Worum geht es in Deiner Geschichte in einem Satz? Wenn Du sie nicht in so knapper Form zusammenfassen kannst, dann hast Du wahrscheinlich die Prämisse nicht gut genug herausgearbeitet. Deiner Geschichte fehlt somit ein roter Faden, das zentrale Konzept, das Grundgerüst. Schauen wir uns die Prämisse also genauer an: was sie ist und wie man sie entwickelt.
Die Folien für dieses Video gibt es für Steady-Abonnenten und Kanalmitglieder auf YouTube als PDF zum Download.
Vor langer, langer Zeit beendete ich eine lange, lange Geschichte, an der ich viele, viele Jahre gearbeitet habe. Und als meine Cousine mich fragte, worum es darin geht, begann ich einen langen, langen Monolog über den langen, langen Plot. Und dann merkte ich, dass meine Cousine ihre Frage bitterlich bereute.
Einige Monate später wanderte die Datei mit der Geschichte in den „Verworfen“-Ordner. Sie hatte viele Mängel, die sich nicht einfach mal eben ausbügeln ließen. Und allem voran: Es ging irgendwie um nichts bzw. ich konnte es nicht fassen. Die Geschichte existierte ziellos vor sich hin, hatte keinen Antrieb und keinen Sinn.
Es ist nicht schlimm, wenn man während des Schreibens noch nicht genau sagen kann, was das Ganze werden soll. Doch spätestens beim Überarbeiten solltest Du die Essenz Deiner Geschichte in einem Satz formulieren können. Denn dieser Satz, die Prämisse, ist das Grundgerüst, die DNS Deiner Geschichte, an der Du alle Deine Entscheidungen ausrichten solltest.
Sprechen wir also darüber!
Definition und Sinn
In der Logik ist „Prämisse“ ein anderes Wort für „Vordersatz“ und bezeichnet eine Voraussetzung, eine Annahme, aus der eine logische Schlussfolgerung hervorgeht.
In der Erzähltheorie ist die Prämisse im Prinzip dasselbe:
Sie ist ein Satz, aus dem die ganze Geschichte hervorgeht.
Ein Satz, der die komplette Geschichte enthält, grundlegende Informationen zum Plot und Protagonisten, und der den Ausgangspunkt für alle Entscheidungen beim Schreiben bildet.
Leider tendieren Autoren meistens dazu, sich viel zu sehr mit äußerem Schnick-Schnack wie Figurenkonstellation, Plotlinien, Themen, Symbolik, World-Building etc. aufzuhalten. Und natürlich sind all diese Punkte wichtig und machen Spaß. Aber wenn die Prämisse, der Kern der Geschichte, nicht stimmt, dann stimmt auch der große ganze Rest nicht.
Was heißt das aber konkret?
Beispiel: Prämisse von Shakespeares Romeo und Julia
Illustrieren wir die abstrakte Definition mal an einem Beispiel, dem hoffentlich jeder folgen kann, und fassen Romeo und Julia von William Shakespeare in einem einzigen Satz zusammen:
„Die Feindschaft zwischen zwei Familien führt zum Tod ihrer ineinander verliebten Kinder.“
Alles, was in Romeo und Julia passiert, ist diesem Prinzip unterworfen. Natürlich ist an Shakespeares Tragödie sehr viel mehr dran als in diesen einen Satz passt, doch das ist alles „nur“ Muskelgewebe, das dem Werk seine charakteristische Form gibt. Die Prämisse ist das Grundgerüst, das Skelett, ohne das das ganze Werk in sich zusammenfallen würde.
Funktionen und Vorteile einer Prämisse
In The Anatomy of Story, wo ich mein Verständnis der Prämisse hernehme, formuliert John Truby eine sehr traurige Wahrheit:
„Nine out of ten writers fail at the premise.“
John Truby: The Anatomy of Story, Chapter 2: Premise, What is the Premise?
Was da mitschwingt, ist, dass man als Autor die Prämisse vor allem für sich selbst formuliert:
Denn weil sie ja die Essenz der Geschichte darstellt, ist sie direkt mit dem zentralen Thema und der Botschaft verknüpft, sie bildet den roten Faden für die Handlung und für das World-Building und ist das wichtigste Bindeglied in der Figurenkonstellation.
Das bedeutet zum Beispiel, dass die Prämisse hilft, irrelevante Szenen, Handlungsstränge und Figuren zu identifizieren und zu streichen, die Schwerpunkte in der Geschichte richtig zu verteilen, die zentralen Momente der Haupthandlung wirklich relevant zu machen etc.
Außerdem hilft die Prämisse auch, die Geschichte nach außen zu kommunizieren. Nicht nur kannst Du Deiner Cousine kurz und knapp sagen, was Du da fabriziert hast, sondern Du kannst einem gestressten Literaturagenten oder Verlagslektor in einigen wenigen klaren Worten darlegen, was Du ihm andrehen willst. Und nicht zuletzt spielt die Prämisse auch später fürs Marketing eine Rolle, denn unterschwellig beeinflusst sie auch den Titel, das Cover, den Klappentext und die Marketing-Strategie.
Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass eine Prämisse vor allem Klarheit schafft. Für alle Beteiligten. Vom Autor über den Verlag bis hin zum Leser – und vielleicht sogar noch weiter bis zu allen Mitwirkenden einer Filmproduktion.
Andere Definitionen
Vielleicht brennt Dir aber mittlerweile der ein oder andere Einwand unter den Nägeln: Denn es gibt verschiedene Definitionen einer Prämisse und das, was ich eben referiert habe, passt möglicherweise nicht mit dem überein, wie Du den Begriff kennengelernt hast.
Robert McKee
So definiert Robert McKee in seinem Ratgeber Story die Prämisse als „Idee, die den Wunsch des Autors[,] eine Story zu erschaffen, auslöst“. Außerdem operiert er mit dem Begriff der beherrschenden Idee, worunter er „die Wurzel oder zentrale Idee einer Story“, die die strategischen Entscheidungen der Geschichte lenkt, versteht. Einige Beispiele, die er anbringt, sind:
„Die Gerechtigkeit triumphiert, weil der Protagonist gewalttätiger ist als die Verbrecher.“ (Dirty Harry)
„Glück erfüllt unser Leben, wenn wir lernen, bedingungslos zu lieben.“ (Und täglich grüßt das Murmeltier)
„Gerechtigkeit wird wiederhergestellt, weil ein scharfsinniger schwarzer Außenseiter die weiße Perversion erkennt.“ (In der Hitze der Nacht)
Kurzum:
„Die beherrschende Idee ist die reinste Form der Bedeutung einer Story, das Wie und Warum der Veränderung, die Lebensanschauung, die die Zuschauer [oder Leser] in ihr Leben mitnehmen.“
Robert McKee: Story. Die Prinzipien des Drehbuchschreibens, Teil 2: Story-Elemente, Kapitel 6: Struktur und Bedeutung, Beherrschende Idee (controlling idea).
James Frey
McKees Verständnis der beherrschenden Idee überschneidet sich stark mit dem, wie James Frey in seinem Ratgeber Wie man einen verdammt guten Roman schreibt die Prämisse definiert: nämlich als „eine Feststellung dessen, was mit den Figuren als Ergebnis des zentralen Konflikts der Geschichte passiert“. Mit anderen Worten: die Prämisse als abstrakte These, die durch die Geschichte belegt wird, indem der Protagonist ihre Richtigkeit am eigenen Leib erlebt. Zum Beispiel:
„Loyalität der Familie gegenüber führt zu einem kriminellen Leben.“ (Der Pate von Mario Puzo)
„Erzwungene Selbstprüfung führt zu Großzügigkeit.“ (Ein Weihnachtslied in Prosa von Charles Dickens)
„Verbotene Liebe führt zum Tod.“ (Madame Bovary von Gustave Flaubert)
Während in einer wissenschaftlichen Arbeit eine These auch widerlegt werden kann, ist eine Prämisse (zumindest innerhalb der jeweiligen Geschichte) immer richtig. Wenn Du die Prämisse (wie Frey sie definiert) also widerlegen willst, musst Du sie umschustern bzw. ins Gegenteil kehren:
Typische Fantasy- und Abenteuer-Prämisse:
„Mut führt zur Erlösung.“
Wenn die Geschichte aber schlecht ausgeht, dann lautet die Prämisse eher:
„Mut/Tollkühnheit führt ins Verderben.“
Warum Truby-Prämissen besser sind
Ich muss jedoch sagen, dass ich persönlich dieses Verständnis der Prämisse und die beherrschende Idee etwas zu abstrakt finde. Und teilweise auch zu starr, weil sie kaum Interpretationsspielraum lässt, was ich vor allem bei perfiden Prämissen bedenklich finde:
So gibt Frey als Prämisse für Vladimir Nabokovs Lolita zum Beispiel Folgendes an:
„Große Liebe führt zum Tod.“
Könnten wir uns bitte darauf einigen, dass die sexuelle Ausbeutung von Minderjährigen nichts mit „großer Liebe“ zu tun hat? Ich würde die abstrakte Prämisse eher so formulieren:
„Sexuelle Ausbeutung von Minderjährigen führt zum Tod.“
Hier beobachten wir aber immer noch, dass die Vieldeutigkeit des Romans, der Kontrast zwischen der Wahrnehmung des Protagonisten („Liebe“) und der Realität (Leiden des Opfers) völlig untergeht und man dieses vieldeutige Potential beim Schreiben eben verlieren kann, wenn man sklavisch einer solchen Prämisse folgt. Dieses Potential bleibt aber erhalten, wenn man sagt:
„Als ein Literaturwissenschaftler eine sexuelle Obsession für ein zwölfjähriges Mädchen entwickelt, baut er eine Beziehung zu ihr auf, ignoriert dabei ihre Sicht der Dinge und stürzt sie beide dadurch ins Verderben.“
Außerdem sehe ich in der beherrschenden Idee und der Frey-Prämisse eine zu starke Überschneidung mit der Botschaft einer Geschichte, auch wenn der Autor der Aussage seiner Prämisse nicht unbedingt zustimmen muss und ihre Richtigkeit nur im Rahmen der jeweiligen Geschichte gilt (besonders im Fall von moralisch zweifelhaften Prämissen). Auch sagt die Frey-Prämisse herzlich wenig über die Geschichte selbst aus – und noch weniger darüber, was die Geschichte besonders macht. Solche Prämissen und die mit ihnen zusammenhängenden Botschaften treffen nun mal auf sehr viele verschiedene Geschichten und teilweise auf ganze Genres zu. Deswegen bezweifle ich stark, dass eine dermaßen abstrakte Vorstellung von einer Prämisse einem wirklich hilft, eine klare, knackige, spannende und originelle Geschichte zu schreiben. Zumal Truby-Prämissen, wie Dir sicherlich bereits aufgefallen ist, im Gegensatz zu abstrakten Prämissen nicht nur Orientierung bieten, sondern auch zum Schreiben motivieren, indem sie die Vorstellungskraft aktivieren und konkrete Szenen inspirieren.
Beispiel: Truby-Prämisse vs. Frey-Prämisse
Die typische Frey-Prämisse für Fantasy-Geschichten lautet, wie gesagt:
„Mut führt zur Erlösung.“
Ich hoffe allerdings, dass wir alle uns darauf einigen können, dass es zwischen Der Herr der Ringe und Harry Potter einen meilenweiten Unterschied gibt. Und mit dem Formulieren von Prämissen nach Trubys Definition kommt er auch rüber:
„Ein kleiner Hobbit aus dem beschaulichen Auenland geht mit einer Gemeinschaft von Begleitern auf eine Reise, um eine große, magische Welt vor einem dunklen Herrscher zu retten.“ (Der Herr der Ringe)
„Ein Waisenjunge erfährt, dass er magische Kräfte hat, geht auf eine Zauberschule und stellt sich einem bösen Zauberer, um die Welt zu retten.“ (Harry Potter)
In beiden Fällen mag es um Mut und die Rettung der Welt gehen, aber die zentralen Themen und Botschaften dieser Werke sind grundverschieden: Geht es im Herrn der Ringe darum, dass selbst der Kleinste durch Mut und Freundschaft die Welt retten kann, handelt Harry Potter mehr vom Erwachsenwerden. Und das wiederum beeinflusst das Setting (große Welt mit epischen Schlachten vs. Zauberschule), den Plot (buchstäbliche Heldenreise eines kleinen Helden durch eine große Welt vs. Lernen von Magie und Lüften von Geheimnissen) und alles andere.
Eine Prämisse entwickeln
Nachdem ich Dich hoffentlich von den Vorzügen von Trubys Definition überzeugt habe, können wir weiter bei Truby bleiben und uns seine Anleitung zum Entwickeln der Prämisse anschauen:
- Im ersten Schritt überlegst Du, was Dich persönlich interessiert. Was würde Dein Leben verändern? Welche Fragen beschäftigen Dich? Denn was Dich leidenschaftlich interessiert, hat sicherlich auch einen Wert für andere.
Zum Beispiel: Vielleicht hast Du einen Zeitungsartikel gelesen über einen lieben, netten Menschen, der ein furchtbares Verbrechen begangen hat. Und jetzt beschäftigt Dich die Frage, was einen guten Menschen zum Monster macht und ob vielleicht sogar Du selbst unter bestimmten Umständen ein Monster werden kannst.
- Im zweiten Schritt machst Du ein Brainstorming und notierst jede noch so unsinnige Idee, was für eine Geschichte das werden könnte. Schließlich suchst Du Dir die beste und vielversprechendste Idee aus.
Wenn Du zum Beispiel über die Verwandlung in ein kriminelles Monster schreiben willst, dann sollte der Protagonist am Anfang möglichst harmlos und sympathisch sein. Also brainstormst Du Ideen für eine möglichst liebe, harmlose Figur und entscheidest Dich vielleicht für einen Familienvater, der auch beruflich mit Kindern arbeitet, nämlich als Schullehrer. Gerade das Stichwort Familie verspricht hier viel Konfliktpotential, denn die Familie wird wohl kaum mit seiner Verwandlung einverstanden sein.
- Im dritten Schritt machst Du Dir Gedanken über die Herausforderungen und Probleme, die Deine Idee so mit sich bringt.
In unserem Beispiel merken wir, dass wir sehr tief in die menschliche Psychologie eintauchen müssen, um den Wandel zu erklären. Wegen seiner Familie wird der Protagonist wahrscheinlich ein Doppelleben führen müssen und auf beiden Seiten dieses Doppellebens muss es psychologisch komplexe Figuren geben. Außerdem musst Du dafür sorgen, dass der Wandel zum Monster nur allmählich stattfindet und dadurch nachvollziehbar bleibt. Wenn die Leser dabei so sehr mit dem Protagonisten mitfiebern, dass sie viel zu spät merken, dass sie mit einem Monster sympathisieren, dann ist es umso besser, denn das wirft die Frage auf, inwiefern in ihnen selbst ein Monster steckt. Und langsam, aber sicher wirst Du auch merken, dass diese Geschichte ein sehr langer Roman, eine Romanreihe oder eine Fernsehserie werden wird.
- Im vierten Schritt machst Du Dir Gedanken über das, was Truby als Gestaltungsprinzip bezeichnet, also die Grundstruktur, die innere Logik der Geschichte, evtl. die zentrale Metapher oder ein Symbol.
In Harry Potter ist alles einfach: Der Protagonist lernt Magie und wird immer älter und erwachsener, also gibt es ein Buch pro Schuljahr. Aber wenn es eine Fernsehserie werden soll, kannst Du ja vielleicht mehrere Staffeln planen und in jeder Staffel eine neue Stufe des moralischen Abstiegs demonstrieren. Und weil es ja um einen Wandlungsprozess geht und der Protagonist ein Lehrer ist – wie wäre es, wenn er Chemie, also die Wissenschaft vom Wandel von Stoffen, unterrichtet? Somit wäre auch klar, dass es sich bei seinem kriminellen Werdegang hauptsächlich um das Herstellen synthetischer Drogen handeln wird. Ja, wie wäre es sogar, wenn der Protagonist ein richtiges Genie ist und all seine Herausforderungen durch seine Chemie-Kenntnisse meistert? Das würde Dein Werk garantiert von anderen Mafia-Geschichten abheben.
- Im fünften Schritt ermittelst Du die interessanteste Figur. Welcher Figur möchtest Du am ehesten beim Denken, Handeln und Bestehen von Herausforderungen zusehen? Wenn der Protagonist, der Dir vorschwebt, Dich nicht fasziniert, dann solltest Du an Deinen Ideen nochmal schrauben.
In unserem Beispiel liegt die Antwort längst auf der Hand: Wir wollen den biederen, aber genialen Chemielehrer, der zum Monster mutiert.
- Im sechsten Schritt definierst Du den zentralen Konflikt. Worum es in der Geschichte eigentlich geht.
In unserem Beispiel haben wir schon mal die Ansätze einer Dualität zwischen dem biederen Familienleben und der aufregenden, aber blutigen Welt der Kriminalität. Wenn der Protagonist sich von der Kriminalität angezogen fühlen soll, dann findet er sein Familienleben wohl nicht sehr erfüllend. – Warum? Überlegen wir mal: Wenn er so genial ist, warum ist er dann „nur“ Chemielehrer? Knabbert das nicht an seinem Ego? Offenbar kann er sich in seinem Leben also nicht entfalten und musste vielleicht seine persönlichen Ambitionen begraben. Somit besteht der zentrale Konflikt wohl in einem Schwanken zwischen Rechtschaffenheit und Ehrgeiz.
- Im siebten Schritt machst Du Dir grundlegende Gedanken zum Plot, über die Zusammenhänge von Ursache und Wirkung auf der allgemeinsten Ebene.
Was bewegt den Protagonisten überhaupt erst dazu, in die Kriminalität einzusteigen? Ehrgeiz mag seine Motivation sein, aber was ist der Auslöser? Normalerweise spielt bei so etwas Verzweiflung eine Rolle und außerdem muss ihn etwas von seinen moralischen Verpflichtungen gewissermaßen entbinden, damit die Hemmschwelle gesenkt ist. Diese zwei Fliegen lassen sich mit einer Krebsdiagnose schlagen, weil die Therapie und der mögliche letale Ausgang einerseits seiner Familie finanzielle Probleme bereiten, der nahende Tod aber andererseits bedeutet, dass er nicht mit den Konsequenzen seines Handelns leben muss. Damit die wahre Motivation des Protagonisten aber zum Vorschein kommt, muss es eine Heilung geben, während der der Protagonist seine finsteren Machenschaften aber trotzdem weiter fortführt und sogar noch steigert. Es geht ihm nicht mehr darum, für seine Familie zu sorgen, sondern er baut ein internationales Drogenimperium auf. Das wiederum bedeutet eine Vernachlässigung und schließlich den Verlust der Familie.
- Im achten Schritt bestimmst Du den Arc des Protagonisten. Wie hängen die Schwächen und Handlungen des Protagonisten mit seiner Wandlung zusammen?
In unserem Beispiel zeichnet sich ein negativer Arc ab: Ein Familienvater vernachlässigt seine Familie zugunsten seiner egoistischen Ambitionen und steht am Ende alleine da.
- Im neunten Schritt benennst Du das zentrale Thema und die Botschaft, ausgedrückt durch die zentrale moralische Entscheidung des Protagonisten. Dabei sollte es eine echte Entscheidung sein, also eine zwischen zwei positiven oder zwei negativen Dingen. Eine Entscheidung zwischen einer positiven und einer negativen Sache ist kein Stoff für eine gute Geschichte.
Unser Protagonist muss wählen zwischen innerem Reichtum, repräsentiert durch seine Familie, und äußerem Reichtum, repräsentiert durch sein Geld und seine Machtstellung in der kriminellen Welt. Er wählt den äußeren Reichtum und verliert am Ende alles.
- Im zehnten Schritt prüfst Du, ob die Prämisse, die Dir vorschwebt, jemanden außer Dir wirklich interessiert. Ob sie wirklich spannend klingt. Denn wenn nicht, solltest Du sie noch einmal überarbeiten.
Die Prämisse, die sich bei unserem Beispiel mittlerweile ergeben hat, lautet:
„Als ein gescheiterter Chemie-Genius und Familienvater eine Krebsdiagnose bekommt, will er seiner Familie ein Vermögen hinterlassen, baut ein erfolgreiches Drogenimperium auf und verliert alles.“
Ich weiß ja nicht, wie es Dir geht, aber ich finde die Prämisse zu Breaking Bad durchaus spannend.
Eine Prämisse rückentwickeln
Idealerweise steht die Prämisse fest, noch bevor Du mit dem Schreiben anfängst.
In der Praxis gibt es aber das breite Spektrum der Plotter und der Pantser und Ellen Brock hat es auch noch um das Spektrum von „intuitiv“ und „methodologisch“ ergänzt. Trubys Herangehensweise eignet sich, fürchte ich, nur für methodologische Plotter. Alle anderen müssen ihre Prämisse aus ihrem Erstentwurf heraus rückentwickeln, das heißt: die von Truby beschriebenen Schritte auf ihren Entwurf anwenden, wie ich es eben mit Breaking Bad gemacht habe. – Wenn es für Dich funktioniert, schon während des Schreibens, was damit einhergeht, dass die Prämisse immer wieder angepasst wird, oder, wenn es nicht funktioniert, sobald der Erstentwurf fertig ist.
Spätestens wenn Du Deinen Text zum ersten Mal überarbeitest, sollte die Prämisse jedoch stehen.
Anzahl der Prämissen
Grundsätzlich sollte eine Geschichte nur eine Prämisse haben. Und wenn sich für Deine Geschichte beim Rückentwickeln nicht die eine Prämisse formulieren lässt, dann stimmt etwas nicht. Das gilt auch für die abstrakteren Frey-Prämissen, von denen oft mehrere auf eine Geschichte zutreffen: Selbst hier hat die Geschichte nur eine einzige (zentrale) Prämisse zu haben.
Manche Geschichten bestehen jedoch aus mehreren kleineren Geschichten, die wiederum ihre eigenen „Mini-Prämissen“ haben können:
- So können einzelne Bände einer Buchreihe eigene Prämissen haben, wie beispielsweise in Harry Potter, wo ich die Prämisse des dritten Bandes folgendermaßen formulieren würde:
„Als der angebliche Verräter von Harrys Eltern aus dem Gefängnis ausbricht, erfährt Harry die genaueren Umstände vom Tod seiner Eltern und findet den wahren Verräter.“
- Auch einzelne Figuren-Arcs können eine eigene Prämisse aufweisen, wie zum Beispiel im Lied von Eis und Feuer, wo ich beim Arc von Eddard Stark folgende Prämisse sehe:
„Ein ehrenhafter, pflichtbewusster Lord tritt den Dienst am Hofe seines Königs an und forscht den Machenschaften der anderen Höflinge hinterher, wofür er mit dem Leben bezahlt.“
Die Existenz von „Mini-Prämissen“ ändert jedoch nichts daran, dass alles der eigentlichen Prämisse der Geschichte unterworfen sein sollte:
Parallel zur Geschichte mit dem Verrat an seinen Eltern besucht Harry immer noch die Zauberschule und der Verrat wiederum hängt mit dem bösen Zauberer zusammen; und die Machenschaften, die Eddard Stark erforscht, sind Teil des Machtkampfes in Westeros, der die Menschen von der Bedrohung durch die Armee von Untoten ablenkt.
Log Line (Pitch)
Zum Schluss wollen wir noch kurz auf einen weiteren, nicht zu unterschätzenden Vorteil einer Truby-Prämisse eingehen:
Sie lässt sich relativ leicht in eine Log Line umschustern.
Eine Log Line – auch Pitch genannt – ist eine sehr kurze Zusammenfassung einer Geschichte zum Zweck des Verkaufs.
Tatsächlich würden viele die Truby-Prämisse sogar direkt als Log Line bezeichnen, doch ich würde sagen, dass eine richtige Log Line noch ein Stück reißerischer sein sollte und nicht unbedingt das Ende vorwegnehmen muss. Blake Snyder geht in seinem Ratgeber Save the Cat! sogar so weit, dass er die Prämisse überspringt und den Schreibprozess direkt mit der Log Line beginnt.
Dabei sollte eine gute, markttaugliche Log Line laut Blake Snyder vier Merkmale aufweisen:
- Ironie: ein Widerspruch, etwas Unerwartetes, das Interesse weckt.
Wenn wir zum Beispiel unsere Breaking Bad-Prämisse nehmen, dann haben wir die Ironie, dass ein biederer Chemielehrer und Familienvater ins Drogengeschäft einsteigt.
- Die Log Line sollte ein fesselndes geistiges Bild erzeugen.
Wie ein biederes Genie mit blutrünstigen Mafiosi fertig werden soll, regt definitiv die Vorstellungskraft an.
- Aus einer guten Log Line gehen das Genre und die Zielgruppe hervor und – je nachdem, bei wem und zu welchem Zweck gepitcht wird – auch die Kosten.
Es sollte rüberkommen, dass Breaking Bad ein Kriminaldrama ist. Hier und da Actionszenen und Spezialeffekte, aber weniger Aufwand und Kosten als bei Fantasy, SciFi oder Historischem.
- Der Titel sollte enthalten sein bzw. die Log Line und der Titel müssen zusammen harmonieren.
Der Titel Breaking Bad, der ein englischer Ausdruck für „vom rechten Weg abkommen“, „kriminell werden“ ist, sagt ziemlich direkt, worum es geht, und was auch die Log Line verraten müsste.
Aufgrund dieser Überlegungen schlage ich für Breaking Bad folgende Log Line vor:
„Als ein biederer Chemielehrer und Familienvater eine Krebsdiagnose bekommt, will er seiner Familie ein Vermögen hinterlassen und stürzt sich ins blutige Drogenbusiness.“
Würdest Du mir eine Geschichte mit einer solchen Log Line abkaufen? Welche Log Line würdest Du für Deine Geschichte formulieren und wäre sie verkaufstauglich? Und wenn nicht, was kannst Du ändern?
Ich hoffe, diese Überlegungen verhelfen Dir zu einem besseren, spannenderen und originelleren Manuskript. Viel Spaß beim Schreiben und Überarbeiten!
Hallo liebe Schreibtechnikerin,
danke sehr für deine Mühe, diesen lehrreichen, präzisen und motivierenden Artikel für uns zu verfassen! 🙂
Kreative Grüße auch aus der Nähe von Hannover, nur südöstlich davon.
Vielen herzlichen Dank fürs Lob! 😊
ein sehr informativer und hilfreicher Artikel, vielen Dank!
Vielen Dank fürs Lob! 😊
Sehr schöner Artikel! Endlich hab ich kapiert, warum ich mich mit „Wie wird eine Prämisse formuliert“ und dem Unterschied Prämisse—Logline so schwer tue, weil gefühlt jeder was anderes sagt — weil es nämlich genau so ist: Jeder sagt etwas anderes, weil jeder es ein wenig unterschiedlich interpretiert bzw. die Schwerpunkte unterschiedlich setzt. Ich mach’s also gar nicht falsch — sondern einfach nach Truby & Snyder. 😀
Es ist wirklich egal, welchen Ansatz Du wählst: Hauptsache, für Dich selbst funktioniert es.
Vielen Dank fürs Lob!