My Immortal ist ein berühmt-berüchtigter Klassiker der Trash-Literatur. Im Prinzip macht die Autorin Tara Gilesbie hier alles falsch, was man nur falsch machen kann. Ist es also überhaupt möglich, dieses Fest der Absurdität literaturwissenschaftlich zu analysieren? – In diesem Artikel wage ich mich an eine Erzählanalyse und entdecke die psychedelischen Untiefen dieses Meisterwerks …
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Es gibt literarische Werke, die gut sind. Es gibt literarische Werke, die schlecht sind. Es gibt literarische Werke, die so schlecht sind, dass sie schon wieder gut sind. Und es gibt My Immortal von Tara Gilesbie – den Trash-Klassiker schlechthin, der so grottenschlecht ist, dass er nicht einfach nur gut, sondern genial ist.
Vor allem aber: Wenn man da als nerdige kleine Literaturwissenschaftlerin herangeht und die Erzählperspektive dieses berüchtigten Machwerks analysieren will, explodiert einem sehr schnell das Gehirn. Denn die nahezu psychedelische Verschmelzung von Autor, Erzähler und Reflektorfigur sowie der sich daraus ergebende stark metaleptische Charakter der extra- und intradiegetischen Erzählebene sprengen die Grenzen einer jeden Literaturtheorie.
Nehmen wir also die Herausforderung an und analysieren die Erzählperspektive in My Immortal. Kenntnis des Werks wird dabei nicht vorausgesetzt, denn erstens fasse ich die Handlung – wie immer – kurz zusammen und zweitens ist die Handlung ohnehin nicht wirklich existent. Von daher: Lehn dich zurück und halte eine Kotztüte bereit sowie einen Lappen zum Aufwischen der blutigen Überreste Deines Gehirns.
My Immortal: Eine Legende
My Immortal ist eine Harry Potter-Fanfiction, die von 2006 bis 2007 auf FanFiction.net veröffentlicht wurde und aus insgesamt 44 Kapiteln besteht. Sie gilt als eine der schlechtesten Fanfictions, die je geschrieben wurden, und gerade das verleiht ihr ihren Kultstatus. Viele „Fans“ fühlen sich sogar so sehr inspiriert, dass sie das Werk in andere Sprachen übersetzen, Fan Art anfertigen, Leseinszenierungen auf YouTube hochladen und sich an Verfilmungen wagen.
Ein wichtiger Bestandteil der Legende My Immortal ist die Diskussion um die Identität des Autors und die Absicht, die mit diesem Machwerk verfolgt wurde. Fest steht nur, dass My Immortal von einer gewissen Tara Gilesbie unter dem Usernamen XXXbloodyrists666XXX geschrieben wurde. Bis an den heutigen Tag scheiden sich jedoch die Geister, ob Tara einfach nur ein Troll war und My Immortal somit als Satire zu verstehen ist oder ob Tara tatsächlich eine Teenagerin war, die ihren wilden Fantasien einen viel zu freien Lauf gelassen hat. Hin und wieder meldet sich jemand und behauptet, der Autor von My Immortal zu sein, doch eindeutig bewiesen wurde bisher nichts. Daher wird Tara wohl für immer ein Mysterium bleiben.
Das verleiht der Lektüre von My Immortal aber auch eine komplizierte moralische Dimension. Denn wenn es von einem Troll geschrieben wurde – Dann kann man lachen. Wenn aber ein junges Mädchen dahinter steckt, das die Geschichte durchaus ernst meinte – Dann habe ich moralische Bedenken und habe auch ein wenig Sorge. Daher an dieser Stelle ein kleiner Hinweis:
Wenn ich in dieser Analyse von Tara spreche, dann rede ich von dem Bild, das ihre Geschichte und Autorenkommentare vermitteln. My Immortal ist objektiv grottenschlecht und trebt einem Lachtränen in die Augen, ob man es will oder nicht. Und genau darum geht es mir. Nicht um die reale Person Tara Gilesbie, die vom „Erfolg“ ihrer Fanfiction möglicherweise einen Schaden davongetragen hat. Ich will sie nicht persönlich angreifen und vor allem nicht ihre Intelligenz anzweifeln. Ich genieße einfach nur ihre legendäre Fanfiction, die ich ehrlich und aufrichtig liebe. – Ja, die mich in vielerlei Hinsicht sogar geprägt hat! My Immortal ist – wie man so schön sagt – ohne Scheiß eins der wichtigsten literarischen Werke meines Lebens und dafür bin ich Tara Gilesbie ohne Scheiß dankbar.
Handlung
Wie bereits gesagt, existiert sie nicht wirklich. Theoretisch gibt es sie zwar, doch Logik und Kontinuität sucht man hier vergeblich. Dasselbe gilt auch für die Anknüpfung an das Ursprungsmaterial von J. K. Rowling bzw. eher das darauf basierende Filmfranchise: Die Figuren und Orte sind da, aber kaum wiederzuerkennen.
Mittelpunkt der Geschichte ist die Protagonistin Ebony Dark’ness Dementia Raven Way. Sie identifiziert sich mit der Gothic-Kultur – oder wie sie es nennt: „goffik“ -, kauft am liebsten Kleidung in einer Hot Topic-Filiale in Hogsmeade, ist Vampirin und Satanistin und ist im siebten Jahr in Hogwarts, Haus Slytherin.
Die Geschichte dreht sich um ihre Beziehungen zu den verunstalteten Versionen der Figuren aus dem Harry Potter-Universum, besonders zu ihrem primären Love-Interest Draco Malfoy, der ebenfalls ein „Goff“ ist. Ihre Freunde sind Dracos heißer Ex-Freund Harry „Vampire“ Potter, B’loody Mary Smith (ursprünglich Hermine Granger), Ron „Diabolo“ Weasley und andere „Goffs“, Vampire und Satanisten, die von Gryffindor nach Slytherin gewechselt sind. Außerdem zählt auch Willow, das fiktive Alter Ego von Taras Beta-Leserin Raven, zu Ebonys Freundschaftskreis. Ebonys Gegenspieler sind der Bark Lord Volxemort und seine Death Deelers, die Gryffindor-Schülerin Britney mit ihrem Hillary Duff-T-Shirt und andere sogenannte „Preps“, d.h. Nicht-„Goffs“. Außerdem spielen auch Figuren wie Dumbeldork, Professor McGoogle, Professor Slutborn, Cornelia Fuck, Hairgrid und Serious Blak, Vampire Potters „dogfather“, eine Rolle.
Die Geschichte besteht im Grunde aus einer Abfolge von sehr detaillierten Beschreibungen von Outfits und Make-up, Konzertbesuchen von „Goffik“-Bands wie My Chemical Romance in Hogsmeade, kindisch geschriebenen Sexszenen, selbstverletzendem Verhalten und Suizid, sehr abwechslungsreichen Beleidigungen, Mittelfingern in Richtung der „Preps“ sowie Schießereien mit Pistolen. Immer wieder mischt auch Volxemort mit und verlangt, dass Ebony Vampire Potter tötet, denn sonst würde er ihren Freund Draco umbringen. Später stellt sich heraus, dass Volxemort nur deshalb so böse ist, weil ein „sexi goffik bi guy“ namens Hedwig ihm während seiner Schulzeit das Herz gebrochen hat. Daher reist Ebony in die 80er Jahre, um den zukünftigen Bark Lord Tom Satan Bombodil zu verführen, der damals noch einer der „sexiest goth guyz“ war. Das Epos gipfelt in einer Orgie in der Großen Halle, während der der pädophile „Prep“ Loopin gefoltert wird. Als plötzlich Volxemort auftaucht und alle töten will, schießt Ebony auf ihn mit „ABRA KEDABRA!!!!!!!!!!!11111“.
An diesem Punkt wurde die Geschichte leider abgebrochen. Den Kommentaren der Autorin ist zu entnehmen, dass noch ein weiteres Kapitel geplant war. Doch leider wird die Welt wohl nie erfahren, ob Ebony Volxemort besiegt hat oder nicht.
Und wo wir gerade bei Autorenkommentaren sind …
Autorenkommentare
Jedem Kapitel geht ein mit „AN“ (d.h. „Author’s Note“) gekennzeichneter Autorenkommentar voraus, in dem die Autorin sich direkt an die Leser wendet. Stellenweise tauchen diese Autorenkommentare aber auch im Geschichtentext selbst auf. Man erkennt sie meistens an einer vorausgehenden Kennzeichnung und/oder Kursivschift:
„[…] a lot of people tell me I look like Amy Lee (AN: if u don’t know who she is get da hell out of here!).“
Kapitel 1.
Darauf scheint jedoch nicht immer Verlass zu sein, denn die Markierung mit „AN“ wird oft auch weggelassen, ebenso die Kursivschrift, und manchmal wird die Kursivschrift auch verwendet, wenn eindeutig Ebony spricht:
„B’loody Mary was standing there. “Hajimemashite gurl.” she said happily (she spex Japanese so do i. dat menz ‘how do u do’ in japanese).“
Kapitel 16.
Eine Kennzeichnung durch Klammern ist erst recht nicht zuverlässig, da Klammern sowohl für Autorenkommentare als auch für zusätzliche Details und Erklärungen bei beispielsweise Beschreibungen genutzt werden:
„[…] I go to a magic school called Hogwarts in England where I’m in the seventh year (I’m seventeen).“
Kapitel 1.
In den Ansprachen vor den Kapiteln bedankt Tara sich bei ihrer Beta-Leserin Raven, ihrem Freund Justin, schwärmt für My Chemical Romance, berichtet von ihren Urlauben, erpresst die Leser, damit sie ihr gute Reviews hinterlassen, wehrt sich aggressiv gegen Kritik, gibt vertiefende Erläuterungen zu einzelnen Handlungselementen und beleidigt ihre Kritiker als „Preps“.
Vor allem aber spielt sich hier ein Drama ab: Offenbar hat Raven Tara ihren Sweater nicht wiedergegeben und Tara wiederum hat anscheinend Ravens Poster von Gerard Way von My Chemical Romance geklaut. Ab Kapitel 16 verweigert Raven Tara ihre Hilfe bei der Geschichte und Tara bettelt sie an, doch bitte wieder betazulesen. Später scheinen das Poster und der Sweater wieder zu ihren rechtmäßigen Besitzerinnen zurückgekehrt zu sein und Tara dankt Raven wieder regelmäßig „4 da help!1“. Ob Raven jedoch wirklich wieder betaliest, ist fraglich, weil die unter dem Streit leidende Rechtschreibung sich selbst nach der Versöhnung nicht wieder erholt hat.
Bei Kapitel 39 wird Taras Fanfiction.net-Account außerdem gehackt und der Einbrecher postet sein höchst eigenes Kapitel, in dem Ebony stirbt: Die verunstalteten Figuren der ursprünglichen Harry Potter-Saga werden „entgoffiziert“ und freuen sich, während Ebony in der Hölle landet und bis in alle Ewigkeit „preppige“ Outfits tragen muss. Danach postete der Hacker zwei Kapitel, die Tara im Voraus hochgeladen, aber noch nicht veröffentlicht hatte. Ab Kapitel 41 geht es wieder mit Tara weiter.
Doch so interessant der Vorfall mit dem Hacker-Kapitel auch ist, ich werde in diesem Artikel nicht weiter darauf eingehen, weil es, wenn Tara echt und kein Troll ist, eher eine Fanfiction von My Immortal darstellt, keinen echten Teil des Werkes.
My Immortal: Erzählanalyse
Was nun die Erzählnalyse dieses Meisterwerkes betrifft, so wird sie durch die Verschmelzung von Autor, Erzähler und Reflektorfigur massiv erschwert.
Es handelt sich dabei um einen ganz besonderen Fall eines Self-Insert:
Klassischerweise ist ein sogenannter Self-Insert ein Alter Ego des Autors innerhalb einer Geschichte. – Also eine Figur, die den Autor repräsentiert, oft in idealisierter Form.
Nichtsdestotrotz ist ein Self-Insert immer noch nur eine Figur. Nicht ganz so bei Ebony: Natürlich ist sie eine offensichtliche Selbst-Idealisierung der Autorin, doch die Grenze zwischen der fiktiven Ebony und der realen Tara wird sehr stark verwischt:
- Obwohl sie laut Kapitel 1 Ebony Dark’ness Dementia Raven Way heißt, sorgen die häufigen Tippfehler nicht nur für eine breite Variation der Schreibung von „Ebony“, sondern auch für mehrere Varianten ihres Drittnamens: So stellt sie sich in Kapitel 16 als „ebondy dark’ness dementia TARA way“ vor, wird in Kapitel 27 und 42 mit „Tara“ angesprochen, in Kapitel 37 mit „Tata“ und in Kapitel 33 sogar ganz kreativ mit „TaEbory“.
- Außerdem ist bei den Kommentaren innerhalb des Geschichtentextes nicht immer klar, ob sie von Tara oder Ebony kommen. An folgender Textstelle bleibt zum Beispiel offen, wer das Wort „cross“ nicht schreiben will: Tara, die die Geschichte schreibt, oder Ebony, die innerhalb der fiktiven Welt vielleicht ihre eigene Geschichte aufschreibt. Eine Kennzeichnung mit „AN“ fehlt und der Text ist auch nicht kursiv gesetzt:
„I knew Draco was probably slitting his wrists (he wouldn’t die because he was a vampire too and the only way you can kill a vampire is with a c‑r-o-s‑s (there’s no way I’m writing that) or a steak) and Vampire was probably watching a depressing movie like The Corpse Bride.“
Kapitel 10.
- Aus der manchmal fehlenden Markierung der Autorenkommentare ergeben sich zuweilen paradoxe Situationen, in denen Ebony beispielweise auf die Harry Potter-Filme verweist:
„He didn’t have a nose (basically like Voldemort in the movie) and he was wearing all black but it was obvious he wasn’t gothic. It was…… Voldemort!“
Kapitel 9.
Es liegt also der Schluss nahe, dass Ebony Tara nicht einfach repräsentiert, sondern Tara ist. Und das mit allem, was dazugehört: Mit Namen, ihrem Status als Autorin der Geschichte und ihrem Wissen über Dinge, die außerhalb der fiktiven Welt liegen.
Mit anderen Worten:
My Immortal ist nicht einfach eine Geschichte, die Tara um ein idealisiertes Alter Ego herum gesponnen hat, sondern vermutlich eine direkte Aufzeichnung von Taras realen Hormonfantasien mit all den psychedelischen Paradoxa, die Träume und Fantasien so mit sich bringen.
Wer ist „Ich“?
Dem Ganzen stehen allerdings zwei Stellen gegenüber, die theoretisch aus Dracos Perspektive geschrieben sind:
- Das erste Mal, dass die Reflektorfigur wechselt, ist überhaupt nicht gekennzeichnet und man kann das nur aus dem Kontext schließen:
„“Vampire, I can’t believe you cheated on me with Draco!” I shouted at him.
Everyone gasped.
I don’t know why Ebony was so mad at me. I had went out with Vampire (I’m bi and so is Ebony) for a while but then he broke my heart. He dumped me because he liked Britney, a stupid preppy fucker. We were just good friends now. He had gone through horrible problems, and now he was gothic. (Haha, like I would hang out with a prep.)
“But I’m not going out with Draco anymore!” said Vampire.
“Yeah fucking right! Fuck off, you bastard!” I screamed. I ran out of the room and into the Forbidden Forest where I had lost my virility to Draco and then I started to bust into tears.“
Kapitel 8.
- Das zweite Mal ist Dracos Perspektive gekennzeichnet, doch sie geht fließend wieder in die von Ebony über und zwischenzeitlich taucht auch ein „Ich“ auf, das weder Draco noch Ebony ist:
„DARKO’S PONT OF VIEW LOL
Vampire and I chaind Hairgrid 2 da floor.
“Oh mi fucking satan!11” Enoby said. She wuz so hot. “Maybe I cud uze Amnesia potion 2 make Satan foll in love wif me faster!1”
“But u r so sexy and wonderful aneway Tata,” said Vampire. “Why would u need it?”
“To make everyfing go faster lol.” said Enoby.
“But you wont have to do it wif him or anyfing, will u?” I asked jelosly.
“OMFG u guyz r so scary!11” said Britney, a fucking prep.
“Shut the fuk up!1” said Willow.
“Ok well anyway lets go 2 Profesor Trevolry’s room.”
Draco, Ebory and I went to Profesor Siniater’s room. But Profesor Sinister wasn’t there. Instead Tom Rid was.
Oh hi fuckers he said. Lizzen, I got u sum kewl new clovez.
I took out da cloves from da bag. It was a goffik blak leather miniskirt that said ‘666’ on da bak, black stilton bootz, blood red fishnetz and a blak corset.
“OMG fangz!” I said hugging him in a gothic way. I took da clothes in da bag.
“OK Profesor Sinister isnt hr what the fuk should we do?” asked Draco. Suddenly he loked at a sign on da blak wall.“
Kapitel 37.
Diese Stellen werfen die Frage auf:
Wer ist „Ich“ eigentlich wirklich? Wer ist der Erzähler, der so leicht und ohne Ankündigung zwischen den Figuren umherhüpft? Steckt dieses geheimnisvolle „Ich“, vielleicht sogar hinter den Kommentaren, die logisch betrachtet nicht von Ebony kommen dürften? Oder ist das „Ich“ nur das Bindeglied zwischen der Autorin und der Protagonistin?
Wir behalten diese Fragen im Hinterkopf und versuchen uns an den erzähltheoretischen Modellen von Stanzel und Genette, um uns etwas Klarheit zu verschaffen.
Analyse nach Stanzel
Beginnen wir mit Stanzels Typenkreis …
Grundsätzlich liegt in My Immortal eine Ich-Erzählsituation vor, doch ganz eindeutig ist die Zuordnung nicht:
- Bei der Achse des Modus, also der Frage, ob eher der Erzähler oder die Reflektorfigur im Vordergrund steht, implodiert der Typenkreis bereits:
Im Vordergrund steht zwar die Reflektorfigur Ebony (und an zwei Stellen Draco), doch bei paradoxen Kommentaren, wie dem Verweis auf die Harry Potter-Filme macht sich der Erzähler äußerst sichtbar und drängt sich damit in den Vordergrund. - Bei der Achse der Person, wo man nach der Identität bzw. Nichtidentität der Seinsbereiche von Erzähler und Figuren fragt, ist es auch nicht ganz klar:
Sicherlich liegt bei Ebony, die eine Figur in der fiktiven Welt und überwiegend die Erzählerin ihrer eigenen Geschichte ist, eine Identität der Seinsbereiche vor. Bedenkt man aber, dass Ebony wahrscheinlich Tara ist, liegt auch eine gleichzeitige Nichtidentität vor. Also auch hier eine Implosion. - Bei der Perspektive fragen wir, ob eine Innen- oder Außenperspektive vorliegt. Immerhin ist hier bei My Immortal ein klarer Fall von Ebonys reicher Innenperspektive. Und selbst die beiden Stellen aus Dracos Perspektive zeigen sein Innenleben.
Analyse nach Genette
Da Stanzels Modell zu zwei Dritteln implodiert ist, legen wir unsere Hoffnungen in Genette.
Die Fokalisierung ist intern, weil der Erzähler und Ebony denselben Wissensstand haben. Selbst wenn der Erzähler in Dracos Haut schlüpft, hat der Erzähler den Wissensstand der Reflektorfigur, nur diesmal den von Draco.
Wir haben außerdem einen klaren Fall von einer späteren Narration und einen ebenso klaren Fall eines autodiegetischen Erzählers.
Kompliziert wird es erst bei der Frage nach der Ebene:
- Erstens durchbricht Tara in den paradoxen Kommentaren, in denen Dinge angesprochen werden, von denen Ebony als Figur der fiktionalen Welt nichts wissen dürfte, die Grenze zwischen der extra- und der intradiegetischen Ebene. Sie injiziert Dinge aus der extradiegetischen Ebene wie die Filme, auf denen My Immortal basiert, in die intradiegetische Ebene.
- Zweitens durchbricht Ebony in Kommentaren, die nicht mit „AN“ gekennzeichnet sind, ebenfalls die Grenze zwischen der extra- und der intradiegetischen Ebene, indem sie die Leser auf der extradiegetischen Ebene von der intradiegetischen Ebene aus anspricht:
„“OMFG I can get u bak 2gether!” I said fingering something I didn’t know wuz in my pocket- a blak Kute is What we Aim 4 cideo ipod that I could take videos wif (duz ne1 elze no about dem??? dey kik azz!!!!).“
Kapitel 41.
- Drittens wird dieser Bruch noch sichtbarer bei solchen Autorenkommentaren, in denen Tara explizit auf die Kritik ihrer Leser eingeht und die durch die uneindeutige Kennzeichnung zumindest rein technisch betrachtet weder der intra- noch der extradiegetischen Ebene zugeordnet werden können:
„“Why didn’t you fucking tell me!” he shouted. “How could you- you- you fucking poser muggle bitch!” (c is dat out of character?)“
Kapitel 10.
- Viertens enthält die extradiegetische Ebene hin und wieder wichtige Ergänzungen zur intradiegetischen Ebene, ohne dass sie Teil der Erzählung sind:
„Da only reson Dumbledeor swor is coz he had a hedache ok an on tup of dat he wuz mad at dem 4 having sexx!“
„AN“ zu Kapitel 5.
- Fünftens beeinflussen die Dramen auf der extradiegetischen Ebene die Handlung auf der intradiegetischen Ebene, besonders auffällig während des Streits mit Raven.
Im Kommentar zu Kapitel 16 wird bereits deutlich, dass Tara und Raven sich im Kriegsmodus befinden:
„raven u suk u fuken bich gimme bak mah fukijn swteet ur supsd 2 rit dis! Raven wtf u bich ur suposd to dodis!“
„AN“ zu Kapitel 16.
Im eigentlichen Kapitel wird Ravens fiktives Alter Ego Willow von der Schule verwiesen, von B’loody Mary ermordet und ihre Leiche von Loopin vergewaltigt:
„B’loody Mary was standing there. “Hajimemashite gurl.” she said happily (she spex Japanese so do i. dat menz ‘how do u do’ in japanese). “BTW Willow that fucking poser got expuld. she failed al her klasses and she skepped math.” (an: RAVEN U FUKIN SUK! FUK U!)
“It serves that fuking bich right.” I laughed angrily.
Well anyway we where felling all deprezzed. We wutsched some goffic movies like Das niteMARE b4 xmas. “Maybe Willow will die too.” I said.
“Kawai.” B’loody Mair shook her head enrgtically lethrigcly. “Oh yeah o have a confession after she got expuld I murdered her and den loopin did it with her cause he’s a necphilak.”
“Kawai.” I commnted happily . We talked to each other in silence for da rest uv da movie.“
Kapitel 16.
Als Tara im Kommentar zu Kapitel 17 sich mit Raven wieder versöhnen will, taucht Willow ohne Erklärung plötzlich wieder in der Geschichte auf, als wäre nichts geschehen.
Was haben wir durch Genettes Modell also erkannt?
My Immortal ist sehr stark metaleptisch.
Und damit wissen wir jetzt, wo wir hinschauen müssen, um die Natur des Ich-Erzählers von My Immortal zu begreifen:
Das Geheimnis liegt in den Erzählebenen.
Das ist auch der Grund, warum Stanzels Typenkreis bei My Immortal so spektakulär implodiert: Erzählebenen sind einfach kein gesonderter Teil des Modells, sondern sind in den Erzählsituationen implizit enthalten. Der Typenkreis wurde einfach nicht erschaffen, um solche Absurditäten zu handhaben.
Autor, Erzähler, Leser
Grundsätzlich verdienen die Erzählebenen einen eigenständigen Artikel. – Und wenn ich von Erzählebenen spreche, meine ich nicht nur die Ebenen nach Genettes Modell, sondern ein tiefergehendes Kommunikationsmodell, nämlich das von Wolf Schmid. Da dieser Artikel sich aber noch in der Planung befindet, hier ein kleiner Crashkurs:
Wenn ein konkreter Mensch ein literarisches Werk schreibt, gibt er – oft unwillkürlich – Dinge über sich selbst preis. Das so entstandene Abbild des Autors ist aber natürlich fragmentarisch. Deswegen ist der Autor, den wir durch sein Werk wahrzunehmen glauben, nicht die konkrete Person hinter dem Werk, sondern der abstrakte Autor.
Der Autor erschafft also nun ein literarisches Werk und hat dabei in der Regel irgendeine Vorstellung vom Leser. Wie auch beim konkreten und abstrakten Autor, deckt sich diese Vorstellung nicht immer mit dem realen konkreten Leser. Somit kommunizieren Autoren und Leser literarischer Werke mit abstrakten Vorstellungen voneinander.
Innerhalb des literarischen Werks befindet sich die dargestellte Welt. Hier bewegen sich der fiktive Erzähler und der fiktive Leser. Wenn es im Herrn der Ringe beispielsweise heißt:
„Selbst in den alten Zeiten empfanden sie in der Regel Scheu vor dem „Großen Volk“, wie sie uns nennen, und heute meiden sie uns voll Schrecken und sind nur noch schwer zu finden.“
J. R. R. Tolkien: Der Herr der Ringe: Die Gefährten, Einführung: Über Hobbits.
Dann sind mit „uns“ sowohl der fiktive Erzähler als auch der fiktive Leser gemeint, die beide in einer Welt leben, in der die Hobbits tatsächlich existieren. Der reale Autor und der reale Leser leben natürlich nicht in dieser Welt.
Der fiktive Erzähler erzählt dem fiktiven Leser also nun die Geschichte und diese spielt in der erzählten Welt. Es ist die intradiegetische Ebene – also die Ebene, auf der in Ebony Dark’ness Dementia Raven Way den goffizierten Figuren des Harry Potter-Universums die Köpfe verdreht.
Die extradiegetische Ebene hingegen ist die des fiktiven Erzählers und fiktiven Lesers, also die dargestellte Welt. – Doch als ob es nicht genügen würde, dass in My Immortal die Grenze zwischen der extra- und intradiegetischen Ebene durchbrochen wird, geht dieses Meisterwerk sogar noch einen Schritt weiter und durchbricht die Grenze zwischen der dargestellten Welt und der realen Welt, in der das literarische Werk existiert.
Zugegeben, dieser zweite Ebenenbruch ist nur teilweise Taras Verdienst. Der Hauptübeltäter ist hier das Internet. Denn die ganzen akademischen Modelle, wurden erschaffen, um Bücher zu analysieren. Das heißt: Zumindest dem vorliegenden Kommunikationsmodell liegt die Annahme zugrunde, dass der konkrete Autor und der konkrete Leser miteinander nicht in direkten Kontakt treten. Nun wurde My Immortal aber – in traditioneller Fanfiction-Manier – nach und nach und Kapitel für Kapitel veröffentlicht, während all die konkreten Leser das bereits veröffentlichte Material kommentiert haben. Die konkrete Autorin Tara antwortet den konkreten Lesern in den Autorenkommentaren, die ja teilweise im Geschichtentext selbst stehen und nicht immer als solche gekennzeichnet sind. Davon, dass der Streit zwischen der realen Tara und der realen Raven und die Auseinandersetzungen mit den Kritikern der Geschichte den Verlauf der Geschichte in der erzählten Welt beeinflussen, ganz zu schweigen.
Fast scheint es, als würde die dargestellte Welt hier tatsächlich entfallen: Es gibt nicht wirklich einen fiktiven Leser, denn Tara wendet sich ja stets an die konkreten Leser, und einen fiktiven Erzähler gibt es auch nicht, denn der wurde ja von der konkreten Autorin absorbiert. Somit ist My Immortal ein fiktionales Werk und eine reale Korrespondenz zugleich. Hier wird nicht einfach nur eine vierte Wand aufgebrochen: Es werden alle Wände niedergerissen.
Und das geheimnisvolle „Ich“? – Das ist Tara. Denn, wie bereits festgestellt, My Immortal ist eine direkte Aufzeichnung von Taras realen Hormonfantasien. Und innerhalb dieser Fantasien ist sie nicht einfach nur Ebony. Sie ist die fiktive Welt selbst, ihre Göttin, die willkürlich ins Innere der Figuren eindringen kann und sich an einer Stelle sogar selbst neben Ebony und Draco als dritte Person manifestiert. Weil sie ja den fiktiven Erzähler absorbiert hat, gibt es sonst niemanden, der für das „Ich“ infrage käme.
Damit schafft Tara Gilesbie etwas, das ich lange Zeit für undenkbar und auch unmöglich hielt. Dabei ist es wenig relevant, ob Tara My Immortal tatsächlich ernst gemeint oder die Internetgemeinde einfach nur getrollt hat: Die direkte Kommunikation mit den Lesern und der Einfluss der Leser auf die Geschichte ist so oder so da. Bloß gäbe es im Falle des Trolls tatsächlich eine klar sichtbare Trennung zwischen dem konkreten Autor (Troll) und dem abstrakten Autor (Tara) und nur der abstrakte Autor würde den fiktiven Erzähler absorbieren.
Fazit und Ausblick
Für mich theorieverliebte Literaturwissenschaftlerin stellt My Immortal im wahrsten Sinne des Wortes eine bewusstseinserweiternde Erfahrung dar und ich bin mir sicher, dass die Techniken, die Tara vermutlich unwissentlich anwendet, in den Händen eines fähigeren Autors ein mächtiges Werkzeug sein könnten.
Faszinierend ist My Immortal auch als authentische Aufzeichnung von menschlichen Fantasien. Denn ehrlich: Wir alle haben skurrile Fantasien, die wir aus guten Gründen für uns behalten. Das bedeutet aber auch, dass sie nur bedingt erforscht werden können. My Immortal hingehen ist, sofern es sich nicht um das Werk eines Trolls handelt, ein ungefilterter Einblick in die Tagträume eines vermutlich 13- bis 14-jährigen Mädchens. – Und ganz ehrlich, meine Fantasien in dem Alter waren auch nicht viel besser, nur etwas jugendfreier und monogamer, weil ich trotz schwarzer Kleidung und Nietenarmbändern eine eher romantische Natur war. Kurzum:
Es würde mich brennend interessieren, welche Erkenntnisse die Kollegen aus der Psychologie, Psychoanalyse und der philosophischen Anthropologie aus My Immortal gewinnen würden.