Anfänge schreiben: Prolog, erstes Kapitel, erster Satz

Anfänge schreiben: Prolog, erstes Kapitel, erster Satz

Wo soll­te man sei­ne Erzäh­lung begin­nen? Am Anfang? Mit­ten­drin? Mit einem Pro­log? Was sind die Merk­ma­le eines guten ers­ten Kapi­tels? Was macht einen guten ers­ten Satz aus? – Der Anfang ent­schei­det oft, ob auch der Rest der Geschich­te gele­sen wird. Des­we­gen befas­sen wir uns in die­sem Arti­kel mit genau die­sen Fragen.

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Es gibt kei­ne zwei­te Chan­ce für einen ers­ten Ein­druck. Des­we­gen gehört der Anfang einer Geschich­te beim Schrei­ben zu den wich­tigs­ten Din­gen über­haupt. Neh­men wir uns also die­ses The­mas an und spre­chen in die­sem Arti­kel all­ge­mein über Anfän­ge, den Sinn und Unsinn von Pro­lo­gen sowie über den ers­ten Satz.

Anfänge schreiben: Verführen, informieren, neugierig machen

Der Zweck eines guten Anfangs ist denk­bar simpel:

Er soll den Inter­es­sen­ten dazu bewe­gen, auch den Rest der Geschich­te zu lesen.

Wie das geht, haben wir etwas ober­fläch­lich bereits in einem frü­he­ren Arti­kel bespro­chen: Da haben wir die AIDA-For­mel aus dem Mar­ke­ting unter ande­rem auf den Anfang angewandt.

AIDA setzt sich dabei zusam­men aus:

  • A → Atten­ti­on → Auf­merk­sam­keit erregen
  • I → Inte­rest → Inter­es­se wecken
  • D → Desi­re → Begeh­ren auslösen
  • A → Action → zum Han­deln auffordern

Kon­kret auf Geschich­ten­an­fän­ge bezo­gen bedeu­tet das:

Der Anfang einer Geschich­te bzw. einer Erzäh­lung bzw. eines Buches (was auch immer) muss etwas Beson­de­res sein, sich abhe­ben und den Leser aus sei­nem All­tags­trott rei­ßen. Er soll­te ver­mit­teln, was die Geschich­te zu bie­ten hat, und die Bedürf­nis­se der Ziel­grup­pe anspre­chen. Und nicht zuletzt soll­te er neu­gie­rig machen, Fra­gen auf­wer­fen und in den Kon­flikt ein­füh­ren, sodass der Leser unbe­dingt erfah­ren will, wie es wei­ter­geht. Idea­ler­wei­se folgt dar­auf­hin die Hand­lung des Lesers, näm­lich dass er an der Geschich­te kle­ben bleibt.

Mit ande­ren Worten:

Wenn Dei­ne Geschich­te mit dem Klin­geln des Weckers anfängt, mit dem Zäh­ne­put­zen wei­ter­geht und der Prot­ago­nist anschlie­ßend in den Spie­gel schaut und dabei beschrie­ben wird, dann ist das eine Kli­schee-Para­de, die Dich als Schreib­an­fän­ger outet: Gefühlt die Hälf­te der Geschich­ten von uner­fah­re­nen Autoren beginnt genau so. – Laaangweilig!

Dos und Don’ts

Es geht in vie­ler­lei Hin­sicht aber auch dar­um, eine gesun­de Balan­ce zu halten:

  • So ist es zwar wich­tig, Fra­gen auf­zu­wer­fen, doch wenn es in der ers­ten Sze­ne um Holo­mis­u­ha­si­tams vom Pla­ne­ten Fur­ze­vick geht, die über Tölö­wer­ade­tas dis­ku­tie­ren und sich Gera­zi­mo­na­re als Ziel set­zen, dann ver­steht der Leser nur Bahn­hof: Er braucht kla­re Infor­ma­tio­nen, an denen er sich fest­hal­ten kann, um dem Gesche­hen eini­ger­ma­ßen zu fol­gen, eine Ver­bin­dung zu den Figu­ren auf­zu­bau­en und sich irgend­wie um den wei­te­ren Ver­lauf der Geschich­te zu scheren.
  • Und damit wären wir auch schon bei der Ein­füh­rung in die Welt und evtl. auch bei der Vor­stel­lung der wich­tigs­ten Figu­ren. Um der Hand­lung fol­gen zu kön­nen, braucht der Leser zumin­dest gro­be Ant­wor­ten auf die Fra­gen: Wer? Was? Wo? Wann? – Was im Übri­gen oft auch mit dem Auf­bau­en von Atmo­sphä­re ein­her­geht. Falsch wäre aller­dings, dem Leser alles haar­klein zu erklä­ren, ihn nicht mit­den­ken zu las­sen, die Infor­ma­tio­nen also fast enzy­klo­pä­disch in einem fet­ten, lang­wei­li­gen Info-Dump abzuladen.
  • Auch soll­te der Anfang idea­ler­wei­se so gewählt wer­den, dass er mit der Prä­mis­se oder zumin­dest mit den zen­tra­len The­men etwas zu tun hat. Er fun­giert nun mal auto­ma­tisch als Ver­spre­chen und soll­te des­we­gen zum Rest der Geschich­te pas­sen. Wenn der Anfang einer Lie­bes­ge­schich­te also einen Kri­mi ver­spricht, dann brauchst Du Dich nicht zu wun­dern, wenn Du Kri­mi-Fans anlockst und die­se dann ent­täuscht sind, wäh­rend Lie­bes­ge­schich­ten-Fans Dein Werk gar nicht erst anfassen.
  • Nicht zuletzt soll­te der Anfang natür­lich inter­es­sant sein – und das schreit nach einem Kon­flikt. Das bedeu­tet nicht, dass da sofort die Fet­zen flie­gen müs­sen, aber es soll­te nicht zu lan­ge dau­ern, bis Span­nung ent­steht. Denn wenn da sei­ten­wei­se nichts pas­siert als Frie­de, Freu­de, Eier­ku­chen, dann hat der Leser irgend­wann kei­nen Grund zu glau­ben, dass in der Geschich­te noch etwas Inter­es­san­tes passiert.

Am wich­tigs­ten ist aber der sog. „Hook“: der „Haken“, mit dem man den Leser am Text fest­hält. Denn den Leser fest­zu­hal­ten ist ja der Sinn und Zweck eines Anfangs. Dabei kann der „Hook“ selbst alles Mög­li­che oder sogar eine Kom­bi­na­ti­on von allem Mög­li­chen sein: Von einer inter­es­san­ten Welt, einer packen­den Atmo­sphä­re über span­nen­de Figu­ren und Situa­tio­nen bis hin zur Per­spek­ti­ve und Spra­che des Erzäh­lers kann es alles sein, was die Geschich­te eben irgend­wie abhebt und einen Grund zum Wei­ter­le­sen lie­fert.

Und natür­lich soll­te die­ser „Hook“ – oder der ers­te von meh­re­ren „Hooks“ – mög­lichst früh auf­tre­ten:

Denn je län­ger es dau­ert, bis der Leser „gehoo­ked“ ist, des­to wahr­schein­li­cher ist, dass er abspringt.

Ab ovo vs. in medias res

Doch genug von den Anfor­de­run­gen an gute Anfän­ge. Uns inter­es­siert näm­lich auch die Fra­ge, an wel­cher Stel­le man über­haupt eine Erzäh­lung anfängt. Denn wie in einem frü­he­ren Arti­kel bereits erläu­tert, unter­schei­det man aus gutem Grund zwi­schen Sto­ry und Plot:

  • Sto­ry: was pas­siert ist
  • Plot: die Art und Wei­se, wie davon erzählt wird

Wäh­rend in einer Sto­ry alles säu­ber­lich chro­no­lo­gisch ver­läuft, kann der Plot im Prin­zip an jeder belie­bi­gen Stel­le begin­nen. Wenn man das Gan­ze aber auf die zwei grund­le­gends­ten Vari­an­ten her­un­ter­bricht, lan­det man schnell bei den vom römi­schen Dich­ter Horaz gepräg­ten Wen­dun­gen ab ovo und in medi­as res:

  • Eine Erzäh­lung ab ovo beginnt dort, wo auch die Sto­ry anfängt.
  • Ein Beginn in medi­as res (alter­na­tiv auch medi­as in res) ist mit­ten in der Sto­ry ange­sie­delt, die Hand­lung ist also sofort in vol­lem Gange.

Zum Bei­spiel beginnt Stolz und Vor­ur­teil von Jane Aus­ten ab ovo, näm­lich als der rei­che Sin­gle Mr. Bin­g­ley in der Nach­bar­schaft der Fami­lie Ben­net ein­zieht. In medi­as res wäre gege­ben, wenn der Roman damit anfan­gen wür­de, dass Eliza­beth Ben­net sich über Bin­g­leys Freund Dar­cy ärgert.

Umge­kehrt beginnt Im Wes­ten nichts Neu­es von Erich Maria Remar­que in medi­as res, näm­lich kurz nach­dem Paul Bäu­mer und sei­ne Kame­ra­den an der Front abge­löst wur­den. Erst spä­ter wird berich­tet, wie sie moti­viert wur­den, sich frei­wil­lig zum Kriegs­dienst zu mel­den, und wie ihre Aus­bil­dung zu Sol­da­ten ver­lief. Ab ovo wäre gewe­sen, wenn der Roman im Klas­sen­zim­mer begon­nen hät­te, als die dama­li­gen Schul­jun­gen der Gehirn­wä­sche durch ihren Leh­rer aus­ge­setzt waren.

Aller­dings muss dar­auf hin­ge­wie­sen wer­den, dass das, was man als Anfang einer Sto­ry betrach­tet, stets davon abhängt, wo man die Schwer­punk­te setzt:

Denn dreht sich alles um das Ver­hei­ra­ten der Ben­net-Töch­ter, beginnt die Sto­ry mit dem Auf­tau­chen geeig­ne­ter Hei­rats­kan­di­da­ten. Setzt man jedoch den Schwer­punkt auf die mise­ra­ble finan­zi­el­le Lage der Ben­nets, müss­te man beschrei­ben, wie sie sich ent­wi­ckelt, als Mr. und Mrs. Ben­net fünf Töch­ter, aber kei­ne Söh­ne bekommen.

Außer­dem soll­ten der Voll­stän­dig­keit hal­ber auch in ulti­mas res, in nuce und die Invo­ca­tio genannt wer­den. Die­se Begrif­fe bezeich­nen eine Erzäh­lung, die mit dem Ende beginnt, einen Anfang, der Anspie­lun­gen auf den spä­te­ren Ver­lauf ent­hält, und den Beginn mit einer Anru­fung, einer Begrün­dung für den Erzähl­akt oder ander­wei­ti­gem Vor­ge­plän­kel. Ich per­sön­lich hal­te sie jedoch weni­ger für eigen­stän­di­ge Typen, son­dern eher für eine spe­zi­el­le Form des ana­chro­nis­ti­schen Anfangs, also in medi­as res, bzw. für eine sti­lis­ti­sche Ent­schei­dung. Des­we­gen beschrän­ke ich mich lie­ber auf ab ovo und in medi­as res, d. h. auf die Ent­schei­dung zwi­schen einem chro­no­lo­gi­schen Anfang und einem anachronistischen.

Einen geeigneten Anfang finden

Doch wel­cher Ansatz eig­net sich für kon­kret Dei­ne Geschich­te? Das kannst natür­lich nur Du selbst wis­sen, denn nur Du weißt, wel­che mög­li­chen Start­punk­te es in der Sto­ry über­haupt gibt. Den­noch soll­test Du eini­ge Din­ge beden­ken, wenn Du den Punkt aus­wählst, an dem der Plot begin­nen soll:

  • Grund­sätz­lich soll­te es ein Moment sein, der die bereits genann­ten Qua­li­täts­kri­te­ri­en für einen guten Anfang am ehes­ten erfüllt. Und wenn ein sol­cher Moment noch nicht exis­tiert, dann schau Dir die Qua­li­täts­kri­te­ri­en noch ein­mal an und nut­ze sie als Grund­la­ge, um einen sol­chen Moment zu erschaf­fen. Fokus­sie­re Dich dabei vor allem auf Dei­ne Prä­mis­se, denn nur wenn Du weißt, wor­um es in Dei­ner Geschich­te geht, kannst Du auch beur­tei­len, wel­cher Moment ein geeig­ne­ter Anfang wäre.
  • Ach­te beson­ders dar­auf, dass die Hand­lung mög­lichst bald los­geht. Soll hei­ßen: Ein guter Anfang ist der Moment, ab dem es inter­es­sant wird, bzw. kurz davor.
  • Man­che Geschich­ten sind jedoch mit einem lang­sa­men Anfang bes­ser bedient, zum Bei­spiel wenn kom­ple­xes World-Buil­ding erfor­der­lich ist, weil der Leser sonst den Rest der Geschich­te nicht ver­steht. In die­sem Fall soll­test Du dar­auf ach­ten, dass der noch so schlep­pen­de Anfang immer noch die Qua­li­täts­kri­te­ri­en erfüllt, sei es durch packen­de Figu­ren, span­nen­de Kon­flik­te oder was auch immer. Not­falls kann es auch hel­fen, der eigent­li­chen Hand­lung einen Pro­log vor­an­zu­stel­len, in dem die span­nen­den Din­ge, die in der Geschich­te noch pas­sie­ren, schon mal ange­deu­tet wer­den. Dazu aber gleich noch ausführlicher.
  • Gene­rell soll­test Du Dir wäh­rend des Schrei­bens aber nicht all­zu sehr einen Kopf machen. Zunächst ist es ein­fach nur wich­tig, dass Du irgend­wie anfängst und Dei­nen Erst­ent­wurf been­dest. Spä­ter, beim Über­ar­bei­ten, kannst Du die Sze­nen immer noch ver­schie­ben oder kom­plett neue Pas­sa­gen schrei­ben. Und weil Du zu dem Zeit­punkt schon die gan­ze Geschich­te nie­der­ge­schrie­ben haben wirst, soll­test Du auch eine bes­se­re Ahnung haben, wel­cher Anfang am bes­ten passt.

Prologe

Nun ist aber bereits das Stich­wort „Pro­log“ gefal­len und wir wol­len auch direkt dar­auf ein­ge­hen: Wann ist ein Pro­log sinn­voll und wann soll­te die Geschich­te ganz nor­mal mit dem ers­ten Kapi­tel anfangen?

Klä­ren wir zu nächst die Fra­ge, was ein Pro­log über­haupt ist:

Wört­lich über­setzt aus dem Grie­chi­schen bedeu­tet es „Vor­wort“ – aber meis­tens meint man damit eine ganz bestimm­te Art von Vor­wort, näm­lich ein Kapi­tel vor dem ers­ten Kapi­tel, das dem Leser ver­mit­telt, was er vor der Lek­tü­re der eigent­li­chen Geschich­te wis­sen sollte.

Sol­che „Vor­wor­te“ sind fes­te Bestand­tei­le ihrer jewei­li­gen Geschich­ten und sol­len neu­gie­rig machen. Nichts­des­to­trotz heben sie sich oft vom Rest der Geschich­te ab: Nicht nur durch die Über­schrift „Pro­log“ statt „Kapi­tel 1“, son­dern weil sie bei­spiels­wei­se aus einer ande­ren Per­spek­ti­ve erzäh­len, in einer ande­ren Zeit spie­len oder eine Legen­de oder Pro­phe­zei­ung wie­der­ge­ben, die in der eigent­li­chen Geschich­te rele­vant wird.

Vorsicht: Ist ein Prolog wirklich notwendig?

Doch so nett Pro­lo­ge auch klin­gen mögen, schwingt hier oft die Gefahr von Kitsch und Kli­schee mit. Beson­ders Flash­backs, Legen­den und Pro­phe­zei­un­gen wer­den infla­tio­när benutzt, obwohl sie für die kon­kre­te Geschich­te gar nicht not­wen­dig sind.

Ein crin­gi­ges Bei­spiel fin­det sich im deut­schen Block­bus­ter Der Rote Baron, des­sen ers­te Sze­ne den Prot­ago­nis­ten Man­fred von Richt­ho­fen als Kind zeigt, wie er ein Flug­zeug sieht, auf sei­nem Pferd hin­ter­her­rei­tet und die Arme aus­brei­tet, als wür­de er flie­gen. Offen­bar ist es sein Kind­heits­traum, Pilot zu wer­den. – Doch das spielt im wei­te­ren Ver­lauf des Films kei­ne Rol­le – und dass Richt­ho­fen ger­ne fliegt und sei­ne Kampf­ein­sät­ze im Ers­ten Welt­krieg als eine Art Sport ansieht, kommt in vie­len ande­ren Sze­nen der eigent­li­chen Geschich­te ein­deu­tig rüber. Der „Pro­log“ mit Richt­ho­fens Kind­heit ist also eine völ­lig über­flüs­si­ge und dazu auch noch super­kit­schi­ge Szene.

Ich sage nicht, dass Flash­backs und geheim­nis­vol­ler mys­ti­scher Krims­krams kei­ne guten Pro­lo­ge her­ge­ben kön­nen, aber abge­se­hen davon, dass sie viel zu häu­fig ver­wen­det wer­den, soll­test Du gene­rell über­prü­fen, ob Dei­ne Geschich­te über­haupt einen Pro­log braucht:

Wenn er gestri­chen wer­den kann, ohne dass die Geschich­te etwas ver­liert, dann soll­te er eben gestri­chen werden.

Ein struk­tu­rel­les Argu­ment für einen Pro­log wur­de bereits erwähnt, näm­lich dass er sinn­voll sein kann, wenn die eigent­li­che Geschich­te – aus wel­chen Grün­den auch immer – nur lang­sam ins Rol­len kommt und der Leser schon mal einen Vor­ge­schmack bekom­men soll, was ihn spä­ter erwar­tet. Zum Bei­spiel könn­te ein Pro­log, in dem blu­ti­ge Fetz­ten flie­gen, im Zusam­men­spiel mit einem idyl­li­schen ers­ten Kapi­tel Span­nung erzeu­gen, weil man da durch den blu­ti­gen Pro­log ja im Hin­ter­kopf hat, dass die Idyl­le bald ein Ende nimmt.

Außer­dem könn­te ein Pro­log auch eine alter­na­ti­ve Per­spek­ti­ve auf die eigent­li­che Geschich­te lie­fern, sodass man das Gesche­hen der eigent­li­chen Geschich­te zwar durch die Augen des Prot­ago­nis­ten beob­ach­tet, aber gleich­zei­tig weiß, dass man die Din­ge auch anders sehen könn­te. Auch kön­nen Pro­lo­ge schon mal ein wenig World-Buil­ding leis­ten, wenn es für das Ver­ständ­nis des ers­ten Kapi­tels not­wen­dig ist.

Ein Bei­spiel für einen guten Pro­log fin­det sich in Das Lied von Eis und Feu­er von Geor­ge R. R. Mar­tin: Wäh­rend die ande­ren Kapi­tel wie­der­keh­ren­de Reflek­tor­fi­gu­ren haben, fun­giert der Nacht­wäch­ter Will nur hier als Reflek­tor. Durch sei­ne Augen bekommt der Leser bereits einen ers­ten Ein­blick in die Welt, in der die Buch­rei­he spielt, und sieht die Ande­ren, die Wei­ßen Wan­de­rer, deren Exis­tenz in der eigent­li­chen Geschich­te sys­te­ma­tisch ange­zwei­felt wird. Und da der Leser ja weiß, dass sie wirk­lich exis­tie­ren und eine Bedro­hung dar­stel­len, trägt das in den spä­te­ren Kapi­teln zur Span­nung bei.

Übri­gens muss ein Pro­log auch nicht unbe­dingt „Pro­log“ als Über­schrift haben:

So gibt es in der Har­ry Pot­ter-Rei­he manch­mal De-fac­to-Pro­lo­ge, streng­ge­nom­men ers­te Kapi­tel, die aber eine ande­re Reflek­tor­fi­gur haben als Har­ry und dem Leser Infor­ma­tio­nen ver­mit­teln, die spä­ter rele­vant wer­den, von denen Har­ry aber noch nichts weiß.

Inter­es­sant sind auch Din­ge wie „Ein­gang“ und „Aus­gang“ in Remar­ques Der Weg zurück, die fak­tisch den Pro­log und den Epi­log dar­stel­len und eine Art Rah­men für den titel­ge­ben­den Weg zurück ins zivi­le Leben bil­den: Der „Ein­gang“ zeigt das Ende des Ers­ten Welt­kriegs, der „Aus­gang“ zeigt, wie die über­le­ben­den Figu­ren sich mit dem zivi­len Leben arran­giert haben, und alles dazwi­schen zeigt ihre Schwie­rig­kei­ten nach ihrer Rück­kehr von der Front.

Einen Prolog schreiben

Bevor Du also einen Pro­log ein­baust, soll­test Du genau über­le­gen, wel­che Funk­ti­on er für die Geschich­te erfüllt. Die Mög­lich­kei­ten sind hier­bei gren­zen­los: von einem Vor­wort, in dem ein angeb­li­cher Her­aus­ge­ber behaup­tet, die Ereig­nis­se in der Geschich­te wären real, bis hin zu Pro­lo­gen, die fak­tisch ganz regu­lä­re Kapi­tel sind, ist alles erlaubt.

Was für Dei­ne Geschich­te das Rich­ti­ge ist, hängt aber von Dei­nem indi­vi­du­el­len Werk ab. Wich­tig ist nur, dass der Pro­log, sofern Du ihn ein­baust, rele­vant ist und die Geschich­te berei­chert und außer­dem natür­lich auch die Qua­li­täts­kri­te­ri­en für einen guten Anfang erfüllt. Und wenn Dei­ne Geschich­te wun­der­bar ohne Pro­log aus­kommt oder Dir kein Pro­log ein­fällt, dann lass ihn weg: Das wäre eine poten­ti­el­le Kli­schee­fal­le weniger.

Der erste Satz

Aber egal, ob Dein Werk mit einem Pro­log oder direkt mit dem ers­ten Kapi­tel beginnt: Den Anfang einer jeden Geschich­te bil­det der ers­te Satz. Und weil es, wie gesagt, kei­ne zwei­te Chan­ce für einen ers­ten Ein­druck gibt, muss er mög­lichst per­fekt sein. Denn von ihm hängt sehr stark ab, ob auch der zwei­te Satz und schließ­lich der Rest der Geschich­te gele­sen wird.

Wie schreibt man also einen guten ers­ten Satz?

Arten von ersten Sätzen

In sei­nem Buch ‚Jemand muss­te Josef K. ver­leum­det haben …‘: Ers­te Sät­ze der Welt­li­te­ra­tur und was sie uns ver­ra­ten zer­legt Peter-André Alt, wie der Titel schon sagt, ers­te Sät­ze aus der Welt­li­te­ra­tur und ord­net sie in ver­schie­de­ne Kate­go­rien ein. Die­se wären:

  • eine Anru­fung der Göt­ter, damit sie dem Dich­ter wäh­rend des Schöp­fungs­pro­zes­ses bei­ste­hen, wie sie in der Anti­ke üblich war,

„Sage mir, Muse, die Taten des viel­ge­wan­der­ten Man­nes, | Wel­cher so weit geirrt, nach der hei­li­gen Tro­ja Zer­stö­rung, | Vie­ler Men­schen Städ­te gesehn, und Sit­te gelernt hat, | Und auf dem Mee­re so viel‘ unnenn­ba­re Lei­den erdul­det, | Sei­ne See­le zu ret­ten, und sei­ner Freun­de Zurückkunft.“
Homer: Odys­see, Über­set­zung von Johann Hein­rich Voß, 1. Gesang.

  • ein Vor­wort eines angeb­li­chen Her­aus­ge­bers, der behaup­tet, bei dem Text wür­de es sich um rea­le Auf­zeich­nun­gen han­deln, was beson­ders für die frü­he Neu­zeit cha­rak­te­ris­tisch ist,

„Lemu­el Gul­li­ver, der Ver­fas­ser die­ser Rei­sen, ist mein alter, inti­mer Freund, auch ver­wandt­schaft­li­che Bezie­hun­gen bestehen zwi­schen uns von müt­ter­li­cher Seite.“
Jona­than Swift: Gul­li­vers Rei­sen zu meh­re­ren Völ­kern der Welt, Über­set­zung von Franz Kot­ten­kamp, Der Her­aus­ge­ber an den Leser.

  • eine Behaup­tung, durch die der Erzäh­ler Auto­ri­tät und Welt­kennt­nis ausstrahlt,

„Es ist eine Wahr­heit, über die sich alle Welt einig ist, daß ein unbe­weib­ter Mann von eini­gem Ver­mö­gen unbe­dingt auf der Suche nach einer Lebens­ge­fähr­tin sein muß.“
Jane Aus­ten: Stolz und Vor­ur­teil, Über­set­zung von Karin von Schwab, 1. Kapitel.

  • die Beschrei­bung einer Figur,

„An einem Orte der Man­cha, an des­sen Namen ich mich nicht erin­nern will, leb­te vor nicht lan­ger Zeit ein Jun­ker, einer von jenen, die einen Speer im Lan­zen­ge­stell, eine alte Tartsche, einen hagern Gaul und einen Wind­hund zum Jagen haben.“
Miguel de Cer­van­tes Saa­ve­dra: Der sinn­rei­che Jun­ker Don Qui­jo­te von der Man­cha, Über­set­zung von Lud­wig Braun­fels, 1. Buch, 1. Kapitel.

  • Anga­ben zu Ort und Zeit,

„In einer Stadt, die ich aus man­cher­lei Grün­den weder nen­nen will, noch mit einem erdich­te­ten Namen bezeich­nen möch­te, befand sich unter ande­ren öffent­li­chen Gebäu­den auch eines, des­sen sich die meis­ten Städ­te rüh­men kön­nen, näm­lich ein Armenhaus.“
Charles Dickens: Oli­ver Twist, Über­set­zung von von Carl Kolb, 1. Kapitel.

  • die Beschrei­bung einer Situa­ti­on,

„Ali­ce fing an sich zu lang­wei­len; sie saß schon lan­ge bei ihrer Schwes­ter am Ufer und hat­te nichts zu tun.“
Lewis Car­roll: Ali­ce im Wun­der­land, Über­set­zung von Anto­nie Zim­mer­mann, 1. Hin­un­ter in den Kaninchenbau.

  • ein plötz­li­ches Ereig­nis,

„In M…, einer bedeu­ten­den Stadt im obe­ren Ita­li­en, ließ die ver­wit­we­te Mar­qui­se von O…, eine Dame von vor­treff­li­chem Ruf, und Mut­ter von meh­re­ren wohl­erzo­ge­nen Kin­dern, durch die Zei­tun­gen bekannt machen: daß sie, ohne ihr Wis­sen, in and­re Umstän­de gekom­men sei, daß der Vater zu dem Kin­de, das sie gebä­ren wür­de, sich mel­den sol­le; und daß sie, aus Fami­li­en­rück­sich­ten, ent­schlos­sen wäre, ihn zu heiraten.“
Hein­rich von Kleist: Die Mar­qui­se von O…

  • Span­nungs­auf­bau,

„Im Früh­ling des Jah­res 1894 war das gesam­te Lon­don neu­gie­rig und die Ober­schicht in der gan­zen Welt bestürzt über den Mord am ehren­wer­ten Ronald Adair, der unter den unge­wöhn­lichs­ten und rät­sel­haf­tes­ten Umstän­den zu Tode kam.“
Arthur Conan Doyle: Das lee­re Haus, Über­set­zung von Alex­an­der Wlk.

  • Stim­mungs­auf­bau,

„Es war ein schö­ner Som­mer­abend, als Flo­rio, ein jun­ger Edel­mann, lang­sam auf die Tore von Luc­ca zuritt, sich erfreu­end an dem fei­nen Duf­te, der über der wun­der­schö­nen Land­schaft und den Tür­men und Dächern der Stadt vor ihm zit­ter­te, sowie an den bun­ten Zügen zier­li­cher Damen und Her­ren, wel­che sich zu bei­den Sei­ten der Stra­ße unter den hohen Kas­ta­ni­en­al­leen fröh­lich schwär­mend ergingen.“
Josef von Eichen­dorff: Das Mar­mor­bild.

  • Sprech­ak­te,

Loli­ta, Licht mei­nes Lebens, Feu­er mei­ner Lenden.“
Vla­di­mir Nabo­kov: Loli­ta, Über­set­zung von Helen Hes­sel, Maria Carls­son, Kurt Kusen­berg, Hein­rich Maria Ledig-Rowohlt, Gre­gor von Rezz­ori, Die­ter E. Zim­mer, 1. Teil, 1.

  • Unwahr­schein­li­ches,

„Als Gre­gor Samsa eines Mor­gens aus unru­hi­gen Träu­men erwach­te, fand er sich in sei­nem Bett zu einem unge­heue­ren Unge­zie­fer verwandelt.“
Franz Kaf­ka: Die Ver­wand­lung.

  • Kitsch und Tri­via­les,

„Im Schat­ten des Hau­ses, in der Son­ne des Fluß­u­fers bei den Boo­ten, im Schat­ten des Sal­wal­des, im Schat­ten des Fei­gen­bau­mes wuchs Sid­dha­rtha auf, der schö­ne Sohn des Brah­ma­nen, der jun­ge Fal­ke, zusam­men mit Govin­da, sei­nem Freun­de, dem Brahmanensohn.“
Her­mann Hes­se: Sid­dha­rtha. Eine indi­sche Dich­tung, 1. Teil, Der Sohn des Brahmanen.

  • Iro­nie,

„An dem Mor­gen, als die letz­te Lis­bon-Toch­ter Selbst­mord beging – Mary dies­mal, mit Schlaf­ta­blet­ten wie The­re­se –, wuss­ten die Sani­tä­ter schon genau, wo die Schub­la­de mit den Mes­sern war, wo der Gas­herd und wo im Kel­ler der Bal­ken, an dem man das Seil fest­bin­den konnte.“
Jef­frey Euge­n­i­des: Die Selbst­mord-Schwes­tern, Über­set­zung von Mech­tild Sand­berg-Cilet­ti, Eike Schön­feld, 1.

  • ein Spiel mit Anfang und Ende.

„Die Ewi­ge Wie­der­kehr ist ein geheim­nis­vol­ler Gedan­ke, und Nietz­sche hat damit man­chen Phi­lo­so­phen in Ver­le­gen­heit gebracht: alles wird sich irgend­wann so wie­der­ho­len, wie man es schon ein­mal erlebt hat, und auch die­se Wie­der­ho­lung wird sich unend­lich wiederholen!“
Milan Kun­de­ra: Die uner­träg­li­che Leich­tig­keit des Seins, Über­set­zung von Susan­na Roth, Ers­ter Teil: Das Leich­te und das Schwe­re, I.

Sicher­lich kön­nen wir uns dar­auf eini­gen, dass vie­le ers­te Sät­ze wohl in meh­re­re Kate­go­rien pas­sen. Und eben­so müss­ten wir uns dar­auf eini­gen kön­nen, dass die ers­ten Sät­ze oft von den Kon­ven­tio­nen ihrer jewei­li­gen Zeit beein­flusst wer­den. Wel­che Art von ers­ten Sät­zen ist also für den heu­ti­gen Leser geeig­net, der sich in einem über­sät­tig­ten Markt bewegt und bekann­ter­ma­ßen die Auf­merk­sam­keits­span­ne eines Gold­fischs hat?

Der Bestseller-Code

In einer frü­he­ren Rei­he habe ich bereits das Buch Der Best­sell­der-Code von Jodie Archer und Matthew L. Jockers zusam­men­ge­fasst, die ca. 5000 Best­sel­ler und Nicht-Best­sel­ler durch einen Algo­rith­mus gejagt haben, um her­aus­zu­fin­den, was die Gemein­sam­kei­ten von ver­kaufs­star­ken Büchern sind. Auch über ers­te Sät­ze gab es Erkennt­nis­se und ich habe sie in Teil 3 zusam­men­ge­fasst. Hier aber zur Auf­fri­schung noch einmal:

  • Der idea­le ers­te Satz ist kurz, ein­fach und klar struk­tu­riert.
  • Er wirkt authen­tisch, der Erzäh­ler strahlt durch sei­ne Gewiss­heit Auto­ri­tät aus, aber auch Witz macht sich gut, wenn es dar­um geht, die Aus­sa­ge schein­bar mühe­los auf den Punkt zu brin­gen.
  • Und nicht zuletzt ent­hält der ers­te Satz ger­ne den gesam­ten Kon­flikt des Romans und ver­spricht Hand­lung.

Oder noch kür­zer zusammengefasst:

Der ers­te Satz ist leicht und ange­nehm zu lesen, sen­det eine kla­re Bot­schaft und gibt einen Vor­ge­schmack auf das gan­ze Werk.

Tipps für den ersten Satz

Wie Du Dir aber sicher­lich bereits den­ken kannst, sind gelun­ge­ne ers­te Sät­ze so indi­vi­du­ell wie die Wer­ke, zu denen sie gehö­ren, und ich bezweif­le, dass es ein Patent­re­zept dafür geben kann. Aber hier trotz­dem ein paar Tipps:

  • Du wirst wahr­schein­lich nicht beim ers­ten Anlauf den per­fek­ten ers­ten Satz for­mu­lie­ren. Ver­su­che es also gar nicht erst.
  • Über­le­ge eher, womit Du gene­rell anfan­gen willst, ab ovo oder in medi­as res, mit einer Sze­ne, einem Schau­platz, einer Figur, einer Behaup­tung oder womit auch immer, las­se Dich von Alts Typo­lo­gie inspi­rie­ren und ach­te auf die AIDA-Formel.
  • Der per­fek­te ers­te Satz oder zumin­dest Ideen dafür kom­men oft erst mit der Zeit im Lau­fe des Schrei­bens. Auch wirst Du den Anfang womög­lich ohne­hin mehr­mals über­ar­bei­ten und Sze­nen und Absät­ze umstel­len. Des­we­gen muss der ers­te Satz erst am Ende des Schreib- bzw. sogar Über­ar­bei­tungs­pro­zes­ses wirk­lich feststehen.
  • Und wenn Du Dich zwi­schen meh­re­ren Ideen nicht ent­schei­den kannst oder ein­fach wis­sen willst, ob Dei­ne Idee etwas taugt, kannst Du Dei­nen ers­ten Satz bzw. Dei­ne Ideen ja ande­ren Leu­ten vor­tra­gen und sie fra­gen, ob das nach einem inter­es­san­ten Buch klingt.

Schlusswort

So viel zu Anfän­gen von Geschich­ten. – Wie Du siehst, ein wich­ti­ges The­ma, bei dem es sehr viel zu beach­ten gibt. Ein miss­lun­ge­ner Anfang bedeu­tet zwar nicht auto­ma­tisch, dass Dei­ne Geschich­te nicht gele­sen wird: Denn auch Titel, Cover, Klap­pen­text und gute Kri­ti­ken haben einen Ein­fluss dar­auf, ob Dei­ne Geschich­te Inter­es­se weckt. Aber der Anfang ist den­noch ein wesent­li­cher Fak­tor, der über den Erfolg Dei­nes Buches ent­schei­det. Wäh­le ihn also weise.

Ansons­ten schreit vor allem das The­ma der ers­ten Sät­ze nach beson­ders vie­len Bei­spie­len, die aber nicht in aus­rei­chen­dem Maße in die­sem einen Theo­rie-Arti­kel behan­delt wer­den kön­nen. Des­we­gen möch­te ich am 22.08.2021 ger­ne in einem exklu­si­ven Live­stream für Ste­ady-Mit­glie­der mehr auf die Pra­xis ein­ge­hen und über eine Aus­wahl kon­kre­ter ers­ter Sät­ze reden, ger­ne auch über Ein­sen­dun­gen aus der Com­mu­ni­ty, sei­en es ers­te Sät­ze aus Lieb­lings­bü­chern oder eige­nen Wer­ken. Über Dei­ne Teil­nah­me und gleich­zei­ti­ge finan­zi­el­le Unter­stüt­zung wür­de ich mich sehr freuen!

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