Autoren spielen gerne mit Sprache. Doch besonders beim Erzählen von fiktionalen Geschichten wird es kompliziert: Mehrere Zeitebenen müssen in ein Verhältnis gebracht werden. Die Wahl bestimmter Zeitformen in unterschiedlichen Kontexten und Situationen erzeugt dabei feine Unterschiede. Deswegen besprechen wir in diesem Artikel, wann man welches Tempus benutzt, und bewundern einige Besonderheiten der deutschen Sprache.
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Erzählen ist verwirrend. Vor allem, wenn man sich vor Augen führt, was da „technisch“ gesehen im Hintergrund passiert und welchen Einfluss das auf die Grammatik und speziell auf die Zeitformen hat:
Wenn eine Geschichte zum Beispiel von Fritzchens vergangenen Abenteuern handelt, dann befinden sich der Erzähler und der (fiktive) Leser in der Gegenwart, während Fritzchens Abenteuer eben in der Vergangenheit liegen. Für die Fritzchen-Figur innerhalb der Geschichte ist diese Vergangenheit jedoch die Gegenwart. Und als ob das nicht schon kompliziert genug wäre, kommen Dinge zur Sprache, die aus Fritzchens Sicht in der Zukunft, aus der Sicht des Erzählers aber in der Vergangenheit liegen. Und Du als Autor musst das irgendwie handhaben.
Deswegen sprechen wir in diesem Artikel über das Zeitverhältnis zwischen den erzählten Ereignissen und dem Erzählakt sowie über die grammatikalischen Tempusformen.
Ereignisse und Erzählakt: Der Weg zur Erzählung
Beginnen wir am besten mit den Grundlagen: Was ist Erzählen? Zu diesem Thema haben wir bereits in einem der ersten Artikel auf dieser Website gesprochen, daher wiederholen wir an dieser Stelle einfach nur die Definition des Erzählens im engeren Sinne:
Erzählen ist das Beschreiben einer Zustandsveränderung durch eine Erzählinstanz.
Zu Deutsch: Es hat eine Zustandsveränderung stattgefunden, aus A wurde B, und dann kommt ein Erzähler daher und beschreibt diesen Prozess.
Wenn die Geschichte also von Fritzchens Abenteuern handelt, dann haben diese Abenteuer irgendwann stattgefunden, der Erzähler der Geschichte hat davon irgendwie Kenntnis erlangt und erzählt nun dem Leser davon.
Im Fall von fiktionaler Literatur müssen wir natürlich bedenken, dass wir uns im „Als ob“ befinden: Wir wissen, dass das Erzählte nicht wahr ist, dass Fritzchen und seine Abenteuer nur eine Erfindung des Autors sind, aber wir tun spielerisch so, als wären sie real. Somit kann die beschriebene Zustandsveränderung beim Erzählen auch komplett ausgedacht sein – trotzdem bleibt das Prinzip bestehen: Der Erzähler hat von diesen noch so fiktiven Ereignissen irgendwie erfahren und gibt sie an den Leser weiter.
Unabhängig von der Echtheit der Zustandsveränderung findet also ein Verarbeitungsprozess durch den Erzähler statt. Auch darüber haben wir bereits in einem früheren Artikel gesprochen und frischen an dieser Stelle nur kurz auf.
Laut Wolf Schmid entsteht ein Erzähltext in vier Schritten. Diese wären:
- 1. Geschehen: Es passieren alle möglichen Dinge. Fritzchens Eltern haben ihr erstes Date, Fritzchen wird geboren, Fritzchen bekommt eine Mission, Fritzchen erschlägt einen Drachen, Fritzchen geht aufs Klo und in China fällt ein Sack Reis um.
- 2. Geschichte: Aus dem schier unendlichen Wirrwarr von Geschehnissen werden bestimmte Vorfälle ausgewählt. Als Ankerpunkt für diese Auswahl fungiert die Prämisse, vor deren Hintergrund sich bestimmen lässt, welche Geschehnisse relevant sind und welche nicht. Wenn die Geschichte also davon handeln soll, wie Fritzchen einen Drachen besiegt (= Prämisse!), dann beschränken wir uns auf das Erhalten der Mission und den Kampf gegen den Drachen. Das erste Date seiner Eltern, seine Geburt, seine Toilettengänge und den Sack Reis streichen wir. Es geht also um die Story, die erzählt werden soll.
- 3. Erzählung: Die ausgewählten Geschehnisse werden auf eine bestimmte Weise angeordnet. Dabei kann der Erzähler ganz chronologisch vorgehen und mit dem Erhalt der Mission beginnen oder er kann anachronistisch berichten, zum Beispiel bei der Leiche des Drachen anfangen und erst dann erklären, wie es zu diesem Kampf überhaupt gekommen ist. Es geht also um den konkreten Plot, in den die Story verpackt wird.
- 4. Präsentation der Erzählung: Die festgelegte Anordnung der ausgewählten Geschehnisse wird in eine feste, sprachliche Form gegossen, also in einen konkreten Erzähltext, der zum Beispiel beginnen kann mit: „Es war einmal ein Ritter namens Fritzchen …“
So viel zur Wiederholung. Du musst natürlich nicht die ganze Theorie auswendig lernen, aber schreibe Dir zumindest das Grundprinzip hinter die Ohren:
Etwas passiert, der Erzähler verarbeitet das und gibt es erst dann wieder.
Und das wiederum bedeutet:
Man kann strenggenommen nur von vergangenen Dingen erzählen.
Also nur von Dingen, die man wahrgenommen und irgendwie verarbeitet hat. Selbst Sportkommentatoren, die live berichten, was auf dem Fußballfeld passiert, erzählen mit Verzögerung: Sie müssen den Torschuss erst gesehen haben, bevor sie „Tooooooor!“ schreien können. Diese Verzögerung mag nur den Bruchteil einer Sekunde betragen, aber durch sie ist selbst die Live-Moderation bei Sportereignissen im Grunde eine Erzählung von Vergangenem. Das Erzählen von Gegenwärtigem ist – zumindest für einen Menschen – nicht möglich.
An dieser Stelle beobachten wir also besonders deutlich ein Auseinandergehen der zeitlichen Dimensionen, bedingt durch die beschriebene Zeitverzögerung:
Der Erzähler und sein Leser haben ihre eigene Gegenwart, nämlich den Moment des Erzählaktes bzw. der Präsentation der Erzählung. Der Ritter Fritzchen in der Geschichte ahnt wahrscheinlich nicht ansatzweise von diesem Erzählakt und befindet sich in seiner höchst eigenen Gegenwart, nämlich der Gegenwart des Geschehens, der sogenannten Basiserzählung.
Die Basiserzählung liegt zeitlich meistens vor dem Erzählakt. – „Meistens“ deswegen, weil sie tatsächlich in der Zukunft liegen kann, auch wenn die Wahrnehmung und Verarbeitung der Ereignisse logischerweise in der Vergangenheit stattgefunden haben. Dabei kann durch das Weglassen des vergangenen Geschehnisses der Wahrnehmung die Erzählung kosmetisch vereinfacht werden: Statt „Ich habe gesehen, dass Fritzchen den Drachen besiegen wird.“ sagt der Erzähler: „Fritzchen wird den Drachen besiegen.“ – Und schon ist es eine Basiserzählung von eindeutig zukünftigen Ereignissen.
Grundsätzlich kann es sich bei der Erzählung im Futur aber auch um eine grammatikalische Verfälschung des realen Entstehungsprozesses handeln: Der Erzähler hat ein Geschehen wahrgenommen, verarbeitet es in eine Erzählung und ersetzt bei der Präsentation die grammatikalische Vergangenheitsform durch das Futur. – Und kommt sich dabei sehr originell vor.
Die deutschen Zeitformen: Präsens, Perfekt, Präteritum, Plusquamperfekt, Futur I und Futur II
So kommen wir also zum Thema der grammatikalischen Formen und der Stilisierung bzw. sprachlichen Verfälschung der realen Verhältnisse mittels der Grammatik. Denn wie eben angedeutet, gibt es nicht nur einen Unterschied zwischen der Gegenwart der Figuren bzw. des Geschehens und der Gegenwart des Erzählaktes, sondern der Erzähler treibt während des Erzählens gerne mal auch so manchen Schabernack. Und um diesen Schabernack zu verstehen, müssen wir uns zunächst die deutschen Zeitformen bzw. Tempora in Erinnerung rufen.
Präsens
Wenn wir von der Gegenwart sprechen, dann benutzen wir das Präsens:
Ich erzähle Dir eine Geschichte.
Darüber hinaus beschreiben wir damit auch regelmäßige und oft auch zukünftige Tätigkeiten:
Jeden Abend erzähle ich Dir eine Geschichte.
Morgen erzähle ich Dir eine Geschichte.
Auch vergangene Ereignisse können unter bestimmten Bedingungen mit dem Präsens beschrieben werden. Und zwar wird im Deutschen bei geschichtlichen Darstellungen und einigen anderen Arten von Dokumentationen gerne auf das sogenannte historische Präsens zurückgegriffen:
Am 2. Dezember 1805 gewinnt Napoleon die Schlacht bei Austerlitz.
Außerdem erzählen wir auch in der Umgangssprache gerne im Präsens:
Gestern sitzen wir also da und ich erzähle eine Geschichte. Und dann kommt plötzlich Iks Üpsilon daher und sagt …
Im Grunde soll hier die Vergangenheit dem Zuhörer bildlich vor Augen geführt werden. Es ist also ein Stilmittel und de facto der Zwilling der gleichzeitigen Narration bei fiktionalen Texten. Doch dazu kommen wir etwas später.
Perfekt
Wenn wir von der Vergangenheit sprechen, haben wir im Deutschen drei Möglichkeiten. Die erste davon ist das Perfekt. Wir benutzen es bei abgeschlossenen Ereignissen, die aber eine Auswirkung auf die Gegenwart haben:
Ich habe Dir eine Geschichte erzählt.
In der Umgangssprache benutzen wir überwiegend diese Zeitform. Trotzdem gibt es einige Ausnahmen wie Hilfsverben, Modalverben und ein paar andere, bei denen wir auch im Alltag das Präteritum bevorzugen:
Wir sagen zum Beispiel meistens nicht:
Ich habe Dir gestern eine Geschichte erzählen müssen.
(Perfekt)
Sondern:
Ich musste Dir gestern eine Geschichte erzählen.
(Präteritum)
Das Perfekt von müssen würden wir eher dann verwenden, wenn wir die Besonderheit des Perfekts nutzen, also die Bedeutung für die Gegenwart betonen wollen: Entweder wollen wir den Fokus darauf lenken, dass das erzwungene Geschichtenerzählen jetzt definitiv vorbei ist, und/oder wir wollen hervorheben, dass es besonders unangenehm war und womöglich immer noch spürbare Nachwirkungen hat:
Ich habe Dir gestern eine Geschichte erzählen müssen. Noch immer ich bin ich erschöpft davon.
Im Präteritum klingt der Satz deutlich sachlicher, weniger emotional.
Präteritum
Die zweite Vergangenheitsform im Deutschen ist das Präteritum. Wir benutzen es eher bei geschriebenen Texten, die nicht die gesprochene Sprache imitieren (also zum Beispiel nicht in WhatsApp-Nachrichten):
Ich erzählte Dir eine Geschichte.
Wie aber eben angedeutet, ist das keine Regel, sondern nur eine Tendenz. Mancherorts – eher in Norddeutschland – ist es durchaus etwas üblicher, Perfekt und Präteritum in der gesprochenen Sprache zu mischen. In manchen süddeutschen Dialekten hingegen hat das Perfekt das Präteritum fast vollständig verdrängt. Grundsätzlich sind diese beiden Vergangenheitsformen zumindest von ihrer Bedeutung her auch tatsächlich mehr oder weniger austauschbar – nur wenn die beschriebene Vergangenheit noch nicht lange zurückliegt und einen Einfluss auf die Gegenwart hat, ist das Perfekt obligatorisch:
Du bist von meiner Geschichte gelangweilt, weil ich sie Dir eben erst erzählt habe.
Vergleiche:
Du bist von meiner Geschichte gelangweilt, weil ich sie Dir eben erst erzählte.
(Gib zu, das Präteritum klingt hier bestenfalls archaisch.)
Salopp können wir also durchaus sagen, dass das Perfekt eher die Vergangenheitsform für die gesprochene Sprache ist und das Präteritum sich eher in Texten findet. Außerdem hat das Perfekt, wie gesagt, noch eine Zusatzfunktion des Bezugs zur Gegenwart. Diese hat das Präteritum nicht.
Dieser Gegenwartsbezug muss dabei nicht unbedingt kausal sein. Vergleichen wir zum Beispiel, wie wir bei einer Vergangenheit, die möglicherweise noch gültig ist, mit den Tempusformen hantieren. Hier zunächst ein Beispiel im Präteritum:
Ich erinnere mich daran, dass meine Freundin Erna nach dem dritten Glas Rotwein immer über ihren Exfreund zu lästern anfing. Er hieß Klaus und arbeitete als Hundetrainer.
Sofern Klaus zum Zeitpunkt des Erzählaktes noch am Leben ist, heißt er mit allergrößter Wahrscheinlichkeit immer noch Klaus und ist möglicherweise immer noch Hundetrainer, auch wenn für diese Information eine Vergangenheitsform genutzt wird. Welche Wirkung speziell das Präteritum hat, merken wir, wenn wir den zweiten Satz ins Perfekt setzen und vergleichen:
Ich erinnere mich daran, dass meine Freundin Erna nach dem dritten Glas Rotwein immer über ihren Exfreund zu lästern anfing. Er hat als Hundetrainer gearbeitet.
Beim Perfekt möchte man sehr viel stärker als vorhin beim Präteritum ein „damals“ einsetzen: „Er hat damals als Hundetrainer gearbeitet.“ Das Perfekt bringt hier also in einem stärkeren Maß das Heute ins Spiel: Klaus war damals zumindest Hundetrainer – heute ist er das vielleicht nicht mehr und/oder das „Ich“ in der Gegenwart weiß es einfach nicht. Die Präteritumsvariante ist da viel offener und losgelöster von der Gegenwart bzw. vom Erzählakt, fokussiert sich also stärker auf die vergangene Gegenwart der Lästereien beim Rotwein.
Plusquamperfekt
Weil die Deutschen offenbar so gerne über die Vergangenheit philosophieren, gibt es noch eine dritte Vergangenheitsform, nämlich das Plusquamperfekt. In der gesprochenen Sprache kommt es eher selten vor, weil es nur dann benötigt wird, wenn man von vergangenen Dingen redet und dann etwas noch Vergangeneres zur Sprache kommt, und die Menschen es umgangssprachlich gerne durch eine der anderen Vergangenheitsformen ersetzen:
Du warst von meiner Geschichte gelangweilt, weil ich sie Dir schon am Abend zuvor erzählt hatte.
(Plusquamperfekt, formal korrekt)
Du warst von meiner Geschichte gelangweilt, weil ich sie Dir schon am Abend zuvor erzählt habe.
(Perfekt statt Plusquamperfekt, eigentlich falsch)
Obwohl das Plusquamperfekt vom Aussterben bedroht ist, ermöglicht es uns nach wie vor feine Nuancen bei der Darstellung von Vergangenem. Nehmen wir das Rotwein-Lästerbeispiel von vorhin und ergänzen es noch durch eine dritte Variante. Vergleiche:
Zweiter Satz im Präteritum:
Ich erinnere mich daran, dass meine Freundin Erna nach dem dritten Glas Rotwein immer über ihren Exfreund zu lästern anfing. Er hieß Klaus und arbeitete als Hundetrainer.
Zweiter Satz im Perfekt:
Ich erinnere mich daran, dass meine Freundin Erna nach dem dritten Glas Rotwein immer über ihren Exfreund zu lästern anfing. Er hat als Hundetrainer gearbeitet.
Zweiter Satz im Plusquamperfekt:
Ich erinnere mich daran, dass meine Freundin Erna nach dem dritten Glas Rotwein immer über ihren Exfreund zu lästern anfing. Er hatte als Hundetrainer gearbeitet.
Wir haben insgesamt drei Zeitebenen: den Moment, in dem sich das „Ich“ an das Rotweintrinken erinnert, das Rotweintrinken selbst und das Lästern dabei und schließlich die vergangene Beziehung zwischen Erna und Klaus. Bei den Varianten im Präteritum und im Perfekt ist die Information über Klaus‘ berufliche Tätigkeit auf derselben Zeitebene wie das lästerlastige Rotweintrinken. Es ist also möglich, dass Klaus zu diesem Zeitpunkt (des Lästerns) immer noch Hundetrainer war. Bei der Variante im Plusquamperfekt wird die Information über Klaus‘ Beruf eindeutig auf die zeitliche Ebene der vergangenen Beziehung beschränkt. Sie gilt also nur für diesen zeitlich weit zurückliegenden Zeitpunkt. Mit anderen Worten: Klaus ist definitiv kein Hundetrainer mehr. Oder er hat seinen Beruf nach der Trennung von Erna wieder aufgenommen, aber zwischen ihm und den lästernden Damen herrscht Funkstille, sodass sie nichts davon wissen. Das Plusquamperfekt verleiht der Information in diesem Beispiel also etwas schon fast unwiederbringlich Endgültiges.
Futur I und Futur II
Wenn es um die Zukunft geht, greifen wir neben dem umgangssprachlichen Präsens in erster Linie auf das Futur I zurück:
Ich werde Dir eine Geschichte erzählen.
Darüber hinaus kommt das Futur I auch bei Befehlen und Drohungen zum Einsatz:
Du wirst mir jetzt zuhören oder ich werde Dich bis ans Ende Deiner Tage verfolgen!
Wenn es speziell darum geht, dass in der Zukunft eine Handlung vollendet sein wird, benutzen wir das Futur II:
Bis morgen werde ich Dir die Geschichte erzählt haben.
Viele Feinheiten …
So viel zu den standardsprachlichen Tempora im Deutschen. Darüber hinaus gibt es noch Dinge wie das doppelte Perfekt und das doppelte Plusquamperfekt, die eher in der Umgangssprache und in Dialekten heimisch sind. Ich spreche da von Dingen wie: „Ich habe Dir eine Geschichte erzählt gehabt.“ Und: „Ich hatte Dir eine Geschichte erzählt gehabt.“ Solche Feinheiten überlasse ich an dieser Stelle aber lieber den Germanisten und fokussiere mich stattdessen auf die moderne Standardsprache. Ich möchte die Abweichungen vom Standard bloß erwähnt haben, weil Du, wenn Du Dich mit der Sprache gut auskennst und sie gut handhabst, sie durchaus als Stilmittel verwenden kannst.
Außerdem werde ich an dieser Stelle auch nicht erläutern, wie die Tempusformen grammatikalisch gebildet werden. Ich gehe nämlich davon aus, dass Du das Deutsche beherrschst und notfalls in der Lage bist, die Grammatik nachzuschlagen – heutzutage gibt es im Internet ja für praktisch jedes Verb ausführliche Konjugationstabellen. Weil aber auch Muttersprachler hier manchmal Fehler machen, wäre das vielleicht etwas für meine Reihe über häufige Fehler bei Rechtschreibung, Grammatik und Zeichensetzung. Ich merke es mir vor.
Jetzt aber widmen wir uns endlich der praktischen Anwendung der Tempora in fiktionalen Texten …
Verfälschung durch Grammatik: Die Tempora in erzählenden Texten
Wie gesagt: Man kann eigentlich nur von Vergangenem erzählen. Allerdings hat der Erzähler einer fiktionalen Geschichte die Möglichkeit, das Tempus der Erzählung zu ändern, um bestimmte Effekte zu erzielen. Dieses Thema fällt in den Bereich der Erzählperspektive, und da empfehle ich Genettes Kategorie der Zeit. Die Einsatzgebiete und Effekte von Genettes vier Zeittypen haben wir bereits in einem früheren Artikel besprochen. Deswegen verzichten wir an dieser Stelle auf ausführliche Erklärungen. Stattdessen gehen wir ohne Umschweife zur grammatikalischen Dimension über.
Und dazu klären wir zunächst ein paar Grundprinzipien: Der Erzählakt ist ja der Moment, in dem der Erzähler dem Leser die Geschichte erzählt, also die Gegenwart von Erzähler und Leser. Diese wird, sofern sie überhaupt zur Sprache kommt, eigentlich immer im Präsens wiedergegeben und hebt sich dadurch von der Erzählung in der Vergangenheitsform ab:
„Selbst in den alten Zeiten empfanden sie in der Regel Scheu vor dem »Großen Volk«, wie sie uns nennen, und heute meiden sie uns voll Schrecken und sind nur noch schwer zu finden.“
J.R.R. Tolkien: Der Herr der Ringe, Einführung: Über Hobbits.
Es kommt zwar durchaus vor, dass der Erzähler sich an einen zukünftigen Leser wendet – das erkennt man an Formulierungen wie: „Ich weiß nicht, wie du auf die Enthüllungen in diesem Kapitel reagieren wirst, lieber Leser.“ –, aber der Erzähler geht dabei immer noch von seiner eigenen Gegenwart und seinen gegenwärtigen Vorstellungen vom Leser aus. Wir haben also immer noch einen Erzählakt im Präsens, auch wenn der Rezeptionsakt zeitlich versetzt ist.
Die Gegenwart des Geschehens bzw. der eigentlichen Geschichte nennen wir, wie gesagt, Basiserzählung. Und weil der Erzähler ja nur von Vergangenem erzählen kann, ist die Basiserzählung, die Gegenwart der Figuren, meistens in der Vergangenheitsform verfasst. Innerhalb der Basiserzählung kann es aber zu allerlei Arten von Binnenerzählungen kommen, also zu Erzählakten innerhalb der Erzählung. Und weil es für die Figuren ja die Gegenwart ist, sprechen sie in ihrer wörtlichen Rede natürlich im Präsens – es sei denn natürlich, sie meinen vergangene oder zukünftige Ereignisse aus der Perspektive ihrer Gegenwart.
Fritzchen sagte zum Drachen: „Ich habe den Auftrag, dich zu töten. Ich habe mich lange vorbereitet und werde den Auftrag jetzt erfüllen.“
(Präteritum – Präsens – Perfekt – Futur I)
Wir haben also zwei Erzählebenen, auf denen das Präsens Standard ist: die Ebene des Erzählaktes und die Ebene der Binnenerzählungen bzw. der wörtlichen Rede der Figuren. Das Präteritum der Basiserzählung („Fritzchen sagte zum Drachen“) drückt das zeitliche Verhältnis zwischen Erzählakt und Basiserzählung aus: Die Ereignisse der Basiserzählung liegen in der Vergangenheit, der Erzählakt in der Gegenwart. – Und genau hier knüpfen die zeitlichen Spielereien des Erzählers an: Manchmal will der Erzähler das reale zeitliche Verhältnis nämlich verschleiern und ersetzt die eigentlich korrekten Vergangenheitsformen durch ein anderes Tempus.
Wie gesagt, in Bezug auf das zeitliche Verhältnis zwischen Erzählakt und den Ereignissen der Basiserzählung bzw. auf die Möglichkeiten, dieses Verhältnis zu stilisieren, unterscheidet Genette vier Typen. Diese gehen wir nun nacheinander durch.
Gleichzeitige Narration
Es kommt oft vor, dass der Erzähler die zeitliche Grenze zwischen dem Leser und den Figuren verwischen will, um ihm das Gefühl zu geben, er würde das Geschehen „live“ beobachten. Deswegen tut er so, als würde der Erzählakt zeitgleich mit den Ereignissen der Basiserzählung stattfinden, und setzt die eigentlich korrekten Vergangenheitsformen ins Präsens. Vergleiche:
Eigentlich korrekte Vergangenheitsform:
Fritzchen erschlug den Drachen und freute sich.
Präsens, Stilisierung des Erzählers:
Fritzchen erschlägt den Drachen und freut sich.
Weil hier eine Gleichzeitigkeit von Erzählakt und Geschehen simuliert wird, spricht Genette von gleichzeitiger Narration. Dabei findet diese Simulation von Gleichzeitigkeit auf allen Ebenen statt: Wenn der Erzähler so tut, als würde das Geschehen in der Gegenwart stattfinden, dann benutzt er auch für die Vergangenheit und Zukunft der Figuren dieselben grammatikalischen Formen wie für sich selbst:
Fritzchen erschlägt den Drachen. Nachdem er den Auftrag bekommen hatte, war er lange nervös. Aber jetzt atmet er erleichtert auf und freut sich. Die Welt wird seine Heldentat niemals vergessen.
(Präsens – Plusquamperfekt – Präteritum – Präsens – Präsens – Futur I)
Also kurzum: Für die Gegenwart aus der Sicht der Figur wird das Präsens benutzt, für die Vergangenheit kommen Perfekt, Präteritum und Plusquamperfekt zum Einsatz – was genau und wie konkret, ist in der Regel eine Stilentscheidung –, und für die Zukunft benutzt man Futurformen, wobei je nach Stil auch das Präsens salopp missbraucht werden kann. Vergleiche:
Etwas klassischere gleichzeitige Narration:
Fritzchen erschlägt den Drachen. Nachdem er den Auftrag erhalten hatte, war er lange nervös. Aber jetzt atmet er erleichtert auf und freut sich. Morgen wird er dafür einen Orden bekommen.
(Präsens – Plusquamperfekt – Präteritum – Präsens – Präsens – Futur I)
Etwas umgangssprachlichere gleichzeitige Narration:
Fritzchen erschlägt den Drachen. Als er den Auftrag erhalten hat, war er lange nervös. Aber jetzt atmet er erleichtert auf und freut sich. Morgen bekommt er dafür einen Orden.
(Präsens – Perfekt – Präteritum – Präsens – Präsens – Präsens missbraucht als Futur)
Spätere Narration
Wenn der Erzähler den Erzählakt zeitlich nach den Ereignissen der Basiserzählung platziert, dann spricht Genette von späterer Narration. Die Gegenwart der Figuren wird also in Vergangenheitsformen wiedergegeben. Es ist, wie gesagt, der absolut natürliche Standardfall des Erzählens. – Was aber nicht bedeutet, dass nicht auch hier stilisiert werden kann.
Zum Beispiel ist es ein großer Unterschied, ob Du primär im Perfekt oder im Präteritum erzählst. Vergleiche:
Gestern war Lieschen in der Bibliothek und hat ein spannendes Buch gelesen. Es handelte vom Ritter Fritzchen: Er hat den Auftrag bekommen, einen Drachen zu töten, und nachdem er ihn getötet hat, hat man ihm einen Orden verliehen.
(Präteritum – Perfekt – Präteritum – Perfekt – Perfekt – Perfekt)
Gestern war Lieschen in der Bibliothek und las ein spannendes Buch. Es handelte vom Ritter Fritzchen: Er hatte den Auftrag bekommen, einen Drachen zu töten, und nachdem er ihn tötete, verlieh man ihm einen Orden.
(Präteritum – Präteritum – Präteritum – Plusquamperfekt – Präteritum – Präteritum)
Die perfektlastigere Variante liest sich nicht nur stilistisch umgangssprachlicher, sondern das Perfekt hat ja auch noch die Zusatzfunktion, dass es eine Verbindung zur Gegenwart herstellt. Wenn es also heißt: „Gestern hat Lieschen ein Buch gelesen“, dann schwingt da automatisch mit, dass der Erzähler sich im „Heute“ befindet und die Basiserzählung somit im „Gestern“ vom Erzählakt aus stattgefunden hat.
Die Präteritumsvariante hingehen ist losgelöster vom Erzählakt: „Gestern“ muss sich nicht auf das „Heute“ des Erzählaktes beziehen, sondern kann auch eine Analepse bzw. einen Flashback einleiten:
Lieschen blickte verträumt aus dem Fenster. Gestern war sie in der Bibliothek und las ein spannendes Buch.
Ja, man möchte hier ein Plusquamperfekt einsetzen, und dazu kommen wir gleich. Vorerst bleiben wir aber beim „Gestern“, das in diesem Beispiel nichts mit der Gegenwart des Erzählaktes zu tun hat, sondern ein zeitliches Verhältnis zwischen zwei Ereignissen innerhalb der Basiserzählung beschreibt. Der Erzählakt ist hier also weitestgehend unsichtbar. Wenn wir das Präteritum benutzen, dann schwingt da natürlich mit, dass es eine Vergangenheit ist; aber weil sie ja vom Erzählakt losgelöst ist, lässt Letzterer sich viel leichter ignorieren als beim Perfekt. Durch dieses Unsichtbarmachen des Erzählaktes und der Erzählinstanz wird die Barriere zwischen dem Leser und dem Geschehen verwischt. Das Geschehen in der Basiserzählung fühlt sich somit unmittelbarer an, weil wir leicht verdrängen können, dass es einen Erzähler gibt: Wir haben das Gefühl, das Geschehen direkt zu beobachten.
Diese Losgelöstheit vom Präsens dürfte einer der Hauptgründe sein, warum fiktionale Texte meistens im Präteritum verfasst sind. Hinzu kommen natürlich der schriftsprachliche Charakter dieser Zeitform und die ganz banale Gewohnheit bzw. Traditionen. Und abgesehen davon ist es, wie gesagt, auch die natürlichste Art des Erzählens, weil wir ja nur von Vergangenem erzählen können: Die Gegenwart des Erzählaktes ist, soweit sie überhaupt sichtbar wird, im Präsens, die Gegenwart der Basiserzählung ist im Präteritum. Es sei denn natürlich, es sollen bestimmte stilistische Effekte erzielt werden. Dann kann man grundsätzlich auch das Perfekt wählen.
Wenn aber nun von der Vergangenheit vor der ohnehin vergangenen Basiserzählung die Rede ist, dann benutzen wir die sogenannte Vorvergangenheit, auch bekannt als Plusquamperfekt. Dabei verhält sich das Plusquamperfekt zum Präteritum ähnlich wie das Perfekt zum Präsens. Vergleiche:
Perfekt – Präsens:
Gestern hat Fritzchen den Drachen erschlagen. Heute verleiht man ihm einen Orden.
Plusquamperfekt – Präteritum:
Gestern hatte Fritzchen den Drachen erschlagen. Heute verlieh man ihm einen Orden.
Wie bereits angesprochen, gibt es in der Umgangssprache die Tendenz, das Plusquamperfekt durch Perfekt oder Präteritum zu ersetzen, was eigentlich grammatikalisch falsch ist. Korrekt müsste unser Beispielsatz mit Lieschens verträumtem Fensterblick daher so lauten:
Lieschen blickte verträumt aus dem Fenster. Gestern war sie in der Bibliothek gewesen und hatte ein spannendes Buch gelesen.
Wir sehen hier also eine zentrale Schwierigkeit des Plusquamperfekts: Er ist sperrig und sorgt manchmal für plump klingende Konstruktionen. Eine wohlklingende längere Textpassage im Plusquamperfekt zu schreiben ist eine hohe Kunst: Mache Dich vor allem auf viel Paraphrasieren gefasst. Zum Beispiel:
Lieschen blickte verträumt aus dem Fenster. Gestern war sie in der Bibliothek gewesen, vertieft in ein spannendes Buch.
Man braucht schon Fantasie und Übung dafür, und selbst dann kann es noch sperrig klingen. Ich kann es daher keinem Autor verübeln, der solche Passagen mit dem Plusquamperfekt anfängt, sich dann aber entgegen der grammatikalischen Korrektheit ins Präteritum mogelt:
Lieschen blickte verträumt aus dem Fenster. Gestern war sie in der Bibliothek gewesen und las ein spannendes Buch.
Auch solche Mogeleien erfordern natürlich schreibhandwerkliches Geschick, damit sie dem Leser nicht nicht Auge stechen. Dieses Geschick kommt durch Lese- und Schreiberfahrung, daher kann ich Dir im Rahmen dieses Artikels nicht mehr weiterhelfen. Stattdessen gehen wir weiter im Programm, nämlich zum spannenden Fall der Zukunft der Vergangenheit. Hier haben wir zwei Möglichkeiten. Vergleiche:
Fritzchen erschlug den Drachen. Die Welt wird seine Heldentat niemals vergessen.
Fritzchen erschlug den Drachen. Die Welt würde seine Heldentat niemals vergessen.
Wenn wir beim ersten Beispiel das Futur I sehen, dann steht es im Kontrast zum Präteritum im Satz davor: Während das Erschlagen des Drachen vor dem Präsens des Erzählaktes stattgefunden hat, wird Fritzchens Heldentat auch in der Zukunft vom Präsens des Erzählaktes aus nicht vergessen werden. Es entsteht also automatisch ein Bezug zur Gegenwart des Erzählens. Der Erzähler und der Leser befinden sich somit in derselben Welt wie Fritzchen, sei es auch vielleicht tausend Jahre später, und genießen die Auswirkungen seiner Heldentaten.
Beim zweiten Beispiel haben wir einen sogenannten Prospektiv, die Zukunft in der Vergangenheit: Der Fokus bleibt dabei auf der Gegenwart der Basiserzählung und wir können den Erzählakt weiterhin ausblenden. Mit der „Würde-Form“ haben wir zwar auch hier ein Futur, aber im Konjunktiv II. Das ist ein Signal an uns Leser, dass es sich um Prophezeiungen, Spekulationen und Vorausdeutungen aus der Perspektive der Figuren der Erzählung handelt.
Eine Alternative zur „Würde-Form“ ist der Konjunktiv des Modalverbs sollen. Als Ernst Jünger in seinen Memoiren vom Ersten Weltkrieg davon erzählt, wie er mit einer Gruppe Soldaten die feindlichen Schützengräben infiltrierte, um Gefangene zu nehmen, macht er eine ominöse Vorausdeutung:
„In solchen Lagen erfaßt das Gedächtnis jede Kleinigkeit. So prägte sich mir an dieser Stelle wie im Traum das Bild eines Kochgeschirrs ein, in dem ein Löffel stand. Diese Beobachtung sollte mir zwanzig Minuten später das Leben retten.“
Ernst Jünger: In Stahlgewittern, Regniéville.
Solche Vorausdeutungen sind ein geläufiger Kniff, um die Spannung zu steigern. Dass Jünger das Nachfolgende überlebt, ist nämlich vollkommen klar, weil er nach dem Krieg ja quicklebendig war und die dem Leser vorliegenden Memoiren verfasst hat. Durch die Vorausdeutung spoilert Jünger also nichts, sondern, im Gegenteil, er weckt Neugierde auf die besondere Bedeutung des Kochgeschirrs. Diese bestand übrigens darin, dass es im nächsten Moment zu Kämpfen und Rennereien in den feindlichen Schützengräben kam und die deutschen Soldaten sich in diesem Labyrinth verirrten. Als Jünger und einige seiner Leute an dieser Stelle erneut vorbeikamen, erkannte er das Kochgeschirr wieder und wusste, in welcher Richtung es zurück in die eigenen Gräben ging.
Aber zurück zu Fritzchen: Die „Würde-“ und die „Sollte-Form“ sind zwar schön und gut, aber wenn Du längere Passagen hast, in denen von der Zukunft in der Vergangenheit die Rede ist, könnten „Würde“ und „Sollte“ schnell nervig werden. Sogar nerviger als das Plusquamperfekt. Um die Passage aufzulockern, kannst Du auf den Prospektiv verzichten und den Sachverhalt zum Beispiel durch ein zukunftsandeutendes Verb und ein Substantiv ausdrücken:
Fritzchen erschlug den Drachen. Ihn erwartete ewiger Ruhm.
Auch kannst Du, wenn es sich anbietet, die Zukunftsvoraussage einer Figur in den Mund legen, also in die wörtliche Rede verpacken. Da wirst Du das normale Futur verwenden können:
Fritzchen erschlug den Drachen. Die Menschen kamen auf ihn zu und sagten: „Die Welt wird deine Heldentat niemals vergessen.“
Wenn Du in Deinem Text aber sehr oft und sehr lange mit Zukunftsvoraussagen hantierst und unbedingt meinst, sie in der Erzählerrede unterbringen zu müssen, dann wäre es vielleicht eine Überlegung wert, für die gesamte Basiserzählung die gleichzeitige Narration zu wählen. Schließlich sind häufige und lange Passagen im Futur etwas weniger penetrant als ständiges „Würde“ und „Sollte“. In Maßen müssten die „Würde-“ und die „Sollte-Form“ aber kein Problem sein und können den Text, wie wir gesehen haben, sogar spannender machen.
Frühere Narration
Dass der Erzählakt zeitlich vor den Ereignissen der Basiserzählung liegt bzw. so stilisiert wird, ist ein seltener Fall, aber er kommt dennoch vor. In der Regel handelt es sich dabei nicht um eine komplette Erzählung mit früherer Narration, sondern nur um bestimmte Passagen, beispielsweise Binnenerzählungen, in denen eine Seherin den Figuren die Zukunft darlegt.
Wie Du Dir bereits denken kannst, wird die Gegenwart der Basiserzählung bei der früheren Narration im Futur und/oder im als Futur zweckentfremdeten Präsens wiedergegeben:
Fritzchen wird den Drachen erschlagen.
Morgen erschlägt Fritzchen den Drachen.
So weit, so einfach. Schwieriger wird es, wenn wir die Vergangenheit der zukünftigen Ereignisse wiedergeben wollen. Vor allem, wenn wir bedenken, dass diese Vergangenheit nach dem Erzählakt, gleichzeitig mit dem Erzählakt oder vor dem Erzählakt stattfinden kann. Vergleiche:
Fritzchen wird den Drachen erschlagen. Vorher wird ihm das aufgetragen worden sein.
Hier hat Fritzchen zum Zeitpunkt des Erzählaktes noch nicht einmal den Auftrag erhalten, den Drachen zu töten. Wir drücken das durch die konsequente Nutzung der Futurformen aus: Konkret in diesem Beispiel steht der zweite Satz im Futur II, weil die beschriebene Handlung zum Zeitpunkt des Sieges über den Drachen ja abgeschlossen sein wird. Grundsätzlich ist aber auch das Futur I möglich: „Vorher wird ihm das aufgetragen werden.“
Fritzchen wird den Drachen erschlagen. Das wird ihm gerade aufgetragen.
Hier findet das vergangene Ereignis zur selben Zeit wie der Erzählakt statt und steht daher im Präsens. Damit bekommt der Erzählakt eine klare Einordnung in die Chronologie der Ereignisse und wird dadurch hervorgehoben. Es ist im Übrigen auch schwer zu sagen, ob es dann nicht eher eine gleichzeitige Narration mit Tendenzen zur früheren Narration ist. Ich persönlich würde die Entscheidung für jede betroffene Textpassage individuell fällen anhand dessen, welcher Zeittyp überwiegt bzw. wo der Schwerpunkt liegt.
Fritzchen wird den Drachen erschlagen. Das wurde ihm aufgetragen.
Hier liegt das vergangene Ereignis zeitlich vor dem Erzählakt, und auch das wirkt nicht unbedingt wie eine frühere Narration in Reinform: Zwischen dem Futur im ersten Satz und dem Präteritum im zweiten steht ein suggeriertes Präsens da wie der metaphorische Elefant im Raum.
Wenn wir nun auf die Zukunft der Zukunft zu sprechen kommen, so haben wir hier keine andere Wahl, als weiterhin an Futurformen festzuhalten:
Fritzchen wird den Drachen erschlagen, danach wird man ihn als Helden verehren.
Unterm Strich haben wir Deutschsprachler bei der früheren Narration, sofern wir sie in hundertprozentiger Reinform umsetzen wollen, also keine andere Wahl, als mit dem Futur zu hantieren und auf Ergänzungen wie „davor“, „danach“, „später“ und so weiter zu setzen, damit es nicht verwirrend wird.
Im Übrigen verdeutlicht die Beschäftigung mit der früheren Narration auch die Vorzüge der vielen Vergangenheitstempora im Deutschen. In einer Zeit, in der das Perfekt das Präteritum und das Plusquamperfekt verdrängen möchte, zeigen uns die eingeschränkten Möglichkeiten des Futurs, was uns bevorsteht, wenn wir diese Tempora tatsächlich verlieren: So haben wir zum Beispiel gesehen, dass sich bei der früheren Narration ratzfatz direkt oder indirekt die Gegenwart einschleicht. Denn ebenso wie beim Perfekt schwingt da eine gewisse Verbindung zum Präsens mit. Es gibt im Deutschen nun mal kein „Futurpräteritum“, das die Zukunft so schön von der Gegenwart loslösen kann. Und ebenso hat das Deutsche auch kein „Plusquamfutur“ das eine „Nachzukunft“ beschreibt. Wenn wir den Erzählakt bei der späteren Narration also unsichtbar machen wollen, müssen wir uns darauf einstellen, ausschließlich mit Futurformen zu arbeiten. Und ein solcher Text liest sich wegen der hilfsverblastigen Konstruktionen auf Dauer recht sperrig – verglichen mit einer späteren Narration im Präteritum.
Eingeschobene Narration
Zusätzlich zu den drei naheliegenden Zeittypen definiert Genette noch einen vierten, nämlich die eingeschobene Narration. Dieser Typ liegt vor, wenn der Erzählakt in der Chronologie der Ereignisse nicht fest verankert ist, sondern mitwandert und die Basiserzählung immer wieder einholt. Das bedeutet: Es passiert etwas, der Erzähler berichtet davon, dann passiert noch etwas und der Erzähler aktualisiert seine Erzählung und so weiter. Es geht also um Briefe, Tagebücher und ähnliche Dinge, und häufig ist der Erzählakt, also das Verfassen der Tagebucheinträge etc., ein Teil der Basiserzählung, also der eigentlichen Handlung der Geschichte. Und weil in den einzelnen Erzählakten sowohl von Vergangenem als auch von Gegenwärtigem, zum Beispiel den Gedanken zu den beschriebenen vergangenen Ereignissen, erzählt wird, ist die eingeschobene Narration in der Praxis eine Art Mischung aus späterer und gleichzeitiger Narration. Möglich sind auch Fetzen von früherer Narration, wenn im Erzählakt von Spekulationen, Plänen und Ähnlichem berichtet wird.
In Bezug auf die Tempora bedeutet das, dass für den Zeitpunkt des jeweiligen Erzählaktes, von dem es im Verlauf der Basiserzählung ja viele gibt, das Präsens verwendet wird. Für die Vergangenheit vom jeweiligen Erzählakt aus benutzen wir die Vergangenheitsformen und für die Zukunft Futurformen.
In der Praxis kann ein einzelner Erzählakt so aussehen:
Fritzchen übt für den Kampf gegen den Drachen. Er hat heute das Schwert dafür ausgehändigt bekommen. Er wird den Drachen ohne Zweifel besiegen.
(Präsens – Perfekt – Futur I)
Der nächste Einzelerzählakt könnte dann so lauten:
Fritzchen hat den Drachen besiegt. Es war ein epischer Kampf. Die Welt wird diese Heldentat niemals vergessen.
(Perfekt – Präteritum – Futur I)
Schlusswort
So viel zu den deutschen Tempora bei den vier Zeittypen von Genette. Wenn Du Genettes Erzähltheorie näher kennenlernen möchtest, so habe ich dazu neben einem uralten Artikel mit einer Erläuterung im Schnelldurchlauf eine ganze Reihe, in der ich etwas ausführlicher auf Genettes Kategorien eingehe.
Eine außerhalb der akademischen Kreise etwas bekanntere Erzähltheorie ist Stanzels typologisches Modell der Erzählsituationen, das in pervertierter Form an den deutschen Schulen gelehrt wird. Hier kommen die Begriffe Ich-Erzähler, auktorialer Erzähler und personaler Erzähler her. Auch der neutrale Erzähler stammt ursprünglich von hier, wurde von Stanzel selbst aber sehr schnell wieder gestrichen, weil er absoluter Unsinn ist. Dazu findest Du auf dieser Website übrigens einen eigenständigen Artikel. Auch zu Stanzels Modell findest Du bei mir einen Artikel und da wirst Du schnell feststellen, dass die Zeitformen in Stanzels Typenkreis keine Rolle spielen. Stanzel hat eben einen völlig anderen erzähltheoretischen Ansatz als Genette. Wobei Genettes Kategorie der Zeit sich aber durchaus mit dem Typenkreis kombinieren lässt, weil jede von Stanzels Erzählsituationen jeden Zeittyp Genettes nutzen kann. Bloß sind manche Kombinationen häufiger anzutreffen als andere.
Ansonsten hoffe ich, dass ich ein bisschen Liebe für die deutsche Grammatik schüren konnte: Nicht jede Sprache hat eine solche Vielfalt an Vergangenheitstempora wie das Deutsche. Also lass uns das Präteritum und das Plusquamperfekt schätzen, lieben, hegen und pflegen!