Prämisse: Die Essenz Deiner Geschichte

Prämisse: Die Essenz Deiner Geschichte

Wor­um geht es in Dei­ner Geschich­te in einem Satz? Wenn Du sie nicht in so knap­per Form zusam­men­fas­sen kannst, dann hast Du wahr­schein­lich die Prä­mis­se nicht gut genug her­aus­ge­ar­bei­tet. Dei­ner Geschich­te fehlt somit ein roter Faden, das zen­tra­le Kon­zept, das Grund­ge­rüst. Schau­en wir uns die Prä­mis­se also genau­er an: was sie ist und wie man sie entwickelt.

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Vor lan­ger, lan­ger Zeit been­de­te ich eine lan­ge, lan­ge Geschich­te, an der ich vie­le, vie­le Jah­re gear­bei­tet habe. Und als mei­ne Cou­si­ne mich frag­te, wor­um es dar­in geht, begann ich einen lan­gen, lan­gen Mono­log über den lan­gen, lan­gen Plot. Und dann merk­te ich, dass mei­ne Cou­si­ne ihre Fra­ge bit­ter­lich bereute.

Eini­ge Mona­te spä­ter wan­der­te die Datei mit der Geschich­te in den „Verworfen“-Ordner. Sie hat­te vie­le Män­gel, die sich nicht ein­fach mal eben aus­bü­geln lie­ßen. Und allem vor­an: Es ging irgend­wie um nichts bzw. ich konn­te es nicht fas­sen. Die Geschich­te exis­tier­te ziel­los vor sich hin, hat­te kei­nen Antrieb und kei­nen Sinn.

Es ist nicht schlimm, wenn man wäh­rend des Schrei­bens noch nicht genau sagen kann, was das Gan­ze wer­den soll. Doch spä­tes­tens beim Über­ar­bei­ten soll­test Du die Essenz Dei­ner Geschich­te in einem Satz for­mu­lie­ren kön­nen. Denn die­ser Satz, die Prä­mis­se, ist das Grund­ge­rüst, die DNS Dei­ner Geschich­te, an der Du alle Dei­ne Ent­schei­dun­gen aus­rich­ten solltest.

Spre­chen wir also darüber!

Definition und Sinn

In der Logik ist „Prä­mis­se“ ein ande­res Wort für „Vor­der­satz“ und bezeich­net eine Vor­aus­set­zung, eine Annah­me, aus der eine logi­sche Schluss­fol­ge­rung hervorgeht.

In der Erzähl­theo­rie ist die Prä­mis­se im Prin­zip dasselbe:

Sie ist ein Satz, aus dem die gan­ze Geschich­te hervorgeht.

Ein Satz, der die kom­plet­te Geschich­te ent­hält, grund­le­gen­de Infor­ma­tio­nen zum Plot und Prot­ago­nis­ten, und der den Aus­gangs­punkt für alle Ent­schei­dun­gen beim Schrei­ben bildet.

Lei­der ten­die­ren Autoren meis­tens dazu, sich viel zu sehr mit äuße­rem Schnick-Schnack wie Figu­ren­kon­stel­la­ti­on, Plot­li­ni­en, The­men, Sym­bo­lik, World-Buil­ding etc. auf­zu­hal­ten. Und natür­lich sind all die­se Punk­te wich­tig und machen Spaß. Aber wenn die Prä­mis­se, der Kern der Geschich­te, nicht stimmt, dann stimmt auch der gro­ße gan­ze Rest nicht.

Was heißt das aber konkret?

Beispiel: Prämisse von Shakespeares Romeo und Julia

Illus­trie­ren wir die abs­trak­te Defi­ni­ti­on mal an einem Bei­spiel, dem hof­fent­lich jeder fol­gen kann, und fas­sen Romeo und Julia von Wil­liam Shake­speare in einem ein­zi­gen Satz zusammen:

„Die Feind­schaft zwi­schen zwei Fami­li­en führt zum Tod ihrer inein­an­der ver­lieb­ten Kinder.“

Alles, was in Romeo und Julia pas­siert, ist die­sem Prin­zip unter­wor­fen. Natür­lich ist an Shake­speares Tra­gö­die sehr viel mehr dran als in die­sen einen Satz passt, doch das ist alles „nur“ Mus­kel­ge­we­be, das dem Werk sei­ne cha­rak­te­ris­ti­sche Form gibt. Die Prä­mis­se ist das Grund­ge­rüst, das Ske­lett, ohne das das gan­ze Werk in sich zusam­men­fal­len würde.

Funktionen und Vorteile einer Prämisse

In The Ana­to­my of Sto­ry, wo ich mein Ver­ständ­nis der Prä­mis­se her­neh­me, for­mu­liert John Tru­by eine sehr trau­ri­ge Wahrheit:

„Nine out of ten wri­ters fail at the premise.“
John Tru­by: The Ana­to­my of Sto­ry, Chap­ter 2: Pre­mi­se, What is the Premise?

Was da mit­schwingt, ist, dass man als Autor die Prä­mis­se vor allem für sich selbst for­mu­liert:

Denn weil sie ja die Essenz der Geschich­te dar­stellt, ist sie direkt mit dem zen­tra­len The­ma und der Bot­schaft ver­knüpft, sie bil­det den roten Faden für die Hand­lung und für das World-Buil­ding und ist das wich­tigs­te Bin­de­glied in der Figu­ren­kon­stel­la­ti­on.

Das bedeu­tet zum Bei­spiel, dass die Prä­mis­se hilft, irrele­van­te Sze­nen, Hand­lungs­strän­ge und Figu­ren zu iden­ti­fi­zie­ren und zu strei­chen, die Schwer­punk­te in der Geschich­te rich­tig zu ver­tei­len, die zen­tra­len Momen­te der Haupt­hand­lung wirk­lich rele­vant zu machen etc.

Außer­dem hilft die Prä­mis­se auch, die Geschich­te nach außen zu kom­mu­ni­zie­ren. Nicht nur kannst Du Dei­ner Cou­si­ne kurz und knapp sagen, was Du da fabri­ziert hast, son­dern Du kannst einem gestress­ten Lite­ra­tur­agen­ten oder Ver­lags­lek­tor in eini­gen weni­gen kla­ren Wor­ten dar­le­gen, was Du ihm andre­hen willst. Und nicht zuletzt spielt die Prä­mis­se auch spä­ter fürs Mar­ke­ting eine Rol­le, denn unter­schwel­lig beein­flusst sie auch den Titel, das Cover, den Klap­pen­text und die Marketing-Strategie.

Zusam­men­fas­send lässt sich also sagen, dass eine Prä­mis­se vor allem Klar­heit schafft. Für alle Betei­lig­ten. Vom Autor über den Ver­lag bis hin zum Leser – und viel­leicht sogar noch wei­ter bis zu allen Mit­wir­ken­den einer Filmproduktion.

Andere Definitionen

Viel­leicht brennt Dir aber mitt­ler­wei­le der ein oder ande­re Ein­wand unter den Nägeln: Denn es gibt ver­schie­de­ne Defi­ni­tio­nen einer Prä­mis­se und das, was ich eben refe­riert habe, passt mög­li­cher­wei­se nicht mit dem über­ein, wie Du den Begriff ken­nen­ge­lernt hast.

Robert McKee

So defi­niert Robert McKee in sei­nem Rat­ge­ber Sto­ry die Prä­mis­se als „Idee, die den Wunsch des Autors[,] eine Sto­ry zu erschaf­fen, aus­löst“. Außer­dem ope­riert er mit dem Begriff der beherr­schen­den Idee, wor­un­ter er „die Wur­zel oder zen­tra­le Idee einer Sto­ry“, die die stra­te­gi­schen Ent­schei­dun­gen der Geschich­te lenkt, ver­steht. Eini­ge Bei­spie­le, die er anbringt, sind:

„Die Gerech­tig­keit tri­um­phiert, weil der Prot­ago­nist gewalt­tä­ti­ger ist als die Ver­bre­cher.“ (Dir­ty Har­ry)

„Glück erfüllt unser Leben, wenn wir ler­nen, bedin­gungs­los zu lie­ben.“ (Und täg­lich grüßt das Mur­mel­tier)

„Gerech­tig­keit wird wie­der­her­ge­stellt, weil ein scharf­sin­ni­ger schwar­zer Außen­sei­ter die wei­ße Per­ver­si­on erkennt.“ (In der Hit­ze der Nacht)

Kurz­um:

„Die beherr­schen­de Idee ist die reins­te Form der Bedeu­tung einer Sto­ry, das Wie und War­um der Ver­än­de­rung, die Lebens­an­schau­ung, die die Zuschau­er [oder Leser] in ihr Leben mitnehmen.“
Robert McKee: Sto­ry. Die Prin­zi­pi­en des Dreh­buch­schrei­bens, Teil 2: Sto­ry-Ele­men­te, Kapi­tel 6: Struk­tur und Bedeu­tung, Beherr­schen­de Idee (con­trol­ling idea).

James Frey

McKees Ver­ständ­nis der beherr­schen­den Idee über­schnei­det sich stark mit dem, wie James Frey in sei­nem Rat­ge­ber Wie man einen ver­dammt guten Roman schreibt die Prä­mis­se defi­niert: näm­lich als „eine Fest­stel­lung des­sen, was mit den Figu­ren als Ergeb­nis des zen­tra­len Kon­flikts der Geschich­te pas­siert“. Mit ande­ren Wor­ten: die Prä­mis­se als abs­trak­te The­se, die durch die Geschich­te belegt wird, indem der Prot­ago­nist ihre Rich­tig­keit am eige­nen Leib erlebt. Zum Beispiel:

„Loya­li­tät der Fami­lie gegen­über führt zu einem kri­mi­nel­len Leben.“ (Der Pate von Mario Puzo)

„Erzwun­ge­ne Selbst­prü­fung führt zu Groß­zü­gig­keit.“ (Ein Weih­nachts­lied in Pro­sa von Charles Dickens)

„Ver­bo­te­ne Lie­be führt zum Tod.“ (Madame Bova­ry von Gust­ave Flaubert)

Wäh­rend in einer wis­sen­schaft­li­chen Arbeit eine The­se auch wider­legt wer­den kann, ist eine Prä­mis­se (zumin­dest inner­halb der jewei­li­gen Geschich­te) immer rich­tig. Wenn Du die Prä­mis­se (wie Frey sie defi­niert) also wider­le­gen willst, musst Du sie umschus­tern bzw. ins Gegen­teil kehren:

Typi­sche Fan­ta­sy- und Abenteuer-Prämisse:
„Mut führt zur Erlösung.“

Wenn die Geschich­te aber schlecht aus­geht, dann lau­tet die Prä­mis­se eher:
„Mut/​Tollkühnheit führt ins Verderben.“

Warum Truby-Prämissen besser sind

Ich muss jedoch sagen, dass ich per­sön­lich die­ses Ver­ständ­nis der Prä­mis­se und die beherr­schen­de Idee etwas zu abs­trakt fin­de. Und teil­wei­se auch zu starr, weil sie kaum Inter­pre­ta­ti­ons­spiel­raum lässt, was ich vor allem bei per­fi­den Prä­mis­sen bedenk­lich finde:

So gibt Frey als Prä­mis­se für Vla­di­mir Nabo­kovs Loli­ta zum Bei­spiel Fol­gen­des an:

„Gro­ße Lie­be führt zum Tod.“

Könn­ten wir uns bit­te dar­auf eini­gen, dass die sexu­el­le Aus­beu­tung von Min­der­jäh­ri­gen nichts mit „gro­ßer Lie­be“ zu tun hat? Ich wür­de die abs­trak­te Prä­mis­se eher so formulieren:

„Sexu­el­le Aus­beu­tung von Min­der­jäh­ri­gen führt zum Tod.“

Hier beob­ach­ten wir aber immer noch, dass die Viel­deu­tig­keit des Romans, der Kon­trast zwi­schen der Wahr­neh­mung des Prot­ago­nis­ten („Lie­be“) und der Rea­li­tät (Lei­den des Opfers) völ­lig unter­geht und man die­ses viel­deu­ti­ge Poten­ti­al beim Schrei­ben eben ver­lie­ren kann, wenn man skla­visch einer sol­chen Prä­mis­se folgt. Die­ses Poten­ti­al bleibt aber erhal­ten, wenn man sagt:

„Als ein Lite­ra­tur­wis­sen­schaft­ler eine sexu­el­le Obses­si­on für ein zwölf­jäh­ri­ges Mäd­chen ent­wi­ckelt, baut er eine Bezie­hung zu ihr auf, igno­riert dabei ihre Sicht der Din­ge und stürzt sie bei­de dadurch ins Verderben.“

Außer­dem sehe ich in der beherr­schen­den Idee und der Frey-Prä­mis­se eine zu star­ke Über­schnei­dung mit der Bot­schaft einer Geschich­te, auch wenn der Autor der Aus­sa­ge sei­ner Prä­mis­se nicht unbe­dingt zustim­men muss und ihre Rich­tig­keit nur im Rah­men der jewei­li­gen Geschich­te gilt (beson­ders im Fall von mora­lisch zwei­fel­haf­ten Prä­mis­sen). Auch sagt die Frey-Prä­mis­se herz­lich wenig über die Geschich­te selbst aus – und noch weni­ger dar­über, was die Geschich­te beson­ders macht. Sol­che Prä­mis­sen und die mit ihnen zusam­men­hän­gen­den Bot­schaf­ten tref­fen nun mal auf sehr vie­le ver­schie­de­ne Geschich­ten und teil­wei­se auf gan­ze Gen­res zu. Des­we­gen bezweif­le ich stark, dass eine der­ma­ßen abs­trak­te Vor­stel­lung von einer Prä­mis­se einem wirk­lich hilft, eine kla­re, kna­cki­ge, span­nen­de und ori­gi­nel­le Geschich­te zu schrei­ben. Zumal Tru­by-Prä­mis­sen, wie Dir sicher­lich bereits auf­ge­fal­len ist, im Gegen­satz zu abs­trak­ten Prä­mis­sen nicht nur Ori­en­tie­rung bie­ten, son­dern auch zum Schrei­ben moti­vie­ren, indem sie die Vor­stel­lungs­kraft akti­vie­ren und kon­kre­te Sze­nen inspirieren.

Beispiel: Truby-Prämisse vs. Frey-Prämisse

Die typi­sche Frey-Prä­mis­se für Fan­ta­sy-Geschich­ten lau­tet, wie gesagt:

„Mut führt zur Erlösung.“

Ich hof­fe aller­dings, dass wir alle uns dar­auf eini­gen kön­nen, dass es zwi­schen Der Herr der Rin­ge und Har­ry Pot­ter einen mei­len­wei­ten Unter­schied gibt. Und mit dem For­mu­lie­ren von Prä­mis­sen nach Tru­bys Defi­ni­ti­on kommt er auch rüber:

„Ein klei­ner Hob­bit aus dem beschau­li­chen Auen­land geht mit einer Gemein­schaft von Beglei­tern auf eine Rei­se, um eine gro­ße, magi­sche Welt vor einem dunk­len Herr­scher zu ret­ten.“ (Der Herr der Rin­ge)

„Ein Wai­sen­jun­ge erfährt, dass er magi­sche Kräf­te hat, geht auf eine Zau­ber­schu­le und stellt sich einem bösen Zau­be­rer, um die Welt zu ret­ten.“ (Har­ry Pot­ter)

In bei­den Fäl­len mag es um Mut und die Ret­tung der Welt gehen, aber die zen­tra­len The­men und Bot­schaf­ten die­ser Wer­ke sind grund­ver­schie­den: Geht es im Herrn der Rin­ge dar­um, dass selbst der Kleins­te durch Mut und Freund­schaft die Welt ret­ten kann, han­delt Har­ry Pot­ter mehr vom Erwach­sen­wer­den. Und das wie­der­um beein­flusst das Set­ting (gro­ße Welt mit epi­schen Schlach­ten vs. Zau­ber­schu­le), den Plot (buch­stäb­li­che Hel­den­rei­se eines klei­nen Hel­den durch eine gro­ße Welt vs. Ler­nen von Magie und Lüf­ten von Geheim­nis­sen) und alles andere.

Eine Prämisse entwickeln

Nach­dem ich Dich hof­fent­lich von den Vor­zü­gen von Tru­bys Defi­ni­ti­on über­zeugt habe, kön­nen wir wei­ter bei Tru­by blei­ben und uns sei­ne Anlei­tung zum Ent­wi­ckeln der Prä­mis­se anschauen:

  • Im ers­ten Schritt über­legst Du, was Dich per­sön­lich inter­es­siert. Was wür­de Dein Leben ver­än­dern? Wel­che Fra­gen beschäf­ti­gen Dich? Denn was Dich lei­den­schaft­lich inter­es­siert, hat sicher­lich auch einen Wert für andere.

Zum Bei­spiel: Viel­leicht hast Du einen Zei­tungs­ar­ti­kel gele­sen über einen lie­ben, net­ten Men­schen, der ein furcht­ba­res Ver­bre­chen began­gen hat. Und jetzt beschäf­tigt Dich die Fra­ge, was einen guten Men­schen zum Mons­ter macht und ob viel­leicht sogar Du selbst unter bestimm­ten Umstän­den ein Mons­ter wer­den kannst.

  • Im zwei­ten Schritt machst Du ein Brain­stor­ming und notierst jede noch so unsin­ni­ge Idee, was für eine Geschich­te das wer­den könn­te. Schließ­lich suchst Du Dir die bes­te und viel­ver­spre­chends­te Idee aus.

Wenn Du zum Bei­spiel über die Ver­wand­lung in ein kri­mi­nel­les Mons­ter schrei­ben willst, dann soll­te der Prot­ago­nist am Anfang mög­lichst harm­los und sym­pa­thisch sein. Also brain­stormst Du Ideen für eine mög­lichst lie­be, harm­lo­se Figur und ent­schei­dest Dich viel­leicht für einen Fami­li­en­va­ter, der auch beruf­lich mit Kin­dern arbei­tet, näm­lich als Schul­leh­rer. Gera­de das Stich­wort Fami­lie ver­spricht hier viel Kon­flikt­po­ten­ti­al, denn die Fami­lie wird wohl kaum mit sei­ner Ver­wand­lung ein­ver­stan­den sein.

  • Im drit­ten Schritt machst Du Dir Gedan­ken über die Her­aus­for­de­run­gen und Pro­ble­me, die Dei­ne Idee so mit sich bringt.

In unse­rem Bei­spiel mer­ken wir, dass wir sehr tief in die mensch­li­che Psy­cho­lo­gie ein­tau­chen müs­sen, um den Wan­del zu erklä­ren. Wegen sei­ner Fami­lie wird der Prot­ago­nist wahr­schein­lich ein Dop­pel­le­ben füh­ren müs­sen und auf bei­den Sei­ten die­ses Dop­pel­le­bens muss es psy­cho­lo­gisch kom­ple­xe Figu­ren geben. Außer­dem musst Du dafür sor­gen, dass der Wan­del zum Mons­ter nur all­mäh­lich statt­fin­det und dadurch nach­voll­zieh­bar bleibt. Wenn die Leser dabei so sehr mit dem Prot­ago­nis­ten mit­fie­bern, dass sie viel zu spät mer­ken, dass sie mit einem Mons­ter sym­pa­thi­sie­ren, dann ist es umso bes­ser, denn das wirft die Fra­ge auf, inwie­fern in ihnen selbst ein Mons­ter steckt. Und lang­sam, aber sicher wirst Du auch mer­ken, dass die­se Geschich­te ein sehr lan­ger Roman, eine Roman­rei­he oder eine Fern­seh­se­rie wer­den wird.

  • Im vier­ten Schritt machst Du Dir Gedan­ken über das, was Tru­by als Gestal­tungs­prin­zip bezeich­net, also die Grund­struk­tur, die inne­re Logik der Geschich­te, evtl. die zen­tra­le Meta­pher oder ein Symbol.

In Har­ry Pot­ter ist alles ein­fach: Der Prot­ago­nist lernt Magie und wird immer älter und erwach­se­ner, also gibt es ein Buch pro Schul­jahr. Aber wenn es eine Fern­seh­se­rie wer­den soll, kannst Du ja viel­leicht meh­re­re Staf­feln pla­nen und in jeder Staf­fel eine neue Stu­fe des mora­li­schen Abstiegs demons­trie­ren. Und weil es ja um einen Wand­lungs­pro­zess geht und der Prot­ago­nist ein Leh­rer ist – wie wäre es, wenn er Che­mie, also die Wis­sen­schaft vom Wan­del von Stof­fen, unter­rich­tet? Somit wäre auch klar, dass es sich bei sei­nem kri­mi­nel­len Wer­de­gang haupt­säch­lich um das Her­stel­len syn­the­ti­scher Dro­gen han­deln wird. Ja, wie wäre es sogar, wenn der Prot­ago­nist ein rich­ti­ges Genie ist und all sei­ne Her­aus­for­de­run­gen durch sei­ne Che­mie-Kennt­nis­se meis­tert? Das wür­de Dein Werk garan­tiert von ande­ren Mafia-Geschich­ten abheben.

  • Im fünf­ten Schritt ermit­telst Du die inter­es­san­tes­te Figur. Wel­cher Figur möch­test Du am ehes­ten beim Den­ken, Han­deln und Bestehen von Her­aus­for­de­run­gen zuse­hen? Wenn der Prot­ago­nist, der Dir vor­schwebt, Dich nicht fas­zi­niert, dann soll­test Du an Dei­nen Ideen noch­mal schrauben.

In unse­rem Bei­spiel liegt die Ant­wort längst auf der Hand: Wir wol­len den bie­de­ren, aber genia­len Che­mie­leh­rer, der zum Mons­ter mutiert.

  • Im sechs­ten Schritt defi­nierst Du den zen­tra­len Kon­flikt. Wor­um es in der Geschich­te eigent­lich geht.

In unse­rem Bei­spiel haben wir schon mal die Ansät­ze einer Dua­li­tät zwi­schen dem bie­de­ren Fami­li­en­le­ben und der auf­re­gen­den, aber blu­ti­gen Welt der Kri­mi­na­li­tät. Wenn der Prot­ago­nist sich von der Kri­mi­na­li­tät ange­zo­gen füh­len soll, dann fin­det er sein Fami­li­en­le­ben wohl nicht sehr erfül­lend. – War­um? Über­le­gen wir mal: Wenn er so geni­al ist, war­um ist er dann „nur“ Che­mie­leh­rer? Knab­bert das nicht an sei­nem Ego? Offen­bar kann er sich in sei­nem Leben also nicht ent­fal­ten und muss­te viel­leicht sei­ne per­sön­li­chen Ambi­tio­nen begra­ben. Somit besteht der zen­tra­le Kon­flikt wohl in einem Schwan­ken zwi­schen Recht­schaf­fen­heit und Ehrgeiz.

  • Im sieb­ten Schritt machst Du Dir grund­le­gen­de Gedan­ken zum Plot, über die Zusam­men­hän­ge von Ursa­che und Wir­kung auf der all­ge­meins­ten Ebene.

Was bewegt den Prot­ago­nis­ten über­haupt erst dazu, in die Kri­mi­na­li­tät ein­zu­stei­gen? Ehr­geiz mag sei­ne Moti­va­ti­on sein, aber was ist der Aus­lö­ser? Nor­ma­ler­wei­se spielt bei so etwas Ver­zweif­lung eine Rol­le und außer­dem muss ihn etwas von sei­nen mora­li­schen Ver­pflich­tun­gen gewis­ser­ma­ßen ent­bin­den, damit die Hemm­schwel­le gesenkt ist. Die­se zwei Flie­gen las­sen sich mit einer Krebs­dia­gno­se schla­gen, weil die The­ra­pie und der mög­li­che leta­le Aus­gang einer­seits sei­ner Fami­lie finan­zi­el­le Pro­ble­me berei­ten, der nahen­de Tod aber ande­rer­seits bedeu­tet, dass er nicht mit den Kon­se­quen­zen sei­nes Han­delns leben muss. Damit die wah­re Moti­va­ti­on des Prot­ago­nis­ten aber zum Vor­schein kommt, muss es eine Hei­lung geben, wäh­rend der der Prot­ago­nist sei­ne fins­te­ren Machen­schaf­ten aber trotz­dem wei­ter fort­führt und sogar noch stei­gert. Es geht ihm nicht mehr dar­um, für sei­ne Fami­lie zu sor­gen, son­dern er baut ein inter­na­tio­na­les Dro­gen­im­pe­ri­um auf. Das wie­der­um bedeu­tet eine Ver­nach­läs­si­gung und schließ­lich den Ver­lust der Familie.

  • Im ach­ten Schritt bestimmst Du den Arc des Prot­ago­nis­ten. Wie hän­gen die Schwä­chen und Hand­lun­gen des Prot­ago­nis­ten mit sei­ner Wand­lung zusammen?

In unse­rem Bei­spiel zeich­net sich ein nega­ti­ver Arc ab: Ein Fami­li­en­va­ter ver­nach­läs­sigt sei­ne Fami­lie zuguns­ten sei­ner ego­is­ti­schen Ambi­tio­nen und steht am Ende allei­ne da.

  • Im neun­ten Schritt benennst Du das zen­tra­le The­ma und die Bot­schaft, aus­ge­drückt durch die zen­tra­le mora­li­sche Ent­schei­dung des Prot­ago­nis­ten. Dabei soll­te es eine ech­te Ent­schei­dung sein, also eine zwi­schen zwei posi­ti­ven oder zwei nega­ti­ven Din­gen. Eine Ent­schei­dung zwi­schen einer posi­ti­ven und einer nega­ti­ven Sache ist kein Stoff für eine gute Geschichte.

Unser Prot­ago­nist muss wäh­len zwi­schen inne­rem Reich­tum, reprä­sen­tiert durch sei­ne Fami­lie, und äuße­rem Reich­tum, reprä­sen­tiert durch sein Geld und sei­ne Macht­stel­lung in der kri­mi­nel­len Welt. Er wählt den äuße­ren Reich­tum und ver­liert am Ende alles.

  • Im zehn­ten Schritt prüfst Du, ob die Prä­mis­se, die Dir vor­schwebt, jeman­den außer Dir wirk­lich inter­es­siert. Ob sie wirk­lich span­nend klingt. Denn wenn nicht, soll­test Du sie noch ein­mal überarbeiten.

Die Prä­mis­se, die sich bei unse­rem Bei­spiel mitt­ler­wei­le erge­ben hat, lautet:

„Als ein geschei­ter­ter Che­mie-Geni­us und Fami­li­en­va­ter eine Krebs­dia­gno­se bekommt, will er sei­ner Fami­lie ein Ver­mö­gen hin­ter­las­sen, baut ein erfolg­rei­ches Dro­gen­im­pe­ri­um auf und ver­liert alles.“

Ich weiß ja nicht, wie es Dir geht, aber ich fin­de die Prä­mis­se zu Brea­king Bad durch­aus spannend.

Eine Prämisse rückentwickeln

Idea­ler­wei­se steht die Prä­mis­se fest, noch bevor Du mit dem Schrei­ben anfängst.

In der Pra­xis gibt es aber das brei­te Spek­trum der Plot­ter und der Pantser und Ellen Brock hat es auch noch um das Spek­trum von „intui­tiv“ und „metho­do­lo­gisch“ ergänzt. Tru­bys Her­an­ge­hens­wei­se eig­net sich, fürch­te ich, nur für metho­do­lo­gi­sche Plot­ter. Alle ande­ren müs­sen ihre Prä­mis­se aus ihrem Erst­ent­wurf her­aus rück­ent­wi­ckeln, das heißt: die von Tru­by beschrie­be­nen Schrit­te auf ihren Ent­wurf anwen­den, wie ich es eben mit Brea­king Bad gemacht habe. – Wenn es für Dich funk­tio­niert, schon wäh­rend des Schrei­bens, was damit ein­her­geht, dass die Prä­mis­se immer wie­der ange­passt wird, oder, wenn es nicht funk­tio­niert, sobald der Erst­ent­wurf fer­tig ist.

Spä­tes­tens wenn Du Dei­nen Text zum ers­ten Mal über­ar­bei­test, soll­te die Prä­mis­se jedoch stehen.

Anzahl der Prämissen

Grund­sätz­lich soll­te eine Geschich­te nur eine Prä­mis­se haben. Und wenn sich für Dei­ne Geschich­te beim Rück­ent­wi­ckeln nicht die eine Prä­mis­se for­mu­lie­ren lässt, dann stimmt etwas nicht. Das gilt auch für die abs­trak­te­ren Frey-Prä­mis­sen, von denen oft meh­re­re auf eine Geschich­te zutref­fen: Selbst hier hat die Geschich­te nur eine ein­zi­ge (zen­tra­le) Prä­mis­se zu haben.

Man­che Geschich­ten bestehen jedoch aus meh­re­ren klei­ne­ren Geschich­ten, die wie­der­um ihre eige­nen „Mini-Prä­mis­sen“ haben kön­nen:

  • So kön­nen ein­zel­ne Bän­de einer Buch­rei­he eige­ne Prä­mis­sen haben, wie bei­spiels­wei­se in Har­ry Pot­ter, wo ich die Prä­mis­se des drit­ten Ban­des fol­gen­der­ma­ßen for­mu­lie­ren würde:

„Als der angeb­li­che Ver­rä­ter von Har­rys Eltern aus dem Gefäng­nis aus­bricht, erfährt Har­ry die genaue­ren Umstän­de vom Tod sei­ner Eltern und fin­det den wah­ren Verräter.“

  • Auch ein­zel­ne Figu­ren-Arcs kön­nen eine eige­ne Prä­mis­se auf­wei­sen, wie zum Bei­spiel im Lied von Eis und Feu­er, wo ich beim Arc von Eddard Stark fol­gen­de Prä­mis­se sehe:

„Ein ehren­haf­ter, pflicht­be­wuss­ter Lord tritt den Dienst am Hofe sei­nes Königs an und forscht den Machen­schaf­ten der ande­ren Höf­lin­ge hin­ter­her, wofür er mit dem Leben bezahlt.“

Die Exis­tenz von „Mini-Prä­mis­sen“ ändert jedoch nichts dar­an, dass alles der eigent­li­chen Prä­mis­se der Geschich­te unter­wor­fen sein soll­te:

Par­al­lel zur Geschich­te mit dem Ver­rat an sei­nen Eltern besucht Har­ry immer noch die Zau­ber­schu­le und der Ver­rat wie­der­um hängt mit dem bösen Zau­be­rer zusam­men; und die Machen­schaf­ten, die Eddard Stark erforscht, sind Teil des Macht­kamp­fes in Wes­teros, der die Men­schen von der Bedro­hung durch die Armee von Unto­ten ablenkt.

Log Line (Pitch)

Zum Schluss wol­len wir noch kurz auf einen wei­te­ren, nicht zu unter­schät­zen­den Vor­teil einer Tru­by-Prä­mis­se eingehen:

Sie lässt sich rela­tiv leicht in eine Log Line umschustern.

Eine Log Line – auch Pitch genannt – ist eine sehr kur­ze Zusam­men­fas­sung einer Geschich­te zum Zweck des Ver­kaufs.

Tat­säch­lich wür­den vie­le die Tru­by-Prä­mis­se sogar direkt als Log Line bezeich­nen, doch ich wür­de sagen, dass eine rich­ti­ge Log Line noch ein Stück rei­ße­ri­scher sein soll­te und nicht unbe­dingt das Ende vor­weg­neh­men muss. Bla­ke Sny­der geht in sei­nem Rat­ge­ber Save the Cat! sogar so weit, dass er die Prä­mis­se über­springt und den Schreib­pro­zess direkt mit der Log Line beginnt.

Dabei soll­te eine gute, markt­taug­li­che Log Line laut Bla­ke Sny­der vier Merk­ma­le aufweisen:

  • Iro­nie: ein Wider­spruch, etwas Uner­war­te­tes, das Inter­es­se weckt.

Wenn wir zum Bei­spiel unse­re Brea­king Bad-Prä­mis­se neh­men, dann haben wir die Iro­nie, dass ein bie­de­rer Che­mie­leh­rer und Fami­li­en­va­ter ins Dro­gen­ge­schäft einsteigt.

  • Die Log Line soll­te ein fes­seln­des geis­ti­ges Bild erzeu­gen.

Wie ein bie­de­res Genie mit blut­rüns­ti­gen Mafio­si fer­tig wer­den soll, regt defi­ni­tiv die Vor­stel­lungs­kraft an.

  • Aus einer guten Log Line gehen das Gen­re und die Ziel­grup­pe her­vor und – je nach­dem, bei wem und zu wel­chem Zweck gepitcht wird – auch die Kos­ten.

Es soll­te rüber­kom­men, dass Brea­king Bad ein Kri­mi­nal­dra­ma ist. Hier und da Action­sze­nen und Spe­zi­al­ef­fek­te, aber weni­ger Auf­wand und Kos­ten als bei Fan­ta­sy, Sci­Fi oder Historischem.

  • Der Titel soll­te ent­hal­ten sein bzw. die Log Line und der Titel müs­sen zusam­men harmonieren.

Der Titel Brea­king Bad, der ein eng­li­scher Aus­druck für „vom rech­ten Weg abkom­men“, „kri­mi­nell wer­den“ ist, sagt ziem­lich direkt, wor­um es geht, und was auch die Log Line ver­ra­ten müsste.

Auf­grund die­ser Über­le­gun­gen schla­ge ich für Brea­king Bad fol­gen­de Log Line vor:

„Als ein bie­de­rer Che­mie­leh­rer und Fami­li­en­va­ter eine Krebs­dia­gno­se bekommt, will er sei­ner Fami­lie ein Ver­mö­gen hin­ter­las­sen und stürzt sich ins blu­ti­ge Drogenbusiness.“

Wür­dest Du mir eine Geschich­te mit einer sol­chen Log Line abkau­fen? Wel­che Log Line wür­dest Du für Dei­ne Geschich­te for­mu­lie­ren und wäre sie ver­kaufs­taug­lich? Und wenn nicht, was kannst Du ändern?

Ich hof­fe, die­se Über­le­gun­gen ver­hel­fen Dir zu einem bes­se­ren, span­nen­de­ren und ori­gi­nel­le­ren Manu­skript. Viel Spaß beim Schrei­ben und Überarbeiten!

6 Kommentare

  1. Hal­lo lie­be Schreibtechnikerin, 

    dan­ke sehr für dei­ne Mühe, die­sen lehr­rei­chen, prä­zi­sen und moti­vie­ren­den Arti­kel für uns zu verfassen! 🙂 

    Krea­ti­ve Grü­ße auch aus der Nähe von Han­no­ver, nur süd­öst­lich davon.

    Insa.V
  2. Sehr schö­ner Arti­kel! End­lich hab ich kapiert, war­um ich mich mit „Wie wird eine Prä­mis­se for­mu­liert“ und dem Unter­schied Prämisse—Logline so schwer tue, weil gefühlt jeder was ande­res sagt — weil es näm­lich genau so ist: Jeder sagt etwas ande­res, weil jeder es ein wenig unter­schied­lich inter­pre­tiert bzw. die Schwer­punk­te unter­schied­lich setzt. Ich mach’s also gar nicht falsch — son­dern ein­fach nach Tru­by & Snyder. 😀

    Nina

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