Gewalt in fiktionalen Werken ist cool, badass oder sogar lustig. Alternativ auch romantisch und ein Ausdruck von wahrer Liebe. Bis man selbst davon betroffen ist und merkt, dass die Gewalt in Geschichten herzlich wenig mit der Realität zu tun hat. Wie macht man das als Autor also besser? Wie schreibt man seine Geschichte, ohne dass die Gewalt darin verharmlost und/oder verherrlicht wird? Genau das schauen wir uns in diesem Artikel an …
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Konnichi-wa! Ich bin die Elbenprinzessin Aynarivasiliel-hime-sama-chan-san, die Tochter des Feuers, des Wassers, der Luft, der Erde, der Valar, der Magier, des Lichts, der Götter, der Sonne, des Mondes und der Sterne. Ich bin eine Halbelbin, und als Kind wurde ich von meinen Eltern schlimm misshandelt. Dann lebte ich bei meinen Adoptiveltern und wurde schlimm misshandelt. Dann wurde mein Heimatdorf von feindlichen Soldaten niedergebrannt, und ich wurde schlimm misshandelt. Dann wurde ich gefangengenommen und schlimm misshandelt. Dann wurde ich an Sklavenhändler verkauft und von ihnen schlimm misshandelt. Dann wurde ich an Haradrim verkauft und schlimm misshandelt. Dann gelang mir die Flucht, aber ich wurde von Orks überfallen und schlimm misshandelt. Und jetzt bin ich hier und will ein Kind von dir, Thorin-kun!
Feael Silmarien: Mit Bogen, Pfeil und Damenbart, Kapitel 4: Tochter des Platzhalters.
Dies ist ein Monolog aus meinem ekelhaften bis verstörenden postmodernistischen Drama Mit Bogen, Pfeil und Damenbart, einer so schrecklich wie möglich geschriebenen Hobbit-Badfic, mit der ich meinen jahrelangen Umgang mit schlechten Fanfictions verarbeiten wollte. Und wie du siehst, war dabei auch der leichtfertige Umgang mit traumatischen Ereignissen, den so manche Autoren an den Tag legen, ein wichtiges Anliegen für mich.
Denn ob wir es wollen oder nicht:
Unser Unterbewusstsein kennt nicht den Unterschied zwischen Realität und fiktionalen Geschichten.
Deswegen können wir aus erdachten Geschichten lernen – Gutes wie Schlechtes. Wir schlüpfen vorübergehend in die Haut von jemand anderem, lernen fremde Perspektiven kennen und entwickeln unsere Empathiefähigkeit weiter. – Vorausgesetzt, der Autor des Werks hat sich mit der Thematik ernsthaft auseinandergesetzt.
Doch das ist längst nicht selbstverständlich. Besonders beim Thema Gewalt fällt auf, wie sehr es in den Medien verharmlost und/oder glorifiziert wird: Während reale Opfer – und oft auch Täter – von Gewalt ihr Leben lang unter den Folgen leiden, ist die traumatische Vergangenheit von Figuren wie der Elbenprinzessin Aynarivasiliel-hime-sama-chan-san, die ihr Leben lang von allem und jedem „schlimm misshandelt“ wurde und nun keine anderen Sorgen hat als sich mit einem gutaussehenden Zwerg fortzupflanzen, nicht mehr als ein schickes Accessoire, um einer ansonsten völlig persönlichkeitslosen Figur etwas Farbe zu geben. Das ist schlicht und ergreifend menschenverachtend.
Vor allem, weil solche Darstellungen uns eben blind gegenüber dem Leiden realer Menschen machen. Ich sage nicht, dass jeder, der positive oder verharmlosende Darstellungen von Gewalt konsumiert, automatisch gewalttätig wird. Um Himmels willen, zum Glück ist das nicht so!
Dennoch haben unsensible und unrealistische Gewaltdarstellungen eine Wirkung auf uns.
Darüber werden wir heute sprechen und anschließend überlegen, wie wir als Autoren in unseren Geschichten sensibel mit Gewalt umgehen können.
Medien und reale Gewalt
Bevor wir wirklich beginnen, müssen wir uns auf einige grundlegende Dinge einigen. Deswegen hier eine Liste von Annahmen, von denen ich selbstverständlich ausgehe, wenn ich über Gewaltdarstellung in den Medien rede:
- Medien haben einen pädagogischen Effekt – egal, ob er beabsichtigt ist oder nicht. Ein Werk ist immer durch die Weltsicht und die Werte des Autors eingefärbt. Und weil jedes Werk die Weltwahrnehmung seiner Rezipienten beeinflusst, trägt jeder Autor mit seinem Schaffen eine gesellschaftliche Verantwortung.
- Nichtsdestotrotz haben wir in den Medien sehr viel Gewaltdarstellung, und diese wird von vielen Menschen regelmäßig konsumiert. Doch nur sehr wenige dieser Menschen werden selbst gewalttätig.
- Allerdings haben Studien auch gezeigt, dass es durchaus einen Zusammenhang gibt zwischen Gewaltdarstellung in den Medien und gewalttätigem Verhalten. Man kann jedoch nicht sagen, ob mediale Gewaltdarstellungen gewalttätiges Handeln verursachen oder eher als Katalysator bei bereits vorhandenem Gewaltpotential wirken. Zumal es ja auch unzählige andere Faktoren gibt, die zu realer Gewalttätigkeit führen, beispielsweise häusliche Gewalt, Vernachlässigung, Armut, ein gewalttätiges soziales Umfeld und so weiter. Es gibt viele Wege, einem Menschen beizubringen, Aggressivität und Gewalt seien normal.
- Außerdem sind Menschen von Natur aus unterschiedlich: Während die einen von Geburt an etwas pazifistischer sind, neigen die anderen etwas mehr zu Aggressivität.
- Und das alles erschwert die Erforschung von Gewalt in den Medien massiv, weil man deren Auswirkungen nicht sofort sehen und auch nicht klar von anderen Faktoren trennen kann.
Verzerrte Wahrnehmung durch mediale Gewalt
Ich denke, wir können uns vor allem darauf einigen, dass die meisten Menschen in der Lage sind, zumindest bewusst zwischen Realität und Fiktion zu unterscheiden. Der Effekt der Gewalt in den Medien ist eher subtil und kann beispielsweise durch funktionelle Magnetresonanztomographie (fMRT) sichtbar gemacht werden:
In einer Studie im Jahr 2012 wurde die Verarbeitung emotionaler Bilder bei Spielern von First-Person-Shooter-Games und einer Kontrollgruppe untersucht. Ausgehend von stärkeren und schwächeren Reaktionen in bestimmten Hirnarealen kann man schließen, dass die Gamer einen Schutzmechanismus gegen negative Emotionen entwickelt haben und ihre Reaktion auf Gewaltbilder deswegen schwächer ausfällt.
Montag C., Weber B., Trautner P., Newport B., Markett S., Walter NT, Felten A., Reuter M.: Does excessive play of violent first-person-shooter-video-games dampen brain activity in response to emotional stimuli?, Biological Psychology, 89 (1), pp. 107–11.
Diese Desensibilisierung gegenüber Gewaltdarstellungen ist im Übrigen etwas, das wir auch ohne fMRT beobachten können:
Oder warum, denkst Du, wird die Gewalt in Hollywood-Blockbustern immer spektakulärer, die Explosionen immer größer und die herumfliegenden Körperteile immer blutiger? Schon im alten Rom wurde das Unterhaltungsprogramm in den Amphitheatern mit der Zeit immer blutiger und grausamer, weil das Publikum sich an immer mehr Gewalt gewöhnte und es immer größerer Gewalt bedurfte, um das Volk zu „beeindrucken“.
Können wir also garantieren, dass wir nach medialem Gewaltkonsum noch ausreichend empathisch auf reale Gewalt reagieren? Vor allem, wenn reale Gewalt durch Technologien wie ferngesteuerte Drohnen immer mehr wie ein Videospiel aussieht?
Mediale Gewalt und Realismus
Paradoxerweise sind die immer hochwertigeren medialen Gewaltdarstellungen häufig aber dennoch sehr unrealistisch. Soll heißen: Sie sehen unglaublich realistisch aus, sind es aber nicht.
- Fiktive Figuren halten oft deutlich mehr aus als normale Menschen. Wo jeder andere am Boden liegen und nach seiner Mama jaulen würde, stehen fiktionale Helden heroisch auf, grunzen, es sei nur ein Kratzer, und massakrieren völlig unbeeindruckt die komplette Armee von Gegnern.
- Fiktive Gewaltopfer plaudern einfach so über ihre traumatischen Erlebnisse, obwohl reale Opfer oft sogar mit Nahestehenden kaum darüber reden können. Auch Depressionen, Panikattacken, Schuldgefühle, Selbstmordgedanken und psychosomatische Erkrankungen werden viel zu selten thematisiert.
- Außerdem wird Gewalt in den Medien erschreckend häufig als gerechtfertigt hingestellt, klassischerweise wenn die „Guten“ die „Bösen“ reihenweise niedermähen. Wenn also die „anderen“, die „Bösen“, Gewalt ausüben, dann ist das schlecht. Wenn es aber die Hauptfiguren, die „Guten“, tun, dann ist das gut und gerecht. Und damit geht oft einher, dass die „Bösen“ entmenschlicht werden, nur als persönlichkeitslose Soldaten, Wachen, Orks oder was auch immer auftreten, deren Leiden völlig irrelevant ist, wenn es denn überhaupt gezeigt wird. Und natürlich kommen die „Guten“ auch ohne psychischen Schaden davon und leben nach dem Massaker fröhlich weiter, obwohl reale Menschen, wenn sie jemanden getötet haben, normalerweise durchaus leiden.
Eine fast schon irgendwie tragikomische Konsequenz unrealistischer Gewaltdarstellungen ist, wenn beispielsweise Gangmitglieder, die in einer Schlacht gegen eine andere Gang angeschossen wurden, feststellen müssen, dass die scheinbar so kleine Wunde „scheiße wehtut“. Und dass das Leiden nach der körperlichen Heilung nicht unbedingt aufhört. Davon, dass man selbst vielleicht gar nicht der „Gute“ ist, kein Held, sondern ein unbedeutender Statist, der aber trotzdem Gefühle hat, ganz zu schweigen.
Die Sache ist, dass man, wenn man in einem Bereich keine persönliche Erfahrung hat, oft den erstbesten Mist glaubt, den man zu diesem Thema erfährt. Und auf Grundlage von diesem Mist fällen wir Entscheidungen und beurteilen auch andere Menschen. Wir belächeln die seelischen Leiden eines Opfers, wir haben weniger Empathie für andersdenkende Menschen und wir machen uns selbst innerlich fertig, wenn wir als Opfer von Gewalt unsere Erlebnisse nicht so gut wegstecken können wie fiktive Figuren.
Ja, wir können nicht genau sagen, inwiefern mediale Gewaltdarstellungen gewalttätiges Handeln verursachen. Aber wir können ganz sicher sagen, dass unrealistische Gewaltdarstellungen uns nicht zu besseren, empathischeren Menschen machen.
Somit wird ein gewaltiges künstlerisches und damit auch gesellschaftliches Potential einfach verschwendet.
Unsensibler Umgang mit Gewalt
Ich hoffe, wir können uns mittlerweile darauf einigen, dass wir als Autoren sehr viel Fingerspitzengefühl brauchen, wenn wir über Gewalt schreiben. Denn:
- Wenn Gewalt keine nennenswerten oder nur vernachlässigbare Konsequenzen für Opfer und Täter hat, dann ist das verharmlosend.
- Wenn Gewalt als „edel“ dargestellt wird, ausschließlich als selbstloses Opfer fürs Vaterland, das man mit stoischem Ausdruck erträgt, dann ist das verharmlosend.
- Wenn ein Vergewaltigungs‑, Folter‑, Mobbing- oder anderweitige Art von Opfer sich in seinen Peiniger verliebt, dann ist das verharmlosend.
- Wenn der Held einen Massenmord an seinen namenlosen Gegnern begeht, es ihm emotional nichts ausmacht und es als gut und richtig dargestellt wird, ist das gewaltverherrlichend.
- Wenn eine Figur angehimmelt wird, weil sie ja so stark ist und soooo viele Menschen im Alleingang killen kann, ist das gewaltverherrlichend.
- Wenn Waffen als coole Accessoires präsentiert werden und den Besitzer „badass“ wirken lassen, dann ist das gewaltverherrlichend.
Und das alles gilt im Übrigen auch, wenn die Gewalttaten von einer „starken Frau“ verübt werden. Denn in unserer Zeit scheint es erschreckend viele Kreative zu geben, die die „Stärke“ eine Frau an ihrem Bodycount zu messen scheinen. Eine Frau, die ohne mit der Wimper zu zucken Hunderte von Gegnern niedermäht, ist jedoch keinen Deut besser als ein Mann, der so etwas tut. Auch das ist Verherrlichung und Verharmlosung von Gewalt.
Nicht zu vergessen, wenn man über Gewalt spricht, ist auch psychische Gewalt. Sie ist kein bisschen harmloser als körperliche und vielleicht sogar schlimmer, weil sie so verdeckt ist. Denn wenn Du von jemandem geschlagen wirst, dann ist es eine unumstößliche Tatsache und Du musst sie „nur“ als solche akzeptieren. Systematische Manipulation, passiv-aggressives Verhalten, Gaslighting und das Herunterspielen Deiner Gefühle sind dagegen nicht nur für Außenstehende, sondern auch für Dich selbst oft gar nicht sichtbar. Meistens merkst Du nur, dass Du dich plötzlich schlecht fühlst, kannst aber nicht genau benennen, wieso, suchst eventuell die Schuld bei Dir selbst und langsam, aber sicher geht Deine Psyche daran kaputt, obwohl Dir niemand auch nur ein Haar gekrümmt hat. Unter psychische Gewalt fallen eben nicht nur Drohungen und Beleidigungen, sondern auch scheinbar harmlose Kommentare, scheinbar unschuldige Alltagsinteraktionen und scheinbar freundliche Gesten. Psychische Gewalt ist tückisch und eben auch eine Form von Gewalt, die das Opfer fürs Leben zeichnen kann. Und was das Ganze noch tragischer macht, ist, dass auch die Täter manchmal nicht begreifen, dass sie Gewalt anwenden. Denn oft stehen emotionale Gewalttaten als ehrlich gemeinte Hilfe, Erziehungsmaßnahmen oder gar als Liebesbeweis da.
- Wenn ein Verliebter also zu Erpressung greift, beispielsweise mit Selbstmord droht, um ein Date zu bekommen, und es als romantisch hingestellt wird, ist auch das Verharmlosung und Verherrlichung von Gewalt.
Zusammengefasst kann man also sagen, dass man bei der Darstellung von Gewalt sehr, sehr viel falsch machen kann:
Denn selbst wenn der Gewaltakt an sich realistisch dargestellt wird – was längst nicht immer der Fall ist -, sieht man realistisch dargestellte Folgen von Gewalt noch seltener.
Die „verbotene Frucht“
Und noch schlimmer ist es, wenn wir uns anschauen, warum überhaupt Gewalt eingebaut wird:
In einer anderen Studie wurden den Teilnehmern gewalthaltige und nicht-gewalthaltige Versionen derselben Fernsehserien angeboten und es gab auch entsprechende Versionen von Episodenbeschreibungen. Beobachtet wurde, dass die Teilnehmer sich von den gewalttätigen Beschreibungen stärker angezogen fühlten, die gewaltlosen Episoden beim Anschauen aber mehr genossen. Die gewaltlosen Episoden haben selbst dann bessere Bewertungen bekommen, wenn die entsprechenden Teilnehmer eigentlich die gewaltversprechende Beschreibung gewählt hatten.
Andrew J. Weaver, Matthew J. Kobach: The Relationship Between Selective Exposure and the Enjoyment of Television Violence, Aggressive Behavior, 38 (2), pp. 175–184.
Die Forscher beobachteten somit einen scheinbaren Widerspruch: Einerseits weckt Gewalt stärkeres Interesse, aber man genießt sie weniger. Und hier kommt der forbidden fruit effect ins Spiel: das Phänomen, dass „verbotene“, als „schlecht“ angesehene Dinge, oft eine besondere Anziehungskraft haben. Das heißt nicht, dass sie uns tatsächlich besser gefallen: Die Studie hat gezeigt, dass die Teilnehmer doch eher pazifistisch waren. Doch die „verbotene Frucht“, in diesem Fall Gewalt, von der wir schon als kleine Kinder eingetrichtert bekommen haben, wie böse sie doch ist, -
Die „verbotene Frucht“ weckt einfach unsere Aufmerksamkeit.
Und das weiß man. Genau deswegen wird Gewalt oft als billiges Mittel eingesetzt, um Aufmerksamkeit zu erregen und zu unterhalten. Denn Spezialeffekte kosten Geld, ja, aber umherfliegende blutige Körperteile sind einfacher auszudenken als eine gute, an sich unterhaltsame Geschichte mit spannenden Figuren.
Als ob eine unrealistische, verharmlosende und glorifizierende Darstellung von Gewalt und ihrer Folgen also noch nicht schlimm genug wäre, dient sie nur als billiger Aufmerksamkeitserreger. Dass die Täter und Opfer von Gewalt dadurch nur noch mehr entmenschlicht werden, sollte auf der Hand liegen.
Sensibler Umgang mit Gewalt
Der französische Filmemacher François Truffaut soll einmal gesagt haben, etwas wie einen Antikriegsfilm gäbe es nicht. Die vielleicht häufigste Interpretation dieser Aussage ist, dass Filme den Krieg automatisch glorifizieren, wenn sie die „Action“, das Abenteuer und die Kameradschaft darstellen. Dabei ist die Absicht des Urhebers irrelevant, denn es kommt vor allem darauf an, wie der Rezipient das Werk wahrnimmt:
Remarques Im Westen nichts Neues kann eine noch so gnadenlose und realistische Darstellung des Ersten Weltkrieges sein, die den Nazis gehörig gegen den Strich ging, sodass der Roman 1933 den Bücherverbrennungen zum Opfer fiel. – Doch selbst dieses Werk kann man, wenn man will und wie es einige junge Nazis meines Wissens getan haben, auch als realistische Darstellung eines großen Abenteuers lesen – dessen, worauf man sich einstellen muss, wenn man sein Leben fürs Vaterland opfern will. Im Roman selbst wird nichts heroisiert, aber man kann sehr wohl seine eigenen Vorstellungen vom edlen Selbstopfer, Seite an Seite mit tapferen Kameraden, in das Buch hineinprojizieren.
Daher merke:
Du kannst nicht vorhersehen, was für verdrehte Flausen Deine späteren Leser in ihren Köpfen haben werden. Du kannst die Gewalt noch so schonungslos präsentieren – früher oder später werden sich Leute finden, die das romantisieren.
Sensibler Umgang und grafische Gewalt
Außerdem macht eine realistische grafische Darstellung von Gewalt an sich noch keinen sensiblen Umgang aus:
Wie so oft, kommt es auch bei der Darstellung von Gewalt weniger darauf an, was dargestellt wird, sondern vielmehr auf das Wie.
Wenn wir schon Kriegsfilme angeschnitten haben, bleiben wir doch in dieser Ecke und vergleichen zwei Fliegerfilme miteinander:
- Der rote Baron ist ein deutscher Blockbuster über Manfred von Richthofen, den erfolgreichsten Jagdflieger des Ersten Weltkrieges. Zwar erkennt Richthofen, der seine Tätigkeit am Anfang mehr als Sport gesehen hat, dass der Krieg grausam und blutig ist. Aber nichtsdestotrotz liefern die Kampfszenen vor allem gute Unterhaltung und Spektakel. Richthofen selbst wird in diesem Film zu einem pazifistischen Helden romantisiert.
- Auf der anderen Seite haben wir In den Kampf ziehen nur „die Alten“ (В бой идут одни «старики», Only «Old Men» Are Going Into Battle), einen ukrainisch-sowjetischen Film über sowjetische Jagdflieger im Zweiten Weltkrieg. Bemerkenswert ist hier, dass so gut wie keine Kampfszenen vorkommen – und wenn, dann sind sie nur kurz und zeigen nicht mehr als das, was man vom Boden aus vom Kampf mitbekommt. Trotzdem ist die Grausamkeit des Krieges ein zentrales Thema. Nur wird es auf subtile Weise präsentiert:
Statt umherfliegenden Körperteilen beobachten wir zum Beispiel, wie die neuen Piloten, frisch von der Flugschule, die Mechaniker ihrer Flugzeuge kennenlernen. Einer von ihnen bekommt von seinem Mechaniker recht ungemütliche Blicke und fragt:
„Gefalle ich Ihnen nicht? Warum starren Sie mich so an?“
Und der Mechaniker grunzt: „Du bist mein fünfter.“
Wie Du also siehst, braucht es keiner Explosionen oder Blutfontänen, um die außerordentlich hohe Sterblichkeit unter Jagdpiloten zu zeigen.
Das ist unter anderem einer der Gründe, warum ich – wie ich wohl schon zwanzigtausendmal gesagt habe – den Weg zurück gegenüber Im Westen nichts Neues für den besseren Antikriegsroman halte. Ist Im Westen nichts Neues eine realistische Darstellung des Krieges, ist seine Fortsetzung Der Weg zurück eine viel stillere, realistische Darstellung der Folgen des Krieges: Den Krieg selbst sehen wir hier nur am Anfang ein bisschen, dafür aber eine breite Palette an Folgeschäden von der Entfremdung von der eigenen Familie bis hin zum Selbstmord. Denn Krieg – und Gewalt generell – ist so viel mehr als das, was im jeweiligen Moment passiert.
Das Schlimme an Gewalt ist eben nicht so sehr sie selbst, sondern eher das, was sie mit uns macht. Und das kann man auch ohne ausführlichen, grafischen Gore darstellen.
Das Alter der Zielgruppe
Deswegen kann man Gewaltthemen durchaus auch in Erzählungen, die für ein jüngeres Publikum gedacht sind, verarbeiten. Wenn Du jungen Menschen beibringen möchtest, dass Gewalt keine Lösung ist, musst Du nicht ausführlich ausgeschlagene Zähne oder gebrochene Arme beschreiben: Konzentriere Dich auf den Schmerz, die demütigende Erkenntnis, dass man selbst nicht irgendwie außerordentlich ist und genauso blutet wie jeder andere, dass man nicht ansatzweise so tapfer und unerschrocken ist, wie man es sich gerne eingebildet hat, dass man vielleicht bis zum Rest des Lebens mit einer Behinderung leben muss, dass die anderen einen dadurch völlig anders wahrnehmen, dass man bestimmte Geräusche plötzlich nicht mehr verträgt und Panikattacken hat, dass man im Prinzip sein altes Selbst verliert und sein neues Selbst erst finden muss …
Wäge also ab, wie grafisch dein Werk sein darf und sein soll. Denn während eine grafische Darstellung bei Kinderbüchern komplett unangemessen ist und man auf allgemeinere Beschreibungen zurückgreifen sollte, kann man Teenagern durchaus mehr zutrauen. Orientiere Dich am besten an ähnlichen Werken für dieselbe Altersgruppe und pass auch auf, dass die dargestellte Gewalt den Erlebnishorizont Deiner Zielgruppe nicht sprengt: Denn die Foltermethoden der Spanischen Inquisition sind etwas für Teenager, die das bereits einordnen können, während die „klassische“ Erlebniswelt eines Fünfjährigen eher kleinere Dinge wie Schubsen und das Ziehen an den Haaren umfasst.
Und ja, klar, erleben auch kleinere Kinder schwere Formen von Gewalt. Aber das bedeutet nicht, dass man kindliche Leser mit sexuellem Missbrauch traumatisieren und schlimmstenfalls sogar retraumatisieren soll. Wenn’s unbedingt sein soll, dann erzähle lieber von einer Nebenfigur, die so etwas erlebt hat, beschreibe nur grob, was das war – in der kindlichen Wahrnehmung – und lass Deine Hauptfiguren entsetzt reagieren und der betroffenen Figur helfen.
Vor allem aber gilt auch hier: Niemals verharmlosen! Wie gesagt, schraube an den Formen der Gewalt und an der grafischen Darstellung, aber niemals an dem, was Gewalt für Täter und Opfer bedeutet:
Denn selbst in dem schwarz-weiß-malerischen Herrn der Ringe gibt es für Frodo kein Happily Ever After, sondern er findet, wie ein richtiger Veteran, keinen Frieden und muss metaphorisch sterben, indem er in die Unsterblichen Lande segelt.
„Unsensible“ Szenarien sensibel handhaben
Falls Du nun aber zufällig an meine Beispiele für unsensiblen Umgang mit Gewalt denkst und Dir Beispiele einfallen, in denen solche Szenarien durchaus sensibel gehandhabt werden, dann gebe ich Dir vollkommen recht: So etwas ist möglich.
Im japanischen Animationsfilm A Silent Voice haben wir beispielsweise durchaus den Fall, dass ein Mobber und sein Opfer sich ineinander verlieben. Und das wirkt nicht abartig, sondern glaubwürdig und organisch. Wie geht das?
- Nun, allem voran ist zu betonen, dass die Romanze nur nebensächlich ist. Der Film handelt nicht davon, ob Täter und Opfer zusammenkommen oder nicht, sondern es geht um die Folgen von Mobbing, um Soziophobie, Selbsthass und den Versuch einer Aussöhnung. Denn der Täter ist, nachdem er sein Opfer gemobbt hat, selbst zum Mobbingopfer geworden und hat die Perspektive seines Opfers in all ihren Facetten kennengelernt. Er ist der Protagonist der Geschichte, man verurteilt ihn und fühlt zugleich mit ihm. Dass die beiden sich ineinander verlieben, passiert nur nebenher und ist für die Gesamtgeschichte nicht essentiell.
- Außerdem gibt der Täter sich wirklich Mühe, sein ehemaliges Opfer verstehen zu lernen und wenigstens das Minimum an Wiedergutmachung zu leisten, das in seiner Macht steht. Und während das Opfer bei ihrem ersten Wiedersehen nach all den Jahren noch verunsichert ist, beweist der Täter dem Mädchen immer wieder, dass er mittlerweile ein völlig anderer Mensch ist. Und weil der Täter ja auch selbst gemobbt wurde, empfindet das Opfer Empathie für ihn. Mehr noch, es gibt sich sogar die Schuld, dass der Täter selbst gemobbt wurde, und sein Arc besteht darin, sich selbst lieben zu lernen – und sich nicht mehr die Schuld zu geben für Dinge, für die es nichts kann. Zwischen Täter und Opfer entwickelt sich allmählich ein inniges Vertrauensverhältnis und sie brauchen einander, um zu wachsen.
- Und nicht zuletzt werden sowohl Täter als auch Opfer als Menschen dargestellt. Sie haben liebenswürdige Seiten und sie haben ihre Fehler, keiner von ihnen wird idealisiert oder verteufelt und beide werden im Verlauf der Handlung zu besseren, stärkeren Menschen.
Also kurz zusammengefasst:
Man kann auch ein theoretisch unsensibles Szenario sensibel handhaben, wenn man sich intensiv mit Gewalt und ihren Folgen auseinandersetzt, den unsensibel anmutenden Aspekt nicht für billige Aufmerksamkeitshascherei missbraucht und die Charakter-Arcs von Opfer und Täter aufeinander anpasst.
Gewalt sensibel im Text „verpacken“
Doch so sehr Du Dich auch bemühst, in Deinem Werk sensibel mit Gewalt umzugehen … In meiner Zeit als Operator auf Fanfiktion.de, als ich unter anderem für das Sperren von Geschichten zuständig war, in denen Themen wie Gewalt unsensibel gehandhabt werden, machte ich eine überraschende Entdeckung:
Der Grat zwischen unsensibel gehandhabt und handwerklich schlecht geschrieben ist äußerst schmal.
Manchmal trifft man eben auf Dinge wie Beschreibungen von Gewaltfolgen, deren realistisches Ausmaß aber gar nicht rüberkommt. Der sensible Umgang ist also theoretisch vorhanden, aber praktisch merkt man nicht viel davon. Und das schlimmste ist: Dieser Eindruck ist auch noch sehr subjektiv. Was den einen kalt lässt, weckt beim anderen sehr viel Gefühl.
Und selbst wenn ein Werk handwerklich gut geschrieben ist, ist es, wie bereits angesprochen, immer noch der Wahrnehmung des Lesers ausgeliefert:
Denken wir beispielsweise an Nabokovs Lolita: Der Roman handelt vom sexuellen Missbrauch eines jungen Mädchens namens Dolores durch ihren Stiefvater. Dabei ist das Buch nicht etwa aus der Sicht des Opfers geschrieben, sondern aus der des Täters. Und wie in einem früheren Artikel bereits angesprochen, war so mancher Kritiker des Romans nicht in der Lage, Hinweise auf Dolores‘ Innenleben zwischen den Zeilen herauszulesen.
Du kannst es also drehen und wenden, wie Du willst, aber:
Nicht jeder wird Deine Versuche, sensibel mit Gewalt umzugehen und das Thema generell umfangreich zu beleuchten, als solche erkennen.
Was also tun? – Ich würde sagen: Dein Bestes. Nicht mehr und nicht weniger.
Aber trotzdem: Du hast Dir viele Gedanken gemacht, wie Du ans Thema herangehst, Du hast einen Plot entwickelt, in dem die Folgen von Gewalt aufgezeigt werden, Täter und Opfer sind komplexe Figuren … Wie verpackst Du das nun?
Hier einige Tipps …
Vermeide Floskeln
Wir alle kennen diese leeren, pseudoempathischen Phrasen rund um die „Sinnlosigkeit des Krieges“, das „schreckliche Töten“, das „grausame Morden“ … Das Problem ist, dass man, wenn man sich solcher Klischees bedient, sich um eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Thema herumschlängelt. Denn was ist denn so „sinnlos“ am Krieg? Ist es sinnlos, seine Heimat vor fremden Invasoren zu verteidigen, oder ist es sinnlos, in einer ewigen Pattsituation auszuharren, in der die Frontlinie sich monatelang weder vor noch zurück bewegt, und Du im Prinzip nur als Futter für die feindliche Artillerie fungierst und als Individuum mit Familie, Lebenszielen und Träumen keine Bedeutung hast? Ist es schrecklich oder grausam zu töten, wenn Du keine andere Wahl hast, weil sonst Du getötet wirst oder Deine Freunde sterben müssen? Und was bedeuten die Wörter „schrecklich“ und „grausam“ überhaupt? Sind widerlich entstellte, zerfetzte Körperteile gemeint oder mehr die psychischen Auswirkungen solcher Erlebnisse auf alle Beteiligten?
Hohle Phrasen sind eben schrecklich und grausam unspezifisch – so sehr, dass sie im Grunde nichts aussagen.
Im schlimmsten Fall führen sie sogar zur Entmenschlichung. Mich persönlich stört beispielsweise immer dieses leere „Warum?“, das jedes Mal auf Plakaten und in Reden zum Einsatz kommt, wenn mal wieder ein Teenager eine Waffe schnappt und in seiner Schule damit rumballert. Kaum jemand, der dieses rhetorische „Warum?“ in den Raum wirft, sucht ernsthaft nach Antworten. Und ohne Antwort lässt das „Warum?“ die Tat als etwas Unbegreifliches und wohl auch Unmotiviertes aussehen, als käme sie aus heiterem Himmel, einfach so, als wäre der Amokläufer eines Tages morgens aufgewacht mit dem Gedanken: „Hey, heute knalle ich ein paar Leute ab! Das wird lustig!“
Ich selbst hatte als Teenager eine Phase, in der ich unter Amok-Fantasien litt. Und lass Dir gesagt sein: Niemand hat Amok-Fantasien oder setzt sie sogar in die Tat um, wenn es ihm gut geht. Denn Amok ist nun mal unter anderem auch eine Selbstinszenierung, ein unterbewusster Versuch, auf sich aufmerksam zu machen, irgendwo schon ein unüberhörbarer Hilfeschrei, weil die früheren – meistens stummen – Hilfeschreie offenbar nicht gehört wurden. Und wenn wir Teil einer Gesellschaft sind, die sich glückliche Kinder und individuelle Entfaltung auf die Fahnen geschrieben hat, dann haben wir kollektiv versagt. Sicher ist der Amokläufer mit bestimmten Anlagen in die Welt gekommen, aber wir haben ihn nicht aufgefangen, als er Hilfe brauchte. Vielleicht ist das „Warum?“ also deswegen so leer, weil wir gar nicht wissen wollen, warum der Täter durchgedreht ist. Weil wir uns damit begnügen, ihn als unbegreifliches, schreckliches Etwas zu sehen, dessen Taten man nicht nachzuvollziehen braucht. Und das finde ich eben entmenschlichend.
Daher merke:
Über Gewalt zu schreiben erfordert Mut und Präzision. Floskeln hingegen lenken vom Eigentlichen, vom wirklich Schmerzhaften, ab.
Show, don’t tell
Eine präzise Darstellung braucht Details.
Und das ist der Moment, wo Autoren mit persönlicher Erfahrung im Vorteil sind: Wenn man selbst etwas erlebt hat, dann weiß man, wie es sich anfühlt. Man erinnert sich an Sinneswahrnehmungen, an bestimmte Gedanken, an instinktive, unüberlegte Handlungen. An bestimmte Zustände, die andere nicht nachvollziehen können.
Das alles sind natürlich Dinge, an die man sich im Fall von Gewalt nicht gerne erinnert, daher Hut ab vor allen Autoren, die sich trotzdem daran wagen. Wenn Du aber das Glück hast, nicht über den Vorteil persönlicher Erfahrung zu verfügen, dann musst Du viel recherchieren: Lies die Erinnerungen von Betroffenen sowie psychologische Analysen zu dem Thema.
Weil das Ziel aber eine emotionale Darstellung ist, solltest Du Dich bemühen, die Gefühle von Opfer und/oder Täter „nachzufühlen“. Was an dieser Stelle meiner Erfahrung nach hilft, sind zumindest entfernt ähnliche Erfahrungen:
Ich zum Beispiel weiß nicht, wie es ist, nach einem Krieg nach Hause zu kommen und beim friedlichen Dösen wieder das Trommelfeuer zu hören. Aber ich weiß, wie es ist, einen Abend lang Spider Solitär zu spielen und beim Einschlafen dann festzustellen, dass mein Hirn vor meinem geistigen Auge weiterspielt. Kriegsbilder beim Dösen und Schlafen scheinen vom Prinzip her etwas Ähnliches zu sein – nur viel schlimmer, im Sinne von: emotional belastend.
Oder andere Möglichkeit: Ich habe kein Trauma durch Granaten, aber ich hatte ein paar mückenverseuchte Nächte, an die ich mich bis an den heutigen Tag schaudernd erinnere. Wenn ich nachts etwas summen höre, dann fliege ich buchstäblich hoch und im nächsten Moment habe ich das Licht an und eine Fliegenklatsche in der Hand. – Ganz instinktiv, ohne nachzudenken, unkontrolliert. Die Gefühle von früher, der Schlafentzug, die Angst, die Wut und die Tränen sind mit einem Schlag wieder da. Und auf dieser Grundlage kann ich nachvollziehen, wie jemand, der durch Granaten traumatisiert wurde, instinktiv in Deckung springt, wenn er ein Geräusch hört, das ihn daran erinnert.
Zu den Details, die man nur aus persönlicher Erfahrung oder nur aus Recherchen kennt, gehören auch alle möglichen Dinge, auf die man ohne Spezialwissen oder Erfahrung meistens gar nicht kommt:
Wenn man sich die Leningrader Blockade vorstellt, als die Wehrmacht während des Zweiten Weltkrieges die Stadt zielgerichtet ausgehungert hat, denkt man an ausgemergelte Menschen, an denen die Kleidung lose herunterhängt, an Leichen über Leichen und an ein immerwährendes Hungergefühl. Was man jedoch in Tagebüchern und Memoiren liest, ist noch viel, viel schlimmer:
So gestand der 16-järige Schüler Jura Rjabinkin in seinem Tagebuch, wie er seine Mutter und seine Schwester systematisch bestohlen und belogen hat. In einer Zeit, in der man zusammenhalten sollte, trieb ihn der Hunger so weit, dass ihm jedes Mittel recht war, um an Essen zu kommen. Als er einmal ertappt wurde, wünschte ihm seine Mutter, dass er an dem gestohlenen Stück Brot erstickte. Und Jura hasste sich auch schon selbst für seine Taten und schrieb: „Ich will nur zwei Dinge: Ich will selbst sterben, und meine Mutter soll dieses Tagebuch nach meinem Tod lesen. Sie möge mich verfluchen, ein schmutziges, gefühlloses und heuchlerisches Tier, sie möge mich verstoßen, so tief bin ich gefallen, so tief …“
Andreas von Westphalen: Hitler: „In die russischen Städte gehen wir nicht hinein, sie müssen vollständig ersterben“, URL: https://www.heise.de/tp/features/Hitler-In-die-russischen-Staedte-gehen-wir-nicht-hinein-sie-muessen-vollstaendig-ersterben-4288622.html?seite=2, abgerufen am: 05.11.2020.
Wie Du sicherlich gemerkt hast, haben solche spezifischen Details eine besonders heftige Wirkung. Nicht nur, weil sie Material fürs Kopfkino liefern, sondern gerade weil sie oft so unerwartet, so fremd und doch so lebendig sind. Sie sprengen unsere Vorstellungskraft und wirken gerade deswegen so authentisch und verstörend.
Mach es persönlich
Durch das Spielen von The Elder Scrolls V: Skyrim habe ich viele Dinge gelernt. Unter anderem habe ich beobachtet, dass ich namenlose Banditen mit ihrer unterirdischen AI, die, wenn man sie tötet, bald wieder respawnen und erneut massakriert werden können, gerne für grausame Katz-und-Maus-Spielchen missbrauche. Meines Wissens haben die meisten Skyrim-Spieler sogar ein Banditenlager, das sie besonders gerne überfallen, um neue Waffen oder Fähigkeiten auszutesten, immer und immer wieder. Demgegenüber stehen benannte NPCs, sorgfältig erschaffene Figuren mit ihren täglichen Routinen und einzigartigen Dialogen. Diese Figuren schütze ich um jeden Preis. Selbst die verbrecherischen unter ihnen. Und warum? – Weil sie in meiner Wahrnehmung menschlicher sind als die namen- und persönlichkeitslosen Banditen. Weil sie einzigartig sind und mich etwas mit ihnen verbindet. Weil sie ein Gesicht haben.
Viel zu oft sieht man in Geschichten Täter und Opfer ohne Gesicht. Da sind Leichen und Schreie namenloser Menschen, traurige Blicke namenloser Menschen, Angst und Depressionen namenloser Menschen.
Als Leser reagiert man jedoch viel stärker auf Figuren, die gezielt für die „Schlachtbank“ vorbereitet wurden:
Als der Protagonist Paul und seine Kameraden in Im Westen nichts Neues mal wieder unter Beschuss geraten, kümmert Paul sich um einen verängstigten Rekruten, der sich wie ein Kind an ihn drückt. Später kümmern sich Paul und ein Kamerad um einen Verwundeten, der nicht mehr lange leben und bald heftige Schmerzen haben wird. Sie denken nach, ihm mit einem Revolver den Tod zu erleichtern. Und es stellt sich heraus, dass es der Junge ist, der sich vorhin an Paul gedrückt hat. Wäre es irgendein anderer Rekrut gewesen, wäre es einfach ein Verwundeter von vielen. Aber so haben wir für genau diesen Rekruten bereits Gefühle entwickelt.
Auch sollte man, wenn man es „persönlich“ macht, bedenken, dass jede Person auf verschiedene Formen von Gewalt anders reagiert. Es gibt zwar allgemeine Tendenzen, aber die konkrete Ausprägung ist individuell.
Berücksichtige also die Gesamtpersönlichkeit der Figur. Ihre Vergangenheit und wie sie aufgewachsen ist. Ihre Weltsicht. Wie diese Weltsicht, ihr Denken und Fühlen, sich durch den Gewaltakt verändert. Wie diese Veränderung sich in Handlungen äußert.
Wichtig wird so etwas besonders bei emotionaler Gewalt, also wenn Wirkung und Folgen überwiegend innerlich sind. Wenn jemandem ein Bein abgerissen wurde, dann ist nicht zu übersehen, dass ihm jemand Gewalt angetan hat. Aber wenn jemand emotional verletzt wurde, ist äußerlich vielleicht nur eine kleine Verhaltensänderung bemerkbar, die den meisten aber gar nicht auffällt. Denn um diese kleine, individuelle Verhaltensänderung zu bemerken, muss man die Person gut genug kennen, um zu wissen, dass das beobachtete Verhalten für die konkrete Person eher untypisch ist. Für Menschen, die diese Person nicht gut kennen, sieht ihr Verhalten eben wie eine ganz normale Charaktereigenschaft aus und man stempelt sie eben einfach als ruhig, als laut, als freundlich, als zickig oder als sonst was ab und lebt sein Leben fröhlich weiter, während die abgestempelte Person innerlich durchdreht.
Noch schwieriger wird das Ganze, wenn weder Opfer noch Täter – oder zumindest eine anderweitige Reflektorfigur – nicht begreifen, dass das, was passiert, falsch ist. Wenn das Opfer – besonders bei subtiler emotionaler Gewalt – die toxische Beziehung als normal wahrnimmt. Oder wenn die Geschichte aus der Sicht des Täters geschrieben ist und er gar nicht begreifen will, was er dem Opfer antut, oder es vielleicht sogar selbst nicht anders kennt. Oder wenn die Geschichte aus der Sicht eines Zeugen geschrieben ist, der gar nicht realisiert, was er da gerade sieht – vor allem, wenn Opfer und Täter ihm gleichermaßen versichern, dass sie damit glücklich sind.
Wie wir bereits gesehen haben, besteht eine Gefahr, dass die Leser den Gewaltakt nicht als solchen begreifen oder ihn verharmlosen und romantisieren. – Besonders eben, wenn die Reaktionen der Figuren so unauffällig und individuell sind. Was also tun?
- Je nach Erzählperspektive gäbe es die Möglichkeit, die erste instinktive Reaktion zu beschreiben. Denn seien wir ehrlich: Wenn wir etwas erleben oder beobachten, das falsch ist, haben wir im ersten Moment dieses komische Gefühl, das wir in dem Moment vielleicht nicht einmal benennen können. Und erst im nächsten Augenblick setzt unser Verstand ein und biegt uns die Realität zurecht: „Ach, XY hat das doch nur gesagt, weil er/sie sich so große Sorgen um mich macht!“ Oder so etwas in der Art. Doch das komische Gefühl war dennoch da und wenn der Autor es eingefügt hat, dann sicherlich mit dem Zweck einer Warnung: „Hey Leser, das war nicht okay so!“
- Verwandt damit ist der Ansatz, auffällig darzustellen, wie eine Figur sich etwas einredet, und es eventuell sogar mit der Realität zu kontrastieren. Wenn eine Figur immer mal wieder Denkvorgänge hat wie: „Er fragt nie nach meiner Meinung, kontrolliert mein Essverhalten und mit wem ich ausgehe und diktiert mir meine Entscheidungen … Aber er weiß ja, was gut für mich ist!“ Wenn eine Figur also zum Beispiel ihre eigenen Bedürfnisse so offen verleugnet, denkt sich ein halbwegs denkbegabter Leser irgendwann: „Verarschen kann ich mich auch selbst!“
- Außerdem hat selbst noch so unsichtbare Gewalt oft durchaus sichtbare Langzeitfolgen: Von Depressionen bis hin zu psychosomatischen Erkrankungen ist alles möglich. Ein solches Symptom, das scheinbar aus dem Nichts kommt, kann ebenfalls als Hinweis fungieren, dass etwas schrecklich schiefgelaufen ist.
- Auch andere Figuren können rote Fahnen schwingen und die Probleme offen ansprechen: Dass die Beziehung nicht normal ist. Oder dass die beteiligten Figuren sich doch offensichtlich etwas einreden. Oder sie können eben darauf hinweisen, dass die Depressionen und/oder psychosomatischen Symptome durchaus eine Ursache haben müssen.
- Und nicht zuletzt gibt es noch das klassische literarische Mittel der Kontrastfigur: In der Geschichte geht es um eine toxische Beziehung? – Dann führe noch ein anderes Pärchen ein, dessen Beziehung harmonisch ist. So ein Vergleich zeigt, dass es eben auch anders und vor allem besser geht.
Doch was auch immer Du machst:
Es sollte stets zu den Figuren passen. Lasse den Leser höchst persönliche Geschichten erleben. Denn wenn die Figur ein Gesicht hat, wenn der Leser sie als Person kennt und schätzt, dann reagiert er auch sensibler auf ihren Zustand.
Schlusswort
Ich wette, nach all diesen Ausführungen fallen Dir nur noch sehr wenige Werke ein, in denen das Thema Gewalt wirklich maximal sensibel gehandhabt wird. Tatsächlich, würde ich sagen, ist die Opposition von „sensibel“ und „unsensibel“ weniger ein Entweder-Oder, sondern eher ein Spektrum: Sehr viele – besonders populäre – Werke verharmlosen Gewalt ein Stück weit und rechtfertigen und glorifizieren sie. Doch nur die wenigsten rufen tatsächlich zu Mord und Totschlag auf – und diejenigen, die das tun, ernten in der Regel einen entsprechenden Gegenwind. Und ein bisschen gewalttätiges Spektakel, um uns vorübergehend aus dem Alltag zu reißen, scheint schon eine Art Grundbedürfnis zu sein.
Ich gebe auch zu, dass meine Vorstellungen von wirklich, wirklich sensiblem Umgang mit Gewalt recht streng sind. In meiner Zeit als Operator auf Fanfiktion.de hätte ich zum Beispiel gerne durchaus mehr Geschichten gesperrt als ich laut Richtlinien tatsächlich durfte.
Entscheide also selbst, was Du aus diesem Artikel mitnehmen möchtest und was nicht.
Zusammenfassend kann ich nur sagen:
Ein wirklich sensibler Umgang mit Gewalt besteht meiner Meinung nach aus einer realistischen Darstellung von Gewalt und ihrer Folgen, einer Darstellung von Opfer und Täter als Menschen mit einer einzigartigen Persönlichkeit, einer angemessenen „Verpackung“ und vor allem einem sinnvollen Einsatz: also keine Gewalt um der bloßen Gewalt willen, nicht als billige Aufmerksamkeitshascherei, sondern mit einem Sinn für die Gesamtgeschichte.
Schwieriges Thema, aber interessant. Ich habe die letzten Jahre doch etliche Erzählungen von Gewaltopfern gelesen, ich kann daher denke ganz gut einschätzen, wie diese fühlen. Allerdings wird das „wie hat man sich daraus befreit“ bzw. die Folgen, doch wenn überhaupt sehr stiefmütterlich behandelt. Auch die ganzen Dokus die ich darüber geschaut habe, gehen da kaum darauf ein. In den ganzen Büchern wird das leider nur in ein paar Seiten abgehandelt. Daher ist es auch sehr schwer dann darüber „korrekt“ zu schreiben. Von was einen Täter antreibt ganz zu schweigen.
Ein sehr wichtigen Punkt, den hast du nur angeschnitten, finde ich die ganzen „Mitwisser“. Gerade bei Missbrauch, gibt es immer Leute die es einfach nicht wissen wollen bzw. sich nicht vorstellen dass der „Strahlemann“ soetwas tut.
Ich hoffe aber auch, dass das Thema mal ernsthafter in vielen Büchern angegangen wird. Da gibts schon manchmal echt gruselige Weltansichten.
Absolute Zustimmung, dass die Folgen von Gewalt und die Täterperspektive oft grausam vernachlässigt werden. Und bei den Mitwissern hast Du auch vollkommen recht. Dabei sind gerade sie doch so ein spannendes Thema für Geschichten, weil Dilemma: „Ist der ‚Strahlemann‘ doch nicht so strahlend? Und was bin ich dann, wenn ich jahrelang weggesehen habe? Ich will mit der ganzen Sache doch nichts zu tun haben und nur ruhig in meiner kleinen, begrenzten Welt weiterleben. Aber das Gewissen … Also muss ich mich wehren. Das Opfer ist schuld!“ Und so wird so mancher Mitwisser allmählich zum Mittäter …
Hallo,
der Artikel ist wirklich wichtig und ich hoffe, dass es in Zukunft viel Schreiberlinge gibt, die diesen Aspekten in Zukunft mehr Aufmerksamkeit schenken.
Allerdings ist mir im letzten Punkt der Vorschläge, wie in Texten die Problematik der Gewalt sichtbargemacht werden kann, eine problematische Gegenüberstellung ins Auge gefallen:
Es wird dort vorgeschlagen, einer toxischen Beziehung eine „harmonische“ Beziehung gegenüber zu stellen. Diese Formulierung suggeriert, dass auch Auseinandersetzungen und Streitigkeiten ein Zeichen für toxische Beziehungen wären, denn in diesem Falle ist eine solche Beziehung ja nicht „harmonisch“. Das ist aber – salopp gesagt – ziemlicher Kokolores. Denn auch in gesunden Beziehungen (was meiner Meinung nach der richtige Begriff für das Gegenteil einer toxischen Beziehung wäre) kann es durchaus auch Differenzen und Streitigkeiten geben. Der Unterschied ist eben, dass sich Paare in einer gesunden Beziehung gegenseitig respektieren, sich zuhören, die Grenzen der anderen Person kennen und achten und sie sich als gleichwertig und gleichwichtig verstehen. In toxischen Beziehungen hingegen versucht meist ein Partner den anderen zu manipulieren, zu dominieren oder zu besitzen, was nur möglich ist, weil es keinen gegenseitigen und gleichwertigen Respekt innerhalb der Beziehung gibt.
Der Umgang der Partner:innen miteinander macht eine Beziehung toxisch oder gesund, nicht die Anzahl der Kontroversen, oder eben „Harmonie“ in der Beziehung.
Moin!
Vielen Dank fürs Lob und für die Kritik! Was Letztere angeht, glaube ich jedoch, dass es hier weniger um eine „problematische Gegenüberstellung“, sondern eher um die Definition von „harmonisch“ geht. Unter einer „harmonischen Beziehung“ verstehe ich nämlich keineswegs eine Beziehung ohne Auseinandersetzungen und Streitigkeiten, sondern eine, in der die beteiligten Personen wie Puzzleteile zusammenpassen. In manchen Beziehungen mag das so aussehen, dass die Partner sich tatsächlich nie streiten und alles gelassen ausdiskutieren. Auf der anderen Seite gibt es auch Menschen mit einem explosiven Temperament, und wenn sie sich in einer Beziehung regelmäßig anschreien und sich dann wieder vertragen, sobald die negativen Gefühle raus sind, und ein solches Auf und Ab alle Parteien glücklich macht, dann ist das auch eine Form von Harmonie. Wenn Du davon sprichst, dass eine „gesunde Beziehung“ von gegenseitigem Respekt, Zuhören und Gleichberechtigung lebt, dann meinst Du genau dasselbe, was ich unter einer „harmonischen Beziehung“ verstehe.
Der Grund, wieso ich das Wort „harmonisch“ lieber mag als „gesund“, ist, dass in „gesund“ eine Wertung drinsteckt, die je nach Epoche und Kultur – und auch je nach Individuum – anders ausfallen kann. Wenn Du einen Menschen von vor 200 Jahren oder vom anderen Ende der Welt fragst, was eine „gesunde“ Beziehung ausmacht, wird er unter anderem wohl Dinge aufzählen, die Dir die Haare zu Berge stehen lassen. Ich meine, selbst innerhalb einer einzigen Gesellschaft gibt es verschiedene Vorstellungen davon, was in einer Beziehung „gesund“ ist und was nicht. Verschiedene Zeiten, Kulturen und einfach nur Menschen haben eben verschiedene Werte. „Harmonisch“ ist dagegen als Begriff neutraler und beschreibt ziemlich genau, was ich meine: zusammenpassend, ausgewogen, im Einklang miteinander. – Denn man kann sich auch im Einklang streiten. Hauptsache, man tut es mit jemandem, der sozusagen dieselbe Sprache spricht oder einen zumindest versteht und so nimmt, wie man eben ist.
Ich hoffe, ich konnte meinen Standpunkt einigermaßen verständlich erklären.