Sen­sibel über Gewalt schreiben

Sen­sibel über Gewalt schreiben

Gewalt in fik­tio­nalen Werken ist cool, badass oder sogar lustig. Alter­nativ auch roman­tisch und ein Aus­druck von wahrer Liebe. Bis man selbst davon betroffen ist und merkt, dass die Gewalt in Geschichten herz­lich wenig mit der Rea­lität zu tun hat. Wie macht man das als Autor also besser? Wie schreibt man seine Geschichte, ohne dass die Gewalt darin ver­harm­lost und/oder ver­herr­licht wird? Genau das schauen wir uns in diesem Artikel an …

Die Folien für dieses Video gibt es für Steady-Abon­nenten und Kanal­mitglieder auf You­Tube als PDF zum Down­load.

Kon­nichi-wa! Ich bin die Elben­prin­zessin Ayna­ri­va­si­liel-hime-sama-chan-san, die Tochter des Feuers, des Was­sers, der Luft, der Erde, der Valar, der Magier, des Lichts, der Götter, der Sonne, des Mondes und der Sterne. Ich bin eine Halbelbin, und als Kind wurde ich von meinen Eltern schlimm miss­han­delt. Dann lebte ich bei meinen Adop­tiv­el­tern und wurde schlimm miss­han­delt. Dann wurde mein Hei­mat­dorf von feind­li­chen Sol­daten nie­der­ge­brannt, und ich wurde schlimm miss­han­delt. Dann wurde ich gefan­gen­ge­nommen und schlimm miss­han­delt. Dann wurde ich an Skla­ven­händler ver­kauft und von ihnen schlimm miss­han­delt. Dann wurde ich an Har­a­drim ver­kauft und schlimm miss­han­delt. Dann gelang mir die Flucht, aber ich wurde von Orks über­fallen und schlimm miss­han­delt. Und jetzt bin ich hier und will ein Kind von dir, Thorin-kun!
Feael Sil­ma­rien: Mit Bogen, Pfeil und Damen­bart, Kapitel 4: Tochter des Platz­hal­ters.

Dies ist ein Monolog aus meinem ekel­haften bis ver­stö­renden post­mo­der­nis­ti­schen Drama Mit Bogen, Pfeil und Damen­bart, einer so schreck­lich wie mög­lich geschrie­benen Hobbit-Badfic, mit der ich meinen jah­re­langen Umgang mit schlechten Fan­fic­tions ver­ar­beiten wollte. Und wie du siehst, war dabei auch der leicht­fer­tige Umgang mit trau­ma­ti­schen Ereig­nissen, den so manche Autoren an den Tag legen, ein wich­tiges Anliegen für mich.

Denn ob wir es wollen oder nicht:

Unser Unter­be­wusst­sein kennt nicht den Unter­schied zwi­schen Rea­lität und fik­tio­nalen Geschichten.

Des­wegen können wir aus erdachten Geschichten lernen – Gutes wie Schlechtes. Wir schlüpfen vor­über­ge­hend in die Haut von jemand anderem, lernen fremde Per­spek­tiven kennen und ent­wi­ckeln unsere Empa­thie­fä­hig­keit weiter. – Vor­aus­ge­setzt, der Autor des Werks hat sich mit der The­matik ernst­haft aus­ein­an­der­ge­setzt.

Doch das ist längst nicht selbst­ver­ständ­lich. Beson­ders beim Thema Gewalt fällt auf, wie sehr es in den Medien ver­harm­lost und/oder glo­ri­fi­ziert wird: Wäh­rend reale Opfer – und oft auch Täter – von Gewalt ihr Leben lang unter den Folgen leiden, ist die trau­ma­ti­sche Ver­gan­gen­heit von Figuren wie der Elben­prin­zessin Ayna­ri­va­si­liel-hime-sama-chan-san, die ihr Leben lang von allem und jedem „schlimm miss­han­delt“ wurde und nun keine anderen Sorgen hat als sich mit einem gut­aus­se­henden Zwerg fort­zu­pflanzen, nicht mehr als ein schi­ckes Acces­soire, um einer ansonsten völlig per­sön­lich­keits­losen Figur etwas Farbe zu geben. Das ist schlicht und ergrei­fend men­schen­ver­ach­tend.

Vor allem, weil solche Dar­stel­lungen uns eben blind gegen­über dem Leiden realer Men­schen machen. Ich sage nicht, dass jeder, der posi­tive oder ver­harm­lo­sende Dar­stel­lungen von Gewalt kon­su­miert, auto­ma­tisch gewalt­tätig wird. Um Him­mels willen, zum Glück ist das nicht so!

Den­noch haben unsen­sible und unrea­lis­ti­sche Gewalt­dar­stel­lungen eine Wir­kung auf uns.

Dar­über werden wir heute spre­chen und anschlie­ßend über­legen, wie wir als Autoren in unseren Geschichten sen­sibel mit Gewalt umgehen können.

Medien und reale Gewalt

Bevor wir wirk­lich beginnen, müssen wir uns auf einige grund­le­gende Dinge einigen. Des­wegen hier eine Liste von Annahmen, von denen ich selbst­ver­ständ­lich aus­gehe, wenn ich über Gewalt­dar­stel­lung in den Medien rede:

  • Medien haben einen päd­ago­gi­schen Effekt – egal, ob er beab­sich­tigt ist oder nicht. Ein Werk ist immer durch die Welt­sicht und die Werte des Autors ein­ge­färbt. Und weil jedes Werk die Welt­wahr­neh­mung seiner Rezi­pi­enten beein­flusst, trägt jeder Autor mit seinem Schaffen eine gesell­schaft­liche Ver­ant­wor­tung.
  • Nichts­des­to­trotz haben wir in den Medien sehr viel Gewalt­dar­stel­lung, und diese wird von vielen Men­schen regel­mäßig kon­su­miert. Doch nur sehr wenige dieser Men­schen werden selbst gewalt­tätig.
  • Aller­dings haben Stu­dien auch gezeigt, dass es durchaus einen Zusam­men­hang gibt zwi­schen Gewalt­dar­stel­lung in den Medien und gewalt­tä­tigem Ver­halten. Man kann jedoch nicht sagen, ob mediale Gewalt­dar­stel­lungen gewalt­tä­tiges Han­deln ver­ur­sa­chen oder eher als Kata­ly­sator bei bereits vor­han­denem Gewalt­po­ten­tial wirken. Zumal es ja auch unzäh­lige andere Fak­toren gibt, die zu realer Gewalt­tä­tig­keit führen, bei­spiels­weise häus­liche Gewalt, Ver­nach­läs­si­gung, Armut, ein gewalt­tä­tiges soziales Umfeld und so weiter. Es gibt viele Wege, einem Men­schen bei­zu­bringen, Aggres­si­vität und Gewalt seien normal.
  • Außerdem sind Men­schen von Natur aus unter­schied­lich: Wäh­rend die einen von Geburt an etwas pazi­fis­ti­scher sind, neigen die anderen etwas mehr zu Aggres­si­vität.
  • Und das alles erschwert die Erfor­schung von Gewalt in den Medien massiv, weil man deren Aus­wir­kungen nicht sofort sehen und auch nicht klar von anderen Fak­toren trennen kann.

Ver­zerrte Wahr­neh­mung durch mediale Gewalt

Ich denke, wir können uns vor allem darauf einigen, dass die meisten Men­schen in der Lage sind, zumin­dest bewusst zwi­schen Rea­lität und Fik­tion zu unter­scheiden. Der Effekt der Gewalt in den Medien ist eher subtil und kann bei­spiels­weise durch funk­tio­nelle Magnet­re­so­nanz­to­mo­gra­phie (fMRT) sichtbar gemacht werden:

In einer Studie im Jahr 2012 wurde die Ver­ar­bei­tung emo­tio­naler Bilder bei Spie­lern von First-Person-Shooter-Games und einer Kon­troll­gruppe unter­sucht. Aus­ge­hend von stär­keren und schwä­cheren Reak­tionen in bestimmten Hirn­arealen kann man schließen, dass die Gamer einen Schutz­me­cha­nismus gegen nega­tive Emo­tionen ent­wi­ckelt haben und ihre Reak­tion auf Gewalt­bilder des­wegen schwä­cher aus­fällt.
Montag C., Weber B., Trautner P., New­port B., Mar­kett S., Walter NT, Felten A., Reuter M.: Does exces­sive play of vio­lent first-person-shooter-video-games dampen brain acti­vity in response to emo­tional sti­muli?, Bio­lo­gical Psy­cho­logy, 89 (1), pp. 107–11.

Diese Desen­si­bi­li­sie­rung gegen­über Gewalt­dar­stel­lungen ist im Übrigen etwas, das wir auch ohne fMRT beob­achten können:

Oder warum, denkst Du, wird die Gewalt in Hol­ly­wood-Block­bus­tern immer spek­ta­ku­lärer, die Explo­sionen immer größer und die her­um­flie­genden Kör­per­teile immer blu­tiger? Schon im alten Rom wurde das Unter­hal­tungs­pro­gramm in den Amphi­thea­tern mit der Zeit immer blu­tiger und grau­samer, weil das Publikum sich an immer mehr Gewalt gewöhnte und es immer grö­ßerer Gewalt bedurfte, um das Volk zu „beein­dru­cken“.

Können wir also garan­tieren, dass wir nach medialem Gewalt­konsum noch aus­rei­chend empa­thisch auf reale Gewalt reagieren? Vor allem, wenn reale Gewalt durch Tech­no­lo­gien wie fern­ge­steu­erte Drohnen immer mehr wie ein Video­spiel aus­sieht?

Mediale Gewalt und Rea­lismus

Para­do­xer­weise sind die immer hoch­wer­ti­geren medialen Gewalt­dar­stel­lungen häufig aber den­noch sehr unrea­lis­tisch. Soll heißen: Sie sehen unglaub­lich rea­lis­tisch aus, sind es aber nicht.

  • Fik­tive Figuren halten oft deut­lich mehr aus als nor­male Men­schen. Wo jeder andere am Boden liegen und nach seiner Mama jaulen würde, stehen fik­tio­nale Helden hero­isch auf, grunzen, es sei nur ein Kratzer, und mas­sa­krieren völlig unbe­ein­druckt die kom­plette Armee von Geg­nern.
  • Fik­tive Gewalt­opfer plau­dern ein­fach so über ihre trau­ma­ti­schen Erleb­nisse, obwohl reale Opfer oft sogar mit Nahe­ste­henden kaum dar­über reden können. Auch Depres­sionen, Panik­at­ta­cken, Schuld­ge­fühle, Selbst­mord­ge­danken und psy­cho­so­ma­ti­sche Erkran­kungen werden viel zu selten the­ma­ti­siert.
  • Außerdem wird Gewalt in den Medien erschre­ckend häufig als gerecht­fer­tigt hin­ge­stellt, klas­si­scher­weise wenn die „Guten“ die „Bösen“ rei­hen­weise nie­der­mähen. Wenn also die „anderen“, die „Bösen“, Gewalt aus­üben, dann ist das schlecht. Wenn es aber die Haupt­fi­guren, die „Guten“, tun, dann ist das gut und gerecht. Und damit geht oft einher, dass die „Bösen“ ent­mensch­licht werden, nur als per­sön­lich­keits­lose Sol­daten, Wachen, Orks oder was auch immer auf­treten, deren Leiden völlig irrele­vant ist, wenn es denn über­haupt gezeigt wird. Und natür­lich kommen die „Guten“ auch ohne psy­chi­schen Schaden davon und leben nach dem Mas­saker fröh­lich weiter, obwohl reale Men­schen, wenn sie jemanden getötet haben, nor­ma­ler­weise durchaus leiden.

Eine fast schon irgendwie tra­gi­ko­mi­sche Kon­se­quenz unrea­lis­ti­scher Gewalt­dar­stel­lungen ist, wenn bei­spiels­weise Gang­mit­glieder, die in einer Schlacht gegen eine andere Gang ange­schossen wurden, fest­stellen müssen, dass die scheinbar so kleine Wunde „scheiße wehtut“. Und dass das Leiden nach der kör­per­li­chen Hei­lung nicht unbe­dingt auf­hört. Davon, dass man selbst viel­leicht gar nicht der „Gute“ ist, kein Held, son­dern ein unbe­deu­tender Sta­tist, der aber trotzdem Gefühle hat, ganz zu schweigen.

Die Sache ist, dass man, wenn man in einem Bereich keine per­sön­liche Erfah­rung hat, oft den erst­besten Mist glaubt, den man zu diesem Thema erfährt. Und auf Grund­lage von diesem Mist fällen wir Ent­schei­dungen und beur­teilen auch andere Men­schen. Wir belä­cheln die see­li­schen Leiden eines Opfers, wir haben weniger Empa­thie für anders­den­kende Men­schen und wir machen uns selbst inner­lich fertig, wenn wir als Opfer von Gewalt unsere Erleb­nisse nicht so gut weg­ste­cken können wie fik­tive Figuren.

Ja, wir können nicht genau sagen, inwie­fern mediale Gewalt­dar­stel­lungen gewalt­tä­tiges Han­deln ver­ur­sa­chen. Aber wir können ganz sicher sagen, dass unrea­lis­ti­sche Gewalt­dar­stel­lungen uns nicht zu bes­seren, empa­thi­scheren Men­schen machen.

Somit wird ein gewal­tiges künst­le­ri­sches und damit auch gesell­schaft­li­ches Poten­tial ein­fach ver­schwendet.

Unsen­si­bler Umgang mit Gewalt

Ich hoffe, wir können uns mitt­ler­weile darauf einigen, dass wir als Autoren sehr viel Fin­ger­spit­zen­ge­fühl brau­chen, wenn wir über Gewalt schreiben. Denn:

  • Wenn Gewalt keine nen­nens­werten oder nur ver­nach­läs­sig­bare Kon­se­quenzen für Opfer und Täter hat, dann ist das ver­harm­lo­send.
  • Wenn Gewalt als „edel“ dar­ge­stellt wird, aus­schließ­lich als selbst­loses Opfer fürs Vater­land, das man mit stoi­schem Aus­druck erträgt, dann ist das ver­harm­lo­send.
  • Wenn ein Vergewaltigungs‑, Folter‑, Mob­bing- oder ander­wei­tige Art von Opfer sich in seinen Pei­niger ver­liebt, dann ist das ver­harm­lo­send.
  • Wenn der Held einen Mas­sen­mord an seinen namen­losen Geg­nern begeht, es ihm emo­tional nichts aus­macht und es als gut und richtig dar­ge­stellt wird, ist das gewalt­ver­herr­li­chend.
  • Wenn eine Figur ange­him­melt wird, weil sie ja so stark ist und soooo viele Men­schen im Allein­gang killen kann, ist das gewalt­ver­herr­li­chend.
  • Wenn Waffen als coole Acces­soires prä­sen­tiert werden und den Besitzer „badass“ wirken lassen, dann ist das gewalt­ver­herr­li­chend.

Und das alles gilt im Übrigen auch, wenn die Gewalt­taten von einer „starken Frau“ verübt werden. Denn in unserer Zeit scheint es erschre­ckend viele Krea­tive zu geben, die die „Stärke“ eine Frau an ihrem Body­count zu messen scheinen. Eine Frau, die ohne mit der Wimper zu zucken Hun­derte von Geg­nern nie­der­mäht, ist jedoch keinen Deut besser als ein Mann, der so etwas tut. Auch das ist Ver­herr­li­chung und Ver­harm­lo­sung von Gewalt.

Nicht zu ver­gessen, wenn man über Gewalt spricht, ist auch psy­chi­sche Gewalt. Sie ist kein biss­chen harm­loser als kör­per­liche und viel­leicht sogar schlimmer, weil sie so ver­deckt ist. Denn wenn Du von jemandem geschlagen wirst, dann ist es eine unum­stöß­liche Tat­sache und Du musst sie „nur“ als solche akzep­tieren. Sys­te­ma­ti­sche Mani­pu­la­tion, passiv-aggres­sives Ver­halten, Gas­lighting und das Her­un­ter­spielen Deiner Gefühle sind dagegen nicht nur für Außen­ste­hende, son­dern auch für Dich selbst oft gar nicht sichtbar. Meis­tens merkst Du nur, dass Du dich plötz­lich schlecht fühlst, kannst aber nicht genau benennen, wieso, suchst even­tuell die Schuld bei Dir selbst und langsam, aber sicher geht Deine Psyche daran kaputt, obwohl Dir nie­mand auch nur ein Haar gekrümmt hat. Unter psy­chi­sche Gewalt fallen eben nicht nur Dro­hungen und Belei­di­gungen, son­dern auch scheinbar harm­lose Kom­men­tare, scheinbar unschul­dige All­tags­in­ter­ak­tionen und scheinbar freund­liche Gesten. Psy­chi­sche Gewalt ist tückisch und eben auch eine Form von Gewalt, die das Opfer fürs Leben zeichnen kann. Und was das Ganze noch tra­gi­scher macht, ist, dass auch die Täter manchmal nicht begreifen, dass sie Gewalt anwenden. Denn oft stehen emo­tio­nale Gewalt­taten als ehr­lich gemeinte Hilfe, Erzie­hungs­maß­nahmen oder gar als Lie­bes­be­weis da.

  • Wenn ein Ver­liebter also zu Erpres­sung greift, bei­spiels­weise mit Selbst­mord droht, um ein Date zu bekommen, und es als roman­tisch hin­ge­stellt wird, ist auch das Ver­harm­lo­sung und Ver­herr­li­chung von Gewalt.

Zusam­men­ge­fasst kann man also sagen, dass man bei der Dar­stel­lung von Gewalt sehr, sehr viel falsch machen kann:

Denn selbst wenn der Gewaltakt an sich rea­lis­tisch dar­ge­stellt wird – was längst nicht immer der Fall ist -, sieht man rea­lis­tisch dar­ge­stellte Folgen von Gewalt noch sel­tener.

Die „ver­bo­tene Frucht“

Und noch schlimmer ist es, wenn wir uns anschauen, warum über­haupt Gewalt ein­ge­baut wird:

In einer anderen Studie wurden den Teil­neh­mern gewalt­hal­tige und nicht-gewalt­hal­tige Ver­sionen der­selben Fern­seh­se­rien ange­boten und es gab auch ent­spre­chende Ver­sionen von Epi­so­den­be­schrei­bungen. Beob­achtet wurde, dass die Teil­nehmer sich von den gewalt­tä­tigen Beschrei­bungen stärker ange­zogen fühlten, die gewalt­losen Epi­soden beim Anschauen aber mehr genossen. Die gewalt­losen Epi­soden haben selbst dann bes­sere Bewer­tungen bekommen, wenn die ent­spre­chenden Teil­nehmer eigent­lich die gewalt­ver­spre­chende Beschrei­bung gewählt hatten.
Andrew J. Weaver, Matthew J. Kobach: The Rela­ti­onship Bet­ween Sel­ec­tive Expo­sure and the Enjoy­ment of Tele­vi­sion Vio­lence, Aggres­sive Beha­vior, 38 (2), pp. 175–184.

Die For­scher beob­ach­teten somit einen schein­baren Wider­spruch: Einer­seits weckt Gewalt stär­keres Inter­esse, aber man genießt sie weniger. Und hier kommt der for­bidden fruit effect ins Spiel: das Phä­nomen, dass „ver­bo­tene“, als „schlecht“ ange­se­hene Dinge, oft eine beson­dere Anzie­hungs­kraft haben. Das heißt nicht, dass sie uns tat­säch­lich besser gefallen: Die Studie hat gezeigt, dass die Teil­nehmer doch eher pazi­fis­tisch waren. Doch die „ver­bo­tene Frucht“, in diesem Fall Gewalt, von der wir schon als kleine Kinder ein­ge­trich­tert bekommen haben, wie böse sie doch ist, -

Die „ver­bo­tene Frucht“ weckt ein­fach unsere Auf­merk­sam­keit.

Und das weiß man. Genau des­wegen wird Gewalt oft als bil­liges Mittel ein­ge­setzt, um Auf­merk­sam­keit zu erregen und zu unter­halten. Denn Spe­zi­al­ef­fekte kosten Geld, ja, aber umher­flie­gende blu­tige Kör­per­teile sind ein­fa­cher aus­zu­denken als eine gute, an sich unter­halt­same Geschichte mit span­nenden Figuren.

Als ob eine unrea­lis­ti­sche, ver­harm­lo­sende und glo­ri­fi­zie­rende Dar­stel­lung von Gewalt und ihrer Folgen also noch nicht schlimm genug wäre, dient sie nur als bil­liger Auf­merk­sam­keits­er­reger. Dass die Täter und Opfer von Gewalt dadurch nur noch mehr ent­mensch­licht werden, sollte auf der Hand liegen.

Sen­si­bler Umgang mit Gewalt

Der fran­zö­si­sche Fil­me­ma­cher Fran­çois Truf­faut soll einmal gesagt haben, etwas wie einen Anti­kriegs­film gäbe es nicht. Die viel­leicht häu­figste Inter­pre­ta­tion dieser Aus­sage ist, dass Filme den Krieg auto­ma­tisch glo­ri­fi­zieren, wenn sie die „Action“, das Aben­teuer und die Kame­rad­schaft dar­stellen. Dabei ist die Absicht des Urhe­bers irrele­vant, denn es kommt vor allem darauf an, wie der Rezi­pient das Werk wahr­nimmt:

Remar­ques Im Westen nichts Neues kann eine noch so gna­den­lose und rea­lis­ti­sche Dar­stel­lung des Ersten Welt­krieges sein, die den Nazis gehörig gegen den Strich ging, sodass der Roman 1933 den Bücher­ver­bren­nungen zum Opfer fiel. – Doch selbst dieses Werk kann man, wenn man will und wie es einige junge Nazis meines Wis­sens getan haben, auch als rea­lis­ti­sche Dar­stel­lung eines großen Aben­teuers lesen – dessen, worauf man sich ein­stellen muss, wenn man sein Leben fürs Vater­land opfern will. Im Roman selbst wird nichts heroi­siert, aber man kann sehr wohl seine eigenen Vor­stel­lungen vom edlen Selbst­opfer, Seite an Seite mit tap­feren Kame­raden, in das Buch hin­ein­pro­ji­zieren.

Daher merke:

Du kannst nicht vor­her­sehen, was für ver­drehte Flausen Deine spä­teren Leser in ihren Köpfen haben werden. Du kannst die Gewalt noch so scho­nungslos prä­sen­tieren – früher oder später werden sich Leute finden, die das roman­ti­sieren.

Sen­si­bler Umgang und gra­fi­sche Gewalt

Außerdem macht eine rea­lis­ti­sche gra­fi­sche Dar­stel­lung von Gewalt an sich noch keinen sen­si­blen Umgang aus:

Wie so oft, kommt es auch bei der Dar­stel­lung von Gewalt weniger darauf an, was dar­ge­stellt wird, son­dern viel­mehr auf das Wie.

Wenn wir schon Kriegs­filme ange­schnitten haben, bleiben wir doch in dieser Ecke und ver­glei­chen zwei Flie­ger­filme mit­ein­ander:

  • Der rote Baron ist ein deut­scher Block­buster über Man­fred von Richt­hofen, den erfolg­reichsten Jagd­flieger des Ersten Welt­krieges. Zwar erkennt Richt­hofen, der seine Tätig­keit am Anfang mehr als Sport gesehen hat, dass der Krieg grausam und blutig ist. Aber nichts­des­to­trotz lie­fern die Kampf­szenen vor allem gute Unter­hal­tung und Spek­takel. Richt­hofen selbst wird in diesem Film zu einem pazi­fis­ti­schen Helden roman­ti­siert.
  • Auf der anderen Seite haben wir In den Kampf ziehen nur „die Alten“ (В бой идут одни «старики», Only «Old Men» Are Going Into Battle), einen ukrai­nisch-sowje­ti­schen Film über sowje­ti­sche Jagd­flieger im Zweiten Welt­krieg. Bemer­kens­wert ist hier, dass so gut wie keine Kampf­szenen vor­kommen – und wenn, dann sind sie nur kurz und zeigen nicht mehr als das, was man vom Boden aus vom Kampf mit­be­kommt. Trotzdem ist die Grau­sam­keit des Krieges ein zen­trales Thema. Nur wird es auf sub­tile Weise prä­sen­tiert:

Statt umher­flie­genden Kör­per­teilen beob­achten wir zum Bei­spiel, wie die neuen Piloten, frisch von der Flug­schule, die Mecha­niker ihrer Flug­zeuge ken­nen­lernen. Einer von ihnen bekommt von seinem Mecha­niker recht unge­müt­liche Blicke und fragt:

„Gefalle ich Ihnen nicht? Warum starren Sie mich so an?“

Und der Mecha­niker grunzt: „Du bist mein fünfter.“

Wie Du also siehst, braucht es keiner Explo­sionen oder Blut­fon­tänen, um die außer­or­dent­lich hohe Sterb­lich­keit unter Jagd­pi­loten zu zeigen.

Das ist unter anderem einer der Gründe, warum ich – wie ich wohl schon zwan­zig­tau­sendmal gesagt habe – den Weg zurück gegen­über Im Westen nichts Neues für den bes­seren Anti­kriegs­roman halte. Ist Im Westen nichts Neues eine rea­lis­ti­sche Dar­stel­lung des Krieges, ist seine Fort­set­zung Der Weg zurück eine viel stil­lere, rea­lis­ti­sche Dar­stel­lung der Folgen des Krieges: Den Krieg selbst sehen wir hier nur am Anfang ein biss­chen, dafür aber eine breite Palette an Fol­ge­schäden von der Ent­frem­dung von der eigenen Familie bis hin zum Selbst­mord. Denn Krieg – und Gewalt gene­rell – ist so viel mehr als das, was im jewei­ligen Moment pas­siert.

Das Schlimme an Gewalt ist eben nicht so sehr sie selbst, son­dern eher das, was sie mit uns macht. Und das kann man auch ohne aus­führ­li­chen, gra­fi­schen Gore dar­stellen.

Das Alter der Ziel­gruppe

Des­wegen kann man Gewalt­themen durchaus auch in Erzäh­lungen, die für ein jün­geres Publikum gedacht sind, ver­ar­beiten. Wenn Du jungen Men­schen bei­bringen möch­test, dass Gewalt keine Lösung ist, musst Du nicht aus­führ­lich aus­ge­schla­gene Zähne oder gebro­chene Arme beschreiben: Kon­zen­triere Dich auf den Schmerz, die demü­ti­gende Erkenntnis, dass man selbst nicht irgendwie außer­or­dent­lich ist und genauso blutet wie jeder andere, dass man nicht ansatz­weise so tapfer und uner­schro­cken ist, wie man es sich gerne ein­ge­bildet hat, dass man viel­leicht bis zum Rest des Lebens mit einer Behin­de­rung leben muss, dass die anderen einen dadurch völlig anders wahr­nehmen, dass man bestimmte Geräu­sche plötz­lich nicht mehr ver­trägt und Panik­at­ta­cken hat, dass man im Prinzip sein altes Selbst ver­liert und sein neues Selbst erst finden muss …

Wäge also ab, wie gra­fisch dein Werk sein darf und sein soll. Denn wäh­rend eine gra­fi­sche Dar­stel­lung bei Kin­der­bü­chern kom­plett unan­ge­messen ist und man auf all­ge­mei­nere Beschrei­bungen zurück­greifen sollte, kann man Teen­agern durchaus mehr zutrauen. Ori­en­tiere Dich am besten an ähn­li­chen Werken für die­selbe Alters­gruppe und pass auch auf, dass die dar­ge­stellte Gewalt den Erleb­nis­ho­ri­zont Deiner Ziel­gruppe nicht sprengt: Denn die Fol­ter­me­thoden der Spa­ni­schen Inqui­si­tion sind etwas für Teen­ager, die das bereits ein­ordnen können, wäh­rend die „klas­si­sche“ Erleb­nis­welt eines Fünf­jäh­rigen eher klei­nere Dinge wie Schubsen und das Ziehen an den Haaren umfasst.

Und ja, klar, erleben auch klei­nere Kinder schwere Formen von Gewalt. Aber das bedeutet nicht, dass man kind­liche Leser mit sexu­ellem Miss­brauch trau­ma­ti­sieren und schlimms­ten­falls sogar retrau­ma­ti­sieren soll. Wenn’s unbe­dingt sein soll, dann erzähle lieber von einer Neben­figur, die so etwas erlebt hat, beschreibe nur grob, was das war – in der kind­li­chen Wahr­neh­mung – und lass Deine Haupt­fi­guren ent­setzt reagieren und der betrof­fenen Figur helfen.

Vor allem aber gilt auch hier: Nie­mals ver­harm­losen! Wie gesagt, schraube an den Formen der Gewalt und an der gra­fi­schen Dar­stel­lung, aber nie­mals an dem, was Gewalt für Täter und Opfer bedeutet:

Denn selbst in dem schwarz-weiß-male­ri­schen Herrn der Ringe gibt es für Frodo kein Hap­pily Ever After, son­dern er findet, wie ein rich­tiger Veteran, keinen Frieden und muss meta­pho­risch sterben, indem er in die Unsterb­li­chen Lande segelt.

„Unsen­sible“ Sze­na­rien sen­sibel hand­haben

Falls Du nun aber zufällig an meine Bei­spiele für unsen­si­blen Umgang mit Gewalt denkst und Dir Bei­spiele ein­fallen, in denen solche Sze­na­rien durchaus sen­sibel gehand­habt werden, dann gebe ich Dir voll­kommen recht: So etwas ist mög­lich.

Im japa­ni­schen Ani­ma­ti­ons­film A Silent Voice haben wir bei­spiels­weise durchaus den Fall, dass ein Mobber und sein Opfer sich inein­ander ver­lieben. Und das wirkt nicht abartig, son­dern glaub­würdig und orga­nisch. Wie geht das?

  • Nun, allem voran ist zu betonen, dass die Romanze nur neben­säch­lich ist. Der Film han­delt nicht davon, ob Täter und Opfer zusam­men­kommen oder nicht, son­dern es geht um die Folgen von Mob­bing, um Sozio­phobie, Selbst­hass und den Ver­such einer Aus­söh­nung. Denn der Täter ist, nachdem er sein Opfer gemobbt hat, selbst zum Mob­bing­opfer geworden und hat die Per­spek­tive seines Opfers in all ihren Facetten ken­nen­ge­lernt. Er ist der Prot­ago­nist der Geschichte, man ver­ur­teilt ihn und fühlt zugleich mit ihm. Dass die beiden sich inein­ander ver­lieben, pas­siert nur nebenher und ist für die Gesamt­ge­schichte nicht essen­tiell.
  • Außerdem gibt der Täter sich wirk­lich Mühe, sein ehe­ma­liges Opfer ver­stehen zu lernen und wenigs­tens das Minimum an Wie­der­gut­ma­chung zu leisten, das in seiner Macht steht. Und wäh­rend das Opfer bei ihrem ersten Wie­der­sehen nach all den Jahren noch ver­un­si­chert ist, beweist der Täter dem Mäd­chen immer wieder, dass er mitt­ler­weile ein völlig anderer Mensch ist. Und weil der Täter ja auch selbst gemobbt wurde, emp­findet das Opfer Empa­thie für ihn. Mehr noch, es gibt sich sogar die Schuld, dass der Täter selbst gemobbt wurde, und sein Arc besteht darin, sich selbst lieben zu lernen – und sich nicht mehr die Schuld zu geben für Dinge, für die es nichts kann. Zwi­schen Täter und Opfer ent­wi­ckelt sich all­mäh­lich ein inniges Ver­trau­ens­ver­hältnis und sie brau­chen ein­ander, um zu wachsen.
  • Und nicht zuletzt werden sowohl Täter als auch Opfer als Men­schen dar­ge­stellt. Sie haben lie­bens­wür­dige Seiten und sie haben ihre Fehler, keiner von ihnen wird idea­li­siert oder ver­teu­felt und beide werden im Ver­lauf der Hand­lung zu bes­seren, stär­keren Men­schen.

Also kurz zusam­men­ge­fasst:

Man kann auch ein theo­re­tisch unsen­si­bles Sze­nario sen­sibel hand­haben, wenn man sich intensiv mit Gewalt und ihren Folgen aus­ein­an­der­setzt, den unsen­sibel anmu­tenden Aspekt nicht für bil­lige Auf­merk­sam­keits­ha­scherei miss­braucht und die Cha­rakter-Arcs von Opfer und Täter auf­ein­ander anpasst.

Gewalt sen­sibel im Text „ver­pa­cken“

Doch so sehr Du Dich auch bemühst, in Deinem Werk sen­sibel mit Gewalt umzu­gehen … In meiner Zeit als Ope­rator auf Fanfiktion.de, als ich unter anderem für das Sperren von Geschichten zuständig war, in denen Themen wie Gewalt unsen­sibel gehand­habt werden, machte ich eine über­ra­schende Ent­de­ckung:

Der Grat zwi­schen unsen­sibel gehand­habt und hand­werk­lich schlecht geschrieben ist äußerst schmal.

Manchmal trifft man eben auf Dinge wie Beschrei­bungen von Gewalt­folgen, deren rea­lis­ti­sches Ausmaß aber gar nicht rüber­kommt. Der sen­sible Umgang ist also theo­re­tisch vor­handen, aber prak­tisch merkt man nicht viel davon. Und das schlimmste ist: Dieser Ein­druck ist auch noch sehr sub­jektiv. Was den einen kalt lässt, weckt beim anderen sehr viel Gefühl.

Und selbst wenn ein Werk hand­werk­lich gut geschrieben ist, ist es, wie bereits ange­spro­chen, immer noch der Wahr­neh­mung des Lesers aus­ge­lie­fert:

Denken wir bei­spiels­weise an Nabo­kovs Lolita: Der Roman han­delt vom sexu­ellen Miss­brauch eines jungen Mäd­chens namens Dolores durch ihren Stief­vater. Dabei ist das Buch nicht etwa aus der Sicht des Opfers geschrieben, son­dern aus der des Täters. Und wie in einem frü­heren Artikel bereits ange­spro­chen, war so man­cher Kri­tiker des Romans nicht in der Lage, Hin­weise auf Dolores‘ Innen­leben zwi­schen den Zeilen her­aus­zu­lesen.

Du kannst es also drehen und wenden, wie Du willst, aber:

Nicht jeder wird Deine Ver­suche, sen­sibel mit Gewalt umzu­gehen und das Thema gene­rell umfang­reich zu beleuchten, als solche erkennen.

Was also tun? – Ich würde sagen: Dein Bestes. Nicht mehr und nicht weniger.

Aber trotzdem: Du hast Dir viele Gedanken gemacht, wie Du ans Thema her­an­gehst, Du hast einen Plot ent­wi­ckelt, in dem die Folgen von Gewalt auf­ge­zeigt werden, Täter und Opfer sind kom­plexe Figuren … Wie ver­packst Du das nun?

Hier einige Tipps …

Ver­meide Flos­keln

Wir alle kennen diese leeren, pseu­do­em­pa­thi­schen Phrasen rund um die „Sinn­lo­sig­keit des Krieges“, das „schreck­liche Töten“, das „grau­same Morden“ … Das Pro­blem ist, dass man, wenn man sich sol­cher Kli­schees bedient, sich um eine ernst­hafte Aus­ein­an­der­set­zung mit dem Thema her­um­schlän­gelt. Denn was ist denn so „sinnlos“ am Krieg? Ist es sinnlos, seine Heimat vor fremden Inva­soren zu ver­tei­digen, oder ist es sinnlos, in einer ewigen Patt­si­tua­tion aus­zu­harren, in der die Front­linie sich mona­te­lang weder vor noch zurück bewegt, und Du im Prinzip nur als Futter für die feind­liche Artil­lerie fun­gierst und als Indi­vi­duum mit Familie, Lebens­zielen und Träumen keine Bedeu­tung hast? Ist es schreck­lich oder grausam zu töten, wenn Du keine andere Wahl hast, weil sonst Du getötet wirst oder Deine Freunde sterben müssen? Und was bedeuten die Wörter „schreck­lich“ und „grausam“ über­haupt? Sind wider­lich ent­stellte, zer­fetzte Kör­per­teile gemeint oder mehr die psy­chi­schen Aus­wir­kungen sol­cher Erleb­nisse auf alle Betei­ligten?

Hohle Phrasen sind eben schreck­lich und grausam unspe­zi­fisch – so sehr, dass sie im Grunde nichts aus­sagen.

Im schlimmsten Fall führen sie sogar zur Ent­mensch­li­chung. Mich per­sön­lich stört bei­spiels­weise immer dieses leere „Warum?“, das jedes Mal auf Pla­katen und in Reden zum Ein­satz kommt, wenn mal wieder ein Teen­ager eine Waffe schnappt und in seiner Schule damit rum­bal­lert. Kaum jemand, der dieses rhe­to­ri­sche „Warum?“ in den Raum wirft, sucht ernst­haft nach Ant­worten. Und ohne Ant­wort lässt das „Warum?“ die Tat als etwas Unbe­greif­li­ches und wohl auch Unmo­ti­viertes aus­sehen, als käme sie aus hei­terem Himmel, ein­fach so, als wäre der Amok­läufer eines Tages mor­gens auf­ge­wacht mit dem Gedanken: „Hey, heute knalle ich ein paar Leute ab! Das wird lustig!“

Ich selbst hatte als Teen­ager eine Phase, in der ich unter Amok-Fan­ta­sien litt. Und lass Dir gesagt sein: Nie­mand hat Amok-Fan­ta­sien oder setzt sie sogar in die Tat um, wenn es ihm gut geht. Denn Amok ist nun mal unter anderem auch eine Selbst­in­sze­nie­rung, ein unter­be­wusster Ver­such, auf sich auf­merksam zu machen, irgendwo schon ein unüber­hör­barer Hil­fe­schrei, weil die frü­heren – meis­tens stummen – Hil­fe­schreie offenbar nicht gehört wurden. Und wenn wir Teil einer Gesell­schaft sind, die sich glück­liche Kinder und indi­vi­du­elle Ent­fal­tung auf die Fahnen geschrieben hat, dann haben wir kol­lektiv ver­sagt. Sicher ist der Amok­läufer mit bestimmten Anlagen in die Welt gekommen, aber wir haben ihn nicht auf­ge­fangen, als er Hilfe brauchte. Viel­leicht ist das „Warum?“ also des­wegen so leer, weil wir gar nicht wissen wollen, warum der Täter durch­ge­dreht ist. Weil wir uns damit begnügen, ihn als unbe­greif­li­ches, schreck­li­ches Etwas zu sehen, dessen Taten man nicht nach­zu­voll­ziehen braucht. Und das finde ich eben ent­mensch­li­chend.

Daher merke:

Über Gewalt zu schreiben erfor­dert Mut und Prä­zi­sion. Flos­keln hin­gegen lenken vom Eigent­li­chen, vom wirk­lich Schmerz­haften, ab.

Show, don’t tell

Eine prä­zise Dar­stel­lung braucht Details.

Und das ist der Moment, wo Autoren mit per­sön­li­cher Erfah­rung im Vor­teil sind: Wenn man selbst etwas erlebt hat, dann weiß man, wie es sich anfühlt. Man erin­nert sich an Sin­nes­wahr­neh­mungen, an bestimmte Gedanken, an instink­tive, unüber­legte Hand­lungen. An bestimmte Zustände, die andere nicht nach­voll­ziehen können.

Das alles sind natür­lich Dinge, an die man sich im Fall von Gewalt nicht gerne erin­nert, daher Hut ab vor allen Autoren, die sich trotzdem daran wagen. Wenn Du aber das Glück hast, nicht über den Vor­teil per­sön­li­cher Erfah­rung zu ver­fügen, dann musst Du viel recher­chieren: Lies die Erin­ne­rungen von Betrof­fenen sowie psy­cho­lo­gi­sche Ana­lysen zu dem Thema.

Weil das Ziel aber eine emo­tio­nale Dar­stel­lung ist, soll­test Du Dich bemühen, die Gefühle von Opfer und/oder Täter „nach­zu­fühlen“. Was an dieser Stelle meiner Erfah­rung nach hilft, sind zumin­dest ent­fernt ähn­liche Erfah­rungen:

Ich zum Bei­spiel weiß nicht, wie es ist, nach einem Krieg nach Hause zu kommen und beim fried­li­chen Dösen wieder das Trom­mel­feuer zu hören. Aber ich weiß, wie es ist, einen Abend lang Spider Solitär zu spielen und beim Ein­schlafen dann fest­zu­stellen, dass mein Hirn vor meinem geis­tigen Auge wei­ter­spielt. Kriegs­bilder beim Dösen und Schlafen scheinen vom Prinzip her etwas Ähn­li­ches zu sein – nur viel schlimmer, im Sinne von: emo­tional belas­tend.

Oder andere Mög­lich­keit: Ich habe kein Trauma durch Gra­naten, aber ich hatte ein paar mücken­ver­seuchte Nächte, an die ich mich bis an den heu­tigen Tag schau­dernd erin­nere. Wenn ich nachts etwas summen höre, dann fliege ich buch­stäb­lich hoch und im nächsten Moment habe ich das Licht an und eine Flie­gen­klat­sche in der Hand. – Ganz instinktiv, ohne nach­zu­denken, unkon­trol­liert. Die Gefühle von früher, der Schlaf­entzug, die Angst, die Wut und die Tränen sind mit einem Schlag wieder da. Und auf dieser Grund­lage kann ich nach­voll­ziehen, wie jemand, der durch Gra­naten trau­ma­ti­siert wurde, instinktiv in Deckung springt, wenn er ein Geräusch hört, das ihn daran erin­nert.

Zu den Details, die man nur aus per­sön­li­cher Erfah­rung oder nur aus Recher­chen kennt, gehören auch alle mög­li­chen Dinge, auf die man ohne Spe­zi­al­wissen oder Erfah­rung meis­tens gar nicht kommt:

Wenn man sich die Lenin­grader Blo­ckade vor­stellt, als die Wehr­macht wäh­rend des Zweiten Welt­krieges die Stadt ziel­ge­richtet aus­ge­hun­gert hat, denkt man an aus­ge­mer­gelte Men­schen, an denen die Klei­dung lose her­un­ter­hängt, an Lei­chen über Lei­chen und an ein immer­wäh­rendes Hun­ger­ge­fühl. Was man jedoch in Tage­bü­chern und Memoiren liest, ist noch viel, viel schlimmer:

So gestand der 16-järige Schüler Jura Rja­binkin in seinem Tage­buch, wie er seine Mutter und seine Schwester sys­te­ma­tisch bestohlen und belogen hat. In einer Zeit, in der man zusam­men­halten sollte, trieb ihn der Hunger so weit, dass ihm jedes Mittel recht war, um an Essen zu kommen. Als er einmal ertappt wurde, wünschte ihm seine Mutter, dass er an dem gestoh­lenen Stück Brot erstickte. Und Jura hasste sich auch schon selbst für seine Taten und schrieb: „Ich will nur zwei Dinge: Ich will selbst sterben, und meine Mutter soll dieses Tage­buch nach meinem Tod lesen. Sie möge mich ver­flu­chen, ein schmut­ziges, gefühl­loses und heuch­le­ri­sches Tier, sie möge mich ver­stoßen, so tief bin ich gefallen, so tief …“
Andreas von West­phalen: Hitler: „In die rus­si­schen Städte gehen wir nicht hinein, sie müssen voll­ständig ersterben“, URL: https://www.heise.de/tp/features/Hitler-In-die-russischen-Staedte-gehen-wir-nicht-hinein-sie-muessen-vollstaendig-ersterben-4288622.html?seite=2, abge­rufen am: 05.11.2020.

Wie Du sicher­lich gemerkt hast, haben solche spe­zi­fi­schen Details eine beson­ders hef­tige Wir­kung. Nicht nur, weil sie Mate­rial fürs Kopf­kino lie­fern, son­dern gerade weil sie oft so uner­wartet, so fremd und doch so lebendig sind. Sie sprengen unsere Vor­stel­lungs­kraft und wirken gerade des­wegen so authen­tisch und ver­stö­rend.

Mach es per­sön­lich

Durch das Spielen von The Elder Scrolls V: Skyrim habe ich viele Dinge gelernt. Unter anderem habe ich beob­achtet, dass ich namen­lose Ban­diten mit ihrer unter­ir­di­schen AI, die, wenn man sie tötet, bald wieder res­pawnen und erneut mas­sa­kriert werden können, gerne für grau­same Katz-und-Maus-Spiel­chen miss­brauche. Meines Wis­sens haben die meisten Skyrim-Spieler sogar ein Ban­di­ten­lager, das sie beson­ders gerne über­fallen, um neue Waffen oder Fähig­keiten aus­zu­testen, immer und immer wieder. Dem­ge­gen­über stehen benannte NPCs, sorg­fältig erschaf­fene Figuren mit ihren täg­li­chen Rou­tinen und ein­zig­ar­tigen Dia­logen. Diese Figuren schütze ich um jeden Preis. Selbst die ver­bre­che­ri­schen unter ihnen. Und warum? – Weil sie in meiner Wahr­neh­mung mensch­li­cher sind als die namen- und per­sön­lich­keits­losen Ban­diten. Weil sie ein­zig­artig sind und mich etwas mit ihnen ver­bindet. Weil sie ein Gesicht haben.

Viel zu oft sieht man in Geschichten Täter und Opfer ohne Gesicht. Da sind Lei­chen und Schreie namen­loser Men­schen, trau­rige Blicke namen­loser Men­schen, Angst und Depres­sionen namen­loser Men­schen.

Als Leser reagiert man jedoch viel stärker auf Figuren, die gezielt für die „Schlacht­bank“ vor­be­reitet wurden:

Als der Prot­ago­nist Paul und seine Kame­raden in Im Westen nichts Neues mal wieder unter Beschuss geraten, küm­mert Paul sich um einen ver­ängs­tigten Rekruten, der sich wie ein Kind an ihn drückt. Später küm­mern sich Paul und ein Kamerad um einen Ver­wun­deten, der nicht mehr lange leben und bald hef­tige Schmerzen haben wird. Sie denken nach, ihm mit einem Revolver den Tod zu erleich­tern. Und es stellt sich heraus, dass es der Junge ist, der sich vorhin an Paul gedrückt hat. Wäre es irgendein anderer Rekrut gewesen, wäre es ein­fach ein Ver­wun­deter von vielen. Aber so haben wir für genau diesen Rekruten bereits Gefühle ent­wi­ckelt.

Auch sollte man, wenn man es „per­sön­lich“ macht, bedenken, dass jede Person auf ver­schie­dene Formen von Gewalt anders reagiert. Es gibt zwar all­ge­meine Ten­denzen, aber die kon­krete Aus­prä­gung ist indi­vi­duell.

Berück­sich­tige also die Gesamt­per­sön­lich­keit der Figur. Ihre Ver­gan­gen­heit und wie sie auf­ge­wachsen ist. Ihre Welt­sicht. Wie diese Welt­sicht, ihr Denken und Fühlen, sich durch den Gewaltakt ver­än­dert. Wie diese Ver­än­de­rung sich in Hand­lungen äußert.

Wichtig wird so etwas beson­ders bei emo­tio­naler Gewalt, also wenn Wir­kung und Folgen über­wie­gend inner­lich sind. Wenn jemandem ein Bein abge­rissen wurde, dann ist nicht zu über­sehen, dass ihm jemand Gewalt angetan hat. Aber wenn jemand emo­tional ver­letzt wurde, ist äußer­lich viel­leicht nur eine kleine Ver­hal­tens­än­de­rung bemerkbar, die den meisten aber gar nicht auf­fällt. Denn um diese kleine, indi­vi­du­elle Ver­hal­tens­än­de­rung zu bemerken, muss man die Person gut genug kennen, um zu wissen, dass das beob­ach­tete Ver­halten für die kon­krete Person eher unty­pisch ist. Für Men­schen, die diese Person nicht gut kennen, sieht ihr Ver­halten eben wie eine ganz nor­male Cha­rak­ter­ei­gen­schaft aus und man stem­pelt sie eben ein­fach als ruhig, als laut, als freund­lich, als zickig oder als sonst was ab und lebt sein Leben fröh­lich weiter, wäh­rend die abge­stem­pelte Person inner­lich durch­dreht.

Noch schwie­riger wird das Ganze, wenn weder Opfer noch Täter – oder zumin­dest eine ander­wei­tige Reflek­tor­figur – nicht begreifen, dass das, was pas­siert, falsch ist. Wenn das Opfer – beson­ders bei sub­tiler emo­tio­naler Gewalt – die toxi­sche Bezie­hung als normal wahr­nimmt. Oder wenn die Geschichte aus der Sicht des Täters geschrieben ist und er gar nicht begreifen will, was er dem Opfer antut, oder es viel­leicht sogar selbst nicht anders kennt. Oder wenn die Geschichte aus der Sicht eines Zeugen geschrieben ist, der gar nicht rea­li­siert, was er da gerade sieht – vor allem, wenn Opfer und Täter ihm glei­cher­maßen ver­si­chern, dass sie damit glück­lich sind.

Wie wir bereits gesehen haben, besteht eine Gefahr, dass die Leser den Gewaltakt nicht als sol­chen begreifen oder ihn ver­harm­losen und roman­ti­sieren. – Beson­ders eben, wenn die Reak­tionen der Figuren so unauf­fällig und indi­vi­duell sind. Was also tun?

  • Je nach Erzähl­per­spek­tive gäbe es die Mög­lich­keit, die erste instink­tive Reak­tion zu beschreiben. Denn seien wir ehr­lich: Wenn wir etwas erleben oder beob­achten, das falsch ist, haben wir im ersten Moment dieses komi­sche Gefühl, das wir in dem Moment viel­leicht nicht einmal benennen können. Und erst im nächsten Augen­blick setzt unser Ver­stand ein und biegt uns die Rea­lität zurecht: „Ach, XY hat das doch nur gesagt, weil er/sie sich so große Sorgen um mich macht!“ Oder so etwas in der Art. Doch das komi­sche Gefühl war den­noch da und wenn der Autor es ein­ge­fügt hat, dann sicher­lich mit dem Zweck einer War­nung: „Hey Leser, das war nicht okay so!“
  • Ver­wandt damit ist der Ansatz, auf­fällig dar­zu­stellen, wie eine Figur sich etwas ein­redet, und es even­tuell sogar mit der Rea­lität zu kon­tras­tieren. Wenn eine Figur immer mal wieder Denk­vor­gänge hat wie: „Er fragt nie nach meiner Mei­nung, kon­trol­liert mein Ess­ver­halten und mit wem ich aus­gehe und dik­tiert mir meine Ent­schei­dungen … Aber er weiß ja, was gut für mich ist!“ Wenn eine Figur also zum Bei­spiel ihre eigenen Bedürf­nisse so offen ver­leugnet, denkt sich ein halb­wegs denk­be­gabter Leser irgend­wann: „Ver­ar­schen kann ich mich auch selbst!“
  • Außerdem hat selbst noch so unsicht­bare Gewalt oft durchaus sicht­bare Lang­zeit­folgen: Von Depres­sionen bis hin zu psy­cho­so­ma­ti­schen Erkran­kungen ist alles mög­lich. Ein sol­ches Sym­ptom, das scheinbar aus dem Nichts kommt, kann eben­falls als Hin­weis fun­gieren, dass etwas schreck­lich schief­ge­laufen ist.
  • Auch andere Figuren können rote Fahnen schwingen und die Pro­bleme offen anspre­chen: Dass die Bezie­hung nicht normal ist. Oder dass die betei­ligten Figuren sich doch offen­sicht­lich etwas ein­reden. Oder sie können eben darauf hin­weisen, dass die Depres­sionen und/oder psy­cho­so­ma­ti­schen Sym­ptome durchaus eine Ursache haben müssen.
  • Und nicht zuletzt gibt es noch das klas­si­sche lite­ra­ri­sche Mittel der Kon­trast­figur: In der Geschichte geht es um eine toxi­sche Bezie­hung? – Dann führe noch ein anderes Pär­chen ein, dessen Bezie­hung har­mo­nisch ist. So ein Ver­gleich zeigt, dass es eben auch anders und vor allem besser geht.

Doch was auch immer Du machst:

Es sollte stets zu den Figuren passen. Lasse den Leser höchst per­sön­liche Geschichten erleben. Denn wenn die Figur ein Gesicht hat, wenn der Leser sie als Person kennt und schätzt, dann reagiert er auch sen­si­bler auf ihren Zustand.

Schluss­wort

Ich wette, nach all diesen Aus­füh­rungen fallen Dir nur noch sehr wenige Werke ein, in denen das Thema Gewalt wirk­lich maximal sen­sibel gehand­habt wird. Tat­säch­lich, würde ich sagen, ist die Oppo­si­tion von „sen­sibel“ und „unsen­sibel“ weniger ein Ent­weder-Oder, son­dern eher ein Spek­trum: Sehr viele – beson­ders popu­läre – Werke ver­harm­losen Gewalt ein Stück weit und recht­fer­tigen und glo­ri­fi­zieren sie. Doch nur die wenigsten rufen tat­säch­lich zu Mord und Tot­schlag auf – und die­je­nigen, die das tun, ernten in der Regel einen ent­spre­chenden Gegen­wind. Und ein biss­chen gewalt­tä­tiges Spek­takel, um uns vor­über­ge­hend aus dem Alltag zu reißen, scheint schon eine Art Grund­be­dürfnis zu sein.

Ich gebe auch zu, dass meine Vor­stel­lungen von wirk­lich, wirk­lich sen­si­blem Umgang mit Gewalt recht streng sind. In meiner Zeit als Ope­rator auf Fanfiktion.de hätte ich zum Bei­spiel gerne durchaus mehr Geschichten gesperrt als ich laut Richt­li­nien tat­säch­lich durfte.

Ent­scheide also selbst, was Du aus diesem Artikel mit­nehmen möch­test und was nicht.

Zusam­men­fas­send kann ich nur sagen:

Ein wirk­lich sen­si­bler Umgang mit Gewalt besteht meiner Mei­nung nach aus einer rea­lis­ti­schen Dar­stel­lung von Gewalt und ihrer Folgen, einer Dar­stel­lung von Opfer und Täter als Men­schen mit einer ein­zig­ar­tigen Per­sön­lich­keit, einer ange­mes­senen „Ver­pa­ckung“ und vor allem einem sinn­vollen Ein­satz: also keine Gewalt um der bloßen Gewalt willen, nicht als bil­lige Auf­merk­sam­keits­ha­scherei, son­dern mit einem Sinn für die Gesamt­ge­schichte.

4 Kommentare

  1. Schwie­riges Thema, aber inter­es­sant. Ich habe die letzten Jahre doch etliche Erzäh­lungen von Gewalt­op­fern gelesen, ich kann daher denke ganz gut ein­schätzen, wie diese fühlen. Aller­dings wird das „wie hat man sich daraus befreit“ bzw. die Folgen, doch wenn über­haupt sehr stief­müt­ter­lich behan­delt. Auch die ganzen Dokus die ich dar­über geschaut habe, gehen da kaum darauf ein. In den ganzen Büchern wird das leider nur in ein paar Seiten abge­han­delt. Daher ist es auch sehr schwer dann dar­über „kor­rekt“ zu schreiben. Von was einen Täter antreibt ganz zu schweigen.
    Ein sehr wich­tigen Punkt, den hast du nur ange­schnitten, finde ich die ganzen „Mit­wisser“. Gerade bei Miss­brauch, gibt es immer Leute die es ein­fach nicht wissen wollen bzw. sich nicht vor­stellen dass der „Strah­le­mann“ soetwas tut.
    Ich hoffe aber auch, dass das Thema mal ernst­hafter in vielen Büchern ange­gangen wird. Da gibts schon manchmal echt gru­se­lige Welt­an­sichten.

    Junichs
    1. Abso­lute Zustim­mung, dass die Folgen von Gewalt und die Täter­per­spek­tive oft grausam ver­nach­läs­sigt werden. Und bei den Mit­wis­sern hast Du auch voll­kommen recht. Dabei sind gerade sie doch so ein span­nendes Thema für Geschichten, weil Dilemma: „Ist der ‚Strah­le­mann‘ doch nicht so strah­lend? Und was bin ich dann, wenn ich jah­re­lang weg­ge­sehen habe? Ich will mit der ganzen Sache doch nichts zu tun haben und nur ruhig in meiner kleinen, begrenzten Welt wei­ter­leben. Aber das Gewissen … Also muss ich mich wehren. Das Opfer ist schuld!“ Und so wird so man­cher Mit­wisser all­mäh­lich zum Mit­täter …

  2. Hallo,
    der Artikel ist wirk­lich wichtig und ich hoffe, dass es in Zukunft viel Schrei­ber­linge gibt, die diesen Aspekten in Zukunft mehr Auf­merk­sam­keit schenken.
    Aller­dings ist mir im letzten Punkt der Vor­schläge, wie in Texten die Pro­ble­matik der Gewalt sicht­bar­ge­macht werden kann, eine pro­ble­ma­ti­sche Gegen­über­stel­lung ins Auge gefallen:
    Es wird dort vor­ge­schlagen, einer toxi­schen Bezie­hung eine „har­mo­ni­sche“ Bezie­hung gegen­über zu stellen. Diese For­mu­lie­rung sug­ge­riert, dass auch Aus­ein­an­der­set­zungen und Strei­tig­keiten ein Zei­chen für toxi­sche Bezie­hungen wären, denn in diesem Falle ist eine solche Bezie­hung ja nicht „har­mo­nisch“. Das ist aber – salopp gesagt – ziem­li­cher Koko­lores. Denn auch in gesunden Bezie­hungen (was meiner Mei­nung nach der rich­tige Begriff für das Gegen­teil einer toxi­schen Bezie­hung wäre) kann es durchaus auch Dif­fe­renzen und Strei­tig­keiten geben. Der Unter­schied ist eben, dass sich Paare in einer gesunden Bezie­hung gegen­seitig respek­tieren, sich zuhören, die Grenzen der anderen Person kennen und achten und sie sich als gleich­wertig und gleich­wichtig ver­stehen. In toxi­schen Bezie­hungen hin­gegen ver­sucht meist ein Partner den anderen zu mani­pu­lieren, zu domi­nieren oder zu besitzen, was nur mög­lich ist, weil es keinen gegen­sei­tigen und gleich­wer­tigen Respekt inner­halb der Bezie­hung gibt.
    Der Umgang der Partner:innen mit­ein­ander macht eine Bezie­hung toxisch oder gesund, nicht die Anzahl der Kon­tro­versen, oder eben „Har­monie“ in der Bezie­hung.

    Katinka
    1. Moin!
      Vielen Dank fürs Lob und für die Kritik! Was Letz­tere angeht, glaube ich jedoch, dass es hier weniger um eine „pro­ble­ma­ti­sche Gegen­über­stel­lung“, son­dern eher um die Defi­ni­tion von „har­mo­nisch“ geht. Unter einer „har­mo­ni­schen Bezie­hung“ ver­stehe ich näm­lich kei­nes­wegs eine Bezie­hung ohne Aus­ein­an­der­set­zungen und Strei­tig­keiten, son­dern eine, in der die betei­ligten Per­sonen wie Puz­zle­teile zusam­men­passen. In man­chen Bezie­hungen mag das so aus­sehen, dass die Partner sich tat­säch­lich nie streiten und alles gelassen aus­dis­ku­tieren. Auf der anderen Seite gibt es auch Men­schen mit einem explo­siven Tem­pe­ra­ment, und wenn sie sich in einer Bezie­hung regel­mäßig anschreien und sich dann wieder ver­tragen, sobald die nega­tiven Gefühle raus sind, und ein sol­ches Auf und Ab alle Par­teien glück­lich macht, dann ist das auch eine Form von Har­monie. Wenn Du davon sprichst, dass eine „gesunde Bezie­hung“ von gegen­sei­tigem Respekt, Zuhören und Gleich­be­rech­ti­gung lebt, dann meinst Du genau das­selbe, was ich unter einer „har­mo­ni­schen Bezie­hung“ ver­stehe.
      Der Grund, wieso ich das Wort „har­mo­nisch“ lieber mag als „gesund“, ist, dass in „gesund“ eine Wer­tung drin­steckt, die je nach Epoche und Kultur – und auch je nach Indi­vi­duum – anders aus­fallen kann. Wenn Du einen Men­schen von vor 200 Jahren oder vom anderen Ende der Welt fragst, was eine „gesunde“ Bezie­hung aus­macht, wird er unter anderem wohl Dinge auf­zählen, die Dir die Haare zu Berge stehen lassen. Ich meine, selbst inner­halb einer ein­zigen Gesell­schaft gibt es ver­schie­dene Vor­stel­lungen davon, was in einer Bezie­hung „gesund“ ist und was nicht. Ver­schie­dene Zeiten, Kul­turen und ein­fach nur Men­schen haben eben ver­schie­dene Werte. „Har­mo­nisch“ ist dagegen als Begriff neu­traler und beschreibt ziem­lich genau, was ich meine: zusam­men­pas­send, aus­ge­wogen, im Ein­klang mit­ein­ander. – Denn man kann sich auch im Ein­klang streiten. Haupt­sache, man tut es mit jemandem, der sozu­sagen die­selbe Sprache spricht oder einen zumin­dest ver­steht und so nimmt, wie man eben ist.
      Ich hoffe, ich konnte meinen Stand­punkt eini­ger­maßen ver­ständ­lich erklären.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert