In einer Geschichte passieren Dinge. Aber wie gibt man das wieder? Wie baut man Absätze auf? Szenen? Kapitel? Wie schafft man es, dass alles logisch aufeinander aufbaut und der Leser dem Erzählfluss leicht folgen kann? Das schauen wir uns in diesem Artikel an.
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Du schreibst grandiose Dialoge. Deine Beschreibungen sorgen für erstklassiges Kopfkino. Deine Sprache ist leicht und flüssig. – Und dennoch stimmt etwas nicht.
Vielleicht kennst Du es, wenn Du eine Erzählung liest und unerwartet stolperst: „Huch, wo kommt das denn her?“ Oder: „Warum sind wir denn schon beim B? Wo ist das A?“ Oder: „Was hat das denn mit dem Thema zu tun?“
Das Erzählen ist vor allem das Beschreiben einer Zustandsveränderung, also die Wiedergabe von Handlung.
Und während es allerlei Tipps für Dialoge, Beschreibungen, Schreibstil etc. gibt, findet man erstaunlich selten Tipps für das Wiedergeben des Geschehens an sich. Dabei kann man auch hier vieles falsch machen.
Deswegen widmen wir uns heute dem Logikfluss beim Erzählen, schneiden das Erzähltempo an und reden über Übergänge zwischen Szenen und Kapiteln.
Einleitung, Hauptteil, Schluss
Das Wichtigste bei der Wiedergabe von Geschehen ist, dass der Rezipient dieser Wiedergabe überhaupt folgen kann. Und hier gelten einige Prinzipien, die man vor allem von Sachtexten kennt. An allererster Stelle: der klassische Aufbau von Einleitung, Hauptteil und Schluss. Man wählt eine solche Struktur nicht, weil sie einem in der Schule vom Deutschlehrer eingetrichtert wurde, sondern weil sie den Rezipienten bei der Hand nimmt und durch das Thema führt:
- In der Einleitung erfährt der Rezipient, worauf er sich einstellen soll. Im Fall von Sachtexten ist das eine Erläuterung, worum es in dem Text gehen wird, warum das Thema relevant ist und wie es im Text angegangen wird. Im Fall von fiktionalen Texten – einer Erzählung insgesamt, einzelnen Kapiteln, Szenen oder sogar einzelnen Absätzen – erfährt der Rezipient ebenfalls, worum es im Text bzw. im jeweiligen Abschnitt geht. Unter anderem deswegen sollten Autoren den Hauptkonflikt ihrer Erzählung so früh wie möglich ansprechen oder zumindest andeuten.
- Im Hauptteil geht es ans Eingemachte. Bei Sachtexten ist das ein Zusammentragen und Ordnen von Information, eine Erläuterung von Zusammenhängen und ggf. eine Analyse. Bei fiktionalen Texten geht es auf dem Makrolevel des Gesamtwerks um die Entwicklung des Konflikts und auf dem Mikrolevel von Kapiteln, Szenen und Absätzen um die einzelnen Details.
- Im Schlussteil wird das Ganze schließlich „abgerundet“. Alles wird in wenigen Worten noch einmal zusammengefasst und eine Analyse bekommt ihr Fazit. In einem fiktionalen Text wird der Hauptkonflikt aufgelöst und ein neuer Status Quo etabliert. Auch auf dem Mikrolevel wird im Prinzip ein Fazit gezogen und der Rezipient erfährt, was der jeweilige Abschnitt denn jetzt bedeutet. Evtl. wird auch eine Überleitung zum nächsten Abschnitt hergestellt.
Einleitung, Hauptteil und Schluss bei Absätzen
Während ich davon ausgehe, dass Du mit dieser Dreiteilung der Gesamthandlung fiktionaler Texte bereits vertraut bist, braucht die Mikroebene sicherlich noch ein Beispiel. Nehmen wir also an, Du beschreibst in einem Absatz, wie ein typischer Tag im Leben des Protagonisten abläuft:
„Fritzchens Alltag war der Stoff, aus dem Schlaftabletten gemacht werden. Morgens aufstehen, dann Schule, ein Bunker aus den Siebzigern. Stundenlanges Sitzen und Tafelanstarren. – Und Tafelanstarren war wichtig, denn wenn er aus dem Fenster starrte, dann bemerkten die Lehrer recht schnell, dass er gedanklich abschweifte. Doch wenn er seinen Blick stur auf die Tafel heftete, glaubten sie, er würde aufpassen. Das sagten sie ihm am Ende jedes Halbjahres bei der Notenbesprechung. Nicht ahnend, dass er in Wirklichkeit fremde Welten bereiste und Drachen tötete. – Etwas, das er am Nachmittag am Computer fortsetzte. Seine Hausaufgaben machte er erst abends, mit einem Gehirn aus Watte, und es machte ihn so müde, dass er anschließend ohne Probleme ins Reich der Träume, in andere Welten und zu anderen Drachen entfloh.“
Am Anfang des Absatzes machst Du klar, dass es um einen typischen Tag im Leben des Protagonisten geht, hier sogar mit dem Konflikt, dass Fritzchen sich langweilt. Der Großteil des Absatzes dreht sich um die Einzelheiten dieses Tagesablaufs und wie Fritzchen vor der Langeweile flieht. Der Absatz endet mit dem Abend, passend zum Beginn am Morgen, womit der Kreislauf geschlossen wird. Außerdem wird im letzten Teil des letzten Satzes noch einmal die ständige innerliche Flucht aus dem Alltag unterstrichen.
Grundsätzlich können einzelne Teile – gerade Einleitung und Schluss – aus stilistischen Gründen weggelassen werden, aber normalerweise wirkt so etwas schnell abgehackt, unvollständig und führt beim Leser zu einem: „Hä? Wo kommt das denn jetzt her? Was ist der Sinn des Ganzen? Müsste da nicht noch etwas kommen?“
Das Prinzip von Thema und Rhema
Bei dem Beispiel ist Dir sicherlich auch aufgefallen, dass die einzelnen Teilinformationen miteinander verkettet sind: Das eine führt zum anderen. Und um dieses Prinzip zu erklären, brauchen wir die linguistische Thema-Rhema-Gliederung:
Eine Äußerung kann man aufteilen in eine bereits bekannte Information – das Thema – und eine neue Information – das Rhema. Während es Äußerungen ohne Thema geben kann, besonders am Anfang eines Textes, wo noch alle Informationen neu sind, ist eine Äußerung ohne Rhema herzlich sinnfrei bzw. unnötig. Denn wozu etwas sagen, wenn es nichts Neues beiträgt?
Um diesen sperrigen linguistischen Stoff aber nun auch an einem Beispiel zu erläutern:
„Fritzchens Alltag war der Stoff, aus dem Schlaftabletten gemacht werden.“
Das Thema dieses Satzes ist Fritzchen bzw. spezieller: sein Alltag. Weil er der Protagonist der Geschichte ist, stellt er eine bereits bekannte Information dar. Die neue Information, das Rhema, ist die Langeweile.
Nun folgen in einem Text aber viele Sätze aufeinander und es gibt drei Möglichkeiten, wie Thema und Rhema sie verbinden können:
- Das Rhema des ersten Satzes ist das Thema des nächsten.
„Doch wenn er seinen Blick stur auf die Tafel heftete, glaubten sie, er würde aufpassen. Das sagten sie ihm am Ende jedes Halbjahres bei der Notenbesprechung.“
Dass Fritzchen die Tafel anstarrt, wissen wir bereits, also ist es das Thema des ersten Satzes. Dass die Lehrer dadurch glauben, er würde aufpassen, ist eine neue Information und damit das Rhema. Im nächsten Satz ist die Information, dass die Lehrer glauben, er würde aufpassen, bereits bekannt und damit das Thema. Dass sie es ihm am Ende jedes Halbjahres bei der Notenbesprechung sagen, ist die neue Information und damit das neue Rhema.
- Das Thema des ersten Satzes ist auch das Thema des nächsten.
„Und Tafelanstarren war wichtig, denn wenn er aus dem Fenster starrte, dann bemerkten die Lehrer recht schnell, dass er gedanklich abschweifte. Doch wenn er seinen Blick stur auf die Tafel heftete, glaubten sie, er würde aufpassen.“
In beiden Sätzen ist das bereits bekannte Tafelanstarren das Thema. Das Rhema sind die unterschiedlichen Szenarien: Im ersten Satz ist es die Information über die Wichtigkeit des Tafelanstarrens bzw. die negativen Konsequenzen, wenn man es nicht tut, und im zweiten Satz ist es die Information über den positiven Effekt des Tafelanstarrens.
- Das Thema und Rhema der beiden Sätze haben nichts miteinander zu tun. Der Zusammenhang ergibt sich aus unserem Wissen über die Welt.
„Etwas, das er am Nachmittag am Computer fortsetzte. Seine Hausaufgaben machte er erst abends …“
Thema des ersten Satzes ist das „Etwas“, das Bereisen fremder Welten und das Töten von Drachen. Das Rhema des ersten Satzes ist die Information, dass er diese Tätigkeit nachmittags am Computer fortsetzt. Und dann kommt ein thematischer Sprung: Denn im zweiten Satz sind plötzlich Hausaufgaben das Thema und die Information, dass Fritzchen sie abends macht, das Rhema. Der logische Zusammenhang ergibt sich aus unserem Wissen, dass Schüler Hausaufgaben machen müssen und dass der Abend chronologisch auf den Nachmittag folgt.
Es ist wichtig sicherzugehen, dass der Rezipient über dieses Wissen tatsächlich verfügt, das heißt, es sollte entweder Allgemeinwissen sein oder es sollte vorher eine Erklärung gegeben haben. Sonst kommen solche holprigen, sinnfreien, leseflussstörenden Sachen heraus wie:
„Fritzchens Alltag war der Stoff, aus dem Schlaftabletten gemacht werden. Er liebte seine Katze.“
Themen bündeln und ordnen
Nun sind das Thema im Sinne von Thema-Rhema-Gliederung und das Thema im Sinne von Gegenstand bzw. gedanklicher Mittelpunkt zwei verschiedene Dinge.
Und dennoch kann man die Thema-Rhema-Prinzipien auch auf „gedankliche Mittelpunkte“ anwenden:
Geht es in einem Absatz um einen typischen Tagesablauf im Leben von Fritzchen und im nächsten plötzlich um Schokolade, dann fehlt der Zusammenhang. Und wenn es in Deinem Autor-Kopf dennoch einen Zusammenhang gibt, dann musst Du ihn für den Rezipienten herstellen. Beispielsweise so:
„Fritzchens Alltag war der Stoff, aus dem Schlaftabletten gemacht werden. Morgens aufstehen, dann Schule, ein Bunker aus den Siebzigern. Stundenlanges Sitzen und Tafelanstarren. – Und Tafelanstarren war wichtig, denn wenn er aus dem Fenster starrte, dann bemerkten die Lehrer recht schnell, dass er gedanklich abschweifte. Doch wenn er seinen Blick stur auf die Tafel heftete, glaubten sie, er würde aufpassen. Das sagten sie ihm am Ende jedes Halbjahres bei der Notenbesprechung. Nicht ahnend, dass er in Wirklichkeit fremde Welten bereiste und Drachen tötete. – Etwas, das er am Nachmittag am Computer fortsetzte. Seine Hausaufgaben machte er erst abends, mit einem Gehirn aus Watte, und es machte ihn so müde, dass er anschließend ohne Probleme ins Reich der Träume, in andere Welten und zu anderen Drachen entfloh.
Seine einzige Freude in der realen Welt war Schokolade. Er konsumierte sie in Hülle und Fülle, beim Frühstück eine Praline zum Kaffee, der ein oder andere Kinderriegel in der Schule, eine Tafel mit Sauerkirsch-Chili am Nachmittag und ein Kakao vor dem Schlafengehen. Und wenn er einen Tag lang nichts Schokoladiges hatte, dann war es das Einzige, woran er denken konnte.“
Geht es im ersten Absatz also um Fritzchens Alltag und die gedankliche Flucht aus ihm, geht es im nächsten Absatz um einen Aspekt, den Fritzchen an seinem Alltag durchaus genießt, und die Andeutung, dass dieser Aspekt im Grunde eine Sucht ist. In einem dritten Absatz könnte man zum Beispiel dieses Thema der Sucht fortführen oder stattdessen einen Dialog mit seiner Mutter einbauen, die sich Sorgen macht und ihm vorwirft, ein Schokoladenjunkie zu sein.
Wichtig ist dabei auch, die Themen zu bündeln: Wenn Du Fritzchens Tagesablauf beschrieben hast, kannst Du Elemente davon natürlich gerne wiederaufgreifen. Aber es wäre verwirrend, wenn Du zuerst Fritzchens Tagesablauf bis zum Abend beschreiben würdest, dann seine Schokoladensucht und dann seinen typischen Abend. – Und das alles womöglich auch in einem einzigen Riesenabsatz.
Das ist übrigens auch der Grund warum man in Dialogen für gewöhnlich einen neuen Absatz anfängt, wenn der Sprecher wechselt. Warum man die Aktionen und Reaktionen der einzelnen Figuren voneinander trennt. Denn wenn eine Figur spricht oder etwas anderes tut, dann ist sie im Prinzip das Thema. Und wenn man da die Rede und die Handlungen einer anderen Figur beimischt, verliert der Leser schnell den Überblick. – Was aber natürlich nicht bedeutet, dass jede Figur immer einen neuen Absatz braucht: Denn wenn es um etwas geht, das die Figuren als Ganzes machen – beispielsweise eine Festung stürmen -, kannst Du den wesentlichen Akteuren auch jeweils einen Satz in einem gemeinsamen Absatz widmen. Die Unterteilung in Absätze erfolgt dann nicht nach den Figuren, sondern nach den einzelnen Etappen, in denen die Festung eingenommen wird.
Es bleibt aber das Prinzip:
Ein Thema nach dem anderen, aber mit Zusammenhang. – Sei es eine Weiterführung des alten Themas in einer anderen Richtung, das Aufgreifen des Fazits des ersten Absatzes oder das Herstellen eines Zusammenhangs über das Wissen über die Welt.
Und das gilt, wie bereits leicht angedeutet, nicht nur für Absätze, sondern auch für Szenen, Kapitel, den Roman insgesamt und evtl. sogar die ganze Romanserie:
- Es ist merkwürdig, wenn eine Szene zwei unterschiedliche Themen, zwei überhaupt nicht zusammenhängende Konflikte nacheinander abfrühstückt. Dann sind es nämlich faktisch schon zwei Szenen.
- Was Kapitel angeht, so ist es nicht elegant, wenn einfach nach einer bestimmten Anzahl von Seiten ein Schnitt gemacht und ein neues Kapitel begonnen wird. Da fragt man sich, warum es überhaupt eine Unterteilung in Kapitel gibt. Denn das Wort „Kapitel“ bezeichnet eine inhaltliche Einheit, etwas, das zwar im Kontext eines größeren Ganzen steht, aber dennoch einen gewissermaßen in sich abgeschlossenen Sinnesabschnitt bildet.
- Außerdem folgen Szenen und Kapitel nicht einfach zusammenhanglos aufeinander, sondern sie greifen Handlungsstränge wieder auf oder starten neue, die sich mit den bereits vorhandenen Strängen später überschneiden werden. Wenn Du zwei Stränge schreibst, die rein gar nichts miteinander zu tun haben, dann schreibst Du faktisch zwei Romane.
- Und schließlich: Dass ein Roman oder eine andere Art von Erzählung eine in sich abgeschlossene Einheit ist, brauche ich, glaube ich, nicht mehr zu sagen. Und dass die einzelnen Bände einer Serie irgendwie miteinander zusammenhängen sollten, müsste auch klar sein.
Szenen und Kapitel
Wenn wir aber nun vom Herstellen von Zusammenhängen reden, dann sprechen wir vor allem auch von Übergängen bei Szenen und Kapiteln. Bevor wir uns aber diesem speziellen Aspekt widmen können, müssen wir über Szenen und Kapitel etwas allgemeiner reden.
Definition und Struktur
Ein Kapitel ist, wie gesagt, eine inhaltliche Einheit innerhalb eines Werkes. Man könnte auch salopp sagen: ein Abschnitt, den man in einer Sitzung lesen und nach dem man die Lektüre guten Gewissens pausieren kann.
Der Begriff „Szene“ hingegen gehört eigentlich in den Bereich von Film und Theater und hat mit dem Genre der Epik eher wenig zu tun. Doch weil schriftliche Erzählungen sich heutzutage immer mehr am Film orientieren und man auch vom „Kopfkino“ spricht, erscheint die Benutzung des Begriffs „Szene“ durchaus als passend. Wir verstehen darunter eine Handlungseinheit, die beispielsweise durch einen bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit definiert ist:
- Wenn Fritzchen morgens vor der Schule am Frühstückstisch sitzt und mit seiner Mutter über seinen Schokoladenkonsum diskutiert, dann ist das eine Szene.
- Wenn wir Fritzchen auf seinem Weg zur Schule folgen, dann ist auch das eine Szene.
- Und wenn wir dann zu Fritzchens Mutter springen und sehen, wie sie zeitlich parallel zu Fritzchens Schulweg zur Arbeit fährt, dann ist das eine weitere Szene.
Das Verhältnis von Kapiteln und Szenen kann dabei sehr vielfältig sein und hängt im Wesentlichen von den stilistischen Entscheidungen des Autors ab:
- Eine Extremform wäre ein sehr szenischer Stil, in dem die Erzählung von Szene zu Szene hüpft und alles, was dazwischen passiert, meistens unerwähnt lässt.
- Die andere Extremform wäre ein ununterbrochener Erzählstrom, in dem eine Handlungseinheit fließend in die nächste übergeht.
- Und dazwischen ist ein sehr breites Spektrum an Zwischenformen.
Kein Stil ist dabei besser als der andere und es kommt immer darauf an, was Du als Autor erreichen willst.
Zumal der Effekt, den ein bestimmter Stil haben kann, auch von zwanzigtausend anderen Faktoren abhängt, beispielsweise der Erzählperspektive, der Plotstruktur, dem Sprachstil etc. Ganz grob und allgemein lässt sich nur sagen, dass ein szenischer Stil eben „filmischer“ wirkt und ein ununterbrochener Erzählstrom etwas literarischer.
Und für das Verhältnis von Kapiteln und Szenen bedeutet das:
Alles ist möglich und es kommt stets auf den Einzelfall an, welches Verhältnis optimal ist.
- Ein Kapitel kann aus mehreren Szenen bestehen, die aber, weil sie eben zu ein und demselben Kapitel gehören, insgesamt eine inhaltliche Einheit bilden.
- Ein Kapitel kann aber auch nur aus einer einzigen Szene bestehen. Das kann eine Ausnahme sein in einem ansonsten sehr szenisch geschriebenen Roman oder aber auch die Regel in einem Roman, in dem jede Szene genau ein Kapitel darstellt.
- Auch können mehrere Kapitel zusammen im Grunde nur eine seeeeehr lange Szene sein. – Beispielsweise, wenn es sich um ein langes Gespräch handelt und die Unterteilung in Kapitel die einzelnen Stadien der Gesprächsentwicklung markiert.
Eine besonders wichtige Rolle spielt dabei das Erzähltempo. Deswegen ein kleiner Exkurs dazu:
Erzähltempo
Zum Erzähltempo habe ich bereits zwei Artikel veröffentlicht: einen Artikel zur allgemein bekannten Aufteilung des Erzähltempos in Zeitraffung, Zeitdeckung und Zeitdehnung und einen Artikel zu Genettes Sicht auf die Dinge mit der Einteilung in Pause, Szene, Summary und Ellipse.
Für ausführlichere Informationen und Beispiele verweise ich auf diese beiden Artikel. An dieser Stelle aber ganz allgemein und zusammenfassend:
Jede Erzählung wird mal schneller und mal langsamer.
- Wenn es wichtige Ereignisse hervorzuheben gilt, dann beschreibt man sie in der Regel szenisch zeitdeckend, damit der Leser das Gefühl bekommt, Zeuge des Geschehens zu sein. Hier kommen oft – aber nicht immer – der Sekundenstil und Dialoge zum Einsatz. Man beobachtet also das Geschehen in seinen Einzelheiten.
- Wenn es wichtige Details hervorzuheben, eine Atmosphäre aufzubauen oder Hintergrundinformationen zu vermitteln gilt, dann kommt die Zeitdehnung zum Einsatz bzw. die Pause. Während einer Pause steht das Geschehen komplett still, wie das oft – aber nicht immer – bei ausführlichen Beschreibungen oder Erläuterungen der Fall ist.
- Wenn es darum geht, weniger relevante Ereignisse schnell abzuklappern, dann kommt die Zeitraffung Summary ins Spiel. Hier wird eine längere Zeitspanne in einem kurzen Abschnitt zusammengefasst, weil der Leser offenbar nicht im Detail zu wissen braucht, wie sich das Ganze zugetragen hat.
- Die kürzeste Art, eine Zeitspanne zu überbrücken, ist, sie komplett wegzulassen. Das wäre eine Ellipse. Sie kommt zum Einsatz, wenn der Leser nicht einmal ganz allgemein zu wissen braucht, was in dieser Zeit passiert ist, oder es aus irgendwelchen Gründen nicht wissen soll.
Wie man das Ganze nun an Szenen und/oder Kapitel koppelt, hängt wirklich vom Einzelfall ab. Und damit kommen wir zum Thema der Übergänge:
Übergänge bei Szenen bzw. Kapiteln
Die Übergänge zwischen Szenen bzw. Kapiteln sind in der Regel genau diese Beschleunigungen und Verlangsamungen der Erzählung:
- Hast Du beispielweise einen sehr abgehackten, szenischen Stil, dann hast Du im Prinzip einen Wechsel von Szenen und Ellipsen. Vielleicht kommen innerhalb der Szenen auch deskriptive Pausen oder zusammenfassende Passagen vor, doch die Grundstruktur eines solchen Romans bilden vor allem einzelne Szenen, die wie losgelöste Fetzen ein Gesamtbild ergeben. Das ist der szenische Stil in Extremform.
- Die andere Extremform, ein ununterbrochener Erzählstrom, wäre ein Wechsel von Szenen und Summarys. Wenn also die Handlung in ihren Grundzügen umrissen wird, der Erzähler aber hin und wieder „heranzoomt“ und einzelne Szenen in dieser allgemein zusammenfassenden Handlung im Detail beschreibt. Wie ein engagiertes Mitglied der KreativCrew so schön hervorgehoben hat, sehen wir das beispielsweise in den Harry Potter-Büchern. Und natürlich kann es auch hier durch lange Beschreibungen oder Erläuterungen zu Pausen kommen.
- Und wie gesagt, gibt es hier unendlich viele Zwischenformen. Eine solche wäre zum Beispiel, wenn Szenen klar voneinander getrennt werden, beispielsweise durch eine Leerzeile und abgehackte Szenenanfänge und ‑enden, hin und wieder jedoch beschrieben wird, was sich zwischen den einzelnen Szenen ereignet hat.
Fast immer nehmen Szenen rein von der Seitenanzahl her den meisten Raum im Roman ein. Eben weil sie zeitdeckend und damit entsprechend detailliert sind. Was die Pausen, Summarys und Ellipsen angeht, so hängt ihr idealer Anteil, wie gesagt, vom einzelnen Werk und vor allem der jeweiligen Stelle im Werk ab. Frage Dich daher immer, wie wichtig die jeweilige Information ist. Ob es sich lohnt, für sie die gesamte Erzählung zu pausieren, ob sie besser in einer lebhaften Szene untergebracht wäre, ob Du sie nur am Rande in einer Zusammenfassung erwähnst oder sogar komplett weglässt.
Übergänge und Aufbau von Szenen und Kapiteln
Wie Dir aber sicherlich aufgefallen ist, bilden gerade Summarys oft eine Art Einleitung für eine Szene bzw. ein Kapitel: Denn wir erfahren den Kontext, in dem die jeweilige Szene bzw. das jeweilige Kapitel zu verordnen ist. Natürlich kann eine Szene oder ein Kapitel auch abrupt, mitten im Geschehen anfangen, doch auch hier ist es wichtig, möglichst bald klarzustellen, wo wir uns befinden und was überhaupt passiert.
Denn so ganz ohne Einleitung verliert der Leser schnell die Orientierung und kann der Erzählung nicht mehr folgen.
Ganz ohne einleitende Erklärung kommen eigentlich nur Szenen bzw. Kapitel aus, die direkt an den vorherigen Abschnitt anschließen. Doch selbst hier sollte möglichst früh auf direktem oder indirektem Wege klar werden, dass wir keinen Zeit- oder Ortswechsel haben: beispielsweise durch die Anwesenheit derselben Figuren, immer noch denselben Ort oder was auch immer.
Eine Einleitung – sei sie auch noch so indirekt und unauffällig – ist also wichtig für einen gelungenen Szenen- bzw. Kapitelwechsel.
Und ebenso wichtig ist auch der Schluss:
Denn wenn eine Szene bzw. ein Kapitel mitten im Gedanken aufhört, dann wirkt das abgehackt – und zwar im negativen Sinne. Deswegen haben Szenen bzw. Kapitel, wie gesagt, in der Regel eine Art Fazit: Die Situation kommt zu einem Abschluss, eine Etappe ist bewältigt oder es beginnt eine neue Episode, beispielsweise im Fall von einem Cliffhanger, der die Handlung des nächsten Abschnitts andeutet, nämlich die Rettung der Person, die an der Klippe hängt.
Doch keine Regel ohne Ausnahme und manchmal kann ein fehlendes Szenen- bzw. Kapitelende auch beabsichtigt und dramatisch sein. Oder auch einfach nur creepy:
In der Erzählung Das Porträt von Nikolai Gogol kauft ein junger Künstler ein sehr realistisch aussehendes Porträt von einem diabolisch aussehenden alten Mann. Er bringt das Porträt nach Hause und sieht den Alten in der Nacht daraus heraussteigen. Und dann wacht er auf. Und sieht den Alten wieder aus seinem Porträt steigen. Und dann wacht er auf. Und der Alte steigt wieder aus seinem Porträt … Der Künstler sieht denselben Traum immer wieder, aber man erfährt nicht, wann die Einzelträume jeweils beginnen, und auch nicht, wann er überhaupt eingeschlafen ist. Die Wachszene und die Traumszene sind nicht voneinander getrennt, weil die Wachszene kein Ende hat und die Traumszene keinen Anfang. Die beiden gehen fließend ineinander über, die natürliche Grenze des Einschlafens oder wenigstens eine formale Grenze – beispielsweise in Form einer Leerzeile – fehlt völlig. Die Gesetze der erzählerischen Logik werden durchbrochen und dadurch ergibt sich das gruselige Gefühl, dass etwas nicht stimmt, dass es hier nicht mit rechten Dingen zugeht, dass es kein normaler Traum ist.
Für solche Kunstgriffe gibt es keine Regeln. Die Welt des Schreibens ist nun mal ein Reich der unbegrenzten Möglichkeiten. Und das ist auch der Grund, warum es immer auf den Einzelfall, auf die beabsichtigte Wirkung einer konkreten Geschichte mit ihren ganz spezifischen Besonderheiten ankommt.
Zusammenfassung und Beispiel-Analyse
Abschließend können wir nur festhalten, dass es bestimmte Prinzipien gibt, nach denen der Leser Deiner Erzählung folgt:
Um der Handlung folgen zu können, braucht er eine sinnvolle Gliederung und eine ebenso sinnvolle Verknüpfung der einzelnen Glieder.
Und ja, ich gebe zu, das war nur eine sehr grobe Einführung in den logischen Aufbau von Texten bzw. zu ihrer Informationsstruktur. Detaillierter brauchst Du es als Autor aber auch nicht zu wissen. Vor allem musst Du Dir nicht bei jedem Satz, den Du schreibst, den Kopf darüber zerbrechen. Doch wenn Du das Gefühl hast, dass Dein Text irgendwie holprig ist – oder wenn Deine Testleser Dir das sagen -, dann kann sich ein analytischerer Blick auf die Struktur der Informationsvermittlung durchaus lohnen.
Doch um das Ganze trotzdem etwas anschaulicher zu machen, hier eine kleine Beispiel-Analyse:
Beispiel-Analyse
In Remarques Drei Kameraden betreiben der Protagonist Robert Lohkamp und seine beiden Freunde Otto Köster und Gottfried Lenz eine Autowerkstatt. In dem Abschnitt, der der Szene, die wir analysieren werden, vorangeht, wird neben Roberts menschlichen Freunden ein ganz besonderer Kamerad vorgestellt: Kösters selbstgebautes Auto, das außerordentlich schnell ist, äußerlich aber wie eine alte, schäbige Klapperkiste aussieht. Der Abschnitt schließt mit den Worten:
„[…] Wir hätten das alles besser machen können – aber wir hatten einen Grund, es nicht zu tun. Der Wagen hieß Karl. Karl, das Chausseegespenst.“
E. M. Remarque: Drei Kameraden, Kapitel 1.
In der Szene, die wir jetzt analysieren, geht es, wie das Ende des vorangegangenen Abschnitts andeutet, um den Grund, warum die Freunde Karl mit einer so schäbigen Karosserie herumfahren lassen und warum Karl ein „Chausseegespenst“ ist.
Unsere Szene beginnt mit den Worten:
„Karl schnob die Chaussee entlang.
»Otto«, sagte ich, »da kommt ein Opfer.«“
E. M. Remarque: Drei Kameraden, Kapitel 1.
In dieser Einleitung erfahren wir das Setting, nämlich die Chaussee bzw. Landstraße, sowie den Konflikt, der uns in dieser Szene erwartet: Es naht jemand heran, dem die Freunde etwas antun wollen.
Im nächsten Absatz wird dieser Jemand genauer vorgestellt:
„Hinter uns hupte ungeduldig ein schwerer Buick. Er holte rasch auf. Bald lagen die Kühler nebeneinander. Der Mann am Steuer sah lässig herüber. Sein Blick streifte von oben herab den ruppigen Karl. Dann wendete er sich ab und hatte uns schon vergessen.“
E. M. Remarque: Drei Kameraden, Kapitel 1.
Im Grunde sagt der einleitende Satz dieses Absatzes schon alles aus: Der andere Fahrer hält sich in seinem dicken Auto offenbar für etwas Besseres. Der Rest des Absatzes schmückt das Ganze mit Details aus – und bildet dabei eine in sich geschlossene kleine Geschichte, die nicht erzählt, sondern zeigt, was der andere Fahrer von Karl hält.
Der nächste Absatz bringt aber einen Twist rein, kehrt die Situation aus dem letzten Absatz also um:
„Ein paar Sekunden später musste er feststellen, dass Karl sich immer noch auf gleicher Höhe mit ihm befand. Er rückte sich etwas zurecht, blickte uns amüsiert an und gab Gas. Aber Karl wankte nicht. Wie ein Terrier neben einer Dogge hielt er sich weiter klein und flink neben der strahlenden Lokomotive aus Nickel und Lack.“
E. M. Remarque: Drei Kameraden, Kapitel 1.
In diesem Absatz beginnt also der Kampf: Der Absatz handelt davon, dass Karl mit dem Buick mithält. Dennoch gibt es ein kleines Hin und Her: Der andere Fahrer sieht, dass die vermeintliche Klapperkiste sich anscheinend nicht überholen lassen will, und setzt eins drauf. Karl aber ebenso. Der letzte Satz fasst die Szenerie noch einmal zusammen und rundet den Absatz mit einer Prise Humor ab.
Im nächsten Absatz eskaliert die Situation weiter:
„Der Mann fasste das Steuerrad fester. Er war vollkommen ahnungslos und verzog spöttisch die Lippen. Man sah, dass er uns jetzt zeigen wollte, was sein Schlitten leistete. Er trat so kräftig auf den Gashebel, dass der Auspuff zwitscherte wie ein Feld voll Lerchen im Sommer. Doch es nutzte nichts; er kam nicht vorbei. Wie verhext klebte Karl hässlich und unscheinbar an seiner Seite. Der Mann starrte erstaunt zu uns herunter. Er begriff nicht, dass bei einem Tempo von über hundert Kilometern der altmodische Kasten unter ihm nicht abzuschütteln war. Verwundert blickte er auf seinen Tachometer, als könne der nicht stimmen. Dann gab er Vollgas.“
E. M. Remarque: Drei Kameraden, Kapitel 1.
Zusammenfassen lässt sich dieser Absatz mit: Der andere Fahrer macht Ernst. Auch hier wird das Hauptthema des Absatzes schon im ersten Satz klar. Ausgeschmückt wird das mit einer kleinen Story, wie der Mann Gas gibt, das aber nichts bringt. Er reagiert verwundert und macht erst recht Ernst.
Und so wird die Szene fortgesetzt: weitere Etappen des Rennens, in dem die drei Freunde mit dem Buick Katz und Maus spielen. Denn natürlich endet die Szene mit einem Sieg für Karl, der ja den Motor eines Rennwagens hat, und außerdem einer Erklärung, dass Karls Karosserie selbst „die friedlichsten Familienkutschen“ zum Überholen reizt, sowie Lenz‘ Behauptung, Karl wirke erzieherisch.
Damit ist klar, dass diese Szene vor allem exemplarisch für alle Jagdspielchen der drei Freunde steht. Gleichzeitig zeigt sie aber nicht einfach nur die Freizeitgestaltung des Trios, sondern genau dieses spezielle Spielchen mit dem Buick hat eine wichtige Rolle für den Plot: Die nächste Szene setzt nämlich direkt nach dieser exemplarischen Jagd ein, als das Trio vor einem Gasthaus hält und mit dem gegnerischen Fahrer und seiner Beifahrerin ins Gespräch kommt. Die Beifahrerin wird der Love-Interest des Protagonisten.
Somit ist diese Szene nahtlos in den Erzählfluss der Gesamtgeschichte eingebunden, bildet ein logisches Glied zwischen ihren Nachbarszenen, erzählt eine in sich geschlossene kleine Geschichte mit Einleitung, Hauptteil und Schluss und auch die einzelnen Etappen des Katz-und-Maus-Spiels sind logisch gegliedert in in sich abgeschlossene Absätze.