­men wir zu fol­gen­der Erkenntnis:

Eine inter­es­san­te, mit­rei­ßen­de Erzäh­lung erfor­dert, dass Figu­ren sich ver­än­dern. Dass sie sich ent­wi­ckeln. Zum Posi­ti­ven oder zum Negativen.

Schau­en wir uns also an, wie die Ver­än­de­rung einer Figur, ein soge­nann­ter cha­rac­ter arc, kon­stru­iert wird:

Was für Arcs gibt es? Aus wel­chen Ele­men­ten setzt sich ein Arc zusam­men? Und was gibt es sonst noch zu beachten?

Fin­den wir es heraus!

Voraussetzungen für einen spannenden Charakter-Arc

Bevor wir einen guten Cha­rac­ter-Arc über­haupt auf­bau­en kön­nen, müs­sen wir die not­wen­di­gen Bedin­gun­gen dafür erfül­len. Denn wenn eine Figur sich ent­wi­ckeln soll, muss über­haupt erst mal Ent­wick­lungs­po­ten­ti­al da sein. Eine Figur, die rund­um per­fekt ist, braucht sich näm­lich nicht zu entwickeln.

Erin­nerst Du Dich noch an den Arti­kel über die Figu­ren-Moti­va­ti­on? Dar­in haben wir unter ande­rem über die Unter­schei­dung von Ziel, Schwä­che und Bedürf­nis gespro­chen. Noch ein­mal zur Auffrischung:

Eine Figur hat ein Ziel, das sie bewusst ver­folgt. Das ist im Fall des Prot­ago­nis­ten der Aus­lö­ser für den Plot. Doch die Figur hat eine Schwä­che, die sie dar­an hin­dert, ihr Ziel zu errei­chen. Im Ver­lauf der Geschich­te merkt sie schließ­lich, dass sie ein tie­fes inne­res Bedürf­nis hat – nicht das, was sie bewusst will, son­dern das, was sie wirk­lich braucht. Die Erkennt­nis des Bedürf­nis­ses und das Kor­ri­gie­ren der Schwä­che füh­ren dann zum Errei­chen des Ziels oder zum Ver­wer­fen des alten Ziels und zum For­mu­lie­ren und Errei­chen eines neuen.

Wie in dem Arti­kel über die Figu­ren-Moti­va­ti­on bereits bespro­chen, ist es wich­tig, dass zumin­dest der Prot­ago­nist sein Ziel aktiv ver­folgt. Denn Figu­ren, die nichts tun und ein­fach war­ten, bis ihre Kon­flik­te sich von allei­ne auf­lö­sen, sind ten­den­zi­ell wenig mit­rei­ßend. Gleich­zei­tig soll­te die Schwä­che des Prot­ago­nis­ten bzw. der sich zu ent­wi­ckeln­den Figur schon zu Beginn der Erzäh­lung bzw. mög­lichst bei ihrem ers­ten Auf­tau­chen klar gezeigt wer­den. Idea­ler­wei­se soll­te die Figur durch ihre Schwä­che jeman­dem bewusst oder unbe­wusst Scha­den zufü­gen. Dadurch ergibt sich eine akti­ve Figur, mit der man ger­ne mit­fie­bern möch­te, die aber gleich­zei­tig nicht per­fekt ist, sodass man tat­säch­lich mit­fie­bern kann, wäh­rend sie sich entwickelt.

Weitere Begriffe

Arbei­ten wir das Gan­ze nun noch wei­ter her­aus und brin­gen die Lüge und den Geist der Ver­gan­gen­heit ins Spiel:

Die Schwä­che einer Figur ist in der Regel an eine Lüge gekop­pelt, an die sie fel­sen­fest glaubt. Und die­se Lüge wie­der­um ist oft eine Fol­ge einer prä­gen­den Erfah­rung im Leben der Figur. Das ist der Geist der Ver­gan­gen­heit, der die Figur immer noch heimsucht.

Grei­fen wir zur Erklä­rung mal ein Bei­spiel aus dem Arti­kel über die Figu­ren-Moti­va­ti­on auf:

  • Ale­jan­dro Mur­rie­ta ist der Prot­ago­nist von Die Mas­ke des Zor­ro.
  • Sein Ziel ist, Cap­tain Har­ri­son Love zu töten, um sei­nen Bru­der zu rächen.
  • Sei­ne Schwä­che ist, dass er ein rück­sichts­lo­ser, hitz­köp­fi­ger und untrai­nier­ter Ban­dit ist, der gegen Cap­tain Love nicht den Hauch einer Chan­ce hat.
  • Er glaubt also an die Lüge, dass jeder für sich ist, dass man über sei­ne Taten nicht nach­zu­den­ken braucht und dass Kämp­fen nicht mehr ist als hirn­lo­ses Ein­dre­schen auf den Gegner.
  • Im Ver­lauf der Geschich­te erkennt er jedoch die Wahr­heit: dass ein alter Kna­cker, zufäl­lig der ehe­ma­li­ge Zor­ro Don Die­go de la Vega, ihn mit weni­gen Bewe­gun­gen außer Gefecht set­zen kann und dass die Men­schen einen neu­en Zor­ro brau­chen. Damit ent­deckt er auch sein tie­fes inne­res Bedürf­nis, die Schwa­chen zu beschüt­zen, und lässt sich vom alten Zor­ro zum neu­en Zor­ro ausbilden.
  • Er lernt Mit­ge­fühl für das ein­fa­che Volk, sei­ne Impul­se zu beherr­schen und natür­lich das Kämp­fen. Damit besiegt er die Geis­ter sei­ner Ver­gan­gen­heit, näm­lich sei­nen kri­mi­nel­len Hin­ter­grund und den ursprüng­lich unkon­trol­lier­ba­ren Drang, sich unüber­legt auf Cap­tain Love zu stürzen.
  • Durch stra­te­gi­sches und heroi­sches Vor­ge­hen sowie sei­ne per­fek­tio­nier­ten Kampf­küns­te erreicht er sein neu­es Ziel, die Schwa­chen, näm­lich die tod­ge­weih­ten Skla­ven einer Gold­mi­ne, zu beschüt­zen, aber auch sein ursprüng­li­ches Ziel, sich an Cap­tain Love zu rächen.

Verknüpfungen

Um eine wirk­lich inter­es­san­te Ent­wick­lung einer Figur dar­zu­stel­len, soll­test Du also Ziel, Schwä­che, Lüge, Bedürf­nis und den Geist der Ver­gan­gen­heit defi­nie­ren und sie alle schlüs­sig mit­ein­an­der ver­knüp­fen. Das ver­knüp­fen­de Glied ist dabei das The­ma der Geschich­te:

  • Beach­te zum Bei­spiel, wie Ale­jan­dros Ziel, Schwä­che, Lüge, Bedürf­nis und Geis­ter der Ver­gan­gen­heit sich um sei­nen Wer­de­gang vom inkom­pe­ten­ten und ego­is­ti­schen Kri­mi­nel­len zum strah­len­den Hel­den drehen.
  • Beach­te auch, wie der alte Zor­ro sei­ne Rol­le als strah­len­der Held abgibt und sich nur noch um sei­ne eige­ne Rache und sei­ne Fami­li­en­an­ge­le­gen­hei­ten kümmert.

Damit will ich vor allem andeu­ten, dass ein Cha­rak­ter-Arc nicht nur mit dem The­ma einer Geschich­te, son­dern auch mit ande­ren Cha­rak­ter-Arcs und der gene­rel­len Struk­tur der Gesamt­ge­schich­te ver­knüpft sein soll­te (sie­he Figu­ren-Kon­stel­la­ti­on). Sonst ergibt sich kein orga­ni­sches, stim­mi­ges Ganzes:

Beach­te bei­spiels­wei­se, wie in der Har­ry Pot­ter-Serie im Zusam­men­hang mit der Ent­wick­lung des Prot­ago­nis­ten ein grund­le­gen­der Wan­del statt­fin­det: Sind die ers­ten Bän­de der Rei­he noch put­zi­ge Kin­der­bü­cher, wird das Figu­ren­ge­flecht in den spä­te­ren Bän­den kom­pli­zier­ter und die The­men wer­den ernster.

Die Har­ry Pot­ter-Serie demons­triert im Übri­gen auch, dass ein Cha­rak­ter-Arc durch­aus auch über Jah­re hin­weg ver­lau­fen kann. Die Schlüs­sel­mo­men­te eines (wich­ti­gen) Arcs soll­ten gene­rell stets in kon­kre­ten Sze­nen gezeigt wer­den. Dadurch wird auch eine sehr all­mäh­li­che Ver­än­de­rung einer Figur sicht­bar und nachvollziehbar.

Und wenn es spe­zi­ell um den Arc des Prot­ago­nis­ten geht, soll­te er auch mit der ihn umge­ben­den Welt ver­knüpft sein:

So ist es für Die Mas­ke des Zor­ro bei­spiels­wei­se bezeich­nend, dass ein star­ker Kon­trast zwi­schen der Welt der herr­schen­den Eli­ten, die das Volk aus­beu­ten, und den kata­stro­pha­len Bedin­gun­gen, die die Skla­ven der Gold­mi­ne ertra­gen müs­sen, kon­stru­iert wird: Als Ale­jan­dro den Kreis der rei­chen Macht­ha­ber infil­triert, ist er noch ein Ego­ist. Die Sze­ne­rie ist voll bun­ter Far­ben, Musik und Luxus. Er ist ein Ego­ist in einer Welt von Ego­is­ten. Ein ent­schei­den­der Mei­len­stein für sei­nen Wan­del ist jedoch der Besuch der besag­ten Gold­mi­ne. Sein Wan­del pas­siert also nicht ein­fach irgend­wann, weil sein Men­tor Don Die­go ihn mit guten Argu­men­ten über­zeugt hat, son­dern als Ale­jan­dro das Leid der Men­schen direkt vor Ort sieht. Die ein­tö­ni­ge gelb-brau­ne Fels- und Wüs­ten­sze­ne­rie ver­kör­pert die Kon­fron­ta­ti­on des Prot­ago­nis­ten mit der bit­te­ren Wahrheit.

Außer­dem soll­te der Arc des Prot­ago­nis­ten vor allem mit der Plotstruk­tur ver­knüpft sein: Die wich­ti­gen Mei­len­stei­ne sei­ner Ent­wick­lung soll­ten mit bestimm­ten Sto­ry­beats zusam­men­fal­len, weil die Gesamt­ge­schich­te ja auch gleich­zei­tig sei­ne per­sön­li­che Geschich­te ist. Das The­ma Plot- bzw. Hand­lungs­struk­tu­ren mit der Hel­den­rei­se, der Drei-Akt-Struk­tur, dem Sie­ben-Punk­te-Sys­tem etc. ist jedoch ein ganz eige­nes Fass, das wir ger­ne ein ander­mal öff­nen können.

Ansons­ten geht John Tru­by in sei­nem äußerst hilf­rei­chen Buch The Ana­to­my of Sto­ry sehr aus­führ­lich auf all die­se Zusam­men­hän­ge ein. Wir aber blei­ben bei den Cha­rak­ter-Arcs selbst und schau­en uns an, wel­che Typen es über­haupt gibt.

Typen von Charakter-Arcs

Die Autorin und Blog­ge­rin K. M. Wei­land unter­schei­det in ihrem Buch Crea­ting Cha­rac­ter Arcs zwi­schen drei Typen:

  • Der posi­ti­ve Arc (Posi­ti­ve Chan­ge Arc) ist wohl der belieb­tes­te Typ. Hier geht es um eine Ver­än­de­rung der Figur zum Posi­ti­ven: Sie erkennt die Lüge in ihrem Leben als sol­che und besiegt ihre Schwä­chen. Sie wird zu einem bes­se­ren Men­schen und lebt ein erfüll­te­res Leben.
  • Der nega­ti­ve Arc (Nega­ti­ve Chan­ge Arc) ist das kom­plet­te Gegen­teil davon: Die Figur ver­än­dert sich zum Nega­ti­ven – in wel­cher Form auch immer. 
    • Im bes­ten Fall ist die nega­ti­ve Ver­än­de­rung ledig­lich nur eine Des­il­lu­sio­nie­rung: Die Figur erkennt, dass ihre Frie­de-Freu­de-Eier­ku­chen-Vor­stel­lung von der Welt eine Lüge ist, legt ihre Nai­vi­tät ab und erkennt die bit­te­re Rea­li­tät. Manch­mal kann ein sol­ches Sze­na­rio auch als posi­tiv ange­se­hen wer­den, aber das Ende ist trotz­dem depri­mie­rend, weil die Welt­sicht der Figur sich zum Nega­ti­ven gewan­delt hat.
    • Viel tra­gi­scher ist der Wer­de­gang einer Figur, die sich wei­gert, die Wahr­heit zu erken­nen, und immer tie­fer in ihrer Lüge ver­sinkt und evtl. auch ande­re mit sich hin­ab­zieht. Die Geschich­te endet mit häu­fig mit Wahn­sinn, Amo­ra­li­tät oder dem Tod.
    • Bit­ter ist auch die Ver­än­de­rung einer Figur, die am Anfang die Wahr­heit kennt, sich im Ver­lauf der Geschich­te aber von der Lüge kor­rum­pie­ren lässt. Es ist also die Geschich­te eines poten­ti­el­len Hel­den, der zum Schur­ken mutiert.
  • Ansons­ten ist auch ein Cha­rak­ter-Arc mög­lich, bei dem die Figur sich – zumin­dest inner­lich – gar nicht ver­än­dert: Das ist der soge­nann­te fla­che Arc (Flat Arc). Die Figur ist an sich schon per­fekt, wie sie ist, also braucht sie sich nicht zu ver­än­dern. Viel­mehr wird sie – ihr Glau­be an die Wahr­heit – immer wie­der auf die Pro­be gestellt. Die Figur besteht die Her­aus­for­de­run­gen und bleibt bis zum Ende sie selbst. Die Zustands­ver­än­de­rung wird dabei auf die ande­ren Figu­ren aus­ge­la­gert: Sie sind es, die sich durch die Stand­haf­tig­keit der per­fek­ten Figur verändern.
    Alter­na­tiv kann die Figur laut Tyler Mowery aber auch eine „nega­ti­ve“ Wahr­heit ver­kör­pern: Wäh­rend die Figur bleibt, wie sie ist, des­il­lu­sio­nie­ren ihre Taten ande­re Figu­ren und/​oder kor­rum­pie­ren sie.

Die Rolle der Interpretation

Außer­dem schlägt Tyler Mowery noch einen vier­ten Typ vor: den offe­nen Arc (Open-Ended Arc). Das ist der Fall, wenn die Zuord­nung zu einem der ande­ren Typen von der Inter­pre­ta­ti­on des Rezi­pi­en­ten abhängt: Ist die Welt­sicht einer Figur am Anfang eine Lüge und sie ver­sinkt noch tie­fer in ihr oder ist es die Wahr­heit und sie wider­steht der Lüge?

Mowerys Bei­spiel ist der Film Whip­lash, in dem offen bleibt, ob Erfolg Erfül­lung bringt oder nicht: Der Prot­ago­nist will eine Musik­kar­rie­re und sein Band­lea­der treibt ihn mit bru­ta­len Metho­den zu Höchst­leis­tun­gen. Soll der Prot­ago­nist das hinnehmen?

  • Wenn man annimmt, dass das „nor­ma­le Leben“ die Wahr­heit ist und Erfül­lung durch eine erfolg­rei­che Musik­kar­rie­re eine Lüge, dann haben wir einen nega­ti­ven Arc, bei dem der Prot­ago­nist nicht nur eine Lüge ver­folgt, son­dern dafür im Ver­lauf der Geschich­te auch gewal­ti­ge Opfer bringt.
  • Wenn man dage­gen annimmt, dass das „nor­ma­le Leben“ eine Lüge ist und Erfül­lung durch eine erfolg­rei­che Musik­kar­rie­re die Wahr­heit, dann haben wir einen fla­chen Arc, bei dem der Prot­ago­nist die Wahr­heit von Anfang an kennt und eine Rei­he von Prü­fun­gen besteht.

Beim offe­nen Arc geht es also weni­ger um einen bestimm­ten Ver­än­de­rungs­ver­lauf, son­dern viel­mehr dar­um, dass die zen­tra­len Fra­gen einer Erzäh­lung offen blei­ben: Der Rezi­pi­ent soll selbst ent­schei­den, was Wahr­heit und Lüge ist. Ich wür­de Mowerys offe­nen Arc daher nicht als voll­wer­ti­gen Typ anse­hen, son­dern als einen legi­ti­men Ein­wand, dass Wei­lands Typo­lo­gie stark an mora­li­sche Nor­men geknüpft ist, die aber nicht immer ein­deu­tig sind. Ja, meis­tens kom­mu­ni­ziert der Autor einer Erzäh­lung recht klar, was er für rich­tig und falsch hält, aber manch­mal sind Erzäh­lun­gen auch als blo­ße Denkan­re­gun­gen gemeint. Frei nach dem Mot­to: „Lie­ber Leser, hier hast Du eine Geschich­te, ent­schei­de selbst, was gut und was schlecht ist.“

Im Übri­gen sind in die­sem Zusam­men­hang auch kul­tu­rel­le Unter­schie­de zu beden­ken, denn jede Kul­tur hat ihre eige­nen Wer­te, die bestim­men, was als rich­tig oder falsch ange­se­hen wird:

Sagen wir mal, eine talen­tier­te Figur will eine Künst­ler­kar­rie­re ver­fol­gen, wird von ihrer Fami­lie jedoch aus­ge­bremst. Sie hängt emo­tio­nal an ihren Ver­wand­ten, aber im Ver­lauf der Geschich­te sagt sie sich von ihnen los und ver­folgt ihr indi­vi­du­el­les Glück. In unse­rer indi­vi­dua­lis­ti­schen „west­li­chen“ Kul­tur wäre das ein posi­ti­ver Arc. In vie­len ande­ren Kul­tu­ren gilt die Gemein­schaft – vor allem die Fami­lie – jedoch als wich­ti­ger als das Indi­vi­du­um und jemand, der sei­ner Fami­lie den Rücken kehrt, um per­sön­li­che Zie­le zu ver­fol­gen, steht als Ego­ist da, weil er sei­ne Gemein­schaft im Stich gelas­sen hat. Aus die­ser Per­spek­ti­ve wäre das ein nega­ti­ver Arc.

Die­ser Sach­ver­halt unter­streicht die Rol­le des abs­trak­ten Lesers bzw. Rezi­pi­en­ten für das Werk. Wie in dem Arti­kel über das Modell der Kom­mu­ni­ka­ti­ons­ebe­nen von Wolf Schmid erläu­tert, soll­te der abs­trak­te Leser bzw. Rezi­pi­ent mög­lichst nah an den rea­len Men­schen sein, denen man die Geschich­te „ver­kau­fen“ möch­te. Sonst kann es zur Fehl­kom­mu­ni­ka­ti­on kom­men, sodass die Geschich­te völ­lig anders auf­ge­nom­men wird als beabsichtigt.

Konkrete Entwicklung

So viel zur Theo­rie. Doch wie kann die Ent­wick­lung einer Figur kon­kret aus­se­hen? In The Ana­to­my of Sto­ry zählt John Tru­by eini­ge belieb­te Arcs auf. Das heißt aber nicht, dass man sie unbe­dingt benut­zen soll, son­dern es ist viel­mehr eine Beob­ach­tung, wel­che Arten von Ent­wick­lung fik­tio­na­le Figu­ren erstaun­lich oft durch­ma­chen.

  • Als ers­tes hät­ten wir die selbst­er­klä­ren­de Ent­wick­lung vom Kind zum Erwach­se­nen.
  • Eine wei­te­re Art von Arc ist die Ent­wick­lung von einem Erwach­se­nen zum Anfüh­rer, also das Auf­neh­men einer Ver­ant­wor­tung für ande­re und nicht nur für sich selbst.
  • Eine spe­zi­el­le Form die­ser Ent­wick­lung ist der Wan­del von einem Zyni­ker, dem der Rest der Welt den Buckel run­ter­rut­schen kann, zu jeman­dem, der sich letzt­end­lich an der Ret­tung der Welt oder einer ande­ren selbst­lo­sen Mis­si­on betei­ligt.
  • Jemand, der bereits ein Anfüh­rer ist, kann eine Ent­wick­lung zum Tyrann Also die Wand­lung eines Anfüh­rers, der die bru­ta­le Unter­drü­ckung ande­rer Men­schen für sich entdeckt.
  • Eine posi­ti­ve­re Ent­wick­lung eines Anfüh­rers ist die zum Visio­när. Im Prin­zip ent­wi­ckelt sich der Anfüh­rer zu einem noch grö­ße­ren Anfüh­rer, als er nicht nur die Ver­ant­wor­tung für sei­ne eige­ne Grup­pe über­nimmt, son­dern Wer­te ent­deckt, nach denen die gesam­te Gesell­schaft refor­miert wer­den sollte.
  • Eine letz­te häu­fi­ge Art von Ent­wick­lung ist laut Tru­by die Meta­mor­pho­se, also eine buch­stäb­li­che Ver­wand­lung der Figur in jemand ande­ren. Des­we­gen geht eine sol­che Ent­wick­lung oft mit Gen­res mit fan­tas­ti­schen Ele­men­ten ein­her. In der Regel trägt die Meta­mor­pho­se dabei einen sym­bo­li­schen Charakter.

Aber wie gesagt, das sind nur eini­ge häu­fi­ge Ent­wick­lungs­ver­läu­fe und sie sind im Übri­gen auch nicht unbe­dingt an die abs­trak­ten Typen von Wei­land gekop­pelt:

So kann die Ent­wick­lung vom Kind zum Erwach­se­nen zum Bei­spiel ein posi­ti­ver Arc über ver­ant­wor­tungs­vol­les Han­deln sein, aber auch ein nega­ti­ver Arc über Desillusionierung.

Ob Du die­se häu­fi­gen Ent­wick­lungs­ver­läu­fe benutzt und wie, bleibt also Dir über­las­sen. Aber es ist zwei­fel­los nütz­lich, sie zu kennen.

Brauche ich Charakter-Arcs und wenn ja, wie viele?

So viel zur Struk­tur von Cha­rak­ter-Arcs. Es bleibt jedoch eine grund­le­gen­de Fra­ge: Brauchst Du sie über­haupt? Und wenn ja, wie vie­le bzw. wel­che Figu­ren soll­ten einen haben?

Charakter-Arcs für den Protagonisten

Wenn Du die­sen Arti­kel liest, dann bist Du sicher­lich über­zeugt, dass aller­min­des­tens Dein Prot­ago­nist einen Arc braucht. Das wür­de ich auch wei­test­ge­hend unterschreiben.

Wei­land weist jedoch dar­auf hin, dass eine Geschich­te auch ohne Cha­rak­ter-Arcs aus­kom­men kann, wenn das Gesche­hen an sich inter­es­sant ist:

Neh­men wir als Bei­spiel die bri­ti­sche Webse­rie Edds­world: Hier geht es um die absur­den Aben­teu­er einer WG von inkom­pe­ten­ten Idio­ten. Kei­ner von ihnen hat jedoch einen nen­nens­wer­ten Cha­rak­ter-Arc, zumal ihre Per­sön­lich­kei­ten und auch Intel­li­genz­le­vel nicht immer kon­stant sind. Das stand einem Mas­sen­er­folg aber nie im Weg. – Eher hat es zur Beliebt­heit der Serie bei­getra­gen. Nie­mand will, dass die inkom­pe­ten­ten Idio­ten sich irgend­wie ent­wi­ckeln. Die Zuschau­er genie­ßen sie und ihre Aben­teu­er so, wie sie sind. Fra­gen nach Wahr­heit und Lüge sind hier ein­fach irrelevant.

Meis­tens aber braucht tat­säch­lich wenigs­tens der Prot­ago­nist einen Arc: Wenn der Leser mit den Figu­ren mit­fie­bern, eine Kathar­sis erle­ben soll, wenn Du willst, dass die Erzäh­lung ihm Mut macht, ihn zum Nach­den­ken anregt und ihm irgend­wel­che Wer­te ver­mit­telt, kommst Du ein­fach nicht drum herum.

Was für einen Arc Dein Prot­ago­nist bekom­men soll, hängt jedoch kom­plett von der Geschich­te ab und dem, was Du mit ihr aus­sa­gen willst. Im Fall von Seri­en hängt davon auch ab, wie vie­le Arcs der Prot­ago­nist haben soll­te: Denn Du hast die Ent­schei­dung, ob Du nur einen seri­en­über­grei­fen­den Arc kon­stru­ierst oder ob der Prot­ago­nist in jedem ein­zel­nen Teil der Serie einen neu­en Arc bekommt. Natür­lich kannst Du das aber auch kom­bi­nie­ren und einen über­grei­fen­den gro­ßen Gesamt­arc mit klei­nen Ein­zel­arcs ver­knüp­fen:

In Ava­tar – Der Herr der Ele­men­te zum Bei­spiel hat der Prot­ago­nist einen Gesamt­arc, in dem er sei­ne Ver­ant­wor­tung für die Welt akzep­tiert. In den ein­zel­nen Epi­so­den hat er jedoch klei­ne­re Arcs, in denen er bei­spiels­wei­se lernt, sei­ne Posi­ti­on als Ava­tar nicht gedan­ken­los aus­zu­nut­zen, oder inner­lich zer­ris­sen ist, weil die all­ge­mei­ne Erwar­tung, dass er den Ant­ago­nis­ten töten soll, gegen sei­ne per­sön­li­chen Wer­te verstößt.

Wich­tig ist im Fall von pro­gres­si­ven Seri­en aller­dings, dass die vie­len Ein­zel­arcs immer unter­schied­lich sind: Kaum etwas ist ner­vi­ger als wenn die Ent­wick­lung einer Figur im Sequel ein­fach „reset­tet“ wird und sie die­sel­be Lek­ti­on ler­nen muss wie im ers­ten Teil. Somit soll­te eine Figur, die für meh­re­re Arcs bestimmt ist, auch aus­rei­chend Schwä­chen haben. Das soll­te bei einer inter­es­san­ten, kom­ple­xen Figur aber durch­aus im Rah­men des Mög­li­chen sein. 😉

Charakter-Arcs für Nebenfiguren

Was die ande­ren Figu­ren angeht, so kommt die Not­wen­dig­keit eines Arcs eben­falls auf die Geschich­te selbst an. Grund­sätz­lich ist in einem ein­zel­nen kom­pak­ten Roman oft nicht genug Platz dafür. Des­we­gen bekom­men Neben­fi­gu­ren – zumin­dest mei­ner Beob­ach­tung nach – ten­den­zi­ell eher in län­ge­ren Geschich­ten – vor allem in Seri­en – einen nen­nens­wer­ten Arc.

Aber, wie gesagt, je nach Geschich­te und vor allem je nach Figu­ren-Kon­stel­la­ti­on kön­nen auch Arcs von Neben­fi­gu­ren wich­tig wer­den. Und Son­der­punk­te gibt es, wenn die­se Arcs mit dem des Prot­ago­nis­ten und mit­ein­an­der ver­knüpft sind:

Betrach­ten wir zum Bei­spiel Stolz und Vor­ur­teil von Jane Aus­ten: Die Arcs der Prot­ago­nis­tin Liz­zy und ihres Oppo­nen­ten Dar­cy sind fest mit­ein­an­der ver­bun­den, weil sie durch den jeweils ande­ren die Wahr­heit erken­nen. Dar­cy erkennt sei­nen Stolz – sei­nen Stan­des­dün­kel – als Lüge und Liz­zy ihr Vor­ur­teil. Und so gelan­gen sie schließ­lich zu einem gemein­sa­men Hap­py End.

Wenn Du Dich jetzt aber fragst, wie mein „Je nach Geschich­te“ zu ver­ste­hen ist, dann ver­si­che­re ich Dir: Ich mei­ne das sehr wört­lich. Die wich­tigs­te Regel beim Schrei­ben ist ja, dass es kei­ne Regeln gibt: Du musst selbst wis­sen, was für eine Geschich­te Du schreibst und was Du damit errei­chen möch­test. Und Du musst Dir selbst her­lei­ten, was Du dafür brauchst. Das gilt für die Fra­ge nach der Not­wen­dig­keit von Arcs für Neben­fi­gu­ren genau­so wie für alle ande­ren Fragen.

Charakter-Arcs in drei Schritten

Zum guten Schluss wol­len wir das Bespro­che­ne in drei Schrit­ten zum Erschaf­fen von Cha­rak­ter-Arcs zusam­men­fas­sen und abstrahieren:

  • Benen­ne das The­ma Dei­nes Wer­kes. Was ist Wahr­heit und was ist Lüge? Und wenn Du Dir nicht sicher bist, was rich­tig und was falsch ist: Wel­che zwei ent­ge­gen­ge­setz­te Ansich­ten pral­len aufeinander?

In Dis­neys Ani­ma­ti­ons­film Die Schö­ne und das Biest geht es um inne­re Schön­heit. Die Wahr­heit ist das, was eine Per­son in ihrem Inne­ren ist, und die Lüge ist das äuße­re Aussehen:

In der Hül­le eines häss­li­chen Biests steckt ein zwar ego­is­ti­scher, aber den­noch mensch­li­cher Prinz. Im Fall von Gas­ton ver­steckt sich hin­ter der gut­aus­se­hen­den Fas­sa­de ein Monster.

Bel­le hin­ge­gen ist per­so­ni­fi­zier­te Per­fek­ti­on. Ihre äuße­re Schön­heit spie­gelt vor allem ihre inne­re Schönheit.

  • Bestim­me die Rol­le der Figur im Gesamt­ge­flecht. Wie sieht ihr Umfeld aus, wie wird sie davon beein­flusst und wie beein­flusst sie es? Wie muss sie sich ver­än­dern und/​oder wie muss das Umfeld sich verändern?

Das Biest lebt ver­bit­tert und zurück­ge­zo­gen in sei­nem Schloss und wird von jenen, die sei­ne Geschich­te nicht ken­nen, als Mons­ter wahr­ge­nom­men. Um den Fluch zu bre­chen und wie­der ein Mensch zu wer­den, muss es Bel­les Lie­be gewin­nen. Dafür muss es sich von sei­ner mensch­li­chen Sei­te zeigen.

Gas­ton hin­ge­gen muss nie­man­dem etwas bewei­sen. Das gan­ze Dorf ist im Prin­zip sein per­sön­li­cher Fan­club. Nur Bel­le, die Hüte­rin der Wahr­heit, durch­schaut sei­ne Fas­sa­de. Eben­so wie sie auch die Schön­heit des Biests erkennt.

  • Ent­schei­de Dich auf Grund­la­ge Dei­ner Über­le­gun­gen für einen posi­ti­ven, nega­ti­ven oder fla­chen Arc. Beach­te dabei ggf. auch die Arcs der ande­ren Figuren.

Das Biest und Gas­ton sind Kon­trast­fi­gu­ren. Wäh­rend das Biest also einen posi­ti­ven Arc durch­macht, sei­ne inne­re Schön­heit ent­wi­ckelt und wie­der ein Mensch wird, ist Gas­tons Arc nega­tiv: Ist er am Anfang noch ledig­lich ein ein­ge­bil­de­ter Schnö­sel, greift er im Ver­lauf der Hand­lung zu Erpres­sung und sta­chelt das gan­ze Dorf zum Kampf gegen das Biest auf. Sein Arc endet mit dem Tod.

Bel­les Arc ist wäh­rend­des­sen flach: Sie bleibt sich selbst treu und ihre Ent­schei­dun­gen brin­gen die Wahr­heit ans Licht, dass das Biest ein schö­ner Prinz und Gas­ton ein Mons­ter ist.

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