Das typologische Modell der Erzählsituationen von Franz Karl Stanzel

Das typologische Modell der Erzählsituationen von Franz Karl Stanzel

Stanzels Typenkreis ist ein klas­sis­ches Mod­ell der Erzählthe­o­rie. Der Ich-Erzäh­ler, der auk­to­ri­ale Erzäh­ler und der per­son­ale Erzäh­ler gehen fließend ineinan­der über und bilden unzäh­lige mögliche Zwis­chen­for­men. In diesem Artikel wird dieses ein­fache und für Leser und Autoren gle­icher­maßen nüt­zliche Mod­ell kurz zusam­menge­fasst.

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Das typol­o­gis­che Mod­ell der Erzählsi­t­u­a­tio­nen ist ein Mod­ell aus der Erzählthe­o­rie bzw. Nar­ra­tolo­gie, d.h. der Wis­senschaft von Erzählen. Sie ist wichtig für alle, die sich mit Prosa befassen (Autoren und Leser), denn sie ermöglicht ein besseres Textver­ständ­nis und hil­ft bei der Umset­zung eigen­er Pros­apro­jek­te. In der Schule wird sie lei­der nur unzure­ichend gelehrt.

Bevor ich aber zum eigentlichen Mod­ell komme, hier eine kurze Wieder­hol­ung:

Grundlagen der Erzählperspektive in der Schule

In der Schule haben wir gel­ernt, dass es mehrere Erzäh­ler­typen gibt:

Auktorialer Erzähler:

  • all­wis­send
  • dis­tanziert
  • wer­tend
  • wen­det sich direkt an den Leser (nicht immer, aber oft)

Ich-Erzähler:

  • ist Hand­lungs­fig­ur
  • ver­fügt über eine begren­zte Per­spek­tive
  • der Leser sieht ihn qua­si von innen her­aus und dadurch entste­ht eine emo­tionale Nähe
  • nicht immer zuver­läs­sig: die Per­spek­tive des Ich-Erzäh­lers ist sehr begren­zt und durch Emo­tio­nen getrübt

Personaler Erzähler:

  • inner­halb des Geschehens
  • kann deswe­gen keine weit­er­führen­den Erläuterun­gen geben
  • die Per­spek­tive ist auf den Wis­senshor­i­zont der Reflek­tor­fig­ur beschränkt

Neutraler Erzähler:

  • nicht wahrnehm­bar
  • nicht wer­tend
  • objek­tiv
  • fungiert qua­si als Kam­era
  • Vor­sicht! Der neu­trale Erzäh­ler ist Unsinn:
    Eine “Kam­era” ist nie und nim­mer neu­tral oder objek­tiv. Wenn wir zum Beispiel durch eine Kam­era eine Tanne sehen, kön­nen wir zwar ziem­lich sich­er sagen, dass diese Tanne wahrschein­lich tat­säch­lich existiert, aber wir wis­sen nicht, was rechts und links von ihr ist. Wenn die Kam­era außer­dem aus­gerech­net auf diese eine Tanne zeigt, dann wird dieser Tanne eine beson­dere Wichtigkeit zuge­s­tanden. Deswe­gen ist der neu­trale Erzäh­ler eigentlich von vorn­here­in nicht objek­tiv oder neu­tral und schon gar nicht “nicht wer­tend”.
    Aus diesem Grund gilt der neu­trale Erzäh­ler gemein­hin als Unsinn. Im akademis­chen Bere­ich ist das qua­si ein intellek­tueller Selb­st­mord, wenn man diesen Begriff in den Mund nimmt. (Leichte Übertrei­bung 😉 )

Bevor wir nun zum eigentlichen Mod­ell kom­men, zunächst ein paar Worte zu seinem Schöpfer:

Franz Karl Stanzel

Franz Karl Stanzel (* 1923) ist ein öster­re­ichis­ch­er Anglist und Lit­er­atur­wis­senschaftler. Er ist der Schöpfer des typol­o­gis­chen Mod­ells der Erzählsi­t­u­a­tio­nen bzw. des Typenkreis­es. — Das Wort “Kreis” ist hier­bei von beson­der­er Wichtigkeit, wie später noch deut­lich wird.

Seit den 1950er Jahren arbeit­et Stanzel an sein­er Typolo­gie der Erzählper­spek­tive. 1979 erschien die erste Aus­gabe von The­o­rie des Erzäh­lens, der Mono­gra­phie, in der Stanzel sein Mod­ell erläutert. In dieser ersten Aus­gabe war noch der neu­trale Erzäh­ler Teil des Mod­ells, aber nach heftiger Kri­tik musste Stanzel auch selb­st ein­se­hen, dass der neu­trale Erzäh­ler Unsinn ist. Schon in der zweit­en Aus­gabe wurde der neu­trale Erzäh­ler wieder ver­wor­fen.

Selb­stver­ständlich wurde das Mod­ell im Laufe der Zeit immer wieder über­ar­beit­et. Aktuell ist die achte Auflage von 2009.

Kom­men wir nun zum Typenkreis selb­st:

Stanzels Typenkreis der Erzählsituationen

Der Typenkreis ist, wie der Name bere­its sagt, vor allem ein Kreis: Die Ich-Erzählsi­t­u­a­tion, die auk­to­ri­ale Erzählsi­t­u­a­tion und die per­son­ale Erzählsi­t­u­a­tion sind Punk­te auf diesem Kreis. Sie sind alle miteinan­der ver­bun­den und die Übergänge zwis­chen ihnen sind fließend.

Das typologische Modell der Erzählsituationen von Franz Karl Stanzel

Jede dieser drei Erzählsi­t­u­a­tio­nen befind­et sich jew­eils an einem Ende ein­er Achse. Diese drei Achsen, die die Namen Modus, Per­son und Per­spek­tive tra­gen, teilen den Kreis immer jew­eils in der Mitte. Jedes Ende dieser Achsen ist mit jew­eils bes­timmten Eigen­schaften ver­bun­den. Auf der einen Seite haben wir also zum Beispiel die Ich-Erzählsi­t­u­a­tion und auf der anderen Seite der Achse haben wir das kom­plette Gegen­teil davon.

Und diese drei Achsen werde ich jet­zt näher erläutern:

Die drei Achsen des Typenkreises

Modus:

  • Oppo­si­tion von Erzäh­ler und Reflek­tor (die Reflek­tor­fig­ur ist die Fig­ur, durch deren Augen man das Geschehen wahrn­immt)
  • Erzäh­ler-Seite der Achse: der Erzäh­ler ste­ht im Vorder­grund
    Extrem­form: Mis­chung aus dem Ich-Erzäh­ler und dem auk­to­ri­alen Erzäh­ler (der Erzäh­ler sagt aus­drück­lich “Ich”, ist aber auch ein biss­chen all­wis­send)
  • Reflek­tor-Seite der Achse: die Reflek­tor­fig­ur ste­ht im Vorder­grund
    Extrem­form: der “klas­sis­che” per­son­ale Erzäh­ler

Person:

  • Oppo­si­tion von Nichti­den­tität der Seins­bere­iche von Erzäh­ler und Fig­uren und Iden­tität der Seins­bere­iche von Erzäh­ler und Fig­uren
  • Nichti­den­tität der Seins­bere­iche von Erzäh­ler und Fig­uren: der Erzäh­ler befind­et sich nicht in der Welt der Fig­uren
    Extrem­form: Mis­chung aus auk­to­ri­alem und per­son­alem Erzäh­ler (die “Kam­era”, die früher “neu­traler Erzäh­ler” genan­nt wurde: der Erzäh­ler befind­et sich der­maßen außer­halb der Welt der Fig­uren, dass er nicht ein­mal wahrnehm­bar ist)
  • Iden­tität der Seins­bere­iche von Erzäh­ler und Fig­uren: der Erzäh­ler ist Teil der erzählten Welt
    Extrem­form: der “klas­sis­che” Ich-Erzäh­ler (die kom­plette Hand­lung dreht sich um ihn, er ist die Haupt­fig­ur)

Perspektive:

  • Oppo­si­tion von Innen­per­spek­tive und Außen­per­spek­tive
  • Innen­per­spek­tive: das Innen­leben der Fig­uren wird offen­bart
    Extrem­form: Mis­chung aus dem Ich-Erzäh­ler und dem per­son­alen Erzäh­ler
  • Außen­per­spek­tive: die Fig­uren wer­den von außen betra­chtet
    Extrem­form: der “klas­sis­che” auk­to­ri­ale Erzäh­ler (der Erzäh­ler ist eine Art Gott, der das Geschehen aus Vogelper­spek­tive betra­chtet)

Kom­men wir nun zurück zum Typenkreis:

Die Sektoren im Typenkreis

Die bei­den Enden jed­er Achse sind qua­si zwei Pole. Wenn es zwei Pole gibt, dann gibt es in der Mitte immer einen Äqua­tor. Und wenn man jeden Äqua­tor jed­er Achse einze­ich­net, dann ergeben sich auf dem Kreis bes­timmte Sek­toren, die mit bes­timmten Eigen­schaften ver­bun­den sind.

Das typologische Modell der Erzählsituationen von Franz Karl Stanzel

Diese Eigen­schaften gehen wir jet­zt nacheinan­der durch. Es bleibt allerd­ings bei eini­gen Beispie­len. Die Liste ist keineswegs voll­ständig.

  • Das erlebende Ich:
    Das erlebende Ich ist ein Ich, das, wie der Name schon sagt, das wiedergibt, was es ger­ade erlebt.
    Beispiel: “Ich schaue aus dem Fen­ster und sehe eine Tanne.”
  • Das erzäh­lende Ich:
    Wenn dieses erlebende Ich ein stück­weit auk­to­ri­aler wird, dann wird es zum erzäh­len­den Ich. Das erzäh­lende Ich ist ein Ich, das etwas bere­its erlebt hat und es nun wiedergibt.
    Beispiel: “Ich schaute aus dem Fen­ster und sah eine Tanne. An diesem Tag wusste ich noch nicht, dass etwas Schreck­lich­es passieren würde.”
    Das erzäh­lende Ich weiß deut­lich mehr als das Ich in der Geschichte, das das Geschehen erlebt, und kann weit­ere Infor­ma­tio­nen geben über die unmit­tel­bare Wahrnehmung des erleben­den Ich hin­aus.
  • Ich als Zeuge:
    Wenn das erzäh­lende Ich noch ein Stück auk­to­ri­aler wird, dann haben wir ein Ich, das als Zeuge fungiert. Es ist nicht mehr Pro­tag­o­nist der Erzäh­lung, son­dern hat das Geschehen ein­fach nur beobachtet und gibt es jet­zt wieder.
  • Ich als Her­aus­ge­ber:
    Wiederum näher an der auk­to­ri­alen Erzählsi­t­u­a­tion ist ein Ich als Her­aus­ge­ber. Dieses Ich muss die erzählten Ereignisse nicht unbe­d­ingt selb­st miter­lebt haben. Es hat zum Beispiel die Aufze­ich­nun­gen des Pro­tag­o­nis­ten gefun­den und gibt diese als Buch her­aus (zumin­d­est insze­niert es sich so). Ein Ich als Her­aus­ge­ber ist also ein Ich, das nicht ein­mal wirk­lich an der Hand­lung beteiligt war. Es weiß ein­fach, was passiert ist, und lässt den Leser daran teil­haben.
  • Ich außer­halb der Welt der Fig­uren:
    Treten wir jet­zt endgültig in den Bere­ich der auk­to­ri­alen Erzählsi­t­u­a­tion ein. Hier haben wir ein Ich, das sich außer­halb der Welt der Fig­uren befind­et. Dadurch zeich­net sich die auk­to­ri­ale Erzählsi­t­u­a­tion ja beson­ders aus. Es han­delt sich also um ein Ich, das nicht ein­mal der Her­aus­ge­ber ist. Es lebt nicht ein­mal in der Welt der Fig­uren und hat eine ziem­lich große Dis­tanz zum Geschehen.
  • Erzäh­ler tritt in den Hin­ter­grund:
    Ein auk­to­ri­aler Erzäh­ler, der noch weit­er geht, ist ein auk­to­ri­aler Erzäh­ler, der in den Hin­ter­grund tritt. Er ist immer noch all­wis­send, aber er sagt nicht expliz­it “Ich”, er lässt den Leser nicht großar­tig an seinen Gedanken teil­haben und er bew­ertet die Sit­u­a­tio­nen nicht mehr so sehr, wie ein klas­sis­ch­er auk­to­ri­aler Erzäh­ler das machen würde. Er hält sich eben dezent im Hin­ter­grund.
  • Szenis­che Darstel­lung:
    Ein noch etwas per­son­alerer Erzäh­ler ist die bere­its ange­sproch­ene “Kam­era”. Hier kann man als Leser nicht ein­mal wirk­lich einen Erzäh­ler sehen. Stattdessen kommt es einem vor, als würde man durch eine Kam­era das Geschehen beobacht­en.
  • Erlebte Rede:
    Gehen wir nun in den Bere­ich der per­son­alen Erzählsi­t­u­a­tion. Kennze­ich­nend für sie ist natür­lich die erlebte Rede, also wenn der Erzäh­ler die Gedanken- und Gefühlswelt der Reflek­tor­fig­ur wiedergibt, ohne dabei die Reflek­tor­fig­ur zu sein. Es kommt gewis­ser­maßen zu ein­er Ver­schmelzung von Erzäh­ler und Reflek­tor­fig­ur.
    Beispiel: “Sie gab ein kraft­los­es Stöh­nen von sich. Sie hat­te sich schon wieder ver­sprochen. Warum musste sie auch unbe­d­ingt Audio­dateien aufnehmen, wenn sie doch keinen einzi­gen Satz sagen kon­nte ohne zu stot­tern?”
  • Er/Sie = Ich:
    Gehen wir nun wieder in Rich­tung Ich-Erzählsi­t­u­a­tion. Und zwar an den Äqua­tor der Achse Per­son: Das ist die Gren­ze zwis­chen ein­er Erzäh­lung in der drit­ten Per­son und in der ersten Per­son. Hier ist der Erzäh­ler der­maßen per­son­al, dass das Er/Sie im Prinzip lock­er durch ein Ich erset­zt wer­den kön­nte.
  • Ich des inneren Monologs:
    Kom­men wir nun zum Ich des inneren Monologs. Hier sind wir schon klar im Bere­ich des Ich-Erzäh­lers. Hier geht es, wie der Name schon sagt, um den inneren Monolog: Eine Fig­ur legt ihr Inner­stes dar.
  • Ich des drama­tis­chen Monologs:
    Nochmal näher an der klas­sis­chen Ich-Erzählsi­t­u­a­tion ist das Ich des drama­tis­chen Monologs. Das ist ein Ich, das ein Du voraus­set­zt. Das Du ist dabei in der Regel auch eine Fig­ur inner­halb der Erzäh­lung. Hier schlüpft der Leser also qua­si in die Rolle ein­er Fig­ur und wird direkt ange­sprochen.
    Beispiele: Briefro­mane, E‑Mails, generell Briefe.
    Das Ich des drama­tis­chen Monologs ist also ein Ich, das erzählt, was es denkt, was es fühlt, was es den lieben lan­gen Tag gemacht hat, und das Ganze an ein Du richtet.

“Bewegliche” Erzählsituationen

Nun ist euch aber sicher­lich schon hin und wieder aufge­fall­en, dass die Erzählsi­t­u­a­tion in vie­len fik­tionalen Werken nicht kon­stant bleibt, son­dern sich gerne mal ändert. Stanzel spricht in diesem Fall von Dynamik: dem Wech­sel der Erzählsi­t­u­a­tion während der Erzäh­lung. Das Gegen­teil davon sind Sch­ablo­nen. Hier fol­gt die Erzäh­lung fes­ten Mustern von Nar­ra­tion und Dia­log.

So viel an dieser Stelle zum Mod­ell selb­st. Dieser Artikel ist nur eine sehr verkürzte Fas­sung. Das Buch, in dem dieses Mod­ell beschrieben wird, hat näm­lich über 300 Seit­en. Wer das Mod­ell also im Detail ken­nen­ler­nen möchte, dem empfehle ich Stanzels The­o­rie des Erzäh­lens.

Vor- und Nachteile des Typenkreises

Was ich am Ende noch gerne besprechen würde, wären die Vor- und Nachteile dieses Mod­ells. Das Prob­lem dabei ist: Das Mod­ell ist schon so alt und es hat schon so viel Aufmerk­samkeit bekom­men, dass es so viel Kri­tik gibt wie Lit­er­atur­wis­senschaftler. Und das alles aufzuzählen würde den Rah­men dieses Artikels spren­gen. Deswe­gen werde ich hier nur auf meine eigene Sichtweise einge­hen und nur die Vor- und Nachteil aufzählen, die ich per­sön­lich bei diesem Mod­ell sehe. Ab hier wird es also sub­jek­tiv. Du bist gewarnt. 😉

Vorteile

Erster Vorteil: Man kann im Prinzip fast jeden Erzäh­ler an irgen­deinem Punkt im Kreis posi­tion­ieren. Die Übergänge zwis­chen den typ­is­chen Erzählsi­t­u­a­tio­nen sind fließend und im Prinzip gibt es für jede Mis­chform irgend­wo ein Plätzchen.

Zweit­er Vorteil: Das Mod­ell ist vor allem flex­i­bel und lässt sich durch weit­ere Typen ergänzen. Während bis zum 20. Jahrhun­dert meis­tens nur die Ich-Erzählsi­t­u­a­tion und die auk­to­ri­ale Erzählsi­t­u­a­tion ver­wen­det wur­den, kam im 21. Jahrhun­dert der per­son­ale Erzäh­ler dazu. Und wenn sich in Zukun­ft irgend­wann noch ein weit­er­er Erzäh­ler­typ ein­bürg­ern sollte, kön­nte man im Typenkreis einen Platz für ihn find­en und den Typenkreis somit ergänzen.

Drit­ter Vorteil: Man kann auf diesem Typenkreis mehrere Erzäh­ler markieren. Man kann mehrere Erzäh­lun­gen analysieren, die Erzäh­ler daraus auf dem Kreis ein­tra­gen und so alle Erzäh­ler miteinan­der ver­gle­ichen. Dadurch, dass das Mod­ell ein Kreis ist, macht es den Ver­gle­ich sehr anschaulich, denn es ermöglicht, die Unter­schiede und Gemein­samkeit­en unter­schiedlich­er Erzäh­ler durch Markieren bes­timmter Punk­te im Kreis zu visu­al­isieren.

Nachteile

Erster Nachteil: In Stanzels Mod­ell kommt das lei­der nicht so gut rüber, dass jed­er Erzäh­ler eigentlich ein Ich ist und dadurch poten­tiell unzu­ver­läs­sig.

Zweit­er Nachteil: der auk­to­ri­ale Erzäh­ler. Erstens: Wenn man diesen Erzäh­ler “auk­to­r­i­al” nen­nt, dann sug­geriert man eine bes­timmte Verbindung zwis­chen Erzäh­ler und Autor. Das ist allerd­ings zu viel Inter­pre­ta­tion.
Zweit­ens: Der auk­to­ri­ale Erzäh­ler gilt qua­si als all­wis­send, daher kann man sich fra­gen: Ist All­wis­sen über­haupt möglich bzw. kön­nen wir über­haupt über­prüfen, ob ein Erzäh­ler wirk­lich all­wis­send ist? Wir kön­nen schließlich nur wahrnehmen, was der Erzäh­ler uns Lesern mit­teilt. Nicht mehr, nicht weniger. Man kann All­wis­sen nicht in Worten dar­legen. Dement­prechend kön­nen wir gar nicht wis­sen, ob der auk­to­ri­ale bzw. all­wis­sende Erzäh­ler wirk­lich all­wis­send ist.

Drit­ter Nachteil: Der Typenkreis ist sehr stark darauf aus­gerichtet, einen Erzäh­ler zuord­nen zu kön­nen. Zu einem Typus. Allerd­ings ist es schwierig, einen Erzäh­ler mit diesem Mod­ell zu beschreiben. Denn was müsste man machen, um den Erzäh­ler zu beschreiben? Sagt man da: “Dieser Erzäh­ler liegt im 16°-Winkel vom Ich-Erzäh­ler in Rich­tung all­wis­sender Erzäh­ler?” Es scheint recht kom­pliziert. Dem Mod­ell fehlt es mein­er Mei­n­ung nach an Vok­ab­u­lar, um einen Erzäh­ler zu beschreiben.

Stanzels Typenkreis heute

Stanzels Typenkreis wurde schon seit sein­er Erschaf­fung rauf und runter kri­tisiert, aber trotz der vie­len Kri­tik ist das Mod­ell vor allem bei Anfängern ziem­lich beliebt. Ein­fach, weil es so leicht zu ver­ste­hen ist. Und weil es eben so ein­fach ist, wird es in Schulen in stark vere­in­fachter und — mein­er Mei­n­ung nach — auch sehr per­vertiert­er Form gelehrt.

Im akademis­chen Bere­ich allerd­ings gibt es seit den 1990er Jahren die Ten­denz, dass man doch eher das Mod­ell von Gérard Genette bevorzugt. Ich per­sön­lich arbeite mit dem Mod­ell von Genette auch lieber als mit dem von Stanzel, obwohl der Typenkreis auch seine Vorteile hat, die ich sehr schätze.

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