Prä­misse: Die Essenz Deiner Geschichte

Prä­misse: Die Essenz Deiner Geschichte

Worum geht es in Deiner Geschichte in einem Satz? Wenn Du sie nicht in so knapper Form zusam­men­fassen kannst, dann hast Du wahr­schein­lich die Prä­misse nicht gut genug her­aus­ge­ar­beitet. Deiner Geschichte fehlt somit ein roter Faden, das zen­trale Kon­zept, das Grund­ge­rüst. Schauen wir uns die Prä­misse also genauer an: was sie ist und wie man sie ent­wi­ckelt.

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Vor langer, langer Zeit been­dete ich eine lange, lange Geschichte, an der ich viele, viele Jahre gear­beitet habe. Und als meine Cou­sine mich fragte, worum es darin geht, begann ich einen langen, langen Monolog über den langen, langen Plot. Und dann merkte ich, dass meine Cou­sine ihre Frage bit­ter­lich bereute.

Einige Monate später wan­derte die Datei mit der Geschichte in den „Verworfen“-Ordner. Sie hatte viele Mängel, die sich nicht ein­fach mal eben aus­bü­geln ließen. Und allem voran: Es ging irgendwie um nichts bzw. ich konnte es nicht fassen. Die Geschichte exis­tierte ziellos vor sich hin, hatte keinen Antrieb und keinen Sinn.

Es ist nicht schlimm, wenn man wäh­rend des Schrei­bens noch nicht genau sagen kann, was das Ganze werden soll. Doch spä­tes­tens beim Über­ar­beiten soll­test Du die Essenz Deiner Geschichte in einem Satz for­mu­lieren können. Denn dieser Satz, die Prä­misse, ist das Grund­ge­rüst, die DNS Deiner Geschichte, an der Du alle Deine Ent­schei­dungen aus­richten soll­test.

Spre­chen wir also dar­über!

Defi­ni­tion und Sinn

In der Logik ist „Prä­misse“ ein anderes Wort für „Vor­der­satz“ und bezeichnet eine Vor­aus­set­zung, eine Annahme, aus der eine logi­sche Schluss­fol­ge­rung her­vor­geht.

In der Erzähl­theorie ist die Prä­misse im Prinzip das­selbe:

Sie ist ein Satz, aus dem die ganze Geschichte her­vor­geht.

Ein Satz, der die kom­plette Geschichte ent­hält, grund­le­gende Infor­ma­tionen zum Plot und Prot­ago­nisten, und der den Aus­gangs­punkt für alle Ent­schei­dungen beim Schreiben bildet.

Leider ten­dieren Autoren meis­tens dazu, sich viel zu sehr mit äußerem Schnick-Schnack wie Figu­ren­kon­stel­la­tion, Plot­li­nien, Themen, Sym­bolik, World-Buil­ding etc. auf­zu­halten. Und natür­lich sind all diese Punkte wichtig und machen Spaß. Aber wenn die Prä­misse, der Kern der Geschichte, nicht stimmt, dann stimmt auch der große ganze Rest nicht.

Was heißt das aber kon­kret?

Bei­spiel: Prä­misse von Shake­speares Romeo und Julia

Illus­trieren wir die abs­trakte Defi­ni­tion mal an einem Bei­spiel, dem hof­fent­lich jeder folgen kann, und fassen Romeo und Julia von Wil­liam Shake­speare in einem ein­zigen Satz zusammen:

„Die Feind­schaft zwi­schen zwei Fami­lien führt zum Tod ihrer inein­ander ver­liebten Kinder.“

Alles, was in Romeo und Julia pas­siert, ist diesem Prinzip unter­worfen. Natür­lich ist an Shake­speares Tra­gödie sehr viel mehr dran als in diesen einen Satz passt, doch das ist alles „nur“ Mus­kel­ge­webe, das dem Werk seine cha­rak­te­ris­ti­sche Form gibt. Die Prä­misse ist das Grund­ge­rüst, das Ske­lett, ohne das das ganze Werk in sich zusam­men­fallen würde.

Funk­tionen und Vor­teile einer Prä­misse

In The Ana­tomy of Story, wo ich mein Ver­ständnis der Prä­misse her­nehme, for­mu­liert John Truby eine sehr trau­rige Wahr­heit:

„Nine out of ten wri­ters fail at the pre­mise.“
John Truby: The Ana­tomy of Story, Chapter 2: Pre­mise, What is the Pre­mise?

Was da mit­schwingt, ist, dass man als Autor die Prä­misse vor allem für sich selbst for­mu­liert:

Denn weil sie ja die Essenz der Geschichte dar­stellt, ist sie direkt mit dem zen­tralen Thema und der Bot­schaft ver­knüpft, sie bildet den roten Faden für die Hand­lung und für das World-Buil­ding und ist das wich­tigste Bin­de­glied in der Figu­ren­kon­stel­la­tion.

Das bedeutet zum Bei­spiel, dass die Prä­misse hilft, irrele­vante Szenen, Hand­lungs­stränge und Figuren zu iden­ti­fi­zieren und zu strei­chen, die Schwer­punkte in der Geschichte richtig zu ver­teilen, die zen­tralen Momente der Haupt­hand­lung wirk­lich rele­vant zu machen etc.

Außerdem hilft die Prä­misse auch, die Geschichte nach außen zu kom­mu­ni­zieren. Nicht nur kannst Du Deiner Cou­sine kurz und knapp sagen, was Du da fabri­ziert hast, son­dern Du kannst einem gestressten Lite­ra­tur­agenten oder Ver­lags­lektor in einigen wenigen klaren Worten dar­legen, was Du ihm andrehen willst. Und nicht zuletzt spielt die Prä­misse auch später fürs Mar­ke­ting eine Rolle, denn unter­schwellig beein­flusst sie auch den Titel, das Cover, den Klap­pen­text und die Mar­ke­ting-Stra­tegie.

Zusam­men­fas­send lässt sich also sagen, dass eine Prä­misse vor allem Klar­heit schafft. Für alle Betei­ligten. Vom Autor über den Verlag bis hin zum Leser — und viel­leicht sogar noch weiter bis zu allen Mit­wir­kenden einer Film­pro­duk­tion.

Andere Defi­ni­tionen

Viel­leicht brennt Dir aber mitt­ler­weile der ein oder andere Ein­wand unter den Nägeln: Denn es gibt ver­schie­dene Defi­ni­tionen einer Prä­misse und das, was ich eben refe­riert habe, passt mög­li­cher­weise nicht mit dem überein, wie Du den Begriff ken­nen­ge­lernt hast.

Robert McKee

So defi­niert Robert McKee in seinem Rat­geber Story die Prä­misse als „Idee, die den Wunsch des Autors[,] eine Story zu erschaffen, aus­löst“. Außerdem ope­riert er mit dem Begriff der beherr­schenden Idee, wor­unter er „die Wurzel oder zen­trale Idee einer Story“, die die stra­te­gi­schen Ent­schei­dungen der Geschichte lenkt, ver­steht. Einige Bei­spiele, die er anbringt, sind:

„Die Gerech­tig­keit tri­um­phiert, weil der Prot­ago­nist gewalt­tä­tiger ist als die Ver­bre­cher.“ (Dirty Harry)

„Glück erfüllt unser Leben, wenn wir lernen, bedin­gungslos zu lieben.“ (Und täg­lich grüßt das Mur­mel­tier)

„Gerech­tig­keit wird wie­der­her­ge­stellt, weil ein scharf­sin­niger schwarzer Außen­seiter die weiße Per­ver­sion erkennt.“ (In der Hitze der Nacht)

Kurzum:

„Die beherr­schende Idee ist die reinste Form der Bedeu­tung einer Story, das Wie und Warum der Ver­än­de­rung, die Lebens­an­schauung, die die Zuschauer [oder Leser] in ihr Leben mit­nehmen.“
Robert McKee: Story. Die Prin­zi­pien des Dreh­buch­schrei­bens, Teil 2: Story-Ele­mente, Kapitel 6: Struktur und Bedeu­tung, Beherr­schende Idee (con­trol­ling idea).

James Frey

McKees Ver­ständnis der beherr­schenden Idee über­schneidet sich stark mit dem, wie James Frey in seinem Rat­geber Wie man einen ver­dammt guten Roman schreibt die Prä­misse defi­niert: näm­lich als „eine Fest­stel­lung dessen, was mit den Figuren als Ergebnis des zen­tralen Kon­flikts der Geschichte pas­siert“. Mit anderen Worten: die Prä­misse als abs­trakte These, die durch die Geschichte belegt wird, indem der Prot­ago­nist ihre Rich­tig­keit am eigenen Leib erlebt. Zum Bei­spiel:

„Loya­lität der Familie gegen­über führt zu einem kri­mi­nellen Leben.“ (Der Pate von Mario Puzo)

„Erzwun­gene Selbst­prü­fung führt zu Groß­zü­gig­keit.“ (Ein Weih­nachts­lied in Prosa von Charles Dickens)

„Ver­bo­tene Liebe führt zum Tod.“ (Madame Bovary von Gustave Flau­bert)

Wäh­rend in einer wis­sen­schaft­li­chen Arbeit eine These auch wider­legt werden kann, ist eine Prä­misse (zumin­dest inner­halb der jewei­ligen Geschichte) immer richtig. Wenn Du die Prä­misse (wie Frey sie defi­niert) also wider­legen willst, musst Du sie umschus­tern bzw. ins Gegen­teil kehren:

Typi­sche Fan­tasy- und Aben­teuer-Prä­misse:
„Mut führt zur Erlö­sung.“

Wenn die Geschichte aber schlecht aus­geht, dann lautet die Prä­misse eher:
„Mut/Tollkühnheit führt ins Ver­derben.“

Warum Truby-Prä­missen besser sind

Ich muss jedoch sagen, dass ich per­sön­lich dieses Ver­ständnis der Prä­misse und die beherr­schende Idee etwas zu abs­trakt finde. Und teil­weise auch zu starr, weil sie kaum Inter­pre­ta­ti­ons­spiel­raum lässt, was ich vor allem bei per­fiden Prä­missen bedenk­lich finde:

So gibt Frey als Prä­misse für Vla­dimir Nabo­kovs Lolita zum Bei­spiel Fol­gendes an:

„Große Liebe führt zum Tod.“

Könnten wir uns bitte darauf einigen, dass die sexu­elle Aus­beu­tung von Min­der­jäh­rigen nichts mit „großer Liebe“ zu tun hat? Ich würde die abs­trakte Prä­misse eher so for­mu­lieren:

„Sexu­elle Aus­beu­tung von Min­der­jäh­rigen führt zum Tod.“

Hier beob­achten wir aber immer noch, dass die Viel­deu­tig­keit des Romans, der Kon­trast zwi­schen der Wahr­neh­mung des Prot­ago­nisten („Liebe“) und der Rea­lität (Leiden des Opfers) völlig unter­geht und man dieses viel­deu­tige Poten­tial beim Schreiben eben ver­lieren kann, wenn man skla­visch einer sol­chen Prä­misse folgt. Dieses Poten­tial bleibt aber erhalten, wenn man sagt:

„Als ein Lite­ra­tur­wis­sen­schaftler eine sexu­elle Obses­sion für ein zwölf­jäh­riges Mäd­chen ent­wi­ckelt, baut er eine Bezie­hung zu ihr auf, igno­riert dabei ihre Sicht der Dinge und stürzt sie beide dadurch ins Ver­derben.“

Außerdem sehe ich in der beherr­schenden Idee und der Frey-Prä­misse eine zu starke Über­schnei­dung mit der Bot­schaft einer Geschichte, auch wenn der Autor der Aus­sage seiner Prä­misse nicht unbe­dingt zustimmen muss und ihre Rich­tig­keit nur im Rahmen der jewei­ligen Geschichte gilt (beson­ders im Fall von mora­lisch zwei­fel­haften Prä­missen). Auch sagt die Frey-Prä­misse herz­lich wenig über die Geschichte selbst aus — und noch weniger dar­über, was die Geschichte beson­ders macht. Solche Prä­missen und die mit ihnen zusam­men­hän­genden Bot­schaften treffen nun mal auf sehr viele ver­schie­dene Geschichten und teil­weise auf ganze Genres zu. Des­wegen bezweifle ich stark, dass eine der­maßen abs­trakte Vor­stel­lung von einer Prä­misse einem wirk­lich hilft, eine klare, kna­ckige, span­nende und ori­gi­nelle Geschichte zu schreiben. Zumal Truby-Prä­missen, wie Dir sicher­lich bereits auf­ge­fallen ist, im Gegen­satz zu abs­trakten Prä­missen nicht nur Ori­en­tie­rung bieten, son­dern auch zum Schreiben moti­vieren, indem sie die Vor­stel­lungs­kraft akti­vieren und kon­krete Szenen inspi­rieren.

Bei­spiel: Truby-Prä­misse vs. Frey-Prä­misse

Die typi­sche Frey-Prä­misse für Fan­tasy-Geschichten lautet, wie gesagt:

„Mut führt zur Erlö­sung.“

Ich hoffe aller­dings, dass wir alle uns darauf einigen können, dass es zwi­schen Der Herr der Ringe und Harry Potter einen mei­len­weiten Unter­schied gibt. Und mit dem For­mu­lieren von Prä­missen nach Trubys Defi­ni­tion kommt er auch rüber:

„Ein kleiner Hobbit aus dem beschau­li­chen Auen­land geht mit einer Gemein­schaft von Beglei­tern auf eine Reise, um eine große, magi­sche Welt vor einem dunklen Herr­scher zu retten.“ (Der Herr der Ringe)

„Ein Wai­sen­junge erfährt, dass er magi­sche Kräfte hat, geht auf eine Zau­ber­schule und stellt sich einem bösen Zau­berer, um die Welt zu retten.“ (Harry Potter)

In beiden Fällen mag es um Mut und die Ret­tung der Welt gehen, aber die zen­tralen Themen und Bot­schaften dieser Werke sind grund­ver­schieden: Geht es im Herrn der Ringe darum, dass selbst der Kleinste durch Mut und Freund­schaft die Welt retten kann, han­delt Harry Potter mehr vom Erwach­sen­werden. Und das wie­derum beein­flusst das Set­ting (große Welt mit epi­schen Schlachten vs. Zau­ber­schule), den Plot (buch­stäb­liche Hel­den­reise eines kleinen Helden durch eine große Welt vs. Lernen von Magie und Lüften von Geheim­nissen) und alles andere.

Eine Prä­misse ent­wi­ckeln

Nachdem ich Dich hof­fent­lich von den Vor­zügen von Trubys Defi­ni­tion über­zeugt habe, können wir weiter bei Truby bleiben und uns seine Anlei­tung zum Ent­wi­ckeln der Prä­misse anschauen:

  • Im ersten Schritt über­legst Du, was Dich per­sön­lich inter­es­siert. Was würde Dein Leben ver­än­dern? Welche Fragen beschäf­tigen Dich? Denn was Dich lei­den­schaft­lich inter­es­siert, hat sicher­lich auch einen Wert für andere.

Zum Bei­spiel: Viel­leicht hast Du einen Zei­tungs­ar­tikel gelesen über einen lieben, netten Men­schen, der ein furcht­bares Ver­bre­chen begangen hat. Und jetzt beschäf­tigt Dich die Frage, was einen guten Men­schen zum Monster macht und ob viel­leicht sogar Du selbst unter bestimmten Umständen ein Monster werden kannst.

  • Im zweiten Schritt machst Du ein Brain­stor­ming und notierst jede noch so unsin­nige Idee, was für eine Geschichte das werden könnte. Schließ­lich suchst Du Dir die beste und viel­ver­spre­chendste Idee aus.

Wenn Du zum Bei­spiel über die Ver­wand­lung in ein kri­mi­nelles Monster schreiben willst, dann sollte der Prot­ago­nist am Anfang mög­lichst harmlos und sym­pa­thisch sein. Also brain­stormst Du Ideen für eine mög­lichst liebe, harm­lose Figur und ent­schei­dest Dich viel­leicht für einen Fami­li­en­vater, der auch beruf­lich mit Kin­dern arbeitet, näm­lich als Schul­lehrer. Gerade das Stich­wort Familie ver­spricht hier viel Kon­flikt­po­ten­tial, denn die Familie wird wohl kaum mit seiner Ver­wand­lung ein­ver­standen sein.

  • Im dritten Schritt machst Du Dir Gedanken über die Her­aus­for­de­rungen und Pro­bleme, die Deine Idee so mit sich bringt.

In unserem Bei­spiel merken wir, dass wir sehr tief in die mensch­liche Psy­cho­logie ein­tau­chen müssen, um den Wandel zu erklären. Wegen seiner Familie wird der Prot­ago­nist wahr­schein­lich ein Dop­pel­leben führen müssen und auf beiden Seiten dieses Dop­pel­le­bens muss es psy­cho­lo­gisch kom­plexe Figuren geben. Außerdem musst Du dafür sorgen, dass der Wandel zum Monster nur all­mäh­lich statt­findet und dadurch nach­voll­ziehbar bleibt. Wenn die Leser dabei so sehr mit dem Prot­ago­nisten mit­fie­bern, dass sie viel zu spät merken, dass sie mit einem Monster sym­pa­thi­sieren, dann ist es umso besser, denn das wirft die Frage auf, inwie­fern in ihnen selbst ein Monster steckt. Und langsam, aber sicher wirst Du auch merken, dass diese Geschichte ein sehr langer Roman, eine Roman­reihe oder eine Fern­seh­serie werden wird.

  • Im vierten Schritt machst Du Dir Gedanken über das, was Truby als Gestal­tungs­prinzip bezeichnet, also die Grund­struktur, die innere Logik der Geschichte, evtl. die zen­trale Meta­pher oder ein Symbol.

In Harry Potter ist alles ein­fach: Der Prot­ago­nist lernt Magie und wird immer älter und erwach­sener, also gibt es ein Buch pro Schul­jahr. Aber wenn es eine Fern­seh­serie werden soll, kannst Du ja viel­leicht meh­rere Staf­feln planen und in jeder Staffel eine neue Stufe des mora­li­schen Abstiegs demons­trieren. Und weil es ja um einen Wand­lungs­pro­zess geht und der Prot­ago­nist ein Lehrer ist — wie wäre es, wenn er Chemie, also die Wis­sen­schaft vom Wandel von Stoffen, unter­richtet? Somit wäre auch klar, dass es sich bei seinem kri­mi­nellen Wer­de­gang haupt­säch­lich um das Her­stellen syn­the­ti­scher Drogen han­deln wird. Ja, wie wäre es sogar, wenn der Prot­ago­nist ein rich­tiges Genie ist und all seine Her­aus­for­de­rungen durch seine Chemie-Kennt­nisse meis­tert? Das würde Dein Werk garan­tiert von anderen Mafia-Geschichten abheben.

  • Im fünften Schritt ermit­telst Du die inter­es­san­teste Figur. Wel­cher Figur möch­test Du am ehesten beim Denken, Han­deln und Bestehen von Her­aus­for­de­rungen zusehen? Wenn der Prot­ago­nist, der Dir vor­schwebt, Dich nicht fas­zi­niert, dann soll­test Du an Deinen Ideen nochmal schrauben.

In unserem Bei­spiel liegt die Ant­wort längst auf der Hand: Wir wollen den bie­deren, aber genialen Che­mie­lehrer, der zum Monster mutiert.

  • Im sechsten Schritt defi­nierst Du den zen­tralen Kon­flikt. Worum es in der Geschichte eigent­lich geht.

In unserem Bei­spiel haben wir schon mal die Ansätze einer Dua­lität zwi­schen dem bie­deren Fami­li­en­leben und der auf­re­genden, aber blu­tigen Welt der Kri­mi­na­lität. Wenn der Prot­ago­nist sich von der Kri­mi­na­lität ange­zogen fühlen soll, dann findet er sein Fami­li­en­leben wohl nicht sehr erfül­lend. — Warum? Über­legen wir mal: Wenn er so genial ist, warum ist er dann „nur“ Che­mie­lehrer? Knab­bert das nicht an seinem Ego? Offenbar kann er sich in seinem Leben also nicht ent­falten und musste viel­leicht seine per­sön­li­chen Ambi­tionen begraben. Somit besteht der zen­trale Kon­flikt wohl in einem Schwanken zwi­schen Recht­schaf­fen­heit und Ehr­geiz.

  • Im siebten Schritt machst Du Dir grund­le­gende Gedanken zum Plot, über die Zusam­men­hänge von Ursache und Wir­kung auf der all­ge­meinsten Ebene.

Was bewegt den Prot­ago­nisten über­haupt erst dazu, in die Kri­mi­na­lität ein­zu­steigen? Ehr­geiz mag seine Moti­va­tion sein, aber was ist der Aus­löser? Nor­ma­ler­weise spielt bei so etwas Ver­zweif­lung eine Rolle und außerdem muss ihn etwas von seinen mora­li­schen Ver­pflich­tungen gewis­ser­maßen ent­binden, damit die Hemm­schwelle gesenkt ist. Diese zwei Fliegen lassen sich mit einer Krebs­dia­gnose schlagen, weil die The­rapie und der mög­liche letale Aus­gang einer­seits seiner Familie finan­zi­elle Pro­bleme bereiten, der nahende Tod aber ande­rer­seits bedeutet, dass er nicht mit den Kon­se­quenzen seines Han­delns leben muss. Damit die wahre Moti­va­tion des Prot­ago­nisten aber zum Vor­schein kommt, muss es eine Hei­lung geben, wäh­rend der der Prot­ago­nist seine fins­teren Machen­schaften aber trotzdem weiter fort­führt und sogar noch stei­gert. Es geht ihm nicht mehr darum, für seine Familie zu sorgen, son­dern er baut ein inter­na­tio­nales Dro­gen­im­pe­rium auf. Das wie­derum bedeutet eine Ver­nach­läs­si­gung und schließ­lich den Ver­lust der Familie.

  • Im achten Schritt bestimmst Du den Arc des Prot­ago­nisten. Wie hängen die Schwä­chen und Hand­lungen des Prot­ago­nisten mit seiner Wand­lung zusammen?

In unserem Bei­spiel zeichnet sich ein nega­tiver Arc ab: Ein Fami­li­en­vater ver­nach­läs­sigt seine Familie zugunsten seiner ego­is­ti­schen Ambi­tionen und steht am Ende alleine da.

  • Im neunten Schritt benennst Du das zen­trale Thema und die Bot­schaft, aus­ge­drückt durch die zen­trale mora­li­sche Ent­schei­dung des Prot­ago­nisten. Dabei sollte es eine echte Ent­schei­dung sein, also eine zwi­schen zwei posi­tiven oder zwei nega­tiven Dingen. Eine Ent­schei­dung zwi­schen einer posi­tiven und einer nega­tiven Sache ist kein Stoff für eine gute Geschichte.

Unser Prot­ago­nist muss wählen zwi­schen innerem Reichtum, reprä­sen­tiert durch seine Familie, und äußerem Reichtum, reprä­sen­tiert durch sein Geld und seine Macht­stel­lung in der kri­mi­nellen Welt. Er wählt den äußeren Reichtum und ver­liert am Ende alles.

  • Im zehnten Schritt prüfst Du, ob die Prä­misse, die Dir vor­schwebt, jemanden außer Dir wirk­lich inter­es­siert. Ob sie wirk­lich span­nend klingt. Denn wenn nicht, soll­test Du sie noch einmal über­ar­beiten.

Die Prä­misse, die sich bei unserem Bei­spiel mitt­ler­weile ergeben hat, lautet:

„Als ein geschei­terter Chemie-Genius und Fami­li­en­vater eine Krebs­dia­gnose bekommt, will er seiner Familie ein Ver­mögen hin­ter­lassen, baut ein erfolg­rei­ches Dro­gen­im­pe­rium auf und ver­liert alles.“

Ich weiß ja nicht, wie es Dir geht, aber ich finde die Prä­misse zu Brea­king Bad durchaus span­nend.

Eine Prä­misse rück­ent­wi­ckeln

Idea­ler­weise steht die Prä­misse fest, noch bevor Du mit dem Schreiben anfängst.

In der Praxis gibt es aber das breite Spek­trum der Plotter und der Pantser und Ellen Brock hat es auch noch um das Spek­trum von „intuitiv“ und „metho­do­lo­gisch“ ergänzt. Trubys Her­an­ge­hens­weise eignet sich, fürchte ich, nur für metho­do­lo­gi­sche Plotter. Alle anderen müssen ihre Prä­misse aus ihrem Erst­ent­wurf heraus rück­ent­wi­ckeln, das heißt: die von Truby beschrie­benen Schritte auf ihren Ent­wurf anwenden, wie ich es eben mit Brea­king Bad gemacht habe. — Wenn es für Dich funk­tio­niert, schon wäh­rend des Schrei­bens, was damit ein­her­geht, dass die Prä­misse immer wieder ange­passt wird, oder, wenn es nicht funk­tio­niert, sobald der Erst­ent­wurf fertig ist.

Spä­tes­tens wenn Du Deinen Text zum ersten Mal über­ar­bei­test, sollte die Prä­misse jedoch stehen.

Anzahl der Prä­missen

Grund­sätz­lich sollte eine Geschichte nur eine Prä­misse haben. Und wenn sich für Deine Geschichte beim Rück­ent­wi­ckeln nicht die eine Prä­misse for­mu­lieren lässt, dann stimmt etwas nicht. Das gilt auch für die abs­trak­teren Frey-Prä­missen, von denen oft meh­rere auf eine Geschichte zutreffen: Selbst hier hat die Geschichte nur eine ein­zige (zen­trale) Prä­misse zu haben.

Manche Geschichten bestehen jedoch aus meh­reren klei­neren Geschichten, die wie­derum ihre eigenen „Mini-Prä­missen“ haben können:

  • So können ein­zelne Bände einer Buch­reihe eigene Prä­missen haben, wie bei­spiels­weise in Harry Potter, wo ich die Prä­misse des dritten Bandes fol­gen­der­maßen for­mu­lieren würde:

„Als der angeb­liche Ver­räter von Harrys Eltern aus dem Gefängnis aus­bricht, erfährt Harry die genaueren Umstände vom Tod seiner Eltern und findet den wahren Ver­räter.“

  • Auch ein­zelne Figuren-Arcs können eine eigene Prä­misse auf­weisen, wie zum Bei­spiel im Lied von Eis und Feuer, wo ich beim Arc von Eddard Stark fol­gende Prä­misse sehe:

„Ein ehren­hafter, pflicht­be­wusster Lord tritt den Dienst am Hofe seines Königs an und forscht den Machen­schaften der anderen Höf­linge hin­terher, wofür er mit dem Leben bezahlt.“

Die Exis­tenz von „Mini-Prä­missen“ ändert jedoch nichts daran, dass alles der eigent­li­chen Prä­misse der Geschichte unter­worfen sein sollte:

Par­allel zur Geschichte mit dem Verrat an seinen Eltern besucht Harry immer noch die Zau­ber­schule und der Verrat wie­derum hängt mit dem bösen Zau­berer zusammen; und die Machen­schaften, die Eddard Stark erforscht, sind Teil des Macht­kampfes in Wes­teros, der die Men­schen von der Bedro­hung durch die Armee von Untoten ablenkt.

Log Line (Pitch)

Zum Schluss wollen wir noch kurz auf einen wei­teren, nicht zu unter­schät­zenden Vor­teil einer Truby-Prä­misse ein­gehen:

Sie lässt sich relativ leicht in eine Log Line umschus­tern.

Eine Log Line — auch Pitch genannt — ist eine sehr kurze Zusam­men­fas­sung einer Geschichte zum Zweck des Ver­kaufs.

Tat­säch­lich würden viele die Truby-Prä­misse sogar direkt als Log Line bezeichnen, doch ich würde sagen, dass eine rich­tige Log Line noch ein Stück rei­ße­ri­scher sein sollte und nicht unbe­dingt das Ende vor­weg­nehmen muss. Blake Snyder geht in seinem Rat­geber Save the Cat! sogar so weit, dass er die Prä­misse über­springt und den Schreib­pro­zess direkt mit der Log Line beginnt.

Dabei sollte eine gute, markt­taug­liche Log Line laut Blake Snyder vier Merk­male auf­weisen:

  • Ironie: ein Wider­spruch, etwas Uner­war­tetes, das Inter­esse weckt.

Wenn wir zum Bei­spiel unsere Brea­king Bad-Prä­misse nehmen, dann haben wir die Ironie, dass ein bie­derer Che­mie­lehrer und Fami­li­en­vater ins Dro­gen­ge­schäft ein­steigt.

  • Die Log Line sollte ein fes­selndes geis­tiges Bild erzeugen.

Wie ein bie­deres Genie mit blut­rüns­tigen Mafiosi fertig werden soll, regt defi­nitiv die Vor­stel­lungs­kraft an.

  • Aus einer guten Log Line gehen das Genre und die Ziel­gruppe hervor und — je nachdem, bei wem und zu wel­chem Zweck gepitcht wird — auch die Kosten.

Es sollte rüber­kommen, dass Brea­king Bad ein Kri­mi­nal­drama ist. Hier und da Action­szenen und Spe­zi­al­ef­fekte, aber weniger Auf­wand und Kosten als bei Fan­tasy, SciFi oder His­to­ri­schem.

  • Der Titel sollte ent­halten sein bzw. die Log Line und der Titel müssen zusammen har­mo­nieren.

Der Titel Brea­king Bad, der ein eng­li­scher Aus­druck für „vom rechten Weg abkommen“, „kri­mi­nell werden“ ist, sagt ziem­lich direkt, worum es geht, und was auch die Log Line ver­raten müsste.

Auf­grund dieser Über­le­gungen schlage ich für Brea­king Bad fol­gende Log Line vor:

„Als ein bie­derer Che­mie­lehrer und Fami­li­en­vater eine Krebs­dia­gnose bekommt, will er seiner Familie ein Ver­mögen hin­ter­lassen und stürzt sich ins blu­tige Dro­gen­busi­ness.“

Wür­dest Du mir eine Geschichte mit einer sol­chen Log Line abkaufen? Welche Log Line wür­dest Du für Deine Geschichte for­mu­lieren und wäre sie ver­kaufs­taug­lich? Und wenn nicht, was kannst Du ändern?

Ich hoffe, diese Über­le­gungen ver­helfen Dir zu einem bes­seren, span­nen­deren und ori­gi­nel­leren Manu­skript. Viel Spaß beim Schreiben und Über­ar­beiten!

6 Kommentare

  1. Hallo liebe Schreib­technikerin,

    danke sehr für deine Mühe, diesen lehr­rei­chen, prä­zisen und moti­vie­renden Artikel für uns zu ver­fassen! 🙂

    Krea­tive Grüße auch aus der Nähe von Han­nover, nur süd­öst­lich davon.

    Insa.V
  2. Sehr schöner Artikel! End­lich hab ich kapiert, warum ich mich mit „Wie wird eine Prä­misse for­mu­liert“ und dem Unter­schied Prämisse—Logline so schwer tue, weil gefühlt jeder was anderes sagt — weil es näm­lich genau so ist: Jeder sagt etwas anderes, weil jeder es ein wenig unter­schied­lich inter­pre­tiert bzw. die Schwer­punkte unter­schied­lich setzt. Ich mach’s also gar nicht falsch — son­dern ein­fach nach Truby & Snyder. 😀

    Nina

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