Kategorien von Figuren: Terminologie (Protagonist, Hauptfigur, Nebenfigur, Reflektorfigur)

Kategorien von Figuren: Terminologie (Protagonist, Hauptfigur, Nebenfigur, Reflektorfigur)

Wo liegt die Gren­ze zwi­schen einem Prot­ago­nis­ten, einer Haupt­fi­gur und einer Reflek­tor­fi­gur? Ist das nicht alles das­sel­be? Und ab wann ist eine Haupt­fi­gur über­haupt eine Haupt­fi­gur und eine Neben­fi­gur eine Nebenfigur?

Ich den­ke, es ist an der Zeit, dass wir ein paar Begrif­fe klä­ren. Legen wir also los!

Die Foli­en für die­ses Video gibt es für Ste­ady-Abon­nen­ten und Kanal­mitglieder auf You­Tube als PDF zum Download.

Hauptfigur und Nebenfigur

Obwohl das Wort „Haupt­fi­gur“ oft als Syn­onym für „Prot­ago­nist“ dasteht, gibt es einen ent­schei­den­den Unterschied:

Es kann streng­ge­nom­men nur einen Prot­ago­nis­ten geben. Bei der Haupt­fi­gur hin­ge­gen kennt man sowohl die Vari­an­te im Sin­gu­lar, näm­lich „die Haupt­fi­gur“, also im Sin­ne von „Prot­ago­nist“, als auch eine Vari­an­te im Plu­ral, näm­lich die Vor­stel­lung, dass es meh­re­re Haupt­fi­guren geben kann.

Im Gegen­satz zum Prot­ago­nis­ten ist bei der Haupt­fi­gur also offen­bar eine Abstu­fung mög­lich. Aber nach wel­chen Kri­te­ri­en erfolgt sie?

Was die Haupt­fi­gur – d. h. den Prot­ago­nis­ten – aus­zeich­net, ist ihre zen­tra­le Rol­le in der Gesamt­ge­schich­te. Des­we­gen spricht man umgangs­sprach­lich oft auch vom „Hel­den“ einer Geschich­te, obwohl längst nicht jede Haupt­fi­gur bzw. nicht jeder Prot­ago­nist wirk­lich hel­den­haft ist.

Aber für die Haupt­fi­gur ist es eben ent­schei­dend, dass ihre Geschich­te erzählt wird. Ihr per­sön­li­cher Kon­flikt ist der Haupt­kon­flikt der Geschich­te. Sie steht im Zen­trum des Gesche­hens, sie fällt die wich­ti­gen Ent­schei­dun­gen und sie treibt den Plot vor­an.

Nun wis­sen wir aber, dass auch weni­ger zen­tra­le Figu­ren eine ent­schei­den­de Rol­le für die Geschich­te spie­len kön­nen. Und damit kom­men wir auch zur ange­kün­dig­ten Abstufung:

Ich den­ke, wir kön­nen uns alle dar­auf eini­gen, dass Ron und Her­mi­ne in den Har­ry Pot­ter-Büchern wich­ti­ger sind als Jus­tin Finch-Fletch­ley. Wäh­rend sie aber alle Neben­fi­gu­ren im Sin­ne von „Nicht-Prot­ago­nis­ten“ sind, könn­te man von Ron und Her­mi­ne behaup­ten, dass sie als Har­rys bes­te Freun­de eine Art „Neben-Haupt­fi­gu­ren“ sind. Auch muss man sagen, dass der Ant­ago­nist Lord Vol­de­mort und Figu­ren wie Dum­ble­do­re und Sna­pe am Vor­an­trei­ben des Plots maß­geb­lich betei­ligt sind, teil­wei­se sogar in einem grö­ße­ren Aus­maß als Ron und Her­mi­ne. Trotz­dem ist es etwas schwe­rer, sie als Haupt­fi­gu­ren zu bezeich­nen, weil sie weni­ger „Scre­en­ti­me“ haben als Ron und Her­mi­ne. Man kann zwar sagen, dass die Schau­spie­ler hin­ter Vol­de­mort, Dum­ble­do­re und Sna­pe Neben-Haupt­rol­len spie­len, aber sie als Neben-Haupt­fi­gu­ren zu bezeich­nen fühlt sich für mich zumin­dest ein­fach falsch an.

Was ich mit all dem sagen will, ist, dass ich kei­ne ange­mes­se­ne Ter­mi­no­lo­gie für all die Abstu­fun­gen von Haupt- und Neben­fi­gu­ren ken­ne. Wenn Du pas­sen­de Begrif­fe kennst, dann ger­ne her damit. An die­ser Stel­le jedoch etwas mehr zum The­ma „Neben-Haupt­fi­gu­ren“ …

Der Protagonist und die „Neben-Hauptfiguren“

In dem the­men­an­re­gen­den Kom­men­tar hat Sto­ry Picker auf eine sehr inter­es­san­te Fein­heit auf­merk­sam gemacht:

Bezüg­lich Ava­tar hät­te ich tat­säch­lich eher gedacht, dass Kata­ra, Sok­ka und Toph mehr Hel­den bzw Prot­ago­nis­ten sind als bei­spiels­wei­se Ron und Her­mio­ne. Ron und Her­mio­ne haben ja weni­ger eige­ne Sto­ry bzw. ste­hen nicht so im Vor­der­grund wie Kata­ra, Sok­ka und Toph… oder wie macht man das aus, ob eine Figur Neben­fi­gur oder Haupt­fi­gur ist?
Sto­ry Picker: Kom­men­tar, URL: https://​www​.you​tube​.com/​w​a​t​c​h​?​v​=​z​0​q​Y​Z​L​s​o​o​s​U​&​l​c​=​U​g​y​W​S​r​P​5​i​d​w​X​9​w​e​b​b​N​1​4​A​a​A​BAg.

Es ist wahr, dass Ron und Her­mi­ne im Prin­zip nur als Har­ry Pot­ters Anhäng­sel fun­gie­ren und eher neben­her ihre Ent­wick­lung durch­le­ben. Die Har­ry Pot­ter-Serie ist eben sehr Har­ry-Pot­ter-zen­triert. In Ava­tar – Der Herr der Ele­men­te hin­ge­gen machen alle Mit­glie­der des Hel­den­teams eine Ent­wick­lung durch, die den Gesamt­plot ent­schei­dend beein­flusst, und in ein­zel­nen Epi­so­den tre­ten sie sogar als Prot­ago­nis­ten auf, wäh­rend der eigent­li­che Prot­ago­nist der Serie an den Rand rückt.

Eine ganz beson­de­re Rol­le spielt dabei Zuko, der vom Ant­ago­nis­ten zum Prot­ago­nis­ten sei­ner eige­nen Par­al­lel­hand­lung, des wich­tigs­ten Sub­plots der Gesamt­ge­schich­te, auf­steigt. Man könn­te sogar sagen, dass er ab Staf­fel 2 als zwei­ter Prot­ago­nist der Serie fun­giert: als soge­nann­ter Deu­te­rago­nist. Die nächs­te Abstu­fung, also die dritt­wich­tigs­te Figur einer Geschich­te, wäre der Tri­ta­go­nist. Aber die­ser Begriff wird in mei­ner Erfah­rung eher wenig gebraucht, womit wir auch wie­der beim (ver­mut­li­chen) Feh­len einer ange­mes­se­nen Ter­mi­no­lo­gie wären.

Was wir an die­ser Stel­le aber fest­hal­ten kön­nen, ist,

dass die wich­tigs­ten Neben­fi­gu­ren bzw. „Neben-Haupt­fi­gu­ren“ je nach Geschich­te in einem stär­ke­ren oder schwä­che­ren Aus­maß „Prot­ago­nis­ten­qua­li­tä­ten“ auf­wei­sen kön­nen. Sie kön­nen Prot­ago­nis­ten eines Sub­plots sein und/​oder als zweit- oder dritt­wich­tigs­te Figu­ren des Gesamt­plots fun­gie­ren.

Reflektorfigur

Nun kann die Geschich­te aber noch so sehr die des Prot­ago­nis­ten sein – erzählt wer­den muss sie nicht unbe­dingt aus sei­ner Per­spek­ti­ve.

Eins der bekann­tes­ten Bei­spie­le über­haupt ist die Sher­lock Hol­mes-Rei­he: Prä­sen­tiert wer­den Geschich­ten rund um den Detek­tiv Sher­lock Hol­mes, aber wir erle­ben sie durch die Augen sei­nes Side­kicks Dr. Wat­son, einer Nebenfigur.

Die Neben­fi­gur, durch deren Pris­ma wir das Gesche­hen erle­ben, kann dabei sowohl ein „Ich“ sein als auch die Reflek­tor­fi­gur eines per­so­na­len Erzäh­lers. Der Begriff der Reflek­tor­fi­gur – oder auch ein­fach des Reflek­tors – stammt von Franz Karl Stan­zel, dem Schöp­fer des typo­lo­gi­schen Modells der Erzähl­si­tua­tio­nen. Eine ent­stell­te Ver­si­on die­ses Modells ist das, was man im Deutsch­un­ter­richt in der Schu­le ver­ab­reicht bekommt.

Der per­so­na­le Erzäh­ler ist hier­bei eine unsicht­ba­re Enti­tät, die sich auf die Wahr­neh­mun­gen und das Innen­le­ben einer Figur fokus­siert, eben des Reflek­tors. Der Erzäh­ler benutzt für den Reflek­tor die Per­so­nal­pro­no­men „er“ oder „sie“, zieht also ver­bal eine Gren­ze zwi­schen sich und der Figur. Aber weil der Erzäh­ler sonst nicht wahr­nehm­bar ist, ent­steht der Ein­druck, dass er mit der Reflek­tor­fi­gur ver­schmilzt. Das geht sogar so weit, dass man­che Men­schen den Reflek­tor fälsch­li­cher­wei­se als Erzäh­ler bezeichnen.

Wenn bei­spiels­wei­se die Figur San­sa aus dem Lied von Eis und Feu­er als „unre­lia­ble nar­ra­tor“ gehan­delt wird, ist das tech­nisch gese­hen falsch, weil San­sa ihre Geschich­te nicht selbst erzählt. Sie ist nur die Reflek­tor­fi­gur eines Erzäh­lers, der ihre Geschich­te in der drit­ten Per­son erzählt, dabei aber ihre Sicht­wei­se so unhin­ter­fragt wie­der­gibt, dass auch ihre Irr­tü­mer dem Leser unkom­men­tiert prä­sen­tiert werden.

Obwohl die Reflek­tor­fi­gur bei Stan­zel an den per­so­na­len Erzäh­ler gekop­pelt ist, benut­ze ich die­ses Wort gene­rell für Figu­ren, deren Per­spek­ti­ve vom Erzäh­ler über­nom­men wird. Das heißt, auch wenn das erzäh­len­de Ich die Per­spek­ti­ve des erzähl­ten Ich über­nimmt, also Infor­ma­tio­nen, die dem erzähl­ten ich gera­de nicht vor­lie­gen, dem Leser vorenthält.

Und wie gesagt, die Reflek­tor­fi­gur kann der Prot­ago­nist selbst sein – wie zum Bei­spiel in den Har­ry Pot­ter-Büchern –, aber auch als Neben­fi­gur auf­tre­ten wie in der Sher­lock Hol­mes-Rei­he.

Die Grün­de, eine Geschich­te aus einer ande­ren Per­spek­ti­ve zu erzäh­len als der des Prot­ago­nis­ten, kön­nen dabei viel­fäl­tig sein:

  • So ist es bei­spiels­wei­se fas­zi­nie­ren­der, sich von Sher­locks Gedan­ken­gän­gen über­ra­schen zu las­sen, statt sie „live“ in sei­nem Gehirn zu beobachten.
  • Eine Außen­sicht auf den Prot­ago­nis­ten ermög­licht auch einen kri­ti­sche­ren Blick auf ihn, weil man sich beim Lesen statt mit ihm eher mit der Neben­fi­gur iden­ti­fi­ziert, die gera­de als Reflek­tor dient.
  • Außer­dem taugt gene­rell nicht jeder Prot­ago­nist als Iden­ti­fi­ka­ti­ons­fi­gur. Die Grün­de dafür sind von Geschich­te zu Geschich­te aber sehr indi­vi­du­ell, daher möch­te es an die­ser Stel­le nicht wei­ter vertiefen.

Titelfigur

So viel also heu­te zu den Kate­go­rien von Figu­ren. Als klei­ne Ergän­zung möch­te ich nur noch kurz über Titel­fi­gu­ren reden: Denn Dir ist sicher­lich auf­ge­fal­len, dass vie­le Geschich­ten den Namen oder die (Berufs-)Bezeichnung oder eine Umschrei­bung einer Figur als Titel tragen:

  • So trägt die Har­ry Pot­ter-Rei­he den Namen ihres Prot­ago­nis­ten und der zen­tra­len Reflek­tor­fi­gur als Titel,
  • der Film Der Sol­dat James Ryan wur­de nach einer Neben­fi­gur benannt,
  • der Titel von Her­mann Hes­ses Der Step­pen­wolf ver­weist auf die nicht-bür­ger­li­che Sei­te des Protagonisten,
  • der Titel Die drei Mus­ke­tie­re benennt den Beruf der drei Neben-Hauptfiguren,
  • und der Titel Der Herr der Rin­ge schließ­lich umschreibt den Antagonisten.

Obwohl es sich bei einer Titel­fi­gur also oft um den Prot­ago­nis­ten und die Reflek­tor­fi­gur han­delt, sind die Mög­lich­kei­ten unbe­grenzt. Von einem Split­ter­aspekt der Per­sön­lich­keit des Prot­ago­nis­ten bis hin zu sei­nem Oppo­nen­ten oder gar einer Figur, die nur gegen Ende der Geschich­te auf­taucht, ist alles erlaubt. Wich­tig ist bei Titeln, dass sie gene­rell die Essenz der Geschich­te ein­fan­gen. Ob man dafür eine Titel­fi­gur wählt und wenn ja, dann wel­che, ist Dir überlassen.

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