Interessante Figuren entwickeln sich und/oder verändern ihre Umwelt. Doch wie funktioniert so ein Charakter-Arc? Woraus setzt er sich zusammen? Und welche Typen gibt es? In diesem Artikel schauen wir uns das an …
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In einem früheren Artikel haben wir das Erzählen vor allem als das Beschreiben einer Zustandsveränderung definiert. Und wenn wir dazu noch sagen, dass Figuren das Herzstück einer Erzählung sind, kommen wir zu folgender Erkenntnis:
Eine interessante, mitreißende Erzählung erfordert, dass Figuren sich verändern. Dass sie sich entwickeln. Zum Positiven oder zum Negativen.
Schauen wir uns also an, wie die Veränderung einer Figur, ein sogenannter character arc, konstruiert wird:
Was für Arcs gibt es? Aus welchen Elementen setzt sich ein Arc zusammen? Und was gibt es sonst noch zu beachten?
Finden wir es heraus!
Voraussetzungen für einen spannenden Charakter-Arc
Bevor wir einen guten Character-Arc überhaupt aufbauen können, müssen wir die notwendigen Bedingungen dafür erfüllen. Denn wenn eine Figur sich entwickeln soll, muss überhaupt erst mal Entwicklungspotential da sein. Eine Figur, die rundum perfekt ist, braucht sich nämlich nicht zu entwickeln.
Erinnerst Du Dich noch an den Artikel über die Figuren-Motivation? Darin haben wir unter anderem über die Unterscheidung von Ziel, Schwäche und Bedürfnis gesprochen. Noch einmal zur Auffrischung:
Eine Figur hat ein Ziel, das sie bewusst verfolgt. Das ist im Fall des Protagonisten der Auslöser für den Plot. Doch die Figur hat eine Schwäche, die sie daran hindert, ihr Ziel zu erreichen. Im Verlauf der Geschichte merkt sie schließlich, dass sie ein tiefes inneres Bedürfnis hat — nicht das, was sie bewusst will, sondern das, was sie wirklich braucht. Die Erkenntnis des Bedürfnisses und das Korrigieren der Schwäche führen dann zum Erreichen des Ziels oder zum Verwerfen des alten Ziels und zum Formulieren und Erreichen eines neuen.
Wie in dem Artikel über die Figuren-Motivation bereits besprochen, ist es wichtig, dass zumindest der Protagonist sein Ziel aktiv verfolgt. Denn Figuren, die nichts tun und einfach warten, bis ihre Konflikte sich von alleine auflösen, sind tendenziell wenig mitreißend. Gleichzeitig sollte die Schwäche des Protagonisten bzw. der sich zu entwickelnden Figur schon zu Beginn der Erzählung bzw. möglichst bei ihrem ersten Auftauchen klar gezeigt werden. Idealerweise sollte die Figur durch ihre Schwäche jemandem bewusst oder unbewusst Schaden zufügen. Dadurch ergibt sich eine aktive Figur, mit der man gerne mitfiebern möchte, die aber gleichzeitig nicht perfekt ist, sodass man tatsächlich mitfiebern kann, während sie sich entwickelt.
Weitere Begriffe
Arbeiten wir das Ganze nun noch weiter heraus und bringen die Lüge und den Geist der Vergangenheit ins Spiel:
Die Schwäche einer Figur ist in der Regel an eine Lüge gekoppelt, an die sie felsenfest glaubt. Und diese Lüge wiederum ist oft eine Folge einer prägenden Erfahrung im Leben der Figur. Das ist der Geist der Vergangenheit, der die Figur immer noch heimsucht.
Greifen wir zur Erklärung mal ein Beispiel aus dem Artikel über die Figuren-Motivation auf:
- Alejandro Murrieta ist der Protagonist von Die Maske des Zorro.
- Sein Ziel ist, Captain Harrison Love zu töten, um seinen Bruder zu rächen.
- Seine Schwäche ist, dass er ein rücksichtsloser, hitzköpfiger und untrainierter Bandit ist, der gegen Captain Love nicht den Hauch einer Chance hat.
- Er glaubt also an die Lüge, dass jeder für sich ist, dass man über seine Taten nicht nachzudenken braucht und dass Kämpfen nicht mehr ist als hirnloses Eindreschen auf den Gegner.
- Im Verlauf der Geschichte erkennt er jedoch die Wahrheit: dass ein alter Knacker, zufällig der ehemalige Zorro Don Diego de la Vega, ihn mit wenigen Bewegungen außer Gefecht setzen kann und dass die Menschen einen neuen Zorro brauchen. Damit entdeckt er auch sein tiefes inneres Bedürfnis, die Schwachen zu beschützen, und lässt sich vom alten Zorro zum neuen Zorro ausbilden.
- Er lernt Mitgefühl für das einfache Volk, seine Impulse zu beherrschen und natürlich das Kämpfen. Damit besiegt er die Geister seiner Vergangenheit, nämlich seinen kriminellen Hintergrund und den ursprünglich unkontrollierbaren Drang, sich unüberlegt auf Captain Love zu stürzen.
- Durch strategisches und heroisches Vorgehen sowie seine perfektionierten Kampfkünste erreicht er sein neues Ziel, die Schwachen, nämlich die todgeweihten Sklaven einer Goldmine, zu beschützen, aber auch sein ursprüngliches Ziel, sich an Captain Love zu rächen.
Verknüpfungen
Um eine wirklich interessante Entwicklung einer Figur darzustellen, solltest Du also Ziel, Schwäche, Lüge, Bedürfnis und den Geist der Vergangenheit definieren und sie alle schlüssig miteinander verknüpfen. Das verknüpfende Glied ist dabei das Thema der Geschichte:
- Beachte zum Beispiel, wie Alejandros Ziel, Schwäche, Lüge, Bedürfnis und Geister der Vergangenheit sich um seinen Werdegang vom inkompetenten und egoistischen Kriminellen zum strahlenden Helden drehen.
- Beachte auch, wie der alte Zorro seine Rolle als strahlender Held abgibt und sich nur noch um seine eigene Rache und seine Familienangelegenheiten kümmert.
Damit will ich vor allem andeuten, dass ein Charakter-Arc nicht nur mit dem Thema einer Geschichte, sondern auch mit anderen Charakter-Arcs und der generellen Struktur der Gesamtgeschichte verknüpft sein sollte (siehe Figuren-Konstellation). Sonst ergibt sich kein organisches, stimmiges Ganzes:
Beachte beispielsweise, wie in der Harry Potter-Serie im Zusammenhang mit der Entwicklung des Protagonisten ein grundlegender Wandel stattfindet: Sind die ersten Bände der Reihe noch putzige Kinderbücher, wird das Figurengeflecht in den späteren Bänden komplizierter und die Themen werden ernster.
Die Harry Potter-Serie demonstriert im Übrigen auch, dass ein Charakter-Arc durchaus auch über Jahre hinweg verlaufen kann. Die Schlüsselmomente eines (wichtigen) Arcs sollten generell stets in konkreten Szenen gezeigt werden. Dadurch wird auch eine sehr allmähliche Veränderung einer Figur sichtbar und nachvollziehbar.
Und wenn es speziell um den Arc des Protagonisten geht, sollte er auch mit der ihn umgebenden Welt verknüpft sein:
So ist es für Die Maske des Zorro beispielsweise bezeichnend, dass ein starker Kontrast zwischen der Welt der herrschenden Eliten, die das Volk ausbeuten, und den katastrophalen Bedingungen, die die Sklaven der Goldmine ertragen müssen, konstruiert wird: Als Alejandro den Kreis der reichen Machthaber infiltriert, ist er noch ein Egoist. Die Szenerie ist voll bunter Farben, Musik und Luxus. Er ist ein Egoist in einer Welt von Egoisten. Ein entscheidender Meilenstein für seinen Wandel ist jedoch der Besuch der besagten Goldmine. Sein Wandel passiert also nicht einfach irgendwann, weil sein Mentor Don Diego ihn mit guten Argumenten überzeugt hat, sondern als Alejandro das Leid der Menschen direkt vor Ort sieht. Die eintönige gelb-braune Fels- und Wüstenszenerie verkörpert die Konfrontation des Protagonisten mit der bitteren Wahrheit.
Außerdem sollte der Arc des Protagonisten vor allem mit der Plotstruktur verknüpft sein: Die wichtigen Meilensteine seiner Entwicklung sollten mit bestimmten Storybeats zusammenfallen, weil die Gesamtgeschichte ja auch gleichzeitig seine persönliche Geschichte ist. Das Thema Plot- bzw. Handlungsstrukturen mit der Heldenreise, der Drei-Akt-Struktur, dem Sieben-Punkte-System etc. ist jedoch ein ganz eigenes Fass, das wir gerne ein andermal öffnen können.
Ansonsten geht John Truby in seinem äußerst hilfreichen Buch The Anatomy of Story sehr ausführlich auf all diese Zusammenhänge ein. Wir aber bleiben bei den Charakter-Arcs selbst und schauen uns an, welche Typen es überhaupt gibt.
Typen von Charakter-Arcs
Die Autorin und Bloggerin K. M. Weiland unterscheidet in ihrem Buch Creating Character Arcs zwischen drei Typen:
- Der positive Arc (Positive Change Arc) ist wohl der beliebteste Typ. Hier geht es um eine Veränderung der Figur zum Positiven: Sie erkennt die Lüge in ihrem Leben als solche und besiegt ihre Schwächen. Sie wird zu einem besseren Menschen und lebt ein erfüllteres Leben.
- Der negative Arc (Negative Change Arc) ist das komplette Gegenteil davon: Die Figur verändert sich zum Negativen — in welcher Form auch immer.
- Im besten Fall ist die negative Veränderung lediglich nur eine Desillusionierung: Die Figur erkennt, dass ihre Friede-Freude-Eierkuchen-Vorstellung von der Welt eine Lüge ist, legt ihre Naivität ab und erkennt die bittere Realität. Manchmal kann ein solches Szenario auch als positiv angesehen werden, aber das Ende ist trotzdem deprimierend, weil die Weltsicht der Figur sich zum Negativen gewandelt hat.
- Viel tragischer ist der Werdegang einer Figur, die sich weigert, die Wahrheit zu erkennen, und immer tiefer in ihrer Lüge versinkt und evtl. auch andere mit sich hinabzieht. Die Geschichte endet mit häufig mit Wahnsinn, Amoralität oder dem Tod.
- Bitter ist auch die Veränderung einer Figur, die am Anfang die Wahrheit kennt, sich im Verlauf der Geschichte aber von der Lüge korrumpieren lässt. Es ist also die Geschichte eines potentiellen Helden, der zum Schurken mutiert.
- Ansonsten ist auch ein Charakter-Arc möglich, bei dem die Figur sich — zumindest innerlich — gar nicht verändert: Das ist der sogenannte flache Arc (Flat Arc). Die Figur ist an sich schon perfekt, wie sie ist, also braucht sie sich nicht zu verändern. Vielmehr wird sie — ihr Glaube an die Wahrheit — immer wieder auf die Probe gestellt. Die Figur besteht die Herausforderungen und bleibt bis zum Ende sie selbst. Die Zustandsveränderung wird dabei auf die anderen Figuren ausgelagert: Sie sind es, die sich durch die Standhaftigkeit der perfekten Figur verändern.
Alternativ kann die Figur laut Tyler Mowery aber auch eine “negative” Wahrheit verkörpern: Während die Figur bleibt, wie sie ist, desillusionieren ihre Taten andere Figuren und/oder korrumpieren sie.
Die Rolle der Interpretation
Außerdem schlägt Tyler Mowery noch einen vierten Typ vor: den offenen Arc (Open-Ended Arc). Das ist der Fall, wenn die Zuordnung zu einem der anderen Typen von der Interpretation des Rezipienten abhängt: Ist die Weltsicht einer Figur am Anfang eine Lüge und sie versinkt noch tiefer in ihr oder ist es die Wahrheit und sie widersteht der Lüge?
Mowerys Beispiel ist der Film Whiplash, in dem offen bleibt, ob Erfolg Erfüllung bringt oder nicht: Der Protagonist will eine Musikkarriere und sein Bandleader treibt ihn mit brutalen Methoden zu Höchstleistungen. Soll der Protagonist das hinnehmen?
- Wenn man annimmt, dass das “normale Leben” die Wahrheit ist und Erfüllung durch eine erfolgreiche Musikkarriere eine Lüge, dann haben wir einen negativen Arc, bei dem der Protagonist nicht nur eine Lüge verfolgt, sondern dafür im Verlauf der Geschichte auch gewaltige Opfer bringt.
- Wenn man dagegen annimmt, dass das “normale Leben” eine Lüge ist und Erfüllung durch eine erfolgreiche Musikkarriere die Wahrheit, dann haben wir einen flachen Arc, bei dem der Protagonist die Wahrheit von Anfang an kennt und eine Reihe von Prüfungen besteht.
Beim offenen Arc geht es also weniger um einen bestimmten Veränderungsverlauf, sondern vielmehr darum, dass die zentralen Fragen einer Erzählung offen bleiben: Der Rezipient soll selbst entscheiden, was Wahrheit und Lüge ist. Ich würde Mowerys offenen Arc daher nicht als vollwertigen Typ ansehen, sondern als einen legitimen Einwand, dass Weilands Typologie stark an moralische Normen geknüpft ist, die aber nicht immer eindeutig sind. Ja, meistens kommuniziert der Autor einer Erzählung recht klar, was er für richtig und falsch hält, aber manchmal sind Erzählungen auch als bloße Denkanregungen gemeint. Frei nach dem Motto: “Lieber Leser, hier hast Du eine Geschichte, entscheide selbst, was gut und was schlecht ist.”
Im Übrigen sind in diesem Zusammenhang auch kulturelle Unterschiede zu bedenken, denn jede Kultur hat ihre eigenen Werte, die bestimmen, was als richtig oder falsch angesehen wird:
Sagen wir mal, eine talentierte Figur will eine Künstlerkarriere verfolgen, wird von ihrer Familie jedoch ausgebremst. Sie hängt emotional an ihren Verwandten, aber im Verlauf der Geschichte sagt sie sich von ihnen los und verfolgt ihr individuelles Glück. In unserer individualistischen “westlichen” Kultur wäre das ein positiver Arc. In vielen anderen Kulturen gilt die Gemeinschaft — vor allem die Familie — jedoch als wichtiger als das Individuum und jemand, der seiner Familie den Rücken kehrt, um persönliche Ziele zu verfolgen, steht als Egoist da, weil er seine Gemeinschaft im Stich gelassen hat. Aus dieser Perspektive wäre das ein negativer Arc.
Dieser Sachverhalt unterstreicht die Rolle des abstrakten Lesers bzw. Rezipienten für das Werk. Wie in dem Artikel über das Modell der Kommunikationsebenen von Wolf Schmid erläutert, sollte der abstrakte Leser bzw. Rezipient möglichst nah an den realen Menschen sein, denen man die Geschichte “verkaufen” möchte. Sonst kann es zur Fehlkommunikation kommen, sodass die Geschichte völlig anders aufgenommen wird als beabsichtigt.
Konkrete Entwicklung
So viel zur Theorie. Doch wie kann die Entwicklung einer Figur konkret aussehen? In The Anatomy of Story zählt John Truby einige beliebte Arcs auf. Das heißt aber nicht, dass man sie unbedingt benutzen soll, sondern es ist vielmehr eine Beobachtung, welche Arten von Entwicklung fiktionale Figuren erstaunlich oft durchmachen.
- Als erstes hätten wir die selbsterklärende Entwicklung vom Kind zum Erwachsenen.
- Eine weitere Art von Arc ist die Entwicklung von einem Erwachsenen zum Anführer, also das Aufnehmen einer Verantwortung für andere und nicht nur für sich selbst.
- Eine spezielle Form dieser Entwicklung ist der Wandel von einem Zyniker, dem der Rest der Welt den Buckel runterrutschen kann, zu jemandem, der sich letztendlich an der Rettung der Welt oder einer anderen selbstlosen Mission beteiligt.
- Jemand, der bereits ein Anführer ist, kann eine Entwicklung zum Tyrann Also die Wandlung eines Anführers, der die brutale Unterdrückung anderer Menschen für sich entdeckt.
- Eine positivere Entwicklung eines Anführers ist die zum Visionär. Im Prinzip entwickelt sich der Anführer zu einem noch größeren Anführer, als er nicht nur die Verantwortung für seine eigene Gruppe übernimmt, sondern Werte entdeckt, nach denen die gesamte Gesellschaft reformiert werden sollte.
- Eine letzte häufige Art von Entwicklung ist laut Truby die Metamorphose, also eine buchstäbliche Verwandlung der Figur in jemand anderen. Deswegen geht eine solche Entwicklung oft mit Genres mit fantastischen Elementen einher. In der Regel trägt die Metamorphose dabei einen symbolischen Charakter.
Aber wie gesagt, das sind nur einige häufige Entwicklungsverläufe und sie sind im Übrigen auch nicht unbedingt an die abstrakten Typen von Weiland gekoppelt:
So kann die Entwicklung vom Kind zum Erwachsenen zum Beispiel ein positiver Arc über verantwortungsvolles Handeln sein, aber auch ein negativer Arc über Desillusionierung.
Ob Du diese häufigen Entwicklungsverläufe benutzt und wie, bleibt also Dir überlassen. Aber es ist zweifellos nützlich, sie zu kennen.
Brauche ich Charakter-Arcs und wenn ja, wie viele?
So viel zur Struktur von Charakter-Arcs. Es bleibt jedoch eine grundlegende Frage: Brauchst Du sie überhaupt? Und wenn ja, wie viele bzw. welche Figuren sollten einen haben?
Charakter-Arcs für den Protagonisten
Wenn Du diesen Artikel liest, dann bist Du sicherlich überzeugt, dass allermindestens Dein Protagonist einen Arc braucht. Das würde ich auch weitestgehend unterschreiben.
Weiland weist jedoch darauf hin, dass eine Geschichte auch ohne Charakter-Arcs auskommen kann, wenn das Geschehen an sich interessant ist:
Nehmen wir als Beispiel die britische Webserie Eddsworld: Hier geht es um die absurden Abenteuer einer WG von inkompetenten Idioten. Keiner von ihnen hat jedoch einen nennenswerten Charakter-Arc, zumal ihre Persönlichkeiten und auch Intelligenzlevel nicht immer konstant sind. Das stand einem Massenerfolg aber nie im Weg. — Eher hat es zur Beliebtheit der Serie beigetragen. Niemand will, dass die inkompetenten Idioten sich irgendwie entwickeln. Die Zuschauer genießen sie und ihre Abenteuer so, wie sie sind. Fragen nach Wahrheit und Lüge sind hier einfach irrelevant.
Meistens aber braucht tatsächlich wenigstens der Protagonist einen Arc: Wenn der Leser mit den Figuren mitfiebern, eine Katharsis erleben soll, wenn Du willst, dass die Erzählung ihm Mut macht, ihn zum Nachdenken anregt und ihm irgendwelche Werte vermittelt, kommst Du einfach nicht drum herum.
Was für einen Arc Dein Protagonist bekommen soll, hängt jedoch komplett von der Geschichte ab und dem, was Du mit ihr aussagen willst. Im Fall von Serien hängt davon auch ab, wie viele Arcs der Protagonist haben sollte: Denn Du hast die Entscheidung, ob Du nur einen serienübergreifenden Arc konstruierst oder ob der Protagonist in jedem einzelnen Teil der Serie einen neuen Arc bekommt. Natürlich kannst Du das aber auch kombinieren und einen übergreifenden großen Gesamtarc mit kleinen Einzelarcs verknüpfen:
In Avatar — Der Herr der Elemente zum Beispiel hat der Protagonist einen Gesamtarc, in dem er seine Verantwortung für die Welt akzeptiert. In den einzelnen Episoden hat er jedoch kleinere Arcs, in denen er beispielsweise lernt, seine Position als Avatar nicht gedankenlos auszunutzen, oder innerlich zerrissen ist, weil die allgemeine Erwartung, dass er den Antagonisten töten soll, gegen seine persönlichen Werte verstößt.
Wichtig ist im Fall von progressiven Serien allerdings, dass die vielen Einzelarcs immer unterschiedlich sind: Kaum etwas ist nerviger als wenn die Entwicklung einer Figur im Sequel einfach “resettet” wird und sie dieselbe Lektion lernen muss wie im ersten Teil. Somit sollte eine Figur, die für mehrere Arcs bestimmt ist, auch ausreichend Schwächen haben. Das sollte bei einer interessanten, komplexen Figur aber durchaus im Rahmen des Möglichen sein. 😉
Charakter-Arcs für Nebenfiguren
Was die anderen Figuren angeht, so kommt die Notwendigkeit eines Arcs ebenfalls auf die Geschichte selbst an. Grundsätzlich ist in einem einzelnen kompakten Roman oft nicht genug Platz dafür. Deswegen bekommen Nebenfiguren — zumindest meiner Beobachtung nach — tendenziell eher in längeren Geschichten — vor allem in Serien — einen nennenswerten Arc.
Aber, wie gesagt, je nach Geschichte und vor allem je nach Figuren-Konstellation können auch Arcs von Nebenfiguren wichtig werden. Und Sonderpunkte gibt es, wenn diese Arcs mit dem des Protagonisten und miteinander verknüpft sind:
Betrachten wir zum Beispiel Stolz und Vorurteil von Jane Austen: Die Arcs der Protagonistin Lizzy und ihres Opponenten Darcy sind fest miteinander verbunden, weil sie durch den jeweils anderen die Wahrheit erkennen. Darcy erkennt seinen Stolz — seinen Standesdünkel — als Lüge und Lizzy ihr Vorurteil. Und so gelangen sie schließlich zu einem gemeinsamen Happy End.
Wenn Du Dich jetzt aber fragst, wie mein “Je nach Geschichte” zu verstehen ist, dann versichere ich Dir: Ich meine das sehr wörtlich. Die wichtigste Regel beim Schreiben ist ja, dass es keine Regeln gibt: Du musst selbst wissen, was für eine Geschichte Du schreibst und was Du damit erreichen möchtest. Und Du musst Dir selbst herleiten, was Du dafür brauchst. Das gilt für die Frage nach der Notwendigkeit von Arcs für Nebenfiguren genauso wie für alle anderen Fragen.
Charakter-Arcs in drei Schritten
Zum guten Schluss wollen wir das Besprochene in drei Schritten zum Erschaffen von Charakter-Arcs zusammenfassen und abstrahieren:
- Benenne das Thema Deines Werkes. Was ist Wahrheit und was ist Lüge? Und wenn Du Dir nicht sicher bist, was richtig und was falsch ist: Welche zwei entgegengesetzte Ansichten prallen aufeinander?
In Disneys Animationsfilm Die Schöne und das Biest geht es um innere Schönheit. Die Wahrheit ist das, was eine Person in ihrem Inneren ist, und die Lüge ist das äußere Aussehen:
In der Hülle eines hässlichen Biests steckt ein zwar egoistischer, aber dennoch menschlicher Prinz. Im Fall von Gaston versteckt sich hinter der gutaussehenden Fassade ein Monster.
Belle hingegen ist personifizierte Perfektion. Ihre äußere Schönheit spiegelt vor allem ihre innere Schönheit.
- Bestimme die Rolle der Figur im Gesamtgeflecht. Wie sieht ihr Umfeld aus, wie wird sie davon beeinflusst und wie beeinflusst sie es? Wie muss sie sich verändern und/oder wie muss das Umfeld sich verändern?
Das Biest lebt verbittert und zurückgezogen in seinem Schloss und wird von jenen, die seine Geschichte nicht kennen, als Monster wahrgenommen. Um den Fluch zu brechen und wieder ein Mensch zu werden, muss es Belles Liebe gewinnen. Dafür muss es sich von seiner menschlichen Seite zeigen.
Gaston hingegen muss niemandem etwas beweisen. Das ganze Dorf ist im Prinzip sein persönlicher Fanclub. Nur Belle, die Hüterin der Wahrheit, durchschaut seine Fassade. Ebenso wie sie auch die Schönheit des Biests erkennt.
- Entscheide Dich auf Grundlage Deiner Überlegungen für einen positiven, negativen oder flachen Arc. Beachte dabei ggf. auch die Arcs der anderen Figuren.
Das Biest und Gaston sind Kontrastfiguren. Während das Biest also einen positiven Arc durchmacht, seine innere Schönheit entwickelt und wieder ein Mensch wird, ist Gastons Arc negativ: Ist er am Anfang noch lediglich ein eingebildeter Schnösel, greift er im Verlauf der Handlung zu Erpressung und stachelt das ganze Dorf zum Kampf gegen das Biest auf. Sein Arc endet mit dem Tod.
Belles Arc ist währenddessen flach: Sie bleibt sich selbst treu und ihre Entscheidungen bringen die Wahrheit ans Licht, dass das Biest ein schöner Prinz und Gaston ein Monster ist.