„My Immortal“ von Tara Gilesbie

„My Immortal“ von Tara Gilesbie

My Immortal ist ein berühmt-berüch­tigter Klas­siker der Trash-Lite­ratur. Im Prinzip macht die Autorin Tara Gilesbie hier alles falsch, was man nur falsch machen kann. Ist es also über­haupt mög­lich, dieses Fest der Absur­dität lite­ra­tur­wis­sen­schaft­lich zu ana­ly­sieren? — In diesem Artikel wage ich mich an eine Erzähl­ana­lyse und ent­decke die psy­che­de­li­schen Untiefen dieses Meis­ter­werks …

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Es gibt lite­ra­ri­sche Werke, die gut sind. Es gibt lite­ra­ri­sche Werke, die schlecht sind. Es gibt lite­ra­ri­sche Werke, die so schlecht sind, dass sie schon wieder gut sind. Und es gibt My Immortal von Tara Gilesbie — den Trash-Klas­siker schlechthin, der so grot­ten­schlecht ist, dass er nicht ein­fach nur gut, son­dern genial ist.

Vor allem aber: Wenn man da als nerdige kleine Lite­ra­tur­wis­sen­schaft­lerin her­an­geht und die Erzähl­per­spek­tive dieses berüch­tigten Mach­werks ana­ly­sieren will, explo­diert einem sehr schnell das Gehirn. Denn die nahezu psy­che­de­li­sche Ver­schmel­zung von Autor, Erzähler und Reflek­tor­figur sowie der sich daraus erge­bende stark meta­lep­ti­sche Cha­rakter der extra- und int­ra­die­ge­ti­schen Erzähl­ebene sprengen die Grenzen einer jeden Lite­ra­tur­theorie.

Nehmen wir also die Her­aus­for­de­rung an und ana­ly­sieren die Erzähl­per­spek­tive in My Immortal. Kenntnis des Werks wird dabei nicht vor­aus­ge­setzt, denn ers­tens fasse ich die Hand­lung — wie immer — kurz zusammen und zwei­tens ist die Hand­lung ohnehin nicht wirk­lich exis­tent. Von daher: Lehn dich zurück und halte eine Kotz­tüte bereit sowie einen Lappen zum Auf­wi­schen der blu­tigen Über­reste Deines Gehirns.

My Immortal: Eine Legende

My Immortal ist eine Harry Potter-Fan­fic­tion, die von 2006 bis 2007 auf FanFiction.net ver­öf­fent­licht wurde und aus ins­ge­samt 44 Kapi­teln besteht. Sie gilt als eine der schlech­testen Fan­fic­tions, die je geschrieben wurden, und gerade das ver­leiht ihr ihren Kult­status. Viele „Fans“ fühlen sich sogar so sehr inspi­riert, dass sie das Werk in andere Spra­chen über­setzen, Fan Art anfer­tigen, Lese­insze­nie­rungen auf You­Tube hoch­laden und sich an Ver­fil­mungen wagen.

Ein wich­tiger Bestand­teil der Legende My Immortal ist die Dis­kus­sion um die Iden­tität des Autors und die Absicht, die mit diesem Mach­werk ver­folgt wurde. Fest steht nur, dass My Immortal von einer gewissen Tara Gilesbie unter dem User­namen XXXbloodyrists666XXX geschrieben wurde. Bis an den heu­tigen Tag scheiden sich jedoch die Geister, ob Tara ein­fach nur ein Troll war und My Immortal somit als Satire zu ver­stehen ist oder ob Tara tat­säch­lich eine Teen­agerin war, die ihren wilden Fan­ta­sien einen viel zu freien Lauf gelassen hat. Hin und wieder meldet sich jemand und behauptet, der Autor von My Immortal zu sein, doch ein­deutig bewiesen wurde bisher nichts. Daher wird Tara wohl für immer ein Mys­te­rium bleiben.

Das ver­leiht der Lek­türe von My Immortal aber auch eine kom­pli­zierte mora­li­sche Dimen­sion. Denn wenn es von einem Troll geschrieben wurde — Dann kann man lachen. Wenn aber ein junges Mäd­chen dahinter steckt, das die Geschichte durchaus ernst meinte — Dann habe ich mora­li­sche Bedenken und habe auch ein wenig Sorge. Daher an dieser Stelle ein kleiner Hin­weis:

Wenn ich in dieser Ana­lyse von Tara spreche, dann rede ich von dem Bild, das ihre Geschichte und Autoren­kom­men­tare ver­mit­teln. My Immortal ist objektiv grot­ten­schlecht und trebt einem Lach­tränen in die Augen, ob man es will oder nicht. Und genau darum geht es mir. Nicht um die reale Person Tara Gilesbie, die vom „Erfolg“ ihrer Fan­fic­tion mög­li­cher­weise einen Schaden davon­ge­tragen hat. Ich will sie nicht per­sön­lich angreifen und vor allem nicht ihre Intel­li­genz anzwei­feln. Ich genieße ein­fach nur ihre legen­däre Fan­fic­tion, die ich ehr­lich und auf­richtig liebe. — Ja, die mich in vie­lerlei Hin­sicht sogar geprägt hat! My Immortal ist — wie man so schön sagt — ohne Scheiß eins der wich­tigsten lite­ra­ri­schen Werke meines Lebens und dafür bin ich Tara Gilesbie ohne Scheiß dankbar.

Hand­lung

Wie bereits gesagt, exis­tiert sie nicht wirk­lich. Theo­re­tisch gibt es sie zwar, doch Logik und Kon­ti­nuität sucht man hier ver­geb­lich. Das­selbe gilt auch für die Anknüp­fung an das Ursprungs­ma­te­rial von J. K. Row­ling bzw. eher das darauf basie­rende Film­fran­chise: Die Figuren und Orte sind da, aber kaum wie­der­zu­er­kennen.

Mit­tel­punkt der Geschichte ist die Prot­ago­nistin Ebony Dark’ness Dementia Raven Way. Sie iden­ti­fi­ziert sich mit der Gothic-Kultur — oder wie sie es nennt: „goffik“ -, kauft am liebsten Klei­dung in einer Hot Topic-Filiale in Hogs­meade, ist Vam­pirin und Sata­nistin und ist im siebten Jahr in Hog­warts, Haus Sly­therin.

Die Geschichte dreht sich um ihre Bezie­hungen zu den ver­un­stal­teten Ver­sionen der Figuren aus dem Harry Potter-Uni­versum, beson­ders zu ihrem pri­mären Love-Inte­rest Draco Malfoy, der eben­falls ein „Goff“ ist. Ihre Freunde sind Dracos heißer Ex-Freund Harry „Vam­pire“ Potter, B’loody Mary Smith (ursprüng­lich Her­mine Granger), Ron „Dia­bolo“ Weasley und andere „Goffs“, Vam­pire und Sata­nisten, die von Gryffindor nach Sly­therin gewech­selt sind. Außerdem zählt auch Willow, das fik­tive Alter Ego von Taras Beta-Leserin Raven, zu Ebonys Freund­schafts­kreis. Ebonys Gegen­spieler sind der Bark Lord Vol­xe­mort und seine Death Deelers, die Gryffindor-Schü­lerin Britney mit ihrem Hil­lary Duff-T-Shirt und andere soge­nannte „Preps“, d.h. Nicht-„Goffs“. Außerdem spielen auch Figuren wie Dum­bel­dork, Pro­fessor McGoogle, Pro­fessor Slut­born, Cor­nelia Fuck, Hair­grid und Serious Blak, Vam­pire Pot­ters „dog­fa­ther“, eine Rolle.

Die Geschichte besteht im Grunde aus einer Abfolge von sehr detail­lierten Beschrei­bungen von Out­fits und Make-up, Kon­zert­be­su­chen von „Goffik“-Bands wie My Che­mical Romance in Hogs­meade, kin­disch geschrie­benen Sex­szenen, selbst­ver­let­zendem Ver­halten und Suizid, sehr abwechs­lungs­rei­chen Belei­di­gungen, Mit­tel­fin­gern in Rich­tung der „Preps“ sowie Schie­ße­reien mit Pis­tolen. Immer wieder mischt auch Vol­xe­mort mit und ver­langt, dass Ebony Vam­pire Potter tötet, denn sonst würde er ihren Freund Draco umbringen. Später stellt sich heraus, dass Vol­xe­mort nur des­halb so böse ist, weil ein „sexi goffik bi guy“ namens Hedwig ihm wäh­rend seiner Schul­zeit das Herz gebro­chen hat. Daher reist Ebony in die 80er Jahre, um den zukünf­tigen Bark Lord Tom Satan Bom­bodil zu ver­führen, der damals noch einer der „sexiest goth guyz“ war. Das Epos gip­felt in einer Orgie in der Großen Halle, wäh­rend der der pädo­phile „Prep“ Loopin gefol­tert wird. Als plötz­lich Vol­xe­mort auf­taucht und alle töten will, schießt Ebony auf ihn mit „ABRA KEDABRA!!!!!!!!!!!11111“.

An diesem Punkt wurde die Geschichte leider abge­bro­chen. Den Kom­men­taren der Autorin ist zu ent­nehmen, dass noch ein wei­teres Kapitel geplant war. Doch leider wird die Welt wohl nie erfahren, ob Ebony Vol­xe­mort besiegt hat oder nicht.

Und wo wir gerade bei Autoren­kom­men­taren sind …

Autoren­kom­men­tare

Jedem Kapitel geht ein mit „AN“ (d.h. „Author’s Note“) gekenn­zeich­neter Autoren­kom­mentar voraus, in dem die Autorin sich direkt an die Leser wendet. Stel­len­weise tau­chen diese Autoren­kom­men­tare aber auch im Geschich­ten­text selbst auf. Man erkennt sie meis­tens an einer vor­aus­ge­henden Kenn­zeich­nung und/oder Kur­siv­schift:

„[…] a lot of people tell me I look like Amy Lee (AN: if u don’t know who she is get da hell out of here!).“
Kapitel 1.

Darauf scheint jedoch nicht immer Ver­lass zu sein, denn die Mar­kie­rung mit „AN“ wird oft auch weg­ge­lassen, ebenso die Kur­siv­schrift, und manchmal wird die Kur­siv­schrift auch ver­wendet, wenn ein­deutig Ebony spricht:

„B’loody Mary was stan­ding there. “Haji­me­mas­hite gurl.” she said hap­pily (she spex Japa­nese so do i. dat menz ‘how do u do’ in japa­nese).“
Kapitel 16.

Eine Kenn­zeich­nung durch Klam­mern ist erst recht nicht zuver­lässig, da Klam­mern sowohl für Autoren­kom­men­tare als auch für zusätz­liche Details und Erklä­rungen bei bei­spiels­weise Beschrei­bungen genutzt werden:

„[…] I go to a magic school called Hog­warts in Eng­land where I’m in the seventh year (I’m seven­teen).“
Kapitel 1.

In den Anspra­chen vor den Kapi­teln bedankt Tara sich bei ihrer Beta-Leserin Raven, ihrem Freund Justin, schwärmt für My Che­mical Romance, berichtet von ihren Urlauben, erpresst die Leser, damit sie ihr gute Reviews hin­ter­lassen, wehrt sich aggressiv gegen Kritik, gibt ver­tie­fende Erläu­te­rungen zu ein­zelnen Hand­lungs­ele­menten und belei­digt ihre Kri­tiker als „Preps“.

Vor allem aber spielt sich hier ein Drama ab: Offenbar hat Raven Tara ihren Sweater nicht wie­der­ge­geben und Tara wie­derum hat anschei­nend Ravens Poster von Gerard Way von My Che­mical Romance geklaut. Ab Kapitel 16 ver­wei­gert Raven Tara ihre Hilfe bei der Geschichte und Tara bet­telt sie an, doch bitte wieder beta­zu­lesen. Später scheinen das Poster und der Sweater wieder zu ihren recht­mä­ßigen Besit­ze­rinnen zurück­ge­kehrt zu sein und Tara dankt Raven wieder regel­mäßig „4 da help!1“. Ob Raven jedoch wirk­lich wieder beta­liest, ist frag­lich, weil die unter dem Streit lei­dende Recht­schrei­bung sich selbst nach der Ver­söh­nung nicht wieder erholt hat.

Bei Kapitel 39 wird Taras Fanfiction.net-Account außerdem gehackt und der Ein­bre­cher postet sein höchst eigenes Kapitel, in dem Ebony stirbt: Die ver­un­stal­teten Figuren der ursprüng­li­chen Harry Potter-Saga werden „ent­g­of­fi­ziert“ und freuen sich, wäh­rend Ebony in der Hölle landet und bis in alle Ewig­keit „prep­pige“ Out­fits tragen muss. Danach pos­tete der Hacker zwei Kapitel, die Tara im Voraus hoch­ge­laden, aber noch nicht ver­öf­fent­licht hatte. Ab Kapitel 41 geht es wieder mit Tara weiter.

Doch so inter­es­sant der Vor­fall mit dem Hacker-Kapitel auch ist, ich werde in diesem Artikel nicht weiter darauf ein­gehen, weil es, wenn Tara echt und kein Troll ist, eher eine Fan­fic­tion von My Immortal dar­stellt, keinen echten Teil des Werkes.

My Immortal: Erzähl­ana­lyse

Was nun die Erzählna­lyse dieses Meis­ter­werkes betrifft, so wird sie durch die Ver­schmel­zung von Autor, Erzähler und Reflek­tor­figur massiv erschwert.

Es han­delt sich dabei um einen ganz beson­deren Fall eines Self-Insert:

Klas­si­scher­weise ist ein soge­nannter Self-Insert ein Alter Ego des Autors inner­halb einer Geschichte. — Also eine Figur, die den Autor reprä­sen­tiert, oft in idea­li­sierter Form.

Nichts­des­to­trotz ist ein Self-Insert immer noch nur eine Figur. Nicht ganz so bei Ebony: Natür­lich ist sie eine offen­sicht­liche Selbst-Idea­li­sie­rung der Autorin, doch die Grenze zwi­schen der fik­tiven Ebony und der realen Tara wird sehr stark ver­wischt:

  • Obwohl sie laut Kapitel 1 Ebony Dark’ness Dementia Raven Way heißt, sorgen die häu­figen Tipp­fehler nicht nur für eine breite Varia­tion der Schrei­bung von „Ebony“, son­dern auch für meh­rere Vari­anten ihres Dritt­na­mens: So stellt sie sich in Kapitel 16 als „ebondy dark’ness dementia TARA way“ vor, wird in Kapitel 27 und 42 mit „Tara“ ange­spro­chen, in Kapitel 37 mit „Tata“ und in Kapitel 33 sogar ganz kreativ mit „TaE­bory“.
  • Außerdem ist bei den Kom­men­taren inner­halb des Geschich­ten­textes nicht immer klar, ob sie von Tara oder Ebony kommen. An fol­gender Text­stelle bleibt zum Bei­spiel offen, wer das Wort „cross“ nicht schreiben will: Tara, die die Geschichte schreibt, oder Ebony, die inner­halb der fik­tiven Welt viel­leicht ihre eigene Geschichte auf­schreibt. Eine Kenn­zeich­nung mit „AN“ fehlt und der Text ist auch nicht kursiv gesetzt:

„I knew Draco was pro­bably slit­ting his wrists (he wouldn’t die because he was a vam­pire too and the only way you can kill a vam­pire is with a c‑r-o-s‑s (there’s no way I’m wri­ting that) or a steak) and Vam­pire was pro­bably wat­ching a depres­sing movie like The Corpse Bride.“
Kapitel 10.

  • Aus der manchmal feh­lenden Mar­kie­rung der Autoren­kom­men­tare ergeben sich zuweilen para­doxe Situa­tionen, in denen Ebony bei­spiel­weise auf die Harry Potter-Filme ver­weist:

„He didn’t have a nose (basi­cally like Vol­de­mort in the movie) and he was wea­ring all black but it was obvious he wasn’t gothic. It was…… Vol­de­mort!“
Kapitel 9.

Es liegt also der Schluss nahe, dass Ebony Tara nicht ein­fach reprä­sen­tiert, son­dern Tara ist. Und das mit allem, was dazu­ge­hört: Mit Namen, ihrem Status als Autorin der Geschichte und ihrem Wissen über Dinge, die außer­halb der fik­tiven Welt liegen.

Mit anderen Worten:

My Immortal ist nicht ein­fach eine Geschichte, die Tara um ein idea­li­siertes Alter Ego herum gesponnen hat, son­dern ver­mut­lich eine direkte Auf­zeich­nung von Taras realen Hor­mon­fan­ta­sien mit all den psy­che­de­li­schen Para­doxa, die Träume und Fan­ta­sien so mit sich bringen.

Wer ist „Ich“?

Dem Ganzen stehen aller­dings zwei Stellen gegen­über, die theo­re­tisch aus Dracos Per­spek­tive geschrieben sind:

  • Das erste Mal, dass die Reflek­tor­figur wech­selt, ist über­haupt nicht gekenn­zeichnet und man kann das nur aus dem Kon­text schließen:

„“Vam­pire, I can’t believe you cheated on me with Draco!” I shouted at him.

Ever­yone gasped.

I don’t know why Ebony was so mad at me. I had went out with Vam­pire (I’m bi and so is Ebony) for a while but then he broke my heart. He dumped me because he liked Britney, a stupid preppy fucker. We were just good fri­ends now. He had gone through hor­rible pro­blems, and now he was gothic. (Haha, like I would hang out with a prep.)

“But I’m not going out with Draco any­more!” said Vam­pire.

“Yeah fucking right! Fuck off, you bas­tard!” I screamed. I ran out of the room and into the For­bidden Forest where I had lost my viri­lity to Draco and then I started to bust into tears.“

Kapitel 8.

  • Das zweite Mal ist Dracos Per­spek­tive gekenn­zeichnet, doch sie geht flie­ßend wieder in die von Ebony über und zwi­schen­zeit­lich taucht auch ein „Ich“ auf, das weder Draco noch Ebony ist:

„DARKO’S PONT OF VIEW LOL

Vam­pire and I chaind Hair­grid 2 da floor.

“Oh mi fucking satan!11” Enoby said. She wuz so hot. “Maybe I cud uze Amnesia potion 2 make Satan foll in love wif me faster!1”

“But u r so sexy and won­derful aneway Tata,” said Vam­pire. “Why would u need it?”

“To make ever­y­fing go faster lol.” said Enoby.

“But you wont have to do it wif him or any­fing, will u?” I asked jelosly.

“OMFG u guyz r so scary!11” said Britney, a fucking prep.

“Shut the fuk up!1” said Willow.

“Ok well anyway lets go 2 Pro­fesor Trevolry’s room.”

Draco, Ebory and I went to Pro­fesor Siniater’s room. But Pro­fesor Sinister wasn’t there. Ins­tead Tom Rid was.

Oh hi fuckers he said. Lizzen, I got u sum kewl new clovez.

I took out da cloves from da bag. It was a goffik blak lea­ther mini­s­kirt that said ‘666’ on da bak, black stilton bootz, blood red fish­netz and a blak corset.

“OMG fangz!” I said hug­ging him in a gothic way. I took da clo­thes in da bag.

“OK Pro­fesor Sinister isnt hr what the fuk should we do?” asked Draco. Sud­denly he loked at a sign on da blak wall.“

Kapitel 37.

Diese Stellen werfen die Frage auf:

Wer ist „Ich“ eigent­lich wirk­lich? Wer ist der Erzähler, der so leicht und ohne Ankün­di­gung zwi­schen den Figuren umher­hüpft? Steckt dieses geheim­nis­volle „Ich“, viel­leicht sogar hinter den Kom­men­taren, die logisch betrachtet nicht von Ebony kommen dürften? Oder ist das „Ich“ nur das Bin­de­glied zwi­schen der Autorin und der Prot­ago­nistin?

Wir behalten diese Fragen im Hin­ter­kopf und ver­su­chen uns an den erzähl­theo­re­ti­schen Modellen von Stanzel und Genette, um uns etwas Klar­heit zu ver­schaffen.

Ana­lyse nach Stanzel

Beginnen wir mit Stan­zels Typen­kreis

Grund­sätz­lich liegt in My Immortal eine Ich-Erzähl­si­tua­tion vor, doch ganz ein­deutig ist die Zuord­nung nicht:

  • Bei der Achse des Modus, also der Frage, ob eher der Erzähler oder die Reflek­tor­figur im Vor­der­grund steht, implo­diert der Typen­kreis bereits:
    Im Vor­der­grund steht zwar die Reflek­tor­figur Ebony (und an zwei Stellen Draco), doch bei para­doxen Kom­men­taren, wie dem Ver­weis auf die Harry Potter-Filme macht sich der Erzähler äußerst sichtbar und drängt sich damit in den Vor­der­grund.
  • Bei der Achse der Person, wo man nach der Iden­tität bzw. Nicht­iden­tität der Seins­be­reiche von Erzähler und Figuren fragt, ist es auch nicht ganz klar:
    Sicher­lich liegt bei Ebony, die eine Figur in der fik­tiven Welt und über­wie­gend die Erzäh­lerin ihrer eigenen Geschichte ist, eine Iden­tität der Seins­be­reiche vor. Bedenkt man aber, dass Ebony wahr­schein­lich Tara ist, liegt auch eine gleich­zei­tige Nicht­iden­tität vor. Also auch hier eine Implo­sion.
  • Bei der Per­spek­tive fragen wir, ob eine Innen- oder Außen­per­spek­tive vor­liegt. Immerhin ist hier bei My Immortal ein klarer Fall von Ebonys rei­cher Innen­per­spek­tive. Und selbst die beiden Stellen aus Dracos Per­spek­tive zeigen sein Innen­leben.

Ana­lyse nach Genette

Da Stan­zels Modell zu zwei Drit­teln implo­diert ist, legen wir unsere Hoff­nungen in Genette.

Die Foka­li­sie­rung ist intern, weil der Erzähler und Ebony den­selben Wis­sens­stand haben. Selbst wenn der Erzähler in Dracos Haut schlüpft, hat der Erzähler den Wis­sens­stand der Reflek­tor­figur, nur diesmal den von Draco.

Wir haben außerdem einen klaren Fall von einer spä­teren Nar­ra­tion und einen ebenso klaren Fall eines auto­die­ge­ti­schen Erzäh­lers.

Kom­pli­ziert wird es erst bei der Frage nach der Ebene:

  • Ers­tens durch­bricht Tara in den para­doxen Kom­men­taren, in denen Dinge ange­spro­chen werden, von denen Ebony als Figur der fik­tio­nalen Welt nichts wissen dürfte, die Grenze zwi­schen der extra- und der int­ra­die­ge­ti­schen Ebene. Sie inji­ziert Dinge aus der ext­ra­die­ge­ti­schen Ebene wie die Filme, auf denen My Immortal basiert, in die int­ra­die­ge­ti­sche Ebene.
  • Zwei­tens durch­bricht Ebony in Kom­men­taren, die nicht mit „AN“ gekenn­zeichnet sind, eben­falls die Grenze zwi­schen der extra- und der int­ra­die­ge­ti­schen Ebene, indem sie die Leser auf der ext­ra­die­ge­ti­schen Ebene von der int­ra­die­ge­ti­schen Ebene aus anspricht:

„“OMFG I can get u bak 2gether!” I said fin­ge­ring some­thing I didn’t know wuz in my pocket- a blak Kute is What we Aim 4 cideo ipod that I could take videos wif (duz ne1 elze no about dem??? dey kik azz!!!!).“
Kapitel 41.

  • Drit­tens wird dieser Bruch noch sicht­barer bei sol­chen Autoren­kom­men­taren, in denen Tara explizit auf die Kritik ihrer Leser ein­geht und die durch die unein­deu­tige Kenn­zeich­nung zumin­dest rein tech­nisch betrachtet weder der intra- noch der ext­ra­die­ge­ti­schen Ebene zuge­ordnet werden können:

„“Why didn’t you fucking tell me!” he shouted. “How could you- you- you fucking poser muggle bitch!” (c is dat out of cha­racter?)
Kapitel 10.

  • Vier­tens ent­hält die ext­ra­die­ge­ti­sche Ebene hin und wieder wich­tige Ergän­zungen zur int­ra­die­ge­ti­schen Ebene, ohne dass sie Teil der Erzäh­lung sind:

Da only reson Dum­ble­deor swor is coz he had a hedache ok an on tup of dat he wuz mad at dem 4 having sexx!
„AN“ zu Kapitel 5.

  • Fünf­tens beein­flussen die Dramen auf der ext­ra­die­ge­ti­schen Ebene die Hand­lung auf der int­ra­die­ge­ti­schen Ebene, beson­ders auf­fällig wäh­rend des Streits mit Raven.

Im Kom­mentar zu Kapitel 16 wird bereits deut­lich, dass Tara und Raven sich im Kriegs­modus befinden:

raven u suk u fuken bich gimme bak mah fukijn swteet ur supsd 2 rit dis! Raven wtf u bich ur suposd to dodis!
„AN“ zu Kapitel 16.

Im eigent­li­chen Kapitel wird Ravens fik­tives Alter Ego Willow von der Schule ver­wiesen, von B’loody Mary ermordet und ihre Leiche von Loopin ver­ge­wal­tigt:

„B’loody Mary was stan­ding there. “Haji­me­mas­hite gurl.” she said hap­pily (she spex Japa­nese so do i. dat menz ‘how do u do’ in japa­nese). “BTW Willow that fucking poser got expuld. she failed al her klasses and she skepped math.” (an: RAVEN U FUKIN SUK! FUK U!)

“It serves that fuking bich right.” I laughed angrily.

Well anyway we where felling all deprezzed. We wut­sched some goffic movies like Das nite­MARE b4 xmas. “Maybe Willow will die too.” I said.

“Kawai.” B’loody Mair shook her head enrg­tically leth­rigcly. “Oh yeah o have a con­fes­sion after she got expuld I mur­dered her and den loopin did it with her cause he’s a nec­philak.”

“Kawai.” I commnted hap­pily . We talked to each other in silence for da rest uv da movie.“

Kapitel 16.

Als Tara im Kom­mentar zu Kapitel 17 sich mit Raven wieder ver­söhnen will, taucht Willow ohne Erklä­rung plötz­lich wieder in der Geschichte auf, als wäre nichts geschehen.

Was haben wir durch Genettes Modell also erkannt?

My Immortal ist sehr stark meta­lep­tisch.

Und damit wissen wir jetzt, wo wir hin­schauen müssen, um die Natur des Ich-Erzäh­lers von My Immortal zu begreifen:

Das Geheimnis liegt in den Erzähl­ebenen.

Das ist auch der Grund, warum Stan­zels Typen­kreis bei My Immortal so spek­ta­kulär implo­diert: Erzähl­ebenen sind ein­fach kein geson­derter Teil des Modells, son­dern sind in den Erzähl­si­tua­tionen implizit ent­halten. Der Typen­kreis wurde ein­fach nicht erschaffen, um solche Absur­di­täten zu hand­haben.

Autor, Erzähler, Leser

Grund­sätz­lich ver­dienen die Erzähl­ebenen einen eigen­stän­digen Artikel. — Und wenn ich von Erzähl­ebenen spreche, meine ich nicht nur die Ebenen nach Genettes Modell, son­dern ein tie­fer­ge­hendes Kom­mu­ni­ka­ti­ons­mo­dell, näm­lich das von Wolf Schmid. Da dieser Artikel sich aber noch in der Pla­nung befindet, hier ein kleiner Crash­kurs:

"My Immortal" von Tara Gilesbie
Schmids Modell der Kom­mu­ni­ka­ti­ons­ebenen, ver­ein­facht von Feael Sil­ma­rien | Wolf Schmid: Ele­mente der Nar­ra­to­logie, 2. Auf­lage von 2008, Kapitel: II. Die Instanzen des Erzähl­werks.

Wenn ein kon­kreter Mensch ein lite­ra­ri­sches Werk schreibt, gibt er — oft unwill­kür­lich — Dinge über sich selbst preis. Das so ent­stan­dene Abbild des Autors ist aber natür­lich frag­men­ta­risch. Des­wegen ist der Autor, den wir durch sein Werk wahr­zu­nehmen glauben, nicht die kon­krete Person hinter dem Werk, son­dern der abs­trakte Autor.

Der Autor erschafft also nun ein lite­ra­ri­sches Werk und hat dabei in der Regel irgend­eine Vor­stel­lung vom Leser. Wie auch beim kon­kreten und abs­trakten Autor, deckt sich diese Vor­stel­lung nicht immer mit dem realen kon­kreten Leser. Somit kom­mu­ni­zieren Autoren und Leser lite­ra­ri­scher Werke mit abs­trakten Vor­stel­lungen von­ein­ander.

Inner­halb des lite­ra­ri­schen Werks befindet sich die dar­ge­stellte Welt. Hier bewegen sich der fik­tive Erzähler und der fik­tive Leser. Wenn es im Herrn der Ringe bei­spiels­weise heißt:

„Selbst in den alten Zeiten emp­fanden sie in der Regel Scheu vor dem „Großen Volk“, wie sie uns nennen, und heute meiden sie uns voll Schre­cken und sind nur noch schwer zu finden.“
J. R. R. Tol­kien: Der Herr der Ringe: Die Gefährten, Ein­füh­rung: Über Hob­bits.

Dann sind mit „uns“ sowohl der fik­tive Erzähler als auch der fik­tive Leser gemeint, die beide in einer Welt leben, in der die Hob­bits tat­säch­lich exis­tieren. Der reale Autor und der reale Leser leben natür­lich nicht in dieser Welt.

Der fik­tive Erzähler erzählt dem fik­tiven Leser also nun die Geschichte und diese spielt in der erzählten Welt. Es ist die int­ra­die­ge­ti­sche Ebene — also die Ebene, auf der in Ebony Dark’ness Dementia Raven Way den gof­fi­zierten Figuren des Harry Potter-Uni­ver­sums die Köpfe ver­dreht.

Die ext­ra­die­ge­ti­sche Ebene hin­gegen ist die des fik­tiven Erzäh­lers und fik­tiven Lesers, also die dar­ge­stellte Welt. — Doch als ob es nicht genügen würde, dass in My Immortal die Grenze zwi­schen der extra- und int­ra­die­ge­ti­schen Ebene durch­bro­chen wird, geht dieses Meis­ter­werk sogar noch einen Schritt weiter und durch­bricht die Grenze zwi­schen der dar­ge­stellten Welt und der realen Welt, in der das lite­ra­ri­sche Werk exis­tiert.

Zuge­geben, dieser zweite Ebe­nen­bruch ist nur teil­weise Taras Ver­dienst. Der Haupt­übel­täter ist hier das Internet. Denn die ganzen aka­de­mi­schen Modelle, wurden erschaffen, um Bücher zu ana­ly­sieren. Das heißt: Zumin­dest dem vor­lie­genden Kom­mu­ni­ka­ti­ons­mo­dell liegt die Annahme zugrunde, dass der kon­krete Autor und der kon­krete Leser mit­ein­ander nicht in direkten Kon­takt treten. Nun wurde My Immortal aber — in tra­di­tio­neller Fan­fic­tion-Manier — nach und nach und Kapitel für Kapitel ver­öf­fent­licht, wäh­rend all die kon­kreten Leser das bereits ver­öf­fent­lichte Mate­rial kom­men­tiert haben. Die kon­krete Autorin Tara ant­wortet den kon­kreten Lesern in den Autoren­kom­men­taren, die ja teil­weise im Geschich­ten­text selbst stehen und nicht immer als solche gekenn­zeichnet sind. Davon, dass der Streit zwi­schen der realen Tara und der realen Raven und die Aus­ein­an­der­set­zungen mit den Kri­ti­kern der Geschichte den Ver­lauf der Geschichte in der erzählten Welt beein­flussen, ganz zu schweigen.

"My Immortal" von Tara Gilesbie
In My Immortal wird nicht ein­fach nur eine vierte Wand auf­ge­bro­chen: Es werden alle Wände nie­der­ge­rissen.

Fast scheint es, als würde die dar­ge­stellte Welt hier tat­säch­lich ent­fallen: Es gibt nicht wirk­lich einen fik­tiven Leser, denn Tara wendet sich ja stets an die kon­kreten Leser, und einen fik­tiven Erzähler gibt es auch nicht, denn der wurde ja von der kon­kreten Autorin absor­biert. Somit ist My Immortal ein fik­tio­nales Werk und eine reale Kor­re­spon­denz zugleich. Hier wird nicht ein­fach nur eine vierte Wand auf­ge­bro­chen: Es werden alle Wände nie­der­ge­rissen.

Und das geheim­nis­volle „Ich“? — Das ist Tara. Denn, wie bereits fest­ge­stellt, My Immortal ist eine direkte Auf­zeich­nung von Taras realen Hor­mon­fan­ta­sien. Und inner­halb dieser Fan­ta­sien ist sie nicht ein­fach nur Ebony. Sie ist die fik­tive Welt selbst, ihre Göttin, die will­kür­lich ins Innere der Figuren ein­dringen kann und sich an einer Stelle sogar selbst neben Ebony und Draco als dritte Person mani­fes­tiert. Weil sie ja den fik­tiven Erzähler absor­biert hat, gibt es sonst nie­manden, der für das „Ich“ infrage käme.

Damit schafft Tara Gilesbie etwas, das ich lange Zeit für undenkbar und auch unmög­lich hielt. Dabei ist es wenig rele­vant, ob Tara My Immortal tat­säch­lich ernst gemeint oder die Inter­net­ge­meinde ein­fach nur getrollt hat: Die direkte Kom­mu­ni­ka­tion mit den Lesern und der Ein­fluss der Leser auf die Geschichte ist so oder so da. Bloß gäbe es im Falle des Trolls tat­säch­lich eine klar sicht­bare Tren­nung zwi­schen dem kon­kreten Autor (Troll) und dem abs­trakten Autor (Tara) und nur der abs­trakte Autor würde den fik­tiven Erzähler absor­bieren.

Fazit und Aus­blick

Für mich theo­rie­ver­liebte Lite­ra­tur­wis­sen­schaft­lerin stellt My Immortal im wahrsten Sinne des Wortes eine bewusst­seins­er­wei­ternde Erfah­rung dar und ich bin mir sicher, dass die Tech­niken, die Tara ver­mut­lich unwis­sent­lich anwendet, in den Händen eines fähi­geren Autors ein mäch­tiges Werk­zeug sein könnten.

Fas­zi­nie­rend ist My Immortal auch als authen­ti­sche Auf­zeich­nung von mensch­li­chen Fan­ta­sien. Denn ehr­lich: Wir alle haben skur­rile Fan­ta­sien, die wir aus guten Gründen für uns behalten. Das bedeutet aber auch, dass sie nur bedingt erforscht werden können. My Immortal hin­gehen ist, sofern es sich nicht um das Werk eines Trolls han­delt, ein unge­fil­terter Ein­blick in die Tag­träume eines ver­mut­lich 13- bis 14-jäh­rigen Mäd­chens. — Und ganz ehr­lich, meine Fan­ta­sien in dem Alter waren auch nicht viel besser, nur etwas jugend­freier und mono­gamer, weil ich trotz schwarzer Klei­dung und Nie­ten­arm­bän­dern eine eher roman­ti­sche Natur war. Kurzum:

Es würde mich bren­nend inter­es­sieren, welche Erkennt­nisse die Kol­legen aus der Psy­cho­logie, Psy­cho­ana­lyse und der phi­lo­so­phi­schen Anthro­po­logie aus My Immortal gewinnen würden.

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