Das typologische Modell der Erzählsituationen von Franz Karl Stanzel

Das typologische Modell der Erzählsituationen von Franz Karl Stanzel

Stan­zels Typen­kreis ist ein klas­si­sches Modell der Erzähl­theo­rie. Der Ich-Erzäh­ler, der aukt­oria­le Erzäh­ler und der per­so­na­le Erzäh­ler gehen flie­ßend inein­an­der über und bil­den unzäh­li­ge mög­li­che Zwi­schen­for­men. In die­sem Arti­kel wird die­ses ein­fa­che und für Leser und Autoren glei­cher­ma­ßen nütz­li­che Modell kurz zusammengefasst.

Die Foli­en für die­ses Video gibt es für Ste­ady-Abon­nen­ten und Kanal­mitglieder auf You­Tube als PDF zum Download.

Das typo­lo­gi­sche Modell der Erzähl­si­tua­tio­nen ist ein Modell aus der Erzähl­theo­rie bzw. Nar­ra­to­lo­gie, d.h. der Wis­sen­schaft von Erzäh­len. Sie ist wich­tig für alle, die sich mit Pro­sa befas­sen (Autoren und Leser), denn sie ermög­licht ein bes­se­res Text­ver­ständ­nis und hilft bei der Umset­zung eige­ner Pro­sa­pro­jek­te. In der Schu­le wird sie lei­der nur unzu­rei­chend gelehrt.

Bevor ich aber zum eigent­li­chen Modell kom­me, hier eine kur­ze Wiederholung:

Grundlagen der Erzählperspektive in der Schule

In der Schu­le haben wir gelernt, dass es meh­re­re Erzäh­ler­ty­pen gibt:

Auktorialer Erzähler:

  • all­wis­send
  • distan­ziert
  • wer­tend
  • wen­det sich direkt an den Leser (nicht immer, aber oft)

Ich-Erzähler:

  • ist Hand­lungs­fi­gur
  • ver­fügt über eine begrenz­te Perspektive
  • der Leser sieht ihn qua­si von innen her­aus und dadurch ent­steht eine emo­tio­na­le Nähe
  • nicht immer zuver­läs­sig: die Per­spek­ti­ve des Ich-Erzäh­lers ist sehr begrenzt und durch Emo­tio­nen getrübt

Personaler Erzähler:

  • inner­halb des Geschehens
  • kann des­we­gen kei­ne wei­ter­füh­ren­den Erläu­te­run­gen geben
  • die Per­spek­ti­ve ist auf den Wis­sens­ho­ri­zont der Reflek­tor­fi­gur beschränkt

Neutraler Erzähler:

  • nicht wahr­nehm­bar
  • nicht wer­tend
  • objek­tiv
  • fun­giert qua­si als Kamera
  • Vor­sicht! Der neu­tra­le Erzäh­ler ist Unsinn:
    Eine „Kame­ra“ ist nie und nim­mer neu­tral oder objek­tiv. Wenn wir zum Bei­spiel durch eine Kame­ra eine Tan­ne sehen, kön­nen wir zwar ziem­lich sicher sagen, dass die­se Tan­ne wahr­schein­lich tat­säch­lich exis­tiert, aber wir wis­sen nicht, was rechts und links von ihr ist. Wenn die Kame­ra außer­dem aus­ge­rech­net auf die­se eine Tan­ne zeigt, dann wird die­ser Tan­ne eine beson­de­re Wich­tig­keit zuge­stan­den. Des­we­gen ist der neu­tra­le Erzäh­ler eigent­lich von vorn­her­ein nicht objek­tiv oder neu­tral und schon gar nicht „nicht wertend“.
    Aus die­sem Grund gilt der neu­tra­le Erzäh­ler gemein­hin als Unsinn. Im aka­de­mi­schen Bereich ist das qua­si ein intel­lek­tu­el­ler Selbst­mord, wenn man die­sen Begriff in den Mund nimmt. (Leich­te Übertreibung 😉 )

Bevor wir nun zum eigent­li­chen Modell kom­men, zunächst ein paar Wor­te zu sei­nem Schöpfer:

Franz Karl Stanzel

Franz Karl Stan­zel (* 1923) ist ein öster­rei­chi­scher Anglist und Lite­ra­tur­wis­sen­schaft­ler. Er ist der Schöp­fer des typo­lo­gi­schen Modells der Erzähl­si­tua­tio­nen bzw. des Typen­krei­ses. – Das Wort „Kreis“ ist hier­bei von beson­de­rer Wich­tig­keit, wie spä­ter noch deut­lich wird.

Seit den 1950er Jah­ren arbei­tet Stan­zel an sei­ner Typo­lo­gie der Erzähl­per­spek­ti­ve. 1979 erschien die ers­te Aus­ga­be von Theo­rie des Erzäh­lens, der Mono­gra­phie, in der Stan­zel sein Modell erläu­tert. In die­ser ers­ten Aus­ga­be war noch der neu­tra­le Erzäh­ler Teil des Modells, aber nach hef­ti­ger Kri­tik muss­te Stan­zel auch selbst ein­se­hen, dass der neu­tra­le Erzäh­ler Unsinn ist. Schon in der zwei­ten Aus­ga­be wur­de der neu­tra­le Erzäh­ler wie­der verworfen.

Selbst­ver­ständ­lich wur­de das Modell im Lau­fe der Zeit immer wie­der über­ar­bei­tet. Aktu­ell ist die ach­te Auf­la­ge von 2009.

Kom­men wir nun zum Typen­kreis selbst:

Stanzels Typenkreis der Erzählsituationen

Der Typen­kreis ist, wie der Name bereits sagt, vor allem ein Kreis: Die Ich-Erzähl­si­tua­ti­on, die aukt­oria­le Erzähl­si­tua­ti­on und die per­so­na­le Erzähl­si­tua­ti­on sind Punk­te auf die­sem Kreis. Sie sind alle mit­ein­an­der ver­bun­den und die Über­gän­ge zwi­schen ihnen sind fließend.

Das typologische Modell der Erzählsituationen von Franz Karl Stanzel

Jede die­ser drei Erzähl­si­tua­tio­nen befin­det sich jeweils an einem Ende einer Ach­se. Die­se drei Ach­sen, die die Namen Modus, Per­son und Per­spek­ti­ve tra­gen, tei­len den Kreis immer jeweils in der Mit­te. Jedes Ende die­ser Ach­sen ist mit jeweils bestimm­ten Eigen­schaf­ten ver­bun­den. Auf der einen Sei­te haben wir also zum Bei­spiel die Ich-Erzähl­si­tua­ti­on und auf der ande­ren Sei­te der Ach­se haben wir das kom­plet­te Gegen­teil davon.

Und die­se drei Ach­sen wer­de ich jetzt näher erläutern:

Die drei Achsen des Typenkreises

Modus:

  • Oppo­si­ti­on von Erzäh­ler und Reflek­tor (die Reflek­tor­fi­gur ist die Figur, durch deren Augen man das Gesche­hen wahrnimmt)
  • Erzäh­ler-Sei­te der Ach­se: der Erzäh­ler steht im Vordergrund
    Extrem­form: Mischung aus dem Ich-Erzäh­ler und dem aukt­oria­len Erzäh­ler (der Erzäh­ler sagt aus­drück­lich „Ich“, ist aber auch ein biss­chen allwissend)
  • Reflek­tor-Sei­te der Ach­se: die Reflek­tor­fi­gur steht im Vordergrund
    Extrem­form: der „klas­si­sche“ per­so­na­le Erzähler

Person:

  • Oppo­si­ti­on von Nicht­iden­ti­tät der Seins­be­rei­che von Erzäh­ler und Figu­ren und Iden­ti­tät der Seins­be­rei­che von Erzäh­ler und Figuren
  • Nicht­iden­ti­tät der Seins­be­rei­che von Erzäh­ler und Figu­ren: der Erzäh­ler befin­det sich nicht in der Welt der Figuren
    Extrem­form: Mischung aus aukt­oria­lem und per­so­na­lem Erzäh­ler (die „Kame­ra“, die frü­her „neu­tra­ler Erzäh­ler“ genannt wur­de: der Erzäh­ler befin­det sich der­ma­ßen außer­halb der Welt der Figu­ren, dass er nicht ein­mal wahr­nehm­bar ist)
  • Iden­ti­tät der Seins­be­rei­che von Erzäh­ler und Figu­ren: der Erzäh­ler ist Teil der erzähl­ten Welt
    Extrem­form: der „klas­si­sche“ Ich-Erzäh­ler (die kom­plet­te Hand­lung dreht sich um ihn, er ist die Hauptfigur)

Perspektive:

  • Oppo­si­ti­on von Innen­per­spek­ti­ve und Außen­per­spek­ti­ve
  • Innen­per­spek­ti­ve: das Innen­le­ben der Figu­ren wird offenbart
    Extrem­form: Mischung aus dem Ich-Erzäh­ler und dem per­so­na­len Erzähler
  • Außen­per­spek­ti­ve: die Figu­ren wer­den von außen betrachtet
    Extrem­form: der „klas­si­sche“ aukt­oria­le Erzäh­ler (der Erzäh­ler ist eine Art Gott, der das Gesche­hen aus Vogel­per­spek­ti­ve betrachtet)

Kom­men wir nun zurück zum Typenkreis:

Die Sektoren im Typenkreis

Die bei­den Enden jeder Ach­se sind qua­si zwei Pole. Wenn es zwei Pole gibt, dann gibt es in der Mit­te immer einen Äqua­tor. Und wenn man jeden Äqua­tor jeder Ach­se ein­zeich­net, dann erge­ben sich auf dem Kreis bestimm­te Sek­to­ren, die mit bestimm­ten Eigen­schaf­ten ver­bun­den sind.

Das typologische Modell der Erzählsituationen von Franz Karl Stanzel

Die­se Eigen­schaf­ten gehen wir jetzt nach­ein­an­der durch. Es bleibt aller­dings bei eini­gen Bei­spie­len. Die Lis­te ist kei­nes­wegs vollständig.

  • Das erle­ben­de Ich:
    Das erle­ben­de Ich ist ein Ich, das, wie der Name schon sagt, das wie­der­gibt, was es gera­de erlebt.
    Bei­spiel: „Ich schaue aus dem Fens­ter und sehe eine Tanne.“
  • Das erzäh­len­de Ich:
    Wenn die­ses erle­ben­de Ich ein stück­weit aukt­oria­ler wird, dann wird es zum erzäh­len­den Ich. Das erzäh­len­de Ich ist ein Ich, das etwas bereits erlebt hat und es nun wiedergibt.
    Bei­spiel: „Ich schau­te aus dem Fens­ter und sah eine Tan­ne. An die­sem Tag wuss­te ich noch nicht, dass etwas Schreck­li­ches pas­sie­ren würde.“
    Das erzäh­len­de Ich weiß deut­lich mehr als das Ich in der Geschich­te, das das Gesche­hen erlebt, und kann wei­te­re Infor­ma­tio­nen geben über die unmit­tel­ba­re Wahr­neh­mung des erle­ben­den Ich hinaus.
  • Ich als Zeuge:
    Wenn das erzäh­len­de Ich noch ein Stück aukt­oria­ler wird, dann haben wir ein Ich, das als Zeu­ge fun­giert. Es ist nicht mehr Prot­ago­nist der Erzäh­lung, son­dern hat das Gesche­hen ein­fach nur beob­ach­tet und gibt es jetzt wieder.
  • Ich als Herausgeber:
    Wie­der­um näher an der aukt­oria­len Erzähl­si­tua­ti­on ist ein Ich als Her­aus­ge­ber. Die­ses Ich muss die erzähl­ten Ereig­nis­se nicht unbe­dingt selbst mit­er­lebt haben. Es hat zum Bei­spiel die Auf­zeich­nun­gen des Prot­ago­nis­ten gefun­den und gibt die­se als Buch her­aus (zumin­dest insze­niert es sich so). Ein Ich als Her­aus­ge­ber ist also ein Ich, das nicht ein­mal wirk­lich an der Hand­lung betei­ligt war. Es weiß ein­fach, was pas­siert ist, und lässt den Leser dar­an teilhaben.
  • Ich außer­halb der Welt der Figuren:
    Tre­ten wir jetzt end­gül­tig in den Bereich der aukt­oria­len Erzähl­si­tua­ti­on ein. Hier haben wir ein Ich, das sich außer­halb der Welt der Figu­ren befin­det. Dadurch zeich­net sich die aukt­oria­le Erzähl­si­tua­ti­on ja beson­ders aus. Es han­delt sich also um ein Ich, das nicht ein­mal der Her­aus­ge­ber ist. Es lebt nicht ein­mal in der Welt der Figu­ren und hat eine ziem­lich gro­ße Distanz zum Geschehen.
  • Erzäh­ler tritt in den Hintergrund:
    Ein aukt­oria­ler Erzäh­ler, der noch wei­ter geht, ist ein aukt­oria­ler Erzäh­ler, der in den Hin­ter­grund tritt. Er ist immer noch all­wis­send, aber er sagt nicht expli­zit „Ich“, er lässt den Leser nicht groß­ar­tig an sei­nen Gedan­ken teil­ha­ben und er bewer­tet die Situa­tio­nen nicht mehr so sehr, wie ein klas­si­scher aukt­oria­ler Erzäh­ler das machen wür­de. Er hält sich eben dezent im Hintergrund.
  • Sze­ni­sche Darstellung:
    Ein noch etwas per­so­na­le­rer Erzäh­ler ist die bereits ange­spro­che­ne „Kame­ra“. Hier kann man als Leser nicht ein­mal wirk­lich einen Erzäh­ler sehen. Statt­des­sen kommt es einem vor, als wür­de man durch eine Kame­ra das Gesche­hen beobachten.
  • Erleb­te Rede:
    Gehen wir nun in den Bereich der per­so­na­len Erzähl­si­tua­ti­on. Kenn­zeich­nend für sie ist natür­lich die erleb­te Rede, also wenn der Erzäh­ler die Gedan­ken- und Gefühls­welt der Reflek­tor­fi­gur wie­der­gibt, ohne dabei die Reflek­tor­fi­gur zu sein. Es kommt gewis­ser­ma­ßen zu einer Ver­schmel­zung von Erzäh­ler und Reflektorfigur.
    Bei­spiel: „Sie gab ein kraft­lo­ses Stöh­nen von sich. Sie hat­te sich schon wie­der ver­spro­chen. War­um muss­te sie auch unbe­dingt Audio­da­tei­en auf­neh­men, wenn sie doch kei­nen ein­zi­gen Satz sagen konn­te ohne zu stottern?“
  • Er/​Sie = Ich:
    Gehen wir nun wie­der in Rich­tung Ich-Erzähl­si­tua­ti­on. Und zwar an den Äqua­tor der Ach­se Per­son: Das ist die Gren­ze zwi­schen einer Erzäh­lung in der drit­ten Per­son und in der ers­ten Per­son. Hier ist der Erzäh­ler der­ma­ßen per­so­nal, dass das Er/​Sie im Prin­zip locker durch ein Ich ersetzt wer­den könnte.
  • Ich des inne­ren Monologs:
    Kom­men wir nun zum Ich des inne­ren Mono­logs. Hier sind wir schon klar im Bereich des Ich-Erzäh­lers. Hier geht es, wie der Name schon sagt, um den inne­ren Mono­log: Eine Figur legt ihr Inners­tes dar.
  • Ich des dra­ma­ti­schen Monologs:
    Noch­mal näher an der klas­si­schen Ich-Erzähl­si­tua­ti­on ist das Ich des dra­ma­ti­schen Mono­logs. Das ist ein Ich, das ein Du vor­aus­setzt. Das Du ist dabei in der Regel auch eine Figur inner­halb der Erzäh­lung. Hier schlüpft der Leser also qua­si in die Rol­le einer Figur und wird direkt angesprochen.
    Bei­spie­le: Brief­ro­ma­ne, E‑Mails, gene­rell Briefe.
    Das Ich des dra­ma­ti­schen Mono­logs ist also ein Ich, das erzählt, was es denkt, was es fühlt, was es den lie­ben lan­gen Tag gemacht hat, und das Gan­ze an ein Du richtet.

„Bewegliche“ Erzählsituationen

Nun ist euch aber sicher­lich schon hin und wie­der auf­ge­fal­len, dass die Erzähl­si­tua­ti­on in vie­len fik­tio­na­len Wer­ken nicht kon­stant bleibt, son­dern sich ger­ne mal ändert. Stan­zel spricht in die­sem Fall von Dyna­mik: dem Wech­sel der Erzähl­si­tua­ti­on wäh­rend der Erzäh­lung. Das Gegen­teil davon sind Scha­blo­nen. Hier folgt die Erzäh­lung fes­ten Mus­tern von Nar­ra­ti­on und Dia­log.

So viel an die­ser Stel­le zum Modell selbst. Die­ser Arti­kel ist nur eine sehr ver­kürz­te Fas­sung. Das Buch, in dem die­ses Modell beschrie­ben wird, hat näm­lich über 300 Sei­ten. Wer das Modell also im Detail ken­nen­ler­nen möch­te, dem emp­feh­le ich Stan­zels Theo­rie des Erzäh­lens.

Vor- und Nachteile des Typenkreises

Was ich am Ende noch ger­ne bespre­chen wür­de, wären die Vor- und Nach­tei­le die­ses Modells. Das Pro­blem dabei ist: Das Modell ist schon so alt und es hat schon so viel Auf­merk­sam­keit bekom­men, dass es so viel Kri­tik gibt wie Lite­ra­tur­wis­sen­schaft­ler. Und das alles auf­zu­zäh­len wür­de den Rah­men die­ses Arti­kels spren­gen. Des­we­gen wer­de ich hier nur auf mei­ne eige­ne Sicht­wei­se ein­ge­hen und nur die Vor- und Nach­teil auf­zäh­len, die ich per­sön­lich bei die­sem Modell sehe. Ab hier wird es also sub­jek­tiv. Du bist gewarnt. 😉

Vorteile

Ers­ter Vor­teil: Man kann im Prin­zip fast jeden Erzäh­ler an irgend­ei­nem Punkt im Kreis posi­tio­nie­ren. Die Über­gän­ge zwi­schen den typi­schen Erzähl­si­tua­tio­nen sind flie­ßend und im Prin­zip gibt es für jede Misch­form irgend­wo ein Plätzchen.

Zwei­ter Vor­teil: Das Modell ist vor allem fle­xi­bel und lässt sich durch wei­te­re Typen ergän­zen. Wäh­rend bis zum 20. Jahr­hun­dert meis­tens nur die Ich-Erzähl­si­tua­ti­on und die aukt­oria­le Erzähl­si­tua­ti­on ver­wen­det wur­den, kam im 21. Jahr­hun­dert der per­so­na­le Erzäh­ler dazu. Und wenn sich in Zukunft irgend­wann noch ein wei­te­rer Erzäh­ler­typ ein­bür­gern soll­te, könn­te man im Typen­kreis einen Platz für ihn fin­den und den Typen­kreis somit ergänzen.

Drit­ter Vor­teil: Man kann auf die­sem Typen­kreis meh­re­re Erzäh­ler mar­kie­ren. Man kann meh­re­re Erzäh­lun­gen ana­ly­sie­ren, die Erzäh­ler dar­aus auf dem Kreis ein­tra­gen und so alle Erzäh­ler mit­ein­an­der ver­glei­chen. Dadurch, dass das Modell ein Kreis ist, macht es den Ver­gleich sehr anschau­lich, denn es ermög­licht, die Unter­schie­de und Gemein­sam­kei­ten unter­schied­li­cher Erzäh­ler durch Mar­kie­ren bestimm­ter Punk­te im Kreis zu visualisieren.

Nachteile

Ers­ter Nach­teil: In Stan­zels Modell kommt das lei­der nicht so gut rüber, dass jeder Erzäh­ler eigent­lich ein Ich ist und dadurch poten­ti­ell unzuverlässig.

Zwei­ter Nach­teil: der aukt­oria­le Erzäh­ler. Ers­tens: Wenn man die­sen Erzäh­ler „aukt­ori­al“ nennt, dann sug­ge­riert man eine bestimm­te Ver­bin­dung zwi­schen Erzäh­ler und Autor. Das ist aller­dings zu viel Interpretation.
Zwei­tens: Der aukt­oria­le Erzäh­ler gilt qua­si als all­wis­send, daher kann man sich fra­gen: Ist All­wis­sen über­haupt mög­lich bzw. kön­nen wir über­haupt über­prü­fen, ob ein Erzäh­ler wirk­lich all­wis­send ist? Wir kön­nen schließ­lich nur wahr­neh­men, was der Erzäh­ler uns Lesern mit­teilt. Nicht mehr, nicht weni­ger. Man kann All­wis­sen nicht in Wor­ten dar­le­gen. Dementpre­chend kön­nen wir gar nicht wis­sen, ob der aukt­oria­le bzw. all­wis­sen­de Erzäh­ler wirk­lich all­wis­send ist.

Drit­ter Nach­teil: Der Typen­kreis ist sehr stark dar­auf aus­ge­rich­tet, einen Erzäh­ler zuord­nen zu kön­nen. Zu einem Typus. Aller­dings ist es schwie­rig, einen Erzäh­ler mit die­sem Modell zu beschrei­ben. Denn was müss­te man machen, um den Erzäh­ler zu beschrei­ben? Sagt man da: „Die­ser Erzäh­ler liegt im 16°-Winkel vom Ich-Erzäh­ler in Rich­tung all­wis­sen­der Erzäh­ler?“ Es scheint recht kom­pli­ziert. Dem Modell fehlt es mei­ner Mei­nung nach an Voka­bu­lar, um einen Erzäh­ler zu beschreiben.

Stanzels Typenkreis heute

Stan­zels Typen­kreis wur­de schon seit sei­ner Erschaf­fung rauf und run­ter kri­ti­siert, aber trotz der vie­len Kri­tik ist das Modell vor allem bei Anfän­gern ziem­lich beliebt. Ein­fach, weil es so leicht zu ver­ste­hen ist. Und weil es eben so ein­fach ist, wird es in Schu­len in stark ver­ein­fach­ter und – mei­ner Mei­nung nach – auch sehr per­ver­tier­ter Form gelehrt.

Im aka­de­mi­schen Bereich aller­dings gibt es seit den 1990er Jah­ren die Ten­denz, dass man doch eher das Modell von Gérard Genet­te bevor­zugt. Ich per­sön­lich arbei­te mit dem Modell von Genet­te auch lie­ber als mit dem von Stan­zel, obwohl der Typen­kreis auch sei­ne Vor­tei­le hat, die ich sehr schätze.

8 Kommentare

  1. Jetzt, eine Woche vor mei­nem Staats­examen der eng­li­schen Lite­ra­tur­wis­sen­schaft, hat mir die­ser Arti­kel extrem gehol­fen, die­se gan­ze The­ma­tik zu begrei­fen. Vie­len Dank!

    Anonymous

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