Geschichten besser erzählen: Den richtigen Erzähler finden mit der Erzähltheorie von Genette

Geschichten besser erzählen: Den richtigen Erzähler finden mit der Erzähltheorie von Genette

Ohne Erzäh­ler gibt es keine Erzäh­lung. Und ein unpassender Erzäh­ler kann selb­st die beste Geschichte zer­stören. Wenn man ein eigenes Buch schreibt, muss man sich also genau über­legen, welchen Erzäh­ler man wählt. In diesem Artikel erk­läre ich, wie ich die Erzählthe­o­rie von Genette (Modus und Stimme) für mich selb­st abwan­dle: Aus einem reinen Analy­sew­erkzeug entste­hen vier Fra­gen, die mir helfen, den richti­gen Erzäh­ler für meine Geschicht­en zu find­en.

(In der Video-Ver­sion dieses Artikels hat sich bei der Kat­e­gorie der Ebene lei­der ein Fehler eingeschlichen. Ich kann ihn lei­der nicht mehr kor­rigieren. Deswe­gen empfehle ich, sich bei diesem Punkt an die Text-Ver­sion zu hal­ten. Ich bitte um Entschuldigung für die Umstände.)

Die Folien für dieses Video gibt es für Steady-Abon­nen­ten und Kanal­mitglieder auf YouTube als PDF zum Down­load.

Wenn man Geschicht­en erzählt, dann spielt die Wahl des Erzäh­lers eine wichtige Rolle. Denn der Erzäh­ler entschei­det, ob die Erzäh­lung funk­tion­iert oder nicht.

Wie find­et man also den richti­gen Erzäh­ler für seine Geschichte?

Im let­zten Artikel haben wir den Typenkreis von Stanzel umge­formt und daraus drei Fra­gen hergeleit­et, mit denen man als Autor den richti­gen Erzäh­ler für seine Geschichte find­en kann. Und dieses Mal machen wir das­selbe mit einem Konkur­renz­mod­ell:

Wir verun­stal­ten die Erzählthe­o­rie von Gérard Genette zu vier Fra­gen, mit deren Hil­fe wir den richti­gen Erzäh­ler für unsere Geschichte find­en kön­nen.

Genettes Erzähltheorie

… hat in den 90er Jahren im akademis­chen Bere­ich Stanzels Typenkreis in den Hin­ter­grund gedrängt. Aber außer­halb des akademis­chen Bere­ich­es ist es immer noch eher wenig bekan­nt. Wenn Du also mehr über dieses Mod­ell erfahren willst, dann habe ich einen ganzen Artikel, der dieses Mod­ell erk­lärt.

Was aber unbe­d­ingt in diesem Artikel erwäh­nt wer­den muss, ist, dass Genette hin­sichtlich der Erzählper­spek­tive eine sehr wichtige Tren­nung einge­führt hat. Und zwar tren­nt er zwis­chen Modus und Stimme:

  • Modus ist die Frage danach, wer das Geschehen wahrn­immt.
  • Stimme ist die Frage danach, wer das Geschehen wiedergibt.

Auf diese bei­den Grup­pen verteilen sich auch unsere vier Fra­gen heute:

Beim Modus wählen wir näm­lich die Fokalisierung; und die restlichen drei Fra­gen auf dem Weg zum passenden Erzäh­ler gehören in den Bere­ich der Stimme.

Modus: Wahl der Fokalisierung

Nun denn: Wer nimmt das Geschehen wahr?

Hier gibt es drei Möglichkeit­en:

  1. Nullfokalisierung: Der Erzäh­ler weiß mehr als die Fig­uren.
  2. interne Fokalisierung: Der Erzäh­ler weiß exakt so viel wie die Fig­uren.
  3. externe Fokalisierung: Der Erzäh­ler weiß weniger als die Fig­uren.

Als Autor fra­gen wir uns also:

Von welchem Punkt aus soll der Leser das Geschehenen wahrnehmen?

Soll er, wie zum Beispiel im Fall der Null­fokalisierung, das Geschehen qua­si aus Vogelper­spek­tive wahrnehmen oder aus der kleinen und sehr begren­zten Frosch­per­spek­tive ein­er Fig­ur? Oder soll der Leser das Geschehen durch eine schein­bar neu­trale “Kam­era” beobacht­en und nur das sehen, was äußer­lich wahrnehm­bar ist?

Stimme I: Wahl der Zeit

Wenn wir uns für eine Fokalisierung entsch­ieden haben, kom­men wir auch schon in den Bere­ich der Stimme und wählen die Zeit. Hier müssen wir unter­schei­den zwis­chen:

  • dem Zeit­punkt, zu dem das Geschehen stattge­fun­den hat,

und

  • dem Zeit­punkt, zu dem die Erzäh­lung stat­tfind­et.

Nun fra­gen wir, in welchem Ver­hält­nis diese bei­den Zeit­punk­te zueinan­der ste­hen sollen.

  • spätere Nar­ra­tion: Die Erzäh­lung find­et nach dem Geschehen statt.
    Etwas ist in der Ver­gan­gen­heit passiert und der Erzäh­ler erzählt dementsprechend in der Ver­gan­gen­heits­form (Per­fekt, Prä­ter­i­tum, Plusquam­per­fekt).
  • frühere Nar­ra­tion: Die Erzäh­lung find­et vor dem Geschehen statt.
    Das ist zwar ein sel­tener Fall, aber es gibt dur­chaus Erzäh­ler, die das Futur benutzen.
  • gle­ichzeit­ige Nar­ra­tion: Die Erzäh­lung find­et zeit­gle­ich mit dem Geschehen statt.
    In ein­er Erzäh­lung passiert etwas und der Erzäh­ler gibt direkt das wieder, was er wahrn­immt und benutzt das Präsens.
  • eingeschobene Nar­ra­tion: Die Erzäh­lung wird immer wieder aktu­al­isiert.
    Etwas passiert — und dann erzählt der Erzäh­ler. Dann passiert wieder etwas — und der Erzäh­ler erzählt, was im neuen Abschnitt passiert ist (zum Beispiel Tage­büch­er und Briefro­mane). Es wer­den Ver­gan­gen­heits­for­men für das bere­its Geschehene und das Präsens für das Aktuelle gebraucht.

Diese Frage nach der Zeit­form kann man als Frage nach der Dis­tanz zum Geschehen betra­cht­en. Also:

Wie viel Dis­tanz soll der Leser zum Geschehen haben?

Es ist schließlich ein Unter­schied, ob man über etwas Aktuelles oder Ver­gan­ge­nes berichtet. Das hängt auch mit den Fra­gen zusam­men:

Wie natür­lich soll sich der Erzäh­lakt anfühlen und wie wahrnehm­bar soll er sein?

Eine eingeschobene Nar­ra­tion zum Beispiel ist sehr wahrnehm­bar. Wenn ein Roman als Brief­samm­lung stil­isiert ist, dann nimmt man als Leser ganz klar war: Da ist jemand und schreibt Briefe. Mit ein­er späteren oder gle­ichzeit­i­gen Nar­ra­tion hinge­gen kann man die Illu­sion erzeu­gen, man würde im Kopf ein­er Fig­ur sitzen.

Und was die Natür­lichkeit ange­ht: Tage­büch­er oder Briefe (die eingeschobene Nar­ra­tion) sind sehr natür­lich; aber die frühere Nar­ra­tion ist für jeman­den, der nicht in die Zukun­ft blick­en kann, ziem­lich wider­natür­lich.

Stimme II: Wahl der Ebene

Gehen wir nun weit­er und wählen die Anzahl der Ebe­nen unser­er Erzäh­lung. Hier geht es darum, wie unmit­tel­bar sie stat­tfind­en soll:

  • extradiegetis­che Ebene: Der Erzäh­ler erzählt dem Leser die Geschichte. Diese Ebene ist immer vorhan­den.
  • intradiegetis­che Ebene: Was der Erzäh­ler erzählt. Auch diese Ebene ist immer vorhan­den. Ob es aber noch weit­ere Ebe­nen gibt, entschei­det der Autor.
  • metadiegetis­che Ebene: Der Erzäh­ler erzählt, wie eine Fig­ur die (eigentliche) Geschichte erzählt.
    Erzäh­lung in ein­er Erzäh­lung: Die intradiegetis­che Ebene ist eine Rah­men­hand­lung und die (eigentliche) Geschichte find­et auf der metadiegetis­chen Ebene statt.
  • Sollte es noch ver­schachtel­ter wer­den, sprechen wir von ein­er metametadiegetis­chen
  • Und als näch­sten Schritt auch von der metametametadiegetis­chen Ebene …

Wenn wir nun als Autor einen Erzäh­ler für unsere Geschichte auswählen, fra­gen wir uns:

Wie nah soll der Leser an der Erzäh­lung ste­hen?

Soll er die Geschichte unmit­tel­bar vom Erzäh­ler hören oder soll er lediglich nur Zeuge sein, wie eine Fig­ur die Geschichte erzählt? Oder soll der Leser sich vielle­icht in ein­er kom­plex­en, ver­schachtel­ten Erzählstruk­tur zurechtfind­en? Soll er sog­ar unter­schiedliche sich wider­sprechende metadiegetis­che Erzäh­lun­gen auf ihre Glaub­würdigkeit prüfen? — Denn die Erzäh­lun­gen in der Erzäh­lung müssen ja nicht zwangsläu­fig einen zuver­läs­si­gen Erzäh­ler haben …

Stimme III: Wahl der “Welt”

Am Ende ist auch zu entschei­den, in welch­er “Welt” sich der Erzäh­ler befind­en soll:

  • het­erodiegetis­ch­er Erzäh­ler: befind­et sich außer­halb der nar­ra­tiv­en Welt.
    Das heißt: Es gibt eine Welt, in der die Fig­uren leben und inter­agieren, aber der Erzäh­ler ist nicht Teil davon.
  • homodiegetis­ch­er Erzäh­ler: befind­et sich inner­halb der nar­ra­tiv­en Welt.
    Das heißt: Der Erzäh­ler lebt in der­sel­ben Welt wie die Fig­uren. In der Regel bedeutet das auch, dass er selb­st eine Fig­ur ist.
    • autodiegetis­ch­er Erzäh­ler: ist der/die Protagonist/in.
      Son­der­form des homodiegetis­chen Erzäh­lers: Der Erzäh­ler erzählt nicht nur die Geschichte, son­dern ist auch der Pro­tag­o­nist der Hand­lung.

Für uns als Autoren bedeutet das nun, dass wir entschei­den müssen:

Wie soll der Leser den Erzäh­ler wahrnehmen?

Soll der Erzäh­ler unsicht­bar sein oder soll er sicht­bar sein und seine Mei­n­ung preis­geben? Oder soll er als Fig­ur auf­tauchen oder gar seine eigene Geschichte erzählen?

Erzähler finden mit Genette: praktisches Beispiel

Nun haben wir also unsere Fra­gen und kön­nen sie anwen­den. Im let­zten Artikel haben wir uns die Auf­gabe gestellt:

Der Leser soll mit der Haupt­fig­ur „ver­schmelzen“ und mit ihr mit­fühlen.

Machen wir in diesem Artikel also das­selbe. Wir stellen uns die vier Fra­gen:

Fokalisierung:

Von welchem Punkt aus soll der Leser das Geschehen wahrnehmen?

Wenn der Leser mit der Haupt­fig­ur “ver­schmelzen” soll, sollte der Erzäh­ler — und damit der Leser — so nah wie möglich an der Fig­ur sein. Das heißt:

Wir wählen die interne Fokalisierung.

Dann kom­men wir zur Frage nach der Zeit:

Wie viel Dis­tanz soll der Leser zum Geschehen haben?

In unserem Fall: so wenig wie möglich. Damit schließen wir die vol­lkom­men unnatür­liche frühere Nar­ra­tion kom­plett aus. Das tun wir auch bei der eingeschobe­nen Nar­ra­tion, weil diese Art der Erzäh­lung sehr wahrnehm­bar ist. Das heißt:

Wir müssen uns zwis­chen der späteren Nar­ra­tion und der gle­ichzeit­i­gen Nar­ra­tion entschei­den.

Zugegeben, die gle­ichzeit­ige Nar­ra­tion ist etwas unnatür­lich: Der Fall, dass jemand direkt wiedergibt, was er wahrn­immt, ist im realen Leben extrem sel­ten. Das haben wir zum Beispiel bei Sportkom­men­ta­toren. Aber kein nor­maler Men­sch kom­men­tiert ständig sein All­t­agsleben. Wenn man etwas erzählt, dann in der Regel von Din­gen, die in der Ver­gan­gen­heit passiert sind. Deswe­gen ist die spätere Nar­ra­tion etwas natür­lich­er.

Doch auch die gle­ichzeit­ige Nar­ra­tion hat trotz allem ihre Vorteile. Durch die Präsens­form wirkt alles, was erzählt wird, etwas unmit­tel­bar­er. Frei nach dem Mot­to: Es passiert ger­ade jet­zt! Genau in diesem Moment!

Die Frage nach der Ebene ist zum Glück etwas ein­fach­er:

Wie nah soll der Leser an der Erzäh­lung ste­hen?

So nah wie möglich. Der Leser soll nicht lediglich nur Zeuge davon sein, wie eine Fig­ur etwas erzählt, son­dern die Geschichte direkt vom Erzäh­ler erzählt bekom­men. Das heißt:

Wir pack­en unsere eigentliche Geschichte auf die intradiegetis­che Ebene.

Und last but not least entschei­den wir, in welch­er “Welt” sich der Erzäh­ler befind­en soll:

Wie soll der Leser den Erzäh­ler wahrnehmen?

Ich per­sön­lich plädiere dafür, den Erzäh­ler in einem solchen Fall möglichst unsicht­bar zu machen. Ein homodiegetis­ch­er Erzäh­ler sagt immer “ich” — und das macht ihn sicht­bar. Ein het­erodiegetis­ch­er Erzäh­ler hinge­gen kann “ich” sagen, muss es aber nicht.

Deswe­gen bin ich per­sön­lich für einen het­erodiegetis­chen Erzäh­ler, der sich möglichst im Hin­ter­grund hält.

Fer­tig!

Abschließende Hinweise

Am Ende möchte ich nur noch anmerken, dass die Gren­zen auch bei diesem Mod­ell sehr fließend sind:

  • Zum Beispiel kann eine Fokalisierung vari­abel sein — das heißt: sich während der Erzäh­lung verän­dern.
  • Oder es gibt auch das Phänomen der Met­alepse - das heißt: den Fall, wenn die unter­schiedlichen Ebe­nen miteinan­der ver­mis­cht wer­den.

Wenn man also einen wirk­lich passenden Erzäh­ler find­en will, muss man auch hier für sich gek­lärt haben, was man mit sein­er Geschichte erre­ichen möchte.

Und jet­zt, wo wir bei­de Mod­elle ange­sprochen haben, mögen manche vielle­icht über­legen: Welch­es Mod­ell ist bess­er? Stanzel oder Genette? Welch­es wende ich an?

Ich kann nur sagen: Sucht euch das aus, was euch am besten gefällt. Ich per­sön­lich wende bei­de Mod­elle gle­ichzeit­ig an. — Spricht ja nichts dage­gen.

Aber egal, welch­es Mod­ell man let­z­tendlich wählt … Es gilt nach wie vor:

Wenn es darum geht, den richti­gen Erzäh­ler für die eigene Geschichte zu find­en, sind Erfahrung durch Lesen und Analysieren die beste Lern­hil­fe.

Aus diesem Grund habe ich auf dieser Seite eine eigene Kat­e­gorie für Erzäh­lanaly­sen. Wenn Du also Lust hast auf mehr Stanzel und Genette sowie das Zer­fled­dern von lit­er­arischen Werken, bist Du her­zlich ein­ge­laden vor­beizuschauen.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert