Handlung aufbauen: Story vs. Plot

Handlung aufbauen: Story vs. Plot

Wer eine Geschichte schreibt und eine inter­es­sante Hand­lung auf­bauen möchte, muss sich bewusst machen: Sto­ry und Plot sind zwei ver­schiedene Paar Schuhe! Die Abgren­zung der bei­den ermöglicht unter anderem span­nende Spiel­ereien wie anachro­nis­tis­ches und unzu­ver­läs­siges Erzählen. In diesem Artikel lernst Du diesen wichti­gen Unter­schied ken­nen.

Die Folien für dieses Video gibt es für Steady-Abon­nen­ten und Kanal­mitglieder auf YouTube als PDF zum Down­load.

Sto­ry und Plot sind Begriffe, die vor allem von Anfängern oft syn­onymisch gebraucht wer­den. Der Hak­en dabei:

Sto­ry und Plot sind zwei völ­lig ver­schiedene Paar Schuhe!

Und diese Unter­schei­dung spielt bei der Inter­pre­ta­tion und auch beim Ver­fassen von Geschicht­en eine sehr zen­trale Rolle …

Analepse und Prolepse

Erwäh­nen wir zu Beginn zwei häu­fig auftre­tende Phänomene:

  • Analepse:
    Rück­blende / Flash­back: Dem Leser ein­er Geschichte wird zwis­chen­durch ein Ein­blick in die Ver­gan­gen­heit gewährt.
  • Pro­lepse:
    Voraus­blende: Dem Leser ein­er Geschichte wird ein Ein­blick in die Zukun­ft gewährt.

Warum ich die bei­den erwähne? — Die bloße Möglichkeit eines anachro­nis­tis­chen Erzäh­lens deutet einen sehr wichti­gen Unter­schied an:

Es gibt näm­lich auf der einen Seite

  • Vor­fälle, die passiert sind,

und auf der anderen Seite haben wir

  • die Art und Weise, wie von diesen Vor­fällen erzählt wird.

Fabel und Sujet

Bewe­gen wir uns nun in unsere eigene Analepse — und zwar zu dem Begriff­s­paar “Fabel” und “Sujet”, das Anfang des 20. Jahrhun­derts von den rus­sis­chen For­mal­is­ten geprägt wurde.

  • Fabel: was „wirk­lich“ passiert ist
  • Sujet: was und wie erzählt wird

Das heißt: Wir haben hier zum Beispiel einen Zeit­strahl und da sind die Vor­fälle A, B, C, D und E passiert. Das ist die Fabel:

Handlung aufbauen: Story vs. Plot

Erzählen davon kann man aber sehr unter­schiedlich. Zum Beispiel kann man mit C anfan­gen, und C löst dann die Katas­tro­phe D aus. Diese Katas­tro­phe D passt dem Pro­tag­o­nis­ten aber ganz und gar nicht. Er geht der Sache auf den Grund und find­et her­aus, dass C passiert ist, weil B passiert ist. Und B ist passiert, weil A passiert ist. Und auf Grund­lage dieser Erken­nt­nisse fällt der Pro­tag­o­nist die Entschei­dung E.

Handlung aufbauen: Story vs. Plot

Das wäre nur ein möglich­es Sujet. — Eine andere Möglichkeit wäre zum Beispiel, die Erzäh­lung gle­ich mit E anz­u­fan­gen: Der Pro­tag­o­nist hat die Entschei­dung E gefällt, weil die Katas­tro­phe D ihm ganz und gar nicht gepasst hat. Und wenn wir das als Ein­leitung haben, erzählen wir anschließend die kom­plette Vorgeschichte (A, B, C).

Handlung aufbauen: Story vs. Plot

Grund­sät­zlich ist es aber natür­lich auch nicht falsch, die chro­nol­o­gis­che Rei­hen­folge von A, B, C, D und E beizube­hal­ten.

Handlung aufbauen: Story vs. Plot

Es kommt immer darauf an, was man mit sein­er Erzäh­lung erre­ichen möchte und wie man seine Schw­er­punk­te verteilen will!

Begriffspaare in anderen Literaturwissenschaften

Nun haben wir über die Fabel und das Sujet gesprochen, aber die anderen Lit­er­atur­wis­senschaften liefern eben­falls Begriff­s­paare:

  • sto­ry und plot
  • his­toire und dis­cours
  • Welt und Darstel­lung

Diese Begriff­s­paare schle­ichen zwar alle unge­fähr um dieselbe Sache herum, hän­gen aber mit völ­lig unter­schiedlichen Mod­ellen zusam­men und sind deswe­gen nicht wirk­lich untere­inan­der aus­tauschbar. “Sto­ry und plot” ist etwas anderes als “his­toire und dis­cours”. Und selb­st bei “Fabel und Sujet” gab es Lit­er­atur­the­o­retik­er, die die Begriffe genau umge­dreht haben.

Das, was ich Dir in diesem Artikel präsen­tiere, ist das, was mein­er Erfahrung nach am häu­fig­sten ver­wen­det wird. Und zwar trifft man mein­er Erfahrung nach am häu­fig­sten auf das Begriff­s­paar “Sto­ry und Plot”:

  • Sto­ry: was passiert ist
  • Plot: die Art und Weise, wie davon erzählt wird

Beispiel: Story und Plot in (500) Days of Summer

Der Film (500) Days of Sum­mer zeigt den Ver­lauf ein­er Beziehung vom ersten Ken­nen­ler­nen bis zur let­zten Begeg­nung. Das ist die Sto­ry.

Beim Plot hinge­gen wird es kom­pliziert­er: Der Film zeigt diesen Ver­lauf näm­lich nicht chro­nol­o­gisch, son­dern der Zuschauer bekommt durchgewür­felte Auss­chnitte präsen­tiert. Das heißt: Mal sieht man eine Szene aus der End­phase der Beziehung, mal aus der Anfangsphase, mal aus der Mit­tel­phase, mal wieder aus der Anfangsphase, dann wieder aus der End­phase … Ganz anachro­nis­tisch.

Damit der Zuschauer nicht durcheinan­der kommt, wer­den diese Auss­chnitte stets mit der Num­mer des Tages gekennze­ich­net, an dem die jew­eilige Szene stat­tfind­et. Also: Tag 1, Tag 498, Tag 367 …

Und damit hal­ten wir fest:

Sto­ry ist alles, was passiert, in chro­nol­o­gis­ch­er Rei­hen­folge.

Der Plot beste­ht aus aus­gewählten Abschnit­ten, wie sie dem Zuschauer präsen­tiert wer­den.

Geschehen vs. Geschichte vs. Erzählung

Nun sind Sto­ry und Plot aber immer noch sehr schwammige Begriffe. Das sehen wir, wenn wir uns anschauen, wie eine Erzäh­lung the­o­retisch entste­ht:

  • 1. Es passieren Dinge. (Geschehen)
  • 2. Daraus wer­den bes­timmte Vor­fälle aus­gewählt. (Geschichte)
  • 3. Diese Vor­fälle wer­den auf eine bes­timmte Weise ange­ord­net. (Erzäh­lung)
  • 4. Diese Anord­nung der Vor­fälle wird präsen­tiert. (Präsen­ta­tion der Erzäh­lung)

(Mod­ell von Wolf Schmid: Ele­mente der Nar­ra­tolo­gie, 2. Auflage 2008, S. 251 ff.)

Die Sta­di­en 1 bis 3 zeigen in etwa den Ver­lauf, wie aus ein­er Sto­ry ein Plot wird, nur deut­lich genauer und mit Aspek­ten, die eine Gegenüber­stel­lung von Sto­ry und Plot gar nicht bein­hal­tet.

Vor allem aber macht das vier­stu­fige Mod­ell deut­lich, dass das Geschehen, bevor es zu ein­er fer­tig präsen­tierten Erzäh­lung wird, durch mehrere Fil­ter­sta­di­en geht. Und zwar ist jedes Erzählsta­di­um von der Erzählper­spek­tive geprägt:

  • Es ist der Erzäh­ler, der bes­timmt, welche Vor­fälle rel­e­vant genug sind, damit sie Teil der Geschichte wer­den kön­nen.
  • Es ist der Erzäh­ler, der bes­timmt, in welch­er Rei­hen­folge von den Ereignis­sen berichtet wird.
  • Es ist der Erzäh­ler, der das Ganze in Worte fasst.

Deswe­gen spielt der Erzäh­ler eine so zen­trale Rolle beim Erzählen!

Aus diesem Grund befasse ich mich auf dieser Seite unter anderem mit erzählthe­o­retis­chen Mod­ellen. Behan­delt habe ich bish­er Stanzels Typenkreis und das Mod­ell von Genette. Außer­dem habe ich die bei­den mod­i­fiziert, damit man sie auch als Autor anwen­den kann (Stanzel, Genette). Und ich wende diese Mod­elle regelmäßig auch als Leser an, näm­lich in meinen Erzäh­lanaly­sen.

Der Erzähler als “Filterinstanz”

Der Erzäh­ler ist also eine Fil­terin­stanz, die die Erzäh­lung zu dem macht, was sie ist. Und warum ist es so wichtig, die Fil­ter­vorgänge zu begreifen? — Nun, diese Fil­ter­vorgänge ermöglichen so einige richtig tolle Sachen. Zum Beispiel:

  • anachro­nis­tis­ches Erzählen
    • Anwen­dungs­beispiele:
      Inter­esse weck­en durch eine span­nende Pro­lepse
      Plot­twists durch uner­wartete Analepsen
      Aufmerk­samkeit erre­gen, eine banale Geschichte inter­es­sant erzählen
  • unzu­ver­läs­siges Erzählen
    • Anwen­dungs­beispiele:
      den Leser über­raschen, indem man ihn plöt­zlich mit der Wahrheit kon­fron­tiert
      den Leser zum Nach- und Mit­denken anre­gen
      Span­nung erzeu­gen: Was ist da wirk­lich passiert?
  • Manip­u­la­tion der Gefüh­le des Lesers
    • Anwen­dungs­beispiel:
      den Leser gezielt eine Fig­ur mögen oder has­sen lassen
      (und durch einen grandiosen Plot­twist alles umdrehen)

Und das waren nur einige wenige Beispiele für die Spiel­ereien, die möglich sind, wenn man sich dessen bewusst ist, dass das, worüber man erzählt, etwas anderes ist als die fer­tige Erzäh­lung.

Wichtiger Hinweis

Das Bewusst­sein des Unter­schieds von Sto­ry und Plot und das Begreifen des Erzäh­lers als Fil­terin­stanz ist ein zen­traler Aspekt des Erzäh­lens.

Wer ein­fach nur eine Geschichte so „run­ter­schlurt“, wie sie ihm in den Sinn kommt, läuft Gefahr, Poten­tial zu ver­schwen­den und lang­weilig zu sein!

Ich sage nicht, dass man dann zwangsläu­fig Poten­tial ver­schwen­det und lang­weilig ist. Oft­mals bauen Autoren grandiose Ideen ein­fach intu­itiv ein. Und es gibt natür­lich auch Autoren, die sich nie über solche “tech­nis­chen” Dinge Gedanken machen und trotz­dem geniale Werke schreiben.

Aber mein­er Erfahrung nach ist Intu­ition meis­tens nicht unbe­d­ingt etwas, auf das man sich blind ver­lassen sollte. Ich selb­st habe mich schon so manch­es Mal auf meine Intu­ition ver­lassen und im Nach­hinein fest­gestellt, dass ich etwas abso­lut Klis­chee­haftes und Lang­weiliges fab­riziert habe. — Und das ist ein­er der Gründe, warum ich mich so sehr für Erzählthe­o­rie begeis­tere.

6 Kommentare

  1. Danke. Man kann es sich gar nicht oft genug erneut verge­gen­wär­ti­gen, dass es hil­fre­ich ist, einen Plot raf­finiert­er anzule­gen, als die Geschichte es ursprünglich für möglich hielt.
    Tech­nik ist schon wichtig.

    Wen­ngle­ich ich der Mei­n­ung bin, “eine banale Geschichte inter­es­sant erzählen” zu kön­nen, weniger gut (und schw­er) ist, als eine inter­es­sante Geschichte banal zu erzählen…

    Wer seine Kreativ­ität erst beim Plot­ting sucht, sollte vielle­icht gar nicht glauben, schreiben, bzw. etwas erzählen zu müssen.

    Eine wirk­lich gute (erzäh­lenswerte!) Geschichte erzählt sich und fes­selt von selb­st, ein­fach und chro­nol­o­gisch.

    Lang­weilige Schnulzen (Hol­ly­wood­filme?) müssen hinge­gen raf­finiert kon­stru­iert sein, damit man keine Zeit hat, währen­dessen nachzu­denken, ob man nicht im falschen Film seine Zeit ver­schwen­det.

    Die wichtig­ste Frage ist und bleibt: ‘Warum schreibe ich es — nicht wie’.

    Sei’s drum, bess­er so, wie hier beschrieben, als ’ne über­flüs­sige Geschichte auch noch banal erzählt zu bekom­men. Das ist dann tat­säch­lich die Höch­st­strafe…
    😉

    Philip

    Philip
    1. Es stimmt schon, dass ein raf­finiert­er Plot mehr zu den Äußer­lichkeit­en gehört und bei ein­er Geschichte vor allem das Eingemachte zählt. Das fällt mir immer wieder auf, dass das Warum oft lei­der ver­nach­läs­sigt wird. Allerd­ings würde ich sagen, dass die meis­ten Hol­ly­wood-Schnulzen eben keinen raf­finierten Plot haben, son­dern banale Geschicht­en sind, die auch noch banal erzählt wer­den. Die Höch­st­strafe, wie Du so schön sagst. Wenn eine Schnulze einen raf­finiert­eren Plot bekommt, dann wollen die Mach­er damit nor­maler­weise einen tief­er­en Sinn rüber­brin­gen und somit sind es auch keine lang­weili­gen Schnulzen mehr. Ist aber nur mein Ein­druck.

  2. nach einem eher ver­wirren­den Sem­i­narteil über den Unter­schied von plot und sto­ry fand ich diesen Artikel Sehr hil­fRe­ich, um klar zu sehen und den Unter­schied zu ver­ste­hen und auch noch Ideen an die Schreib­hand zu bekom­men, wie ich damit spielerisch kreativ umge­hen kann.
    Danke :-))

    Helen
  3. Eigentlich habe ich nach ein­er Möglichkeit gesucht, einen bere­its existieren­den Plot zu ein­er Geschichte auszuschmück­en, mit vorgegeben­er Welt und Char­ac­teren. Deinen Artikel fand ich trotz­dem inter­es­sant, also vie­len Dank! 🙂

    Felo
    1. Vie­len Dank fürs Lob! Ich bin mir zwar nicht ganz sich­er, ob ich Dein Anliegen richtig ver­standen habe, aber vielle­icht helfen Dir fol­gende Artikel:

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert