“Der Herr der Ringe” von J. R. R. Tolkien

“Der Herr der Ringe” von J. R. R. Tolkien

Warum fühlt sich Tolkiens Herr der Ringe wie eine richtige Leg­ende an? Die Erzählper­spek­tive spielt hier eine wichtige Rolle. In diesem Artikel analysiere ich die Mut­ter aller High-Fan­ta­sy-Sagas unter Zuhil­fe­nahme der Mod­elle von Stanzel und Genette. Der geneigte Leser ist her­zlich ein­ge­laden, diese Analyse zu nutzen, um das Erzählen zu ler­nen und sein eigenes Buch bess­er zu schreiben.

(In der Video-Ver­sion dieses Artikels hat sich bei Genettes Kat­e­gorie der Ebene lei­der ein Fehler eingeschlichen. Ich kann ihn lei­der nicht mehr kor­rigieren. Deswe­gen empfehle ich, sich bei diesem Punkt an die Text-Ver­sion zu hal­ten. Ich bitte um Entschuldigung für die Umstände.)

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Der Herr der Ringe ist die Mut­ter aller High-Fan­ta­sy-Sagas. Mehr noch, damit hat Tolkien im Prinzip das High-Fan­ta­sy-Genre, wie wir es heute ken­nen, begrün­det.

Dabei ist Der Herr der Ringe Teil ein­er regel­recht­en Mytholo­gie aus mehreren Werken. Das sind unter anderem der Roman Der Hob­bit und die Leg­en­den­samm­lung Das Sil­mar­il­lion. All die Geschicht­en dieser Mytholo­gie wer­den unter dem Begriff “Leg­en­dar­i­um” zusam­menge­fasst. Hand­lung­sort all dieser “Leg­en­den” ist eine pseu­do-mit­te­lal­ter­liche Fan­ta­sy-Welt, und die meis­ten Geschicht­en spie­len auf dem Kon­ti­nent Mit­tel­erde.

Worum geht es im Herrn der Ringe?

Vom Plot her geht es im Her­rn der Ringe um die Ret­tung der Welt: Mit­tel­erde wird vom dun­klen Herrsch­er Sauron bedro­ht. Dieser kann nur besiegt wer­den, wenn der Eine Ring im Schick­sals­berg ver­nichtet wird. Dazu wer­den der Hal­bling Fro­do und mehrere Gefährten auf eine Quest geschickt.

Par­al­lel zur Haupthand­lung wird mas­sives World-Build­ing betrieben. Es gibt zahlre­iche Rassen, Völk­er, Kul­turen, Sprachen und Krea­turen. Allerd­ings ist diese Welt von einem klas­sis­chen Gut-Böse-Schema geprägt mit Sauron, seinen Orks und den bösen Men­schen auf der einen Seite und den freien Völk­ern wie den Elben, den guten Men­schen, den Hob­bits und den Zwer­gen auf der anderen. Diese “guten” Fig­uren haben oft aber auch Schwächen: Zum Beispiel lassen sie sich dur­chaus vom Einen Ring kor­rumpieren und machen dann weniger gute Dinge. Das ist mitunter ein Grund, warum die Gemein­schaft um Fro­do schließlich auseinan­der­bricht und die einzel­nen Mit­glieder der Gemein­schaft ihren Weg eigen­ständig fort­set­zen. Sie alle erleben ihre eige­nen Aben­teuer und die Hand­lung find­et somit par­al­lel an mehreren Orten statt.

Besonderheiten des Herrn der Ringe

Es fällt schnell auf, dass Der Herr der Ringe als Frag­ment eines fik­tiv­en Buch­es (des Roten Buch­es der West­mark) stil­isiert ist: Die Fig­uren haben in der Ver­gan­gen­heit Aben­teuer bestanden und diese Aben­teuer wur­den später aufgeschrieben. Damit rutscht der Erzäh­ler gewis­ser­maßen in die Rolle des Her­aus­ge­bers bzw. Über­set­zers (ins Englis­che bzw. Deutsche).

Wie bere­its angedeutet, hat der Roman viele Reflek­tor­fig­uren. Dazu zählt natür­lich der Pro­tag­o­nist Fro­do, aber auch seine Fre­unde Sam, Mer­ry und Pip­pin, Aragorn, Gim­li … Sie alle haben ihre Geschicht­en, die im Her­rn der Ringe erzählt wer­den.

Beson­ders auf­fäl­lig sind die vie­len Binnen­erzäh­lun­gen im Roman. Aber auch viele für den Plot völ­lig irrel­e­vante Abschwei­fun­gen wie Land­schafts­beschrei­bun­gen fall­en ins Auge sowie Aben­teuer, die für die späteren Ereignisse eigentlich keine Rolle spie­len.

Der Herr der Ringe in Stanzels Typenkreis

Im Her­rn der Ringe herrscht eine auk­to­ri­ale Erzählsi­t­u­a­tion. Der Erzäh­ler weiß beispiel­sweise Dinge, die die Fig­uren nicht wis­sen kön­nen, und gibt Hin­ter­grund­in­for­ma­tio­nen. Zwei Beispiele:

“Er fragte sich, wo Fro­do wohl sei, ob er schon in Mor­dor oder tot sei; und er wusste nicht, daß Fro­do von ferne densel­ben Mond betra­chtete, der hin­ter Gon­dor unterg­ing, ehe der Tag anbrach.”
5. Buch, 1. Kapi­tel: Minas Tirith.

“Wed­er er noch Fro­do wußten etwas von den großen Feldern weit im Süden des aus­gedehn­ten Reichs, die von Höri­gen bestellt wur­den, jen­seits des qual­menden Bergs an den dun­klen, trau­ri­gen Gewässern des Núr­nen-Meers […]”
6. Buch, 2. Kapi­tel: Das Land des Schat­tens.

Neutralität und Subjektivität

Der Herr der Ringe wird zum großen Teil berich­t­end-neu­tral erzählt. So auch im ersten Kapi­tel:

“Als Herr Bil­bo Beut­lin von Beu­telsend ankündigte, daß er dem­nächst zur Feier seines ein­un­delfzig­sten Geburt­stages ein beson­ders prächtiges Fest geben wolle, war des Gere­des und der Aufre­gung in Hob­bin­gen kein Ende.”
1. Buch, 1. Kapi­tel: Ein langer­wartetes Fest.

Wir haben hier All­wis­sen und einen berich­t­end-neu­tralen Stil, aber es gibt auch Stellen wie diese hier:

“Hin­auf und immer weit­er hin­auf stieg er. Es war dunkel bis auf eine Fack­el dann und wann, die an ein­er Kehre flack­erte oder neben irgen­dein­er Öff­nung, die zu den oberen Stock­w­erken des Turms führte. Sam ver­suchte, die Stufen zu zählen, aber als er bei zwei­hun­dert ange­langt war, kam er durcheinan­der. Er ging jet­zt ganz leise; denn er glaubte Stim­men zu hören, die irgend­wo oben sprachen. Offen­bar ist doch mehr als eine Rat­te am Leben geblieben.”
6. Buch, 1. Kapi­tel: Der Turm von Cirith Ungol.

Was an dieser Pas­sage auf­fällt, sind zum Beispiel sehr unge­fähre Angaben wie: “bis auf eine Fack­el dann und wann”. Wir erfahren auch, dass Sam ver­sucht die Stufen zu zählen. Diese Infor­ma­tion ist für den Plot irrel­e­vant, aber sie bietet einen Ein­blick in das Innere der Reflek­tor­fig­ur. Wir erfahren außer­dem, dass Sam glaubt Stim­men zu hören. Hier schraubt der Erzäh­ler sein Wis­sen zurück, denn wir erfahren nicht, ob die Stim­men tat­säch­lich zu hören sind. Und schließlich blick­en wir sog­ar direkt in Sams Gedanken­welt: Das Wort “offen­bar” beze­ich­net eine sub­jek­tive Ver­mu­tung und “Rat­ten” als Umschrei­bung für Orks ist auch sehr sub­jek­tiv einge­färbt.

Diese Pas­sage ist ein Beispiel dafür, wie einzelne Fig­uren regelmäßig in den Vorder­grund treten. Der Erzäh­ler rutscht immer wieder in den Bere­ich des per­son­alen Erzäh­lers. Ja, über­wiegend haben wir einen Erzäh­ler, der “Ich” sagt und sich als Her­aus­ge­ber bzw. Über­set­zer ein­er Leg­ende aus­gibt, aber der Erzäh­ler ist auch dynamisch und wird bei Bedarf per­son­al.

Der Typenkreis

Wenn man diese Beobach­tun­gen nun in den Typenkreis ein­trägt, ergibt sich fol­gen­des Bild:

  • Wir haben ein­er­seits das auk­to­ri­ale Her­aus­ge­ber-Ich,
  • ander­er­seits haben wir die gele­gentliche Ten­denz zum per­son­alen Erzäh­ler.

"Der Herr der Ringe" von J. R. R. Tolkien

Mit anderen Worten:

  • Auf der Achse des Modus ste­ht der Erzäh­ler im Vorder­grund, aber bei Bedarf schwingt der Fokus über zur Reflek­tor­fig­ur.
  • Auf der Achse der Per­son haben wir eher eine Nichti­den­tität der Seins­bere­iche von Erzäh­ler und Fig­uren.
  • Auf der Achse der Per­spek­tive haben wir eine Ten­denz zur Außen­per­spek­tive.

Analyse des Herrn der Ringe nach Genette

In Bezug auf die Stimme lässt sich fest­stellen:

  • Wir haben eine spätere Nar­ra­tion, d.h. eine Erzäh­lung in der Ver­gan­gen­heits­form.
  • Wir haben wech­sel­nde Ebe­nen:
    Wie bere­its erwäh­nt, erfol­gt die Expo­si­tion sehr stark durch metadiegetis­che Pas­sagen bzw. Binnen­erzäh­lun­gen.

Ein Beispiel dafür ist das Kapi­tel “Der Rat von Elrond”, ein regel­recht­es Biotop von Binnen­erzäh­lun­gen. Ein Beispiel daraus:

“Es ist jet­zt viele Jahre her“, sagte Glóin, „daß ein Schat­ten der Unruhe auf unser Volk fiel. Woher er kam, haben wir zuerst nicht erkan­nt. […]”
Buch, 2. Kapi­tel: Der Rat von Elrond.

Und der let­zte Punkt zur Stimme:

  • Der Erzäh­ler ist het­erodiegetisch. Er lebt zwar in der­sel­ben Welt wie die Fig­uren, aber zu einem späteren Zeit­punkt.

In Bezug auf den Modus stellt man fest, dass die Erzäh­lung eine vari­able Fokalisierung aufweist. Sie begin­nt mit ein­er berich­t­end-neu­tralen Null­fokalisierung, wech­selt aber später immer mehr und immer öfter in die interne Fokalisierung, zum Beispiel dann, wenn Span­nung erzeugt wer­den soll. Eine Dis­tanz zur Fig­ur wird aber immer noch gewahrt: Der Her­aus­ge­ber-Erzäh­ler bleibt nach wie vor sehr präsent.

“Aber jet­zt merk­te er, daß seine Knie zit­terten, und er wagte nicht, nah genug zu dem Zauber­er hinzuge­hen, um das Bün­del zu erre­ichen.
[…]
Pip­pin hat­te die Knie ange­zo­gen und hielt den Ball zwis­chen ihnen. Er beugte sich tief darüber und sah aus wie ein naschhaftes Kind, das sich in einem Winkel fern von den anderen über eine Schüs­sel mit Essen her­ma­cht.”
Buch, 11. Kapi­tel: Der Palan­tír.

Ja, wir haben hier die sub­jek­tive Wahrnehmung von Pip­pin und wir bekom­men einen Ein­blick in sein Innen­leben, aber gle­ichzeit­ig sehen wir ihn auch von außen. Damit ist und bleibt der Erzäh­ler eher null­fokalisiert trotz einiger Abschwei­fun­gen in die interne Fokalisierung.

Starke Präsenz des Erzählers

Noch mehr zeigt sich die Präsenz des Erzäh­lers, wenn er aus­drück­lich Pas­sagen aus der Erzäh­lung weglässt, zum Beispiel hier:

“Dann spürte er in all den Jahren, die fol­gten, dem Ring nach, aber da diese Geschichte ander­swo erzählt ist und Elrond sie selb­st in seinen Geschichts­büch­ern aufgeze­ich­net hat­te, soll sie hier nicht wieder­holt wer­den.”
Buch, 2. Kapi­tel: Der Rat von Elrond.

Beson­ders auf­fäl­lig wird der Her­aus­ge­ber-Erzäh­ler aber in der Ein­führung. Denn hier gibt es diesen Satz:

“Selb­st in den alten Zeit­en emp­fan­den sie in der Regel Scheu vor dem „Großen Volk“, wie sie uns nen­nen, und heute mei­den sie uns voll Schreck­en und sind nur noch schw­er zu find­en.”
Ein­führung: Über Hob­bits.

Hier beschreibt der Erzäh­ler die Rasse der Hob­bits und ist dabei gewis­ser­maßen ein Ich-Erzäh­ler bzw. ein homodiegetis­ch­er Erzäh­ler. Er zählt sich und den Leser offen­bar zur Rasse der Men­schen. Der Erzäh­ler ist tech­nisch gese­hen natür­lich Teil der erzählten Welt, aber er erschafft die Illu­sion, er und der Leser wür­den sich in der­sel­ben Welt befind­en. Damit arbeit­et der Roman mit ein­er Met­alepse, also der Ver­mis­chung der nar­ra­tiv­en Ebe­nen.

Tat­säch­lich ist Tolkiens fik­tive Welt als Mytholo­gie für unsere Welt konzip­iert. Das heißt: Wir leben in der­sel­ben Welt, in der die Ereignisse im Her­rn der Ringe stat­tfind­en — nur, dass wir uns in der Zukun­ft befind­en. Damit wird das Leg­en­dar­i­um Teil unser­er Welt und wir Leser wer­den Teil des Leg­en­dar­i­ums.

Die Wirkung des Erzählers im Herrn der Ringe

Der Effekt, den Tolkien mit sein­er Erzählweise erre­icht, ist, dass der Plot klar und lin­ear ver­läuft. Durch die auk­to­ri­alen Abschwei­fun­gen und die vie­len Binnen­erzäh­lun­gen wird mas­sives World-Build­ing betrieben. Span­nung wird erzeugt, indem der Leser gele­gentlich in den Hin­ter­grund tritt. Dadurch, dass der Erzäh­ler sich als Her­aus­ge­ber aus­gibt, entste­ht das Gefühl, in eine echte Leg­ende aus der realen Welt einzu­tauchen. Durch die vie­len Per­spek­tiv­en und die par­al­le­len Hand­lungsstränge ergibt sich ein großes Epos.

Damit ist die Erzählper­spek­tive in Der Herr der Ringe klar auf World-Build­ing und Mythopoe­sie aus­gerichtet und erzeugt die Illu­sion ein­er richti­gen Leg­ende bzw. ein­er echt­en Mytholo­gie. Durch die Dynamik der Erzählper­spek­tive und den Fokus auf bes­timmten Reflek­tor­fig­uren entste­ht aber auch die Illu­sion, am Geschehen teilzuhaben. Diese Ver­schmelzung zweier Illu­sio­nen mag mitver­ant­wortlich sein für den mas­siv­en Erfolg des Romans.

4 Kommentare

  1. Hal­lo Schreibtech­nikerin!
    Ich glaube, dass Ihre prak­tis­che Anwen­dung der The­o­rien von Stanzel und Genette sehr erhel­lend ist, und zwar sowohl für erzählthe­o­retis­che Anfänger in Schule und Uni als auch für kreativ Schreibende. Sie zeigen auch, dass sich Stanzels und Genettes Ansätze sehr gut ergänzen (dieses Jahr ist Stanzel übri­gens 100 Jahre alt gewor­den). Ein oder zwei „Verbesserungs­borschläge“ hätte ich schon. Ein auk­to­ri­aler Erzäh­ler ist eher nicht Teil der erzählten Welt – son­st müsste er in dieser Welt vorkom­men, ein “erleben­des Ich” haben oder gehabt haben, was nicht der Fall ist. Umgekehrt: Ger­ade weil er nicht Teil der erzählten Welt ist, „über“ dieser Welt ste­ht, kann er seinen riesi­gen Infor­ma­tionsvor­sprung gel­tend machen. Ein auk­to­ri­aler Erzäh­ler ver­wan­delt sich auch nie in einen „per­son­alen Erzäh­ler” – diesen Begriff gibt es bei Stanzel gar nicht, da bin ich mir sich­er. Es bleibt der auk­to­ri­ale Erzäh­ler, dieser „tritt gele­gentlich “zurück” und „delegiert“ die Fokalisierung an eine Reflek­tor­fig­ur. (Auch homodiegetis­che Erzäh­ler kön­nen das (hier unwesentlich, aber generell nicht).) Zu über­legen ist auch, ob der Begriff Null­fokalisierung wirk­lich tre­f­fend ist. Eine auk­to­ri­ale Vogelper­spek­tive beispiel­sweise ist alles andere als keine Per­spek­tive (für Genette ist zero focal­iza­tion syn­onym mit non-focal­iza­tion). Ich glaube wirk­lich, dass die Berück­sich­ti­gung solch­er ter­mi­nol­o­gis­chen Unstim­migkeit­en einige Unklarheit­en und Rück­fra­gen aus­räu­men kön­nten. Aber zugegeben: so, dass alle neueren Nar­ra­tolo­gen in diesen Punk­ten heute ein­er Mei­n­ung wären, ist es nun auch wieder nicht.

    1. Moin und danke für die Verbesserungsvorschläge! Was die Ter­mi­nolo­gie bet­rifft, so sind saloppe Umschrei­bun­gen dur­chaus beab­sichtigt, weil ich die von Natur aus sper­ri­gen the­o­retis­chen Mod­elle in eine für den Otto Nor­malver­brauch­er ver­ständliche Sprache zu über­set­zen ver­suche und die deut­lich präzis­ere Fachter­mi­nolo­gie (“der Erzäh­ler tritt zurück”, “delegiert” etc.) zurück­zuschrauben und etwas bildlich­er zu umschreiben ver­suche. Denn die etwas abstrak­te Ter­mi­nolo­gie ist ein­er der vie­len Gründe, warum the­o­retis­che Mod­elle oft so schw­er zu ver­ste­hen sind, und “zurück­treten” und “delegieren” kön­nen auch falsch ver­standen wer­den, näm­lich als Erzäh­ler­wech­sel (ich sehe ein­fach zu oft, wie Reflek­tor­fig­uren als Erzäh­ler betitelt wer­den). Ich nehme es aber abso­lut nie­man­dem übel, wenn er sich angesichts von meinen Erk­lärun­gen die Hände überm Kopf zusam­men­schlägt. Von Leuten, die sich ern­sthaft mit Erzählthe­o­rie befassen, erwarte ich das sog­ar.

      Was den auk­to­ri­alen Erzäh­ler bet­rifft, so stimme ich abso­lut zu, dass er nicht Teil der erzählten Welt ist, son­dern der dargestell­ten. Allerd­ings darf ich immer wieder fest­stellen, dass die Erzäh­ler von fik­tionalen Werken ein sehr vielfältiges Volk sind. Ger­ade der Erzäh­ler im Her­rn der Ringe ist ein Parade­beispiel dafür: Er wäre ein ger­adezu ide­al­typ­is­ch­er auk­to­ri­aler Erzäh­ler – wenn er nur nicht so tun würde, als würde er in der­sel­ben Welt leben wie die Hob­bits, nur viele Jahre später. Und damit reißt er die Gren­ze zwis­chen der erzählten und dargestell­ten Welt gewis­ser­maßen ein, weil er ja so tut, als wäre die dargestellte Welt die Fort­set­zung der erzählten. Eigentlich ein recht klas­sis­ch­er Her­aus­ge­ber-Erzäh­ler also, nur dass die Schriften, die er her­aus­gibt, nicht ein­mal den leis­es­ten Ver­such darstellen, so zu tun, als wür­den sie in die Real­ität passen (im Gegen­satz zu den Her­aus­ge­ber-Erzäh­lern der früheren Jahrhun­derte, die ihre Erzäh­lung ja möglichst real­is­tisch machen soll­ten). Aber ja, ich habe das in diesem Artikel/Video sehr stark vere­in­facht, in diesem Punkt sicher­lich zu stark.

      Der Begriff der Null­fokalisierung wird ja schon so lange disku­tiert und kri­tisiert, wie es ihn gibt. Nicht zulet­zt ja auch, weil man nicht erzählen kann, ohne Schw­er­punk­te zu set­zen. Deswe­gen ist ja auch der “neu­trale Erzäh­ler” aus Stanzels Mod­ell raus­ge­flo­gen. Der Begriff “Null­fokalisierung” zum Beschreiben der Erzählper­spek­tive erscheint bei dieser Betra­ch­tungsweise somit als ein Wider­spruch in sich. Aber wenn Genette die Null­fokalisierung beschreibt als: “Der Erzäh­ler weiß mehr als die Fig­ur”, dann kann ich das so akzep­tieren und betra­chte “Null­fokalisierung” ein­fach als einen gewis­ser­maßen willkür­lichen Namen.

      1. Die Beze­ich­nung ist nicht willkür­lich — wenn ich das richtig ver­standen habe: Genettes Ter­mi­nolo­gie hin­sichtlich des nar­ra­tiv­en Fokus geht davon aus, dass eine Per­spek­tive eigentlich immer eine Ein­schränkung der Wahrnehmung ist. Null­fokalisierung bedeutet also: keine Ein­schränkung, der Erzäh­ler kann über­all hin­schauen, weiß mehr als irgen­deine sein­er Fig­uren, weiß alles ..

        1. Natür­lich hat Genette den Begriff Null­fokalisierung keineswegs willkür­lich gewählt. Aber manchen stößt der Begriff eben sauer auf, weil sie ihn als ungelun­gen oder wider­sprüch­lich empfind­en. Aber solange klar ist, was Genette damit meint, näm­lich: “Der Erzäh­ler weiß mehr als die Fig­ur”, ist die Wahl der Ter­mi­nolo­gie eigentlich egal. Man kön­nte die Null­fokalisierung auch in “Keks­fokalisierung” umbe­nen­nen. Solange jed­er weiß, was gemeint ist, soll­ten wir keine Haarspal­terei um die eizel­nen Begriffe herum betreiben. Darum ging es mir.

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