Das erzähltheoretische Modell von Gérard Genette

Das erzähltheoretische Modell von Gérard Genette

Genettes erzählthe­o­retis­ches Mod­ell ist eine Alter­na­tive zu Stanzels Typenkreis, die sich beson­ders im akademis­chen Bere­ich durchge­set­zt hat. Es zeich­net sich vor allem durch eine Tren­nung von Modus (Fokalisierung) und Stimme (Zeit, Ebene, homo-/heterodiegetisch) aus und ermöglicht somit eine feinere Analyse des Erzäh­lers. Dieser Artikel ist eine kurze Zusam­men­fas­sung.

(In der Video-Ver­sion dieses Artikels hat sich bei der Erläuterung der Kat­e­gorie der Ebene lei­der ein Fehler eingeschlichen. Ich kann ihn lei­der nicht mehr kor­rigieren. Deswe­gen empfehle ich, sich bei diesem Punkt an die Text-Ver­sion zu hal­ten. Ich bitte um Entschuldigung für die Umstände.

Außer­dem noch ein klein­er Fehler in der Video-Ver­sion: Es heißt natür­lich nicht “Alter­na­tio­nen”, son­dern “Alter­atio­nen”.)

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Gérard Genette wurde 1930 geboren und ist ein franzö­sis­ch­er Lit­er­atur­wis­senschaftler. Er ist vor allem dadurch bekan­nt, dass er viele heute sehr wichtige Begriffe einge­führt hat. Unter anderem hat er zum Beispiel den Begriff der Diegese neu geprägt.

Seine The­o­rie veröf­fentlichte er bere­its 1974, allerd­ings wurde sie erst 1994 ins Deutsche über­set­zt. Deswe­gen gilt sie im deutschen Raum immer noch als neu. Die Mono­gra­phie, in der sein Mod­ell präsen­tiert wird, heißt Die Erzäh­lung und aktuell ist die 3. Auflage von 2010.

Modus und Stimme

Bevor wir einen genaueren Blick auf das Mod­ell wer­fen, ist es wichtig zu begreifen, dass der Erzäh­ler laut Genette immer ein “Ich” ist. Unab­hängig davon, ob er sich im Text bemerk­bar macht und ob er expliz­it “Ich” sagt:

Der Erzäh­ler ist immer ein Sub­jekt.

Allerd­ings liegt bei diesem Sub­jekt dur­chaus eine Spal­tung vor: Und zwar unter­schei­det Genette klar und deut­lich zwis­chen Modus und Stimme.

Modus ist die Frage danach, wer das Geschehen wahrn­immt.

Bei der Stimme hinge­gen fragt man danach, wer spricht.

Und das kön­nen zwei dur­chaus ver­schiedene Per­spek­tiv­en sein.

Um die Fra­gen “Wer sieht?” und “Wer spricht?” zu beant­worten, hat Genette eine Rei­he Kat­e­gorien aufgestellt:

Beim Modus sind es drei Fokalisierun­gen, namentlich: die Null­fokalisierung, die interne Fokalisierung und die externe Fokali­siserung. Bei der Stimme sind es: Zeit, Ebene, und die Iden­ti­fizierung des Erzäh­lers als homo- oder het­erodiegetisch.

Die Fokalisierung nach Genette

Die drei Fokalisierun­gen beim Modus definiert Genette wie fol­gt:

  • Null­fokali­siserung:
    Der Erzäh­ler weiß mehr als die Fig­uren.
    Beispiel: “Sie war in Deutsch­land. Sie ahnte nicht, dass in Chi­na ein Sack Reis umkippte.”
  • interne Fokalisierung:
    Der Erzäh­ler weiß exakt so viel wie die Fig­uren.
    Beispiel: “Wer war der Mörder? Sie war rat­los.”
  • externe Fokalisierung:
    Der Erzäh­ler weiß weniger als die Fig­uren.
    Beispiel: “Sie ging die Straße ent­lang. Ihr Gesicht hat­te einen uner­gründlichen Aus­druck.”

Die Fokalisierun­gen erin­nern auf den ersten Blick an Stanzels Typenkreis. So gibt es eine gewisse Ähn­lichkeit zwis­chen der Null­fokalisierung und dem auk­to­ri­alen Erzäh­ler bei Stanzel. Die interne Fokalisierung erin­nert an die per­son­ale Erzählsi­t­u­a­tion und die externe Fokalisierung lässt an den neu­tralen Erzäh­ler denken.

Ger­ade wegen dieser Ähn­lichkeit­en sollte man im Hin­terkopf behal­ten, dass es sich um zwei ver­schiedene Mod­elle han­delt und das eine Mod­ell nicht direkt in das andere über­set­zbar ist. Bei der Fokalisierung geht es auss­chließlich um den Wis­senshor­i­zont von Erzäh­ler und Fig­uren, der in unter­schiedlichen Kom­bi­na­tio­nen mit den Kat­e­gorien der Stimme auftritt. Bei Stanzels Typenkreis hinge­gen ist der Wis­senshor­i­zont ein Bestandteil von typ­is­chen Erzählsi­t­u­a­tio­nen, die sich durch eine bes­timmte feste Kom­bi­na­tion von Eigen­schaften ausze­ich­nen.

Eben­so wie Stanzel berück­sichtigt Genette aber den Fall, dass die Fokalisierung bzw. die Erzählper­spek­tive sich während des Erzäh­lens verän­dern kann. Genette spricht in diesem Fall von vari­abler Fokalisierung. Sofern die Änderun­gen aber nur sel­ten vorkom­men, spricht er von Alter­atio­nen. Und wenn es keinen herrschen­den Code gibt, wenn die Fokalisierung unregelmäßig von ein­er Fokali­siserung zur anderen springt, spricht Genette von Poly­modal­ität.

Die Kategorien der Stimme

Der Modus bzw. die Fokalisierun­gen geben Auf­schluss darüber, wie der Erzäh­ler das Geschehen wahrn­immt. Wie er das Geschehen wiedergibt, zeigen die drei Kat­e­gorien der Stimme, die sich wiederum in Unterkat­e­gorien aufteilen lassen:

Zeit

  • spätere Nar­ra­tion:
    Die Erzäh­lung find­et nach dem Ereig­nis statt. Es wird etwas Ver­gan­ge­nes erzählt. Das ist der mit Abstand häu­fig­ste Fall.
    Beispiel: “Ich schaute aus dem Fen­ster.”
  • frühere Nar­ra­tion:
    Die Erzäh­lung find­et vor dem Ereig­nis statt. Es geht um Ereignisse, die in Zukun­ft stat­tfind­en. Mit anderen Worten: Hier geht es um eine Vorher­sage, Hellse­hen, Prophezeiun­gen und so weit­er.
    Beispiel: “Ich werde aus dem Fen­ster schauen.”
  • gle­ichzeit­ige Nar­ra­tion:
    Die Erzäh­lung find­et gle­ichzeitg mit dem Ereig­nis statt: Etwas passiert und der Erzäh­ler kom­men­tiert das simul­tan.
    Beispiel: “Ich schaue aus dem Fen­ster.”
  • eingeschobene Nar­ra­tion:
    Die Erzäh­lung holt die Geschichte ein. Hier meint Genette vor allem solche Erzählfor­men wie Briefe: Es wird Ver­gan­ge­nes berichtet, aber die Reak­tion darauf ist aktuell.
    Beispiel: “Als ich heute aus dem Fen­ster schaute, habe ich einen süßen Hund gese­hen. Ich will auch so einen.”

Ebene

  • extradiegetisch:
    Die äußer­ste Ebene der Erzäh­lung. Hier befind­en sich der Erzäh­ler und sein Pub­likum.
  • intradiegetisch:
    Das, was der Erzäh­ler erzählt. Meis­tens find­et sich hier die eigentliche Geschichte. Wenn es eine Rah­men­hand­lung gibt, dann liegt diese Rah­men­hand­lung auf der intradiegetis­chen Ebene.
  • metadiegetisch:
    Eine Erzäh­lung inner­halb der Erzäh­lung. Die Erzäh­lung ein­er Fig­ur. Wenn die intradiegetis­che Ebene nur die Rah­men­hand­lung bein­hal­tet, dann liegt die eigentliche Geschichte als Binnen­erzäh­lung auf der metadiegetis­chen Ebene.
  • Und so geht es im Prinzip weit­er: Zum Beispiel kann es auch eine metametadiegetis­che Ebene geben. Eine Erzäh­lung inner­halb der Erzäh­lung inner­halb der Erzäh­lung. Die näch­ste Ebene wäre dann metametametadiegetisch. Und so geht es dann weit­er bis in die Unendlichkeit.

Zu den Ebe­nen muss man anmerken, dass sie nicht immer starr sind, son­dern auch ineinan­der überge­hen kön­nen. Dieser Fall, wenn die nar­ra­tiv­en Ebe­nen sich ver­mis­chen, nen­nt Genette Met­alepse. Das kann der Fall sein, wenn zum Beispiel ein Leser zu ein­er Fig­ur in der Erzäh­lung wird. Dieses Phänomen ken­nen wir unter anderem aus der Unendlichen Geschichte von Michael Ende, wo Bas­t­ian, der Pro­tag­o­nist, ein Buch liest und dann in die Welt dieses Buch­es gelangt.

Hetero-/homodiegetisch

  • het­erodiegetisch:
    Der Erzäh­ler ist nicht Teil der nar­ra­tiv­en Welt. Er befind­et sich nicht in der­sel­ben Welt wie die Fig­uren.
  • homodiegetisch:
    Der Erzäh­ler ist Teil der erzählten Welt. Er befind­et sich also in der­sel­ben Welt wie die Fig­uren.
  • autodiegetisch:
    Son­der­form der homodiegetis­chen Erzäh­lung. Der Erzäh­ler ist nicht nur Teil der nar­ra­tiv­en Welt, son­dern auch die Haupt­fig­ur. Er erzählt seine eigene Geschichte.

So viel zu den Werkzeu­gen, die Genette vorschlägt, um die Erzählper­spek­tive in epis­chen Tex­ten zu analysieren. Das hier ist nur eine sehr knappe Zusam­men­fas­sung und wie auch bei Stanzel gilt: Wer es im Detail nach­le­sen möchte, dem empfehle ich Genettes Werk Die Erzäh­lung.

Vor- und Nachteile von Genettes Modell

Was ich an Genettes Mod­ell richtig großar­tig finde, ist, dass er sehr viele Aspek­te bedacht hat. Ich glaube, es ist aufge­fall­en, dass er sehr viel deut­lichere Unter­schei­dun­gen trifft als Stanzel mit sein­er Typolo­gie. Und damit im Zusam­men­hang ste­ht, dass Genette ein wirk­lich reich­es Vok­ab­u­lar zur präzisen Beschrei­bung eines Erzäh­lers liefert.

Zu den Nachteilen des Mod­ells:

Es ist sicher­lich ins Auge gestochen, dass dieses Mod­ell nicht sehr anschaulich ist. Ver­glichen mit Stanzels schön anschaulichem Kreis wirkt Genettes Mod­ell extrem ver­schachtelt.

Außer­dem kön­nen die Begriffe wirk­lich sehr leicht miteinan­der ver­wech­selt wer­den. Ger­ade Begriffe wie “homo- und het­erodiegetisch” und “extra- und intradiegetisch”: Die Begriffe klin­gen so ähn­lich, dass man gerne denkt, dass sie zur sel­ben Kat­e­gorie gehören, was sie aber nicht tun.

Mein drit­ter Punkt ist Kri­tik an einem Begriff, näm­lich an der Null­fokalisierung: Genettes Def­i­n­i­tion ist grund­sät­zlich klar. Allerd­ings ist der Begriff an sich, “Null­fokalisierung”, rel­a­tiv unsin­nig, ein­fach weil jedes Erzählen Schw­er­punk­te hat: Ein Fokus ist immer vorhan­den. Deswe­gen: Hier hätte Genette mein­er Mei­n­ung nach ein ele­gan­teres Wort find­en kön­nen.

Genettes Modell heute

Das Mod­ell mit Modus und Stimme wurde eben­so wie das von Stanzel rauf und runter kri­tisiert seit es existiert. Aber trotz allem wurde Genettes Mod­ell im akademis­chen Bere­ich seit den 1990er Jahren gebräuch­lich­er als Stanzels Typenkreis.

4 Kommentare

  1. Das ist eine sehr über­sichtliche Zusam­men­fas­sung von Genette, ich würde sie meinen Schülern empfehlen. Sie enthält lei­der ein paar Rechtschreibfehler: Prophezeiung ohne das zweite “h” und bei auss­chließlich fehlt das “ch”.
    LG

    Meike

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