Sensibel über Gewalt schreiben

Sensibel über Gewalt schreiben

Gewalt in fik­tio­na­len Wer­ken ist cool, bad­ass oder sogar lus­tig. Alter­na­tiv auch roman­tisch und ein Aus­druck von wah­rer Lie­be. Bis man selbst davon betrof­fen ist und merkt, dass die Gewalt in Geschich­ten herz­lich wenig mit der Rea­li­tät zu tun hat. Wie macht man das als Autor also bes­ser? Wie schreibt man sei­ne Geschich­te, ohne dass die Gewalt dar­in ver­harm­lost und/​oder ver­herr­licht wird? Genau das schau­en wir uns in die­sem Arti­kel an …

Die Foli­en für die­ses Video gibt es für Ste­ady-Abon­nen­ten und Kanal­mitglieder auf You­Tube als PDF zum Download.

Kon­ni­chi-wa! Ich bin die Elben­prin­zes­sin Ayna­ri­va­si­liel-hime-sama-chan-san, die Toch­ter des Feu­ers, des Was­sers, der Luft, der Erde, der Valar, der Magi­er, des Lichts, der Göt­ter, der Son­ne, des Mon­des und der Ster­ne. Ich bin eine Halbel­bin, und als Kind wur­de ich von mei­nen Eltern schlimm miss­han­delt. Dann leb­te ich bei mei­nen Adop­tiv­el­tern und wur­de schlimm miss­han­delt. Dann wur­de mein Hei­mat­dorf von feind­li­chen Sol­da­ten nie­der­ge­brannt, und ich wur­de schlimm miss­han­delt. Dann wur­de ich gefan­gen­ge­nom­men und schlimm miss­han­delt. Dann wur­de ich an Skla­ven­händ­ler ver­kauft und von ihnen schlimm miss­han­delt. Dann wur­de ich an Har­a­d­rim ver­kauft und schlimm miss­han­delt. Dann gelang mir die Flucht, aber ich wur­de von Orks über­fal­len und schlimm miss­han­delt. Und jetzt bin ich hier und will ein Kind von dir, Thorin-kun!
Fea­el Sil­ma­ri­en: Mit Bogen, Pfeil und Damen­bart, Kapi­tel 4: Toch­ter des Platzhalters.

Dies ist ein Mono­log aus mei­nem ekel­haf­ten bis ver­stö­ren­den post­mo­der­nis­ti­schen Dra­ma Mit Bogen, Pfeil und Damen­bart, einer so schreck­lich wie mög­lich geschrie­be­nen Hob­bit-Bad­fic, mit der ich mei­nen jah­re­lan­gen Umgang mit schlech­ten Fan­fic­tions ver­ar­bei­ten woll­te. Und wie du siehst, war dabei auch der leicht­fer­ti­ge Umgang mit trau­ma­ti­schen Ereig­nis­sen, den so man­che Autoren an den Tag legen, ein wich­ti­ges Anlie­gen für mich.

Denn ob wir es wol­len oder nicht:

Unser Unter­be­wusst­sein kennt nicht den Unter­schied zwi­schen Rea­li­tät und fik­tio­na­len Geschichten.

Des­we­gen kön­nen wir aus erdach­ten Geschich­ten ler­nen – Gutes wie Schlech­tes. Wir schlüp­fen vor­über­ge­hend in die Haut von jemand ande­rem, ler­nen frem­de Per­spek­ti­ven ken­nen und ent­wi­ckeln unse­re Empa­thie­fä­hig­keit wei­ter. – Vor­aus­ge­setzt, der Autor des Werks hat sich mit der The­ma­tik ernst­haft auseinandergesetzt.

Doch das ist längst nicht selbst­ver­ständ­lich. Beson­ders beim The­ma Gewalt fällt auf, wie sehr es in den Medi­en ver­harm­lost und/​oder glo­ri­fi­ziert wird: Wäh­rend rea­le Opfer – und oft auch Täter – von Gewalt ihr Leben lang unter den Fol­gen lei­den, ist die trau­ma­ti­sche Ver­gan­gen­heit von Figu­ren wie der Elben­prin­zes­sin Ayna­ri­va­si­liel-hime-sama-chan-san, die ihr Leben lang von allem und jedem „schlimm miss­han­delt“ wur­de und nun kei­ne ande­ren Sor­gen hat als sich mit einem gut­aus­se­hen­den Zwerg fort­zu­pflan­zen, nicht mehr als ein schi­ckes Acces­soire, um einer ansons­ten völ­lig per­sön­lich­keits­lo­sen Figur etwas Far­be zu geben. Das ist schlicht und ergrei­fend menschenverachtend.

Vor allem, weil sol­che Dar­stel­lun­gen uns eben blind gegen­über dem Lei­den rea­ler Men­schen machen. Ich sage nicht, dass jeder, der posi­ti­ve oder ver­harm­lo­sen­de Dar­stel­lun­gen von Gewalt kon­su­miert, auto­ma­tisch gewalt­tä­tig wird. Um Him­mels wil­len, zum Glück ist das nicht so!

Den­noch haben unsen­si­ble und unrea­lis­ti­sche Gewalt­dar­stel­lun­gen eine Wir­kung auf uns.

Dar­über wer­den wir heu­te spre­chen und anschlie­ßend über­le­gen, wie wir als Autoren in unse­ren Geschich­ten sen­si­bel mit Gewalt umge­hen können.

Medien und reale Gewalt

Bevor wir wirk­lich begin­nen, müs­sen wir uns auf eini­ge grund­le­gen­de Din­ge eini­gen. Des­we­gen hier eine Lis­te von Annah­men, von denen ich selbst­ver­ständ­lich aus­ge­he, wenn ich über Gewalt­dar­stel­lung in den Medi­en rede:

  • Medi­en haben einen päd­ago­gi­schen Effekt – egal, ob er beab­sich­tigt ist oder nicht. Ein Werk ist immer durch die Welt­sicht und die Wer­te des Autors ein­ge­färbt. Und weil jedes Werk die Welt­wahr­neh­mung sei­ner Rezi­pi­en­ten beein­flusst, trägt jeder Autor mit sei­nem Schaf­fen eine gesell­schaft­li­che Ver­ant­wor­tung.
  • Nichts­des­to­trotz haben wir in den Medi­en sehr viel Gewalt­dar­stel­lung, und die­se wird von vie­len Men­schen regel­mä­ßig kon­su­miert. Doch nur sehr weni­ge die­ser Men­schen wer­den selbst gewalt­tä­tig.
  • Aller­dings haben Stu­di­en auch gezeigt, dass es durch­aus einen Zusam­men­hang gibt zwi­schen Gewalt­dar­stel­lung in den Medi­en und gewalt­tä­ti­gem Ver­hal­ten. Man kann jedoch nicht sagen, ob media­le Gewalt­dar­stel­lun­gen gewalt­tä­ti­ges Han­deln ver­ur­sa­chen oder eher als Kata­ly­sa­tor bei bereits vor­han­de­nem Gewalt­po­ten­ti­al wir­ken. Zumal es ja auch unzäh­li­ge ande­re Fak­to­ren gibt, die zu rea­ler Gewalt­tä­tig­keit füh­ren, bei­spiels­wei­se häus­li­che Gewalt, Ver­nach­läs­si­gung, Armut, ein gewalt­tä­ti­ges sozia­les Umfeld und so wei­ter. Es gibt vie­le Wege, einem Men­schen bei­zu­brin­gen, Aggres­si­vi­tät und Gewalt sei­en normal.
  • Außer­dem sind Men­schen von Natur aus unter­schied­lich: Wäh­rend die einen von Geburt an etwas pazi­fis­ti­scher sind, nei­gen die ande­ren etwas mehr zu Aggressivität.
  • Und das alles erschwert die Erfor­schung von Gewalt in den Medi­en mas­siv, weil man deren Aus­wir­kun­gen nicht sofort sehen und auch nicht klar von ande­ren Fak­to­ren tren­nen kann.

Verzerrte Wahrnehmung durch mediale Gewalt

Ich den­ke, wir kön­nen uns vor allem dar­auf eini­gen, dass die meis­ten Men­schen in der Lage sind, zumin­dest bewusst zwi­schen Rea­li­tät und Fik­ti­on zu unter­schei­den. Der Effekt der Gewalt in den Medi­en ist eher sub­til und kann bei­spiels­wei­se durch funk­tio­nel­le Magnet­re­so­nanz­to­mo­gra­phie (fMRT) sicht­bar gemacht werden:

In einer Stu­die im Jahr 2012 wur­de die Ver­ar­bei­tung emo­tio­na­ler Bil­der bei Spie­lern von First-Per­son-Shoo­ter-Games und einer Kon­troll­grup­pe unter­sucht. Aus­ge­hend von stär­ke­ren und schwä­che­ren Reak­tio­nen in bestimm­ten Hirn­area­len kann man schlie­ßen, dass die Gamer einen Schutz­me­cha­nis­mus gegen nega­ti­ve Emo­tio­nen ent­wi­ckelt haben und ihre Reak­ti­on auf Gewalt­bil­der des­we­gen schwä­cher ausfällt.
Mon­tag C., Weber B., Traut­ner P., New­port B., Mar­kett S., Wal­ter NT, Fel­ten A., Reu­ter M.: Does exces­si­ve play of vio­lent first-per­son-shoo­ter-video-games dam­pen brain acti­vi­ty in respon­se to emo­tio­nal sti­mu­li?, Bio­lo­gi­cal Psy­cho­lo­gy, 89 (1), pp. 107–11.

Die­se Desen­si­bi­li­sie­rung gegen­über Gewalt­dar­stel­lun­gen ist im Übri­gen etwas, das wir auch ohne fMRT beob­ach­ten können:

Oder war­um, denkst Du, wird die Gewalt in Hol­ly­wood-Block­bus­tern immer spek­ta­ku­lä­rer, die Explo­sio­nen immer grö­ßer und die her­um­flie­gen­den Kör­per­tei­le immer blu­ti­ger? Schon im alten Rom wur­de das Unter­hal­tungs­pro­gramm in den Amphi­thea­tern mit der Zeit immer blu­ti­ger und grau­sa­mer, weil das Publi­kum sich an immer mehr Gewalt gewöhn­te und es immer grö­ße­rer Gewalt bedurf­te, um das Volk zu „beein­dru­cken“.

Kön­nen wir also garan­tie­ren, dass wir nach media­lem Gewalt­kon­sum noch aus­rei­chend empa­thisch auf rea­le Gewalt reagie­ren? Vor allem, wenn rea­le Gewalt durch Tech­no­lo­gien wie fern­ge­steu­er­te Droh­nen immer mehr wie ein Video­spiel aussieht?

Mediale Gewalt und Realismus

Para­do­xer­wei­se sind die immer hoch­wer­ti­ge­ren media­len Gewalt­dar­stel­lun­gen häu­fig aber den­noch sehr unrea­lis­tisch. Soll hei­ßen: Sie sehen unglaub­lich rea­lis­tisch aus, sind es aber nicht.

  • Fik­ti­ve Figu­ren hal­ten oft deut­lich mehr aus als nor­ma­le Men­schen. Wo jeder ande­re am Boden lie­gen und nach sei­ner Mama jau­len wür­de, ste­hen fik­tio­na­le Hel­den hero­isch auf, grun­zen, es sei nur ein Krat­zer, und mas­sa­krie­ren völ­lig unbe­ein­druckt die kom­plet­te Armee von Gegnern.
  • Fik­ti­ve Gewalt­op­fer plau­dern ein­fach so über ihre trau­ma­ti­schen Erleb­nis­se, obwohl rea­le Opfer oft sogar mit Nahe­ste­hen­den kaum dar­über reden kön­nen. Auch Depres­sio­nen, Panik­at­ta­cken, Schuld­ge­füh­le, Selbst­mord­ge­dan­ken und psy­cho­so­ma­ti­sche Erkran­kun­gen wer­den viel zu sel­ten thematisiert.
  • Außer­dem wird Gewalt in den Medi­en erschre­ckend häu­fig als gerecht­fer­tigt hin­ge­stellt, klas­si­scher­wei­se wenn die „Guten“ die „Bösen“ rei­hen­wei­se nie­der­mä­hen. Wenn also die „ande­ren“, die „Bösen“, Gewalt aus­üben, dann ist das schlecht. Wenn es aber die Haupt­fi­gu­ren, die „Guten“, tun, dann ist das gut und gerecht. Und damit geht oft ein­her, dass die „Bösen“ ent­mensch­licht wer­den, nur als per­sön­lich­keits­lo­se Sol­da­ten, Wachen, Orks oder was auch immer auf­tre­ten, deren Lei­den völ­lig irrele­vant ist, wenn es denn über­haupt gezeigt wird. Und natür­lich kom­men die „Guten“ auch ohne psy­chi­schen Scha­den davon und leben nach dem Mas­sa­ker fröh­lich wei­ter, obwohl rea­le Men­schen, wenn sie jeman­den getö­tet haben, nor­ma­ler­wei­se durch­aus leiden.

Eine fast schon irgend­wie tra­gi­ko­mi­sche Kon­se­quenz unrea­lis­ti­scher Gewalt­dar­stel­lun­gen ist, wenn bei­spiels­wei­se Gang­mit­glie­der, die in einer Schlacht gegen eine ande­re Gang ange­schos­sen wur­den, fest­stel­len müs­sen, dass die schein­bar so klei­ne Wun­de „schei­ße weh­tut“. Und dass das Lei­den nach der kör­per­li­chen Hei­lung nicht unbe­dingt auf­hört. Davon, dass man selbst viel­leicht gar nicht der „Gute“ ist, kein Held, son­dern ein unbe­deu­ten­der Sta­tist, der aber trotz­dem Gefüh­le hat, ganz zu schweigen.

Die Sache ist, dass man, wenn man in einem Bereich kei­ne per­sön­li­che Erfah­rung hat, oft den erst­bes­ten Mist glaubt, den man zu die­sem The­ma erfährt. Und auf Grund­la­ge von die­sem Mist fäl­len wir Ent­schei­dun­gen und beur­tei­len auch ande­re Men­schen. Wir belä­cheln die see­li­schen Lei­den eines Opfers, wir haben weni­ger Empa­thie für anders­den­ken­de Men­schen und wir machen uns selbst inner­lich fer­tig, wenn wir als Opfer von Gewalt unse­re Erleb­nis­se nicht so gut weg­ste­cken kön­nen wie fik­ti­ve Figuren.

Ja, wir kön­nen nicht genau sagen, inwie­fern media­le Gewalt­dar­stel­lun­gen gewalt­tä­ti­ges Han­deln ver­ur­sa­chen. Aber wir kön­nen ganz sicher sagen, dass unrea­lis­ti­sche Gewalt­dar­stel­lun­gen uns nicht zu bes­se­ren, empa­thi­sche­ren Men­schen machen.

Somit wird ein gewal­ti­ges künst­le­ri­sches und damit auch gesell­schaft­li­ches Poten­ti­al ein­fach verschwendet.

Unsensibler Umgang mit Gewalt

Ich hof­fe, wir kön­nen uns mitt­ler­wei­le dar­auf eini­gen, dass wir als Autoren sehr viel Fin­ger­spit­zen­ge­fühl brau­chen, wenn wir über Gewalt schrei­ben. Denn:

  • Wenn Gewalt kei­ne nen­nens­wer­ten oder nur ver­nach­läs­sig­ba­re Kon­se­quen­zen für Opfer und Täter hat, dann ist das verharmlosend.
  • Wenn Gewalt als „edel“ dar­ge­stellt wird, aus­schließ­lich als selbst­lo­ses Opfer fürs Vater­land, das man mit stoi­schem Aus­druck erträgt, dann ist das verharmlosend.
  • Wenn ein Vergewaltigungs‑, Folter‑, Mob­bing- oder ander­wei­ti­ge Art von Opfer sich in sei­nen Pei­ni­ger ver­liebt, dann ist das verharmlosend.
  • Wenn der Held einen Mas­sen­mord an sei­nen namen­lo­sen Geg­nern begeht, es ihm emo­tio­nal nichts aus­macht und es als gut und rich­tig dar­ge­stellt wird, ist das gewaltverherrlichend.
  • Wenn eine Figur ange­him­melt wird, weil sie ja so stark ist und soooo vie­le Men­schen im Allein­gang kil­len kann, ist das gewaltverherrlichend.
  • Wenn Waf­fen als coo­le Acces­soires prä­sen­tiert wer­den und den Besit­zer „bad­ass“ wir­ken las­sen, dann ist das gewaltverherrlichend.

Und das alles gilt im Übri­gen auch, wenn die Gewalt­ta­ten von einer „star­ken Frau“ ver­übt wer­den. Denn in unse­rer Zeit scheint es erschre­ckend vie­le Krea­ti­ve zu geben, die die „Stär­ke“ eine Frau an ihrem Body­count zu mes­sen schei­nen. Eine Frau, die ohne mit der Wim­per zu zucken Hun­der­te von Geg­nern nie­der­mäht, ist jedoch kei­nen Deut bes­ser als ein Mann, der so etwas tut. Auch das ist Ver­herr­li­chung und Ver­harm­lo­sung von Gewalt.

Nicht zu ver­ges­sen, wenn man über Gewalt spricht, ist auch psy­chi­sche Gewalt. Sie ist kein biss­chen harm­lo­ser als kör­per­li­che und viel­leicht sogar schlim­mer, weil sie so ver­deckt ist. Denn wenn Du von jeman­dem geschla­gen wirst, dann ist es eine unum­stöß­li­che Tat­sa­che und Du musst sie „nur“ als sol­che akzep­tie­ren. Sys­te­ma­ti­sche Mani­pu­la­ti­on, pas­siv-aggres­si­ves Ver­hal­ten, Gas­light­ing und das Her­un­ter­spie­len Dei­ner Gefüh­le sind dage­gen nicht nur für Außen­ste­hen­de, son­dern auch für Dich selbst oft gar nicht sicht­bar. Meis­tens merkst Du nur, dass Du dich plötz­lich schlecht fühlst, kannst aber nicht genau benen­nen, wie­so, suchst even­tu­ell die Schuld bei Dir selbst und lang­sam, aber sicher geht Dei­ne Psy­che dar­an kaputt, obwohl Dir nie­mand auch nur ein Haar gekrümmt hat. Unter psy­chi­sche Gewalt fal­len eben nicht nur Dro­hun­gen und Belei­di­gun­gen, son­dern auch schein­bar harm­lo­se Kom­men­ta­re, schein­bar unschul­di­ge All­tags­in­ter­ak­tio­nen und schein­bar freund­li­che Ges­ten. Psy­chi­sche Gewalt ist tückisch und eben auch eine Form von Gewalt, die das Opfer fürs Leben zeich­nen kann. Und was das Gan­ze noch tra­gi­scher macht, ist, dass auch die Täter manch­mal nicht begrei­fen, dass sie Gewalt anwen­den. Denn oft ste­hen emo­tio­na­le Gewalt­ta­ten als ehr­lich gemein­te Hil­fe, Erzie­hungs­maß­nah­men oder gar als Lie­bes­be­weis da.

  • Wenn ein Ver­lieb­ter also zu Erpres­sung greift, bei­spiels­wei­se mit Selbst­mord droht, um ein Date zu bekom­men, und es als roman­tisch hin­ge­stellt wird, ist auch das Ver­harm­lo­sung und Ver­herr­li­chung von Gewalt.

Zusam­men­ge­fasst kann man also sagen, dass man bei der Dar­stel­lung von Gewalt sehr, sehr viel falsch machen kann:

Denn selbst wenn der Gewalt­akt an sich rea­lis­tisch dar­ge­stellt wird – was längst nicht immer der Fall ist -, sieht man rea­lis­tisch dar­ge­stell­te Fol­gen von Gewalt noch seltener.

Die „verbotene Frucht“

Und noch schlim­mer ist es, wenn wir uns anschau­en, war­um über­haupt Gewalt ein­ge­baut wird:

In einer ande­ren Stu­die wur­den den Teil­neh­mern gewalt­hal­ti­ge und nicht-gewalt­hal­ti­ge Ver­sio­nen der­sel­ben Fern­seh­se­ri­en ange­bo­ten und es gab auch ent­spre­chen­de Ver­sio­nen von Epi­so­den­be­schrei­bun­gen. Beob­ach­tet wur­de, dass die Teil­neh­mer sich von den gewalt­tä­ti­gen Beschrei­bun­gen stär­ker ange­zo­gen fühl­ten, die gewalt­lo­sen Epi­so­den beim Anschau­en aber mehr genos­sen. Die gewalt­lo­sen Epi­so­den haben selbst dann bes­se­re Bewer­tun­gen bekom­men, wenn die ent­spre­chen­den Teil­neh­mer eigent­lich die gewalt­ver­spre­chen­de Beschrei­bung gewählt hatten.
Andrew J. Wea­ver, Matthew J. Kob­ach: The Rela­ti­onship Bet­ween Sel­ec­ti­ve Expo­sure and the Enjoy­ment of Tele­vi­si­on Vio­lence, Aggres­si­ve Beha­vi­or, 38 (2), pp. 175–184.

Die For­scher beob­ach­te­ten somit einen schein­ba­ren Wider­spruch: Einer­seits weckt Gewalt stär­ke­res Inter­es­se, aber man genießt sie weni­ger. Und hier kommt der for­bidden fruit effect ins Spiel: das Phä­no­men, dass „ver­bo­te­ne“, als „schlecht“ ange­se­he­ne Din­ge, oft eine beson­de­re Anzie­hungs­kraft haben. Das heißt nicht, dass sie uns tat­säch­lich bes­ser gefal­len: Die Stu­die hat gezeigt, dass die Teil­neh­mer doch eher pazi­fis­tisch waren. Doch die „ver­bo­te­ne Frucht“, in die­sem Fall Gewalt, von der wir schon als klei­ne Kin­der ein­ge­trich­tert bekom­men haben, wie böse sie doch ist, -

Die „ver­bo­te­ne Frucht“ weckt ein­fach unse­re Aufmerksamkeit.

Und das weiß man. Genau des­we­gen wird Gewalt oft als bil­li­ges Mit­tel ein­ge­setzt, um Auf­merk­sam­keit zu erre­gen und zu unter­hal­ten. Denn Spe­zi­al­ef­fek­te kos­ten Geld, ja, aber umher­flie­gen­de blu­ti­ge Kör­per­tei­le sind ein­fa­cher aus­zu­den­ken als eine gute, an sich unter­halt­sa­me Geschich­te mit span­nen­den Figuren.

Als ob eine unrea­lis­ti­sche, ver­harm­lo­sen­de und glo­ri­fi­zie­ren­de Dar­stel­lung von Gewalt und ihrer Fol­gen also noch nicht schlimm genug wäre, dient sie nur als bil­li­ger Auf­merk­sam­keits­er­re­ger. Dass die Täter und Opfer von Gewalt dadurch nur noch mehr ent­mensch­licht wer­den, soll­te auf der Hand liegen.

Sensibler Umgang mit Gewalt

Der fran­zö­si­sche Fil­me­ma­cher Fran­çois Truf­f­aut soll ein­mal gesagt haben, etwas wie einen Anti­kriegs­film gäbe es nicht. Die viel­leicht häu­figs­te Inter­pre­ta­ti­on die­ser Aus­sa­ge ist, dass Fil­me den Krieg auto­ma­tisch glo­ri­fi­zie­ren, wenn sie die „Action“, das Aben­teu­er und die Kame­rad­schaft dar­stel­len. Dabei ist die Absicht des Urhe­bers irrele­vant, denn es kommt vor allem dar­auf an, wie der Rezi­pi­ent das Werk wahr­nimmt:

Remar­ques Im Wes­ten nichts Neu­es kann eine noch so gna­den­lo­se und rea­lis­ti­sche Dar­stel­lung des Ers­ten Welt­krie­ges sein, die den Nazis gehö­rig gegen den Strich ging, sodass der Roman 1933 den Bücher­ver­bren­nun­gen zum Opfer fiel. – Doch selbst die­ses Werk kann man, wenn man will und wie es eini­ge jun­ge Nazis mei­nes Wis­sens getan haben, auch als rea­lis­ti­sche Dar­stel­lung eines gro­ßen Aben­teu­ers lesen – des­sen, wor­auf man sich ein­stel­len muss, wenn man sein Leben fürs Vater­land opfern will. Im Roman selbst wird nichts heroi­siert, aber man kann sehr wohl sei­ne eige­nen Vor­stel­lun­gen vom edlen Selbst­op­fer, Sei­te an Sei­te mit tap­fe­ren Kame­ra­den, in das Buch hineinprojizieren.

Daher mer­ke:

Du kannst nicht vor­her­se­hen, was für ver­dreh­te Flau­sen Dei­ne spä­te­ren Leser in ihren Köp­fen haben wer­den. Du kannst die Gewalt noch so scho­nungs­los prä­sen­tie­ren – frü­her oder spä­ter wer­den sich Leu­te fin­den, die das romantisieren.

Sensibler Umgang und grafische Gewalt

Außer­dem macht eine rea­lis­ti­sche gra­fi­sche Dar­stel­lung von Gewalt an sich noch kei­nen sen­si­blen Umgang aus:

Wie so oft, kommt es auch bei der Dar­stel­lung von Gewalt weni­ger dar­auf an, was dar­ge­stellt wird, son­dern viel­mehr auf das Wie.

Wenn wir schon Kriegs­fil­me ange­schnit­ten haben, blei­ben wir doch in die­ser Ecke und ver­glei­chen zwei Flie­ger­fil­me miteinander:

  • Der rote Baron ist ein deut­scher Block­bus­ter über Man­fred von Richt­ho­fen, den erfolg­reichs­ten Jagd­flie­ger des Ers­ten Welt­krie­ges. Zwar erkennt Richt­ho­fen, der sei­ne Tätig­keit am Anfang mehr als Sport gese­hen hat, dass der Krieg grau­sam und blu­tig ist. Aber nichts­des­to­trotz lie­fern die Kampf­sze­nen vor allem gute Unter­hal­tung und Spek­ta­kel. Richt­ho­fen selbst wird in die­sem Film zu einem pazi­fis­ti­schen Hel­den romantisiert.
  • Auf der ande­ren Sei­te haben wir In den Kampf zie­hen nur „die Alten“ (В бой идут одни «старики», Only «Old Men» Are Going Into Batt­le), einen ukrai­nisch-sowje­ti­schen Film über sowje­ti­sche Jagd­flie­ger im Zwei­ten Welt­krieg. Bemer­kens­wert ist hier, dass so gut wie kei­ne Kampf­sze­nen vor­kom­men – und wenn, dann sind sie nur kurz und zei­gen nicht mehr als das, was man vom Boden aus vom Kampf mit­be­kommt. Trotz­dem ist die Grau­sam­keit des Krie­ges ein zen­tra­les The­ma. Nur wird es auf sub­ti­le Wei­se präsentiert:

Statt umher­flie­gen­den Kör­per­tei­len beob­ach­ten wir zum Bei­spiel, wie die neu­en Pilo­ten, frisch von der Flug­schu­le, die Mecha­ni­ker ihrer Flug­zeu­ge ken­nen­ler­nen. Einer von ihnen bekommt von sei­nem Mecha­ni­ker recht unge­müt­li­che Bli­cke und fragt:

„Gefal­le ich Ihnen nicht? War­um star­ren Sie mich so an?“

Und der Mecha­ni­ker grunzt: „Du bist mein fünfter.“

Wie Du also siehst, braucht es kei­ner Explo­sio­nen oder Blut­fon­tä­nen, um die außer­or­dent­lich hohe Sterb­lich­keit unter Jagd­pi­lo­ten zu zeigen.

Das ist unter ande­rem einer der Grün­de, war­um ich – wie ich wohl schon zwan­zig­tau­send­mal gesagt habe – den Weg zurück gegen­über Im Wes­ten nichts Neu­es für den bes­se­ren Anti­kriegs­ro­man hal­te. Ist Im Wes­ten nichts Neu­es eine rea­lis­ti­sche Dar­stel­lung des Krie­ges, ist sei­ne Fort­set­zung Der Weg zurück eine viel stil­le­re, rea­lis­ti­sche Dar­stel­lung der Fol­gen des Krie­ges: Den Krieg selbst sehen wir hier nur am Anfang ein biss­chen, dafür aber eine brei­te Palet­te an Fol­ge­schä­den von der Ent­frem­dung von der eige­nen Fami­lie bis hin zum Selbst­mord. Denn Krieg – und Gewalt gene­rell – ist so viel mehr als das, was im jewei­li­gen Moment passiert.

Das Schlim­me an Gewalt ist eben nicht so sehr sie selbst, son­dern eher das, was sie mit uns macht. Und das kann man auch ohne aus­führ­li­chen, gra­fi­schen Gore dar­stel­len.

Das Alter der Zielgruppe

Des­we­gen kann man Gewalt­the­men durch­aus auch in Erzäh­lun­gen, die für ein jün­ge­res Publi­kum gedacht sind, ver­ar­bei­ten. Wenn Du jun­gen Men­schen bei­brin­gen möch­test, dass Gewalt kei­ne Lösung ist, musst Du nicht aus­führ­lich aus­ge­schla­ge­ne Zäh­ne oder gebro­che­ne Arme beschrei­ben: Kon­zen­trie­re Dich auf den Schmerz, die demü­ti­gen­de Erkennt­nis, dass man selbst nicht irgend­wie außer­or­dent­lich ist und genau­so blu­tet wie jeder ande­re, dass man nicht ansatz­wei­se so tap­fer und uner­schro­cken ist, wie man es sich ger­ne ein­ge­bil­det hat, dass man viel­leicht bis zum Rest des Lebens mit einer Behin­de­rung leben muss, dass die ande­ren einen dadurch völ­lig anders wahr­neh­men, dass man bestimm­te Geräu­sche plötz­lich nicht mehr ver­trägt und Panik­at­ta­cken hat, dass man im Prin­zip sein altes Selbst ver­liert und sein neu­es Selbst erst fin­den muss …

Wäge also ab, wie gra­fisch dein Werk sein darf und sein soll. Denn wäh­rend eine gra­fi­sche Dar­stel­lung bei Kin­der­bü­chern kom­plett unan­ge­mes­sen ist und man auf all­ge­mei­ne­re Beschrei­bun­gen zurück­grei­fen soll­te, kann man Teen­agern durch­aus mehr zutrau­en. Ori­en­tie­re Dich am bes­ten an ähn­li­chen Wer­ken für die­sel­be Alters­grup­pe und pass auch auf, dass die dar­ge­stell­te Gewalt den Erleb­nis­ho­ri­zont Dei­ner Ziel­grup­pe nicht sprengt: Denn die Fol­ter­me­tho­den der Spa­ni­schen Inqui­si­ti­on sind etwas für Teen­ager, die das bereits ein­ord­nen kön­nen, wäh­rend die „klas­si­sche“ Erleb­nis­welt eines Fünf­jäh­ri­gen eher klei­ne­re Din­ge wie Schub­sen und das Zie­hen an den Haa­ren umfasst.

Und ja, klar, erle­ben auch klei­ne­re Kin­der schwe­re For­men von Gewalt. Aber das bedeu­tet nicht, dass man kind­li­che Leser mit sexu­el­lem Miss­brauch trau­ma­ti­sie­ren und schlimms­ten­falls sogar retrau­ma­ti­sie­ren soll. Wenn’s unbe­dingt sein soll, dann erzäh­le lie­ber von einer Neben­fi­gur, die so etwas erlebt hat, beschrei­be nur grob, was das war – in der kind­li­chen Wahr­neh­mung – und lass Dei­ne Haupt­fi­gu­ren ent­setzt reagie­ren und der betrof­fe­nen Figur helfen.

Vor allem aber gilt auch hier: Nie­mals ver­harm­lo­sen! Wie gesagt, schrau­be an den For­men der Gewalt und an der gra­fi­schen Dar­stel­lung, aber nie­mals an dem, was Gewalt für Täter und Opfer bedeutet:

Denn selbst in dem schwarz-weiß-male­ri­schen Herrn der Rin­ge gibt es für Fro­do kein Hap­pi­ly Ever After, son­dern er fin­det, wie ein rich­ti­ger Vete­ran, kei­nen Frie­den und muss meta­pho­risch ster­ben, indem er in die Unsterb­li­chen Lan­de segelt.

„Unsensible“ Szenarien sensibel handhaben

Falls Du nun aber zufäl­lig an mei­ne Bei­spie­le für unsen­si­blen Umgang mit Gewalt denkst und Dir Bei­spie­le ein­fal­len, in denen sol­che Sze­na­ri­en durch­aus sen­si­bel gehand­habt wer­den, dann gebe ich Dir voll­kom­men recht: So etwas ist möglich.

Im japa­ni­schen Ani­ma­ti­ons­film A Silent Voice haben wir bei­spiels­wei­se durch­aus den Fall, dass ein Mob­ber und sein Opfer sich inein­an­der ver­lie­ben. Und das wirkt nicht abar­tig, son­dern glaub­wür­dig und orga­nisch. Wie geht das?

  • Nun, allem vor­an ist zu beto­nen, dass die Roman­ze nur neben­säch­lich ist. Der Film han­delt nicht davon, ob Täter und Opfer zusam­men­kom­men oder nicht, son­dern es geht um die Fol­gen von Mob­bing, um Sozio­pho­bie, Selbst­hass und den Ver­such einer Aus­söh­nung. Denn der Täter ist, nach­dem er sein Opfer gemobbt hat, selbst zum Mob­bing­op­fer gewor­den und hat die Per­spek­ti­ve sei­nes Opfers in all ihren Facet­ten ken­nen­ge­lernt. Er ist der Prot­ago­nist der Geschich­te, man ver­ur­teilt ihn und fühlt zugleich mit ihm. Dass die bei­den sich inein­an­der ver­lie­ben, pas­siert nur neben­her und ist für die Gesamt­ge­schich­te nicht essentiell.
  • Außer­dem gibt der Täter sich wirk­lich Mühe, sein ehe­ma­li­ges Opfer ver­ste­hen zu ler­nen und wenigs­tens das Mini­mum an Wie­der­gut­ma­chung zu leis­ten, das in sei­ner Macht steht. Und wäh­rend das Opfer bei ihrem ers­ten Wie­der­se­hen nach all den Jah­ren noch ver­un­si­chert ist, beweist der Täter dem Mäd­chen immer wie­der, dass er mitt­ler­wei­le ein völ­lig ande­rer Mensch ist. Und weil der Täter ja auch selbst gemobbt wur­de, emp­fin­det das Opfer Empa­thie für ihn. Mehr noch, es gibt sich sogar die Schuld, dass der Täter selbst gemobbt wur­de, und sein Arc besteht dar­in, sich selbst lie­ben zu ler­nen – und sich nicht mehr die Schuld zu geben für Din­ge, für die es nichts kann. Zwi­schen Täter und Opfer ent­wi­ckelt sich all­mäh­lich ein inni­ges Ver­trau­ens­ver­hält­nis und sie brau­chen ein­an­der, um zu wachsen.
  • Und nicht zuletzt wer­den sowohl Täter als auch Opfer als Men­schen dar­ge­stellt. Sie haben lie­bens­wür­di­ge Sei­ten und sie haben ihre Feh­ler, kei­ner von ihnen wird idea­li­siert oder ver­teu­felt und bei­de wer­den im Ver­lauf der Hand­lung zu bes­se­ren, stär­ke­ren Menschen.

Also kurz zusammengefasst:

Man kann auch ein theo­re­tisch unsen­si­bles Sze­na­rio sen­si­bel hand­ha­ben, wenn man sich inten­siv mit Gewalt und ihren Fol­gen aus­ein­an­der­setzt, den unsen­si­bel anmu­ten­den Aspekt nicht für bil­li­ge Auf­merk­sam­keits­ha­sche­rei miss­braucht und die Cha­rak­ter-Arcs von Opfer und Täter auf­ein­an­der anpasst.

Gewalt sensibel im Text „verpacken“

Doch so sehr Du Dich auch bemühst, in Dei­nem Werk sen­si­bel mit Gewalt umzu­ge­hen … In mei­ner Zeit als Ope­ra­tor auf Fan​fik​ti​on​.de, als ich unter ande­rem für das Sper­ren von Geschich­ten zustän­dig war, in denen The­men wie Gewalt unsen­si­bel gehand­habt wer­den, mach­te ich eine über­ra­schen­de Entdeckung:

Der Grat zwi­schen unsen­si­bel gehand­habt und hand­werk­lich schlecht geschrie­ben ist äußerst schmal.

Manch­mal trifft man eben auf Din­ge wie Beschrei­bun­gen von Gewalt­fol­gen, deren rea­lis­ti­sches Aus­maß aber gar nicht rüber­kommt. Der sen­si­ble Umgang ist also theo­re­tisch vor­han­den, aber prak­tisch merkt man nicht viel davon. Und das schlimms­te ist: Die­ser Ein­druck ist auch noch sehr sub­jek­tiv. Was den einen kalt lässt, weckt beim ande­ren sehr viel Gefühl.

Und selbst wenn ein Werk hand­werk­lich gut geschrie­ben ist, ist es, wie bereits ange­spro­chen, immer noch der Wahr­neh­mung des Lesers aus­ge­lie­fert:

Den­ken wir bei­spiels­wei­se an Nabo­kovs Loli­ta: Der Roman han­delt vom sexu­el­len Miss­brauch eines jun­gen Mäd­chens namens Dolo­res durch ihren Stief­va­ter. Dabei ist das Buch nicht etwa aus der Sicht des Opfers geschrie­ben, son­dern aus der des Täters. Und wie in einem frü­he­ren Arti­kel bereits ange­spro­chen, war so man­cher Kri­ti­ker des Romans nicht in der Lage, Hin­wei­se auf Dolo­res‘ Innen­le­ben zwi­schen den Zei­len herauszulesen.

Du kannst es also dre­hen und wen­den, wie Du willst, aber:

Nicht jeder wird Dei­ne Ver­su­che, sen­si­bel mit Gewalt umzu­ge­hen und das The­ma gene­rell umfang­reich zu beleuch­ten, als sol­che erkennen.

Was also tun? – Ich wür­de sagen: Dein Bes­tes. Nicht mehr und nicht weniger.

Aber trotz­dem: Du hast Dir vie­le Gedan­ken gemacht, wie Du ans The­ma her­an­gehst, Du hast einen Plot ent­wi­ckelt, in dem die Fol­gen von Gewalt auf­ge­zeigt wer­den, Täter und Opfer sind kom­ple­xe Figu­ren … Wie ver­packst Du das nun?

Hier eini­ge Tipps …

Vermeide Floskeln

Wir alle ken­nen die­se lee­ren, pseu­do­em­pa­thi­schen Phra­sen rund um die „Sinn­lo­sig­keit des Krie­ges“, das „schreck­li­che Töten“, das „grau­sa­me Mor­den“ … Das Pro­blem ist, dass man, wenn man sich sol­cher Kli­schees bedient, sich um eine ernst­haf­te Aus­ein­an­der­set­zung mit dem The­ma her­um­schlän­gelt. Denn was ist denn so „sinn­los“ am Krieg? Ist es sinn­los, sei­ne Hei­mat vor frem­den Inva­so­ren zu ver­tei­di­gen, oder ist es sinn­los, in einer ewi­gen Patt­si­tua­ti­on aus­zu­har­ren, in der die Front­li­nie sich mona­te­lang weder vor noch zurück bewegt, und Du im Prin­zip nur als Fut­ter für die feind­li­che Artil­le­rie fun­gierst und als Indi­vi­du­um mit Fami­lie, Lebens­zie­len und Träu­men kei­ne Bedeu­tung hast? Ist es schreck­lich oder grau­sam zu töten, wenn Du kei­ne ande­re Wahl hast, weil sonst Du getö­tet wirst oder Dei­ne Freun­de ster­ben müs­sen? Und was bedeu­ten die Wör­ter „schreck­lich“ und „grau­sam“ über­haupt? Sind wider­lich ent­stell­te, zer­fetz­te Kör­per­tei­le gemeint oder mehr die psy­chi­schen Aus­wir­kun­gen sol­cher Erleb­nis­se auf alle Beteiligten?

Hoh­le Phra­sen sind eben schreck­lich und grau­sam unspe­zi­fisch – so sehr, dass sie im Grun­de nichts aussagen.

Im schlimms­ten Fall füh­ren sie sogar zur Ent­mensch­li­chung. Mich per­sön­lich stört bei­spiels­wei­se immer die­ses lee­re „War­um?“, das jedes Mal auf Pla­ka­ten und in Reden zum Ein­satz kommt, wenn mal wie­der ein Teen­ager eine Waf­fe schnappt und in sei­ner Schu­le damit rum­bal­lert. Kaum jemand, der die­ses rhe­to­ri­sche „War­um?“ in den Raum wirft, sucht ernst­haft nach Ant­wor­ten. Und ohne Ant­wort lässt das „War­um?“ die Tat als etwas Unbe­greif­li­ches und wohl auch Unmo­ti­vier­tes aus­se­hen, als käme sie aus hei­te­rem Him­mel, ein­fach so, als wäre der Amok­läu­fer eines Tages mor­gens auf­ge­wacht mit dem Gedan­ken: „Hey, heu­te knal­le ich ein paar Leu­te ab! Das wird lustig!“

Ich selbst hat­te als Teen­ager eine Pha­se, in der ich unter Amok-Fan­ta­sien litt. Und lass Dir gesagt sein: Nie­mand hat Amok-Fan­ta­sien oder setzt sie sogar in die Tat um, wenn es ihm gut geht. Denn Amok ist nun mal unter ande­rem auch eine Selbst­in­sze­nie­rung, ein unter­be­wuss­ter Ver­such, auf sich auf­merk­sam zu machen, irgend­wo schon ein unüber­hör­ba­rer Hil­fe­schrei, weil die frü­he­ren – meis­tens stum­men – Hil­fe­schreie offen­bar nicht gehört wur­den. Und wenn wir Teil einer Gesell­schaft sind, die sich glück­li­che Kin­der und indi­vi­du­el­le Ent­fal­tung auf die Fah­nen geschrie­ben hat, dann haben wir kol­lek­tiv ver­sagt. Sicher ist der Amok­läu­fer mit bestimm­ten Anla­gen in die Welt gekom­men, aber wir haben ihn nicht auf­ge­fan­gen, als er Hil­fe brauch­te. Viel­leicht ist das „War­um?“ also des­we­gen so leer, weil wir gar nicht wis­sen wol­len, war­um der Täter durch­ge­dreht ist. Weil wir uns damit begnü­gen, ihn als unbe­greif­li­ches, schreck­li­ches Etwas zu sehen, des­sen Taten man nicht nach­zu­voll­zie­hen braucht. Und das fin­de ich eben entmenschlichend.

Daher mer­ke:

Über Gewalt zu schrei­ben erfor­dert Mut und Prä­zi­si­on. Flos­keln hin­ge­gen len­ken vom Eigent­li­chen, vom wirk­lich Schmerz­haf­ten, ab.

Show, don’t tell

Eine prä­zi­se Dar­stel­lung braucht Details.

Und das ist der Moment, wo Autoren mit per­sön­li­cher Erfah­rung im Vor­teil sind: Wenn man selbst etwas erlebt hat, dann weiß man, wie es sich anfühlt. Man erin­nert sich an Sin­nes­wahr­neh­mun­gen, an bestimm­te Gedan­ken, an instink­ti­ve, unüber­leg­te Hand­lun­gen. An bestimm­te Zustän­de, die ande­re nicht nach­voll­zie­hen können.

Das alles sind natür­lich Din­ge, an die man sich im Fall von Gewalt nicht ger­ne erin­nert, daher Hut ab vor allen Autoren, die sich trotz­dem dar­an wagen. Wenn Du aber das Glück hast, nicht über den Vor­teil per­sön­li­cher Erfah­rung zu ver­fü­gen, dann musst Du viel recher­chie­ren: Lies die Erin­ne­run­gen von Betrof­fe­nen sowie psy­cho­lo­gi­sche Ana­ly­sen zu dem Thema.

Weil das Ziel aber eine emo­tio­na­le Dar­stel­lung ist, soll­test Du Dich bemü­hen, die Gefüh­le von Opfer und/​oder Täter „nach­zu­füh­len“. Was an die­ser Stel­le mei­ner Erfah­rung nach hilft, sind zumin­dest ent­fernt ähn­li­che Erfahrungen:

Ich zum Bei­spiel weiß nicht, wie es ist, nach einem Krieg nach Hau­se zu kom­men und beim fried­li­chen Dösen wie­der das Trom­mel­feu­er zu hören. Aber ich weiß, wie es ist, einen Abend lang Spi­der Soli­tär zu spie­len und beim Ein­schla­fen dann fest­zu­stel­len, dass mein Hirn vor mei­nem geis­ti­gen Auge wei­ter­spielt. Kriegs­bil­der beim Dösen und Schla­fen schei­nen vom Prin­zip her etwas Ähn­li­ches zu sein – nur viel schlim­mer, im Sin­ne von: emo­tio­nal belastend.

Oder ande­re Mög­lich­keit: Ich habe kein Trau­ma durch Gra­na­ten, aber ich hat­te ein paar mücken­ver­seuch­te Näch­te, an die ich mich bis an den heu­ti­gen Tag schau­dernd erin­ne­re. Wenn ich nachts etwas sum­men höre, dann flie­ge ich buch­stäb­lich hoch und im nächs­ten Moment habe ich das Licht an und eine Flie­gen­klat­sche in der Hand. – Ganz instink­tiv, ohne nach­zu­den­ken, unkon­trol­liert. Die Gefüh­le von frü­her, der Schlaf­ent­zug, die Angst, die Wut und die Trä­nen sind mit einem Schlag wie­der da. Und auf die­ser Grund­la­ge kann ich nach­voll­zie­hen, wie jemand, der durch Gra­na­ten trau­ma­ti­siert wur­de, instink­tiv in Deckung springt, wenn er ein Geräusch hört, das ihn dar­an erinnert.

Zu den Details, die man nur aus per­sön­li­cher Erfah­rung oder nur aus Recher­chen kennt, gehö­ren auch alle mög­li­chen Din­ge, auf die man ohne Spe­zi­al­wis­sen oder Erfah­rung meis­tens gar nicht kommt:

Wenn man sich die Lenin­gra­der Blo­cka­de vor­stellt, als die Wehr­macht wäh­rend des Zwei­ten Welt­krie­ges die Stadt ziel­ge­rich­tet aus­ge­hun­gert hat, denkt man an aus­ge­mer­gel­te Men­schen, an denen die Klei­dung lose her­un­ter­hängt, an Lei­chen über Lei­chen und an ein immer­wäh­ren­des Hun­ger­ge­fühl. Was man jedoch in Tage­bü­chern und Memoi­ren liest, ist noch viel, viel schlimmer:

So gestand der 16-järi­ge Schü­ler Jura Rja­bin­kin in sei­nem Tage­buch, wie er sei­ne Mut­ter und sei­ne Schwes­ter sys­te­ma­tisch bestoh­len und belo­gen hat. In einer Zeit, in der man zusam­men­hal­ten soll­te, trieb ihn der Hun­ger so weit, dass ihm jedes Mit­tel recht war, um an Essen zu kom­men. Als er ein­mal ertappt wur­de, wünsch­te ihm sei­ne Mut­ter, dass er an dem gestoh­le­nen Stück Brot erstick­te. Und Jura hass­te sich auch schon selbst für sei­ne Taten und schrieb: „Ich will nur zwei Din­ge: Ich will selbst ster­ben, und mei­ne Mut­ter soll die­ses Tage­buch nach mei­nem Tod lesen. Sie möge mich ver­flu­chen, ein schmut­zi­ges, gefühl­lo­ses und heuch­le­ri­sches Tier, sie möge mich ver­sto­ßen, so tief bin ich gefal­len, so tief …“
Andre­as von West­pha­len: Hit­ler: „In die rus­si­schen Städ­te gehen wir nicht hin­ein, sie müs­sen voll­stän­dig ersterben“, URL: https://​www​.hei​se​.de/​t​p​/​f​e​a​t​u​r​e​s​/​H​i​t​l​e​r​-​I​n​-​d​i​e​-​r​u​s​s​i​s​c​h​e​n​-​S​t​a​e​d​t​e​-​g​e​h​e​n​-​w​i​r​-​n​i​c​h​t​-​h​i​n​e​i​n​-​s​i​e​-​m​u​e​s​s​e​n​-​v​o​l​l​s​t​a​e​n​d​i​g​-​e​r​s​t​e​r​b​e​n​-​4​2​8​8​6​2​2​.​h​t​m​l​?​s​e​i​t​e=2, abge­ru­fen am: 05.11.2020.

Wie Du sicher­lich gemerkt hast, haben sol­che spe­zi­fi­schen Details eine beson­ders hef­ti­ge Wir­kung. Nicht nur, weil sie Mate­ri­al fürs Kopf­ki­no lie­fern, son­dern gera­de weil sie oft so uner­war­tet, so fremd und doch so leben­dig sind. Sie spren­gen unse­re Vor­stel­lungs­kraft und wir­ken gera­de des­we­gen so authen­tisch und verstörend.

Mach es persönlich

Durch das Spie­len von The Elder Scrolls V: Sky­rim habe ich vie­le Din­ge gelernt. Unter ande­rem habe ich beob­ach­tet, dass ich namen­lo­se Ban­di­ten mit ihrer unter­ir­di­schen AI, die, wenn man sie tötet, bald wie­der res­paw­nen und erneut mas­sa­kriert wer­den kön­nen, ger­ne für grau­sa­me Katz-und-Maus-Spiel­chen miss­brau­che. Mei­nes Wis­sens haben die meis­ten Sky­rim-Spie­ler sogar ein Ban­di­ten­la­ger, das sie beson­ders ger­ne über­fal­len, um neue Waf­fen oder Fähig­kei­ten aus­zu­tes­ten, immer und immer wie­der. Dem­ge­gen­über ste­hen benann­te NPCs, sorg­fäl­tig erschaf­fe­ne Figu­ren mit ihren täg­li­chen Rou­ti­nen und ein­zig­ar­ti­gen Dia­lo­gen. Die­se Figu­ren schüt­ze ich um jeden Preis. Selbst die ver­bre­che­ri­schen unter ihnen. Und war­um? – Weil sie in mei­ner Wahr­neh­mung mensch­li­cher sind als die namen- und per­sön­lich­keits­lo­sen Ban­di­ten. Weil sie ein­zig­ar­tig sind und mich etwas mit ihnen ver­bin­det. Weil sie ein Gesicht haben.

Viel zu oft sieht man in Geschich­ten Täter und Opfer ohne Gesicht. Da sind Lei­chen und Schreie namen­lo­ser Men­schen, trau­ri­ge Bli­cke namen­lo­ser Men­schen, Angst und Depres­sio­nen namen­lo­ser Menschen.

Als Leser reagiert man jedoch viel stär­ker auf Figu­ren, die gezielt für die „Schlacht­bank“ vor­be­rei­tet wur­den:

Als der Prot­ago­nist Paul und sei­ne Kame­ra­den in Im Wes­ten nichts Neu­es mal wie­der unter Beschuss gera­ten, küm­mert Paul sich um einen ver­ängs­tig­ten Rekru­ten, der sich wie ein Kind an ihn drückt. Spä­ter küm­mern sich Paul und ein Kame­rad um einen Ver­wun­de­ten, der nicht mehr lan­ge leben und bald hef­ti­ge Schmer­zen haben wird. Sie den­ken nach, ihm mit einem Revol­ver den Tod zu erleich­tern. Und es stellt sich her­aus, dass es der Jun­ge ist, der sich vor­hin an Paul gedrückt hat. Wäre es irgend­ein ande­rer Rekrut gewe­sen, wäre es ein­fach ein Ver­wun­de­ter von vie­len. Aber so haben wir für genau die­sen Rekru­ten bereits Gefüh­le entwickelt.

Auch soll­te man, wenn man es „per­sön­lich“ macht, beden­ken, dass jede Per­son auf ver­schie­de­ne For­men von Gewalt anders reagiert. Es gibt zwar all­ge­mei­ne Ten­den­zen, aber die kon­kre­te Aus­prä­gung ist individuell.

Berück­sich­ti­ge also die Gesamt­per­sön­lich­keit der Figur. Ihre Ver­gan­gen­heit und wie sie auf­ge­wach­sen ist. Ihre Welt­sicht. Wie die­se Welt­sicht, ihr Den­ken und Füh­len, sich durch den Gewalt­akt ver­än­dert. Wie die­se Ver­än­de­rung sich in Hand­lun­gen äußert.

Wich­tig wird so etwas beson­ders bei emo­tio­na­ler Gewalt, also wenn Wir­kung und Fol­gen über­wie­gend inner­lich sind. Wenn jeman­dem ein Bein abge­ris­sen wur­de, dann ist nicht zu über­se­hen, dass ihm jemand Gewalt ange­tan hat. Aber wenn jemand emo­tio­nal ver­letzt wur­de, ist äußer­lich viel­leicht nur eine klei­ne Ver­hal­tens­än­de­rung bemerk­bar, die den meis­ten aber gar nicht auf­fällt. Denn um die­se klei­ne, indi­vi­du­el­le Ver­hal­tens­än­de­rung zu bemer­ken, muss man die Per­son gut genug ken­nen, um zu wis­sen, dass das beob­ach­te­te Ver­hal­ten für die kon­kre­te Per­son eher unty­pisch ist. Für Men­schen, die die­se Per­son nicht gut ken­nen, sieht ihr Ver­hal­ten eben wie eine ganz nor­ma­le Cha­rak­ter­ei­gen­schaft aus und man stem­pelt sie eben ein­fach als ruhig, als laut, als freund­lich, als zickig oder als sonst was ab und lebt sein Leben fröh­lich wei­ter, wäh­rend die abge­stem­pel­te Per­son inner­lich durchdreht.

Noch schwie­ri­ger wird das Gan­ze, wenn weder Opfer noch Täter – oder zumin­dest eine ander­wei­ti­ge Reflek­tor­fi­gur – nicht begrei­fen, dass das, was pas­siert, falsch ist. Wenn das Opfer – beson­ders bei sub­ti­ler emo­tio­na­ler Gewalt – die toxi­sche Bezie­hung als nor­mal wahr­nimmt. Oder wenn die Geschich­te aus der Sicht des Täters geschrie­ben ist und er gar nicht begrei­fen will, was er dem Opfer antut, oder es viel­leicht sogar selbst nicht anders kennt. Oder wenn die Geschich­te aus der Sicht eines Zeu­gen geschrie­ben ist, der gar nicht rea­li­siert, was er da gera­de sieht – vor allem, wenn Opfer und Täter ihm glei­cher­ma­ßen ver­si­chern, dass sie damit glück­lich sind.

Wie wir bereits gese­hen haben, besteht eine Gefahr, dass die Leser den Gewalt­akt nicht als sol­chen begrei­fen oder ihn ver­harm­lo­sen und roman­ti­sie­ren. – Beson­ders eben, wenn die Reak­tio­nen der Figu­ren so unauf­fäl­lig und indi­vi­du­ell sind. Was also tun?

  • Je nach Erzähl­per­spek­ti­ve gäbe es die Mög­lich­keit, die ers­te instink­ti­ve Reak­ti­on zu beschrei­ben. Denn sei­en wir ehr­lich: Wenn wir etwas erle­ben oder beob­ach­ten, das falsch ist, haben wir im ers­ten Moment die­ses komi­sche Gefühl, das wir in dem Moment viel­leicht nicht ein­mal benen­nen kön­nen. Und erst im nächs­ten Augen­blick setzt unser Ver­stand ein und biegt uns die Rea­li­tät zurecht: „Ach, XY hat das doch nur gesagt, weil er/​sie sich so gro­ße Sor­gen um mich macht!“ Oder so etwas in der Art. Doch das komi­sche Gefühl war den­noch da und wenn der Autor es ein­ge­fügt hat, dann sicher­lich mit dem Zweck einer War­nung: „Hey Leser, das war nicht okay so!“
  • Ver­wandt damit ist der Ansatz, auf­fäl­lig dar­zu­stel­len, wie eine Figur sich etwas ein­re­det, und es even­tu­ell sogar mit der Rea­li­tät zu kon­tras­tie­ren. Wenn eine Figur immer mal wie­der Denk­vor­gän­ge hat wie: „Er fragt nie nach mei­ner Mei­nung, kon­trol­liert mein Ess­ver­hal­ten und mit wem ich aus­ge­he und dik­tiert mir mei­ne Ent­schei­dun­gen … Aber er weiß ja, was gut für mich ist!“ Wenn eine Figur also zum Bei­spiel ihre eige­nen Bedürf­nis­se so offen ver­leug­net, denkt sich ein halb­wegs denk­be­gab­ter Leser irgend­wann: „Ver­ar­schen kann ich mich auch selbst!“
  • Außer­dem hat selbst noch so unsicht­ba­re Gewalt oft durch­aus sicht­ba­re Lang­zeit­fol­gen: Von Depres­sio­nen bis hin zu psy­cho­so­ma­ti­schen Erkran­kun­gen ist alles mög­lich. Ein sol­ches Sym­ptom, das schein­bar aus dem Nichts kommt, kann eben­falls als Hin­weis fun­gie­ren, dass etwas schreck­lich schief­ge­lau­fen ist.
  • Auch ande­re Figu­ren kön­nen rote Fah­nen schwin­gen und die Pro­ble­me offen anspre­chen: Dass die Bezie­hung nicht nor­mal ist. Oder dass die betei­lig­ten Figu­ren sich doch offen­sicht­lich etwas ein­re­den. Oder sie kön­nen eben dar­auf hin­wei­sen, dass die Depres­sio­nen und/​oder psy­cho­so­ma­ti­schen Sym­pto­me durch­aus eine Ursa­che haben müssen.
  • Und nicht zuletzt gibt es noch das klas­si­sche lite­ra­ri­sche Mit­tel der Kon­trast­fi­gur: In der Geschich­te geht es um eine toxi­sche Bezie­hung? – Dann füh­re noch ein ande­res Pär­chen ein, des­sen Bezie­hung har­mo­nisch ist. So ein Ver­gleich zeigt, dass es eben auch anders und vor allem bes­ser geht.

Doch was auch immer Du machst:

Es soll­te stets zu den Figu­ren pas­sen. Las­se den Leser höchst per­sön­li­che Geschich­ten erle­ben. Denn wenn die Figur ein Gesicht hat, wenn der Leser sie als Per­son kennt und schätzt, dann reagiert er auch sen­si­bler auf ihren Zustand.

Schlusswort

Ich wet­te, nach all die­sen Aus­füh­run­gen fal­len Dir nur noch sehr weni­ge Wer­ke ein, in denen das The­ma Gewalt wirk­lich maxi­mal sen­si­bel gehand­habt wird. Tat­säch­lich, wür­de ich sagen, ist die Oppo­si­ti­on von „sen­si­bel“ und „unsen­si­bel“ weni­ger ein Ent­we­der-Oder, son­dern eher ein Spek­trum: Sehr vie­le – beson­ders popu­lä­re – Wer­ke ver­harm­lo­sen Gewalt ein Stück weit und recht­fer­ti­gen und glo­ri­fi­zie­ren sie. Doch nur die wenigs­ten rufen tat­säch­lich zu Mord und Tot­schlag auf – und die­je­ni­gen, die das tun, ern­ten in der Regel einen ent­spre­chen­den Gegen­wind. Und ein biss­chen gewalt­tä­ti­ges Spek­ta­kel, um uns vor­über­ge­hend aus dem All­tag zu rei­ßen, scheint schon eine Art Grund­be­dürf­nis zu sein.

Ich gebe auch zu, dass mei­ne Vor­stel­lun­gen von wirk­lich, wirk­lich sen­si­blem Umgang mit Gewalt recht streng sind. In mei­ner Zeit als Ope­ra­tor auf Fan​fik​ti​on​.de hät­te ich zum Bei­spiel ger­ne durch­aus mehr Geschich­ten gesperrt als ich laut Richt­li­ni­en tat­säch­lich durfte.

Ent­schei­de also selbst, was Du aus die­sem Arti­kel mit­neh­men möch­test und was nicht.

Zusam­men­fas­send kann ich nur sagen:

Ein wirk­lich sen­si­bler Umgang mit Gewalt besteht mei­ner Mei­nung nach aus einer rea­lis­ti­schen Dar­stel­lung von Gewalt und ihrer Fol­gen, einer Dar­stel­lung von Opfer und Täter als Men­schen mit einer ein­zig­ar­ti­gen Per­sön­lich­keit, einer ange­mes­se­nen „Ver­pa­ckung“ und vor allem einem sinn­vol­len Ein­satz: also kei­ne Gewalt um der blo­ßen Gewalt wil­len, nicht als bil­li­ge Auf­merk­sam­keits­ha­sche­rei, son­dern mit einem Sinn für die Gesamt­ge­schich­te.

4 Kommentare

  1. Schwie­ri­ges The­ma, aber inter­es­sant. Ich habe die letz­ten Jah­re doch etli­che Erzäh­lun­gen von Gewalt­op­fern gele­sen, ich kann daher den­ke ganz gut ein­schät­zen, wie die­se füh­len. Aller­dings wird das „wie hat man sich dar­aus befreit“ bzw. die Fol­gen, doch wenn über­haupt sehr stief­müt­ter­lich behan­delt. Auch die gan­zen Dokus die ich dar­über geschaut habe, gehen da kaum dar­auf ein. In den gan­zen Büchern wird das lei­der nur in ein paar Sei­ten abge­han­delt. Daher ist es auch sehr schwer dann dar­über „kor­rekt“ zu schrei­ben. Von was einen Täter antreibt ganz zu schweigen.
    Ein sehr wich­ti­gen Punkt, den hast du nur ange­schnit­ten, fin­de ich die gan­zen „Mit­wis­ser“. Gera­de bei Miss­brauch, gibt es immer Leu­te die es ein­fach nicht wis­sen wol­len bzw. sich nicht vor­stel­len dass der „Strah­le­mann“ soet­was tut.
    Ich hof­fe aber auch, dass das The­ma mal ernst­haf­ter in vie­len Büchern ange­gan­gen wird. Da gibts schon manch­mal echt gru­se­li­ge Weltansichten.

    Junichs
    1. Abso­lu­te Zustim­mung, dass die Fol­gen von Gewalt und die Täter­per­spek­ti­ve oft grau­sam ver­nach­läs­sigt wer­den. Und bei den Mit­wis­sern hast Du auch voll­kom­men recht. Dabei sind gera­de sie doch so ein span­nen­des The­ma für Geschich­ten, weil Dilem­ma: „Ist der ‚Strah­le­mann‘ doch nicht so strah­lend? Und was bin ich dann, wenn ich jah­re­lang weg­ge­se­hen habe? Ich will mit der gan­zen Sache doch nichts zu tun haben und nur ruhig in mei­ner klei­nen, begrenz­ten Welt wei­ter­le­ben. Aber das Gewis­sen … Also muss ich mich weh­ren. Das Opfer ist schuld!“ Und so wird so man­cher Mit­wis­ser all­mäh­lich zum Mittäter …

  2. Hal­lo,
    der Arti­kel ist wirk­lich wich­tig und ich hof­fe, dass es in Zukunft viel Schrei­ber­lin­ge gibt, die die­sen Aspek­ten in Zukunft mehr Auf­merk­sam­keit schenken.
    Aller­dings ist mir im letz­ten Punkt der Vor­schlä­ge, wie in Tex­ten die Pro­ble­ma­tik der Gewalt sicht­bar­ge­macht wer­den kann, eine pro­ble­ma­ti­sche Gegen­über­stel­lung ins Auge gefallen:
    Es wird dort vor­ge­schla­gen, einer toxi­schen Bezie­hung eine „har­mo­ni­sche“ Bezie­hung gegen­über zu stel­len. Die­se For­mu­lie­rung sug­ge­riert, dass auch Aus­ein­an­der­set­zun­gen und Strei­tig­kei­ten ein Zei­chen für toxi­sche Bezie­hun­gen wären, denn in die­sem Fal­le ist eine sol­che Bezie­hung ja nicht „har­mo­nisch“. Das ist aber – salopp gesagt – ziem­li­cher Koko­lo­res. Denn auch in gesun­den Bezie­hun­gen (was mei­ner Mei­nung nach der rich­ti­ge Begriff für das Gegen­teil einer toxi­schen Bezie­hung wäre) kann es durch­aus auch Dif­fe­ren­zen und Strei­tig­kei­ten geben. Der Unter­schied ist eben, dass sich Paa­re in einer gesun­den Bezie­hung gegen­sei­tig respek­tie­ren, sich zuhö­ren, die Gren­zen der ande­ren Per­son ken­nen und ach­ten und sie sich als gleich­wer­tig und gleich­wich­tig ver­ste­hen. In toxi­schen Bezie­hun­gen hin­ge­gen ver­sucht meist ein Part­ner den ande­ren zu mani­pu­lie­ren, zu domi­nie­ren oder zu besit­zen, was nur mög­lich ist, weil es kei­nen gegen­sei­ti­gen und gleich­wer­ti­gen Respekt inner­halb der Bezie­hung gibt.
    Der Umgang der Partner:innen mit­ein­an­der macht eine Bezie­hung toxisch oder gesund, nicht die Anzahl der Kon­tro­ver­sen, oder eben „Har­mo­nie“ in der Beziehung.

    Katinka
    1. Moin!
      Vie­len Dank fürs Lob und für die Kri­tik! Was Letz­te­re angeht, glau­be ich jedoch, dass es hier weni­ger um eine „pro­ble­ma­ti­sche Gegen­über­stel­lung“, son­dern eher um die Defi­ni­ti­on von „har­mo­nisch“ geht. Unter einer „har­mo­ni­schen Bezie­hung“ ver­ste­he ich näm­lich kei­nes­wegs eine Bezie­hung ohne Aus­ein­an­der­set­zun­gen und Strei­tig­kei­ten, son­dern eine, in der die betei­lig­ten Per­so­nen wie Puz­zle­tei­le zusam­men­pas­sen. In man­chen Bezie­hun­gen mag das so aus­se­hen, dass die Part­ner sich tat­säch­lich nie strei­ten und alles gelas­sen aus­dis­ku­tie­ren. Auf der ande­ren Sei­te gibt es auch Men­schen mit einem explo­si­ven Tem­pe­ra­ment, und wenn sie sich in einer Bezie­hung regel­mä­ßig anschrei­en und sich dann wie­der ver­tra­gen, sobald die nega­ti­ven Gefüh­le raus sind, und ein sol­ches Auf und Ab alle Par­tei­en glück­lich macht, dann ist das auch eine Form von Har­mo­nie. Wenn Du davon sprichst, dass eine „gesun­de Bezie­hung“ von gegen­sei­ti­gem Respekt, Zuhö­ren und Gleich­be­rech­ti­gung lebt, dann meinst Du genau das­sel­be, was ich unter einer „har­mo­ni­schen Bezie­hung“ verstehe.
      Der Grund, wie­so ich das Wort „har­mo­nisch“ lie­ber mag als „gesund“, ist, dass in „gesund“ eine Wer­tung drin­steckt, die je nach Epo­che und Kul­tur – und auch je nach Indi­vi­du­um – anders aus­fal­len kann. Wenn Du einen Men­schen von vor 200 Jah­ren oder vom ande­ren Ende der Welt fragst, was eine „gesun­de“ Bezie­hung aus­macht, wird er unter ande­rem wohl Din­ge auf­zäh­len, die Dir die Haa­re zu Ber­ge ste­hen las­sen. Ich mei­ne, selbst inner­halb einer ein­zi­gen Gesell­schaft gibt es ver­schie­de­ne Vor­stel­lun­gen davon, was in einer Bezie­hung „gesund“ ist und was nicht. Ver­schie­de­ne Zei­ten, Kul­tu­ren und ein­fach nur Men­schen haben eben ver­schie­de­ne Wer­te. „Har­mo­nisch“ ist dage­gen als Begriff neu­tra­ler und beschreibt ziem­lich genau, was ich mei­ne: zusam­men­pas­send, aus­ge­wo­gen, im Ein­klang mit­ein­an­der. – Denn man kann sich auch im Ein­klang strei­ten. Haupt­sa­che, man tut es mit jeman­dem, der sozu­sa­gen die­sel­be Spra­che spricht oder einen zumin­dest ver­steht und so nimmt, wie man eben ist.
      Ich hof­fe, ich konn­te mei­nen Stand­punkt eini­ger­ma­ßen ver­ständ­lich erklären.

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