Als Autor ist man vor allem ein Weltenschöpfer. — Egal, ob man seine Geschichten in der “realen” Welt ansiedelt oder völlig neue Welten aufbaut. Und so wichtig wie die Schauplätze und ihre Funktionsprinzipien sind, kann man das World-Building nicht dem Zufall überlassen. Deswegen reden wir in diesem Artikel über die wichtigsten Grundlagen.
Die Folien für dieses Video gibt es für Steady-Abonnenten und Kanalmitglieder auf YouTube als PDF zum Download.
Du hast einen tollen Plot in Deinem Kopf und Figuren, die nur darauf warten, den Leser auf ihre Reise mitzunehmen. Doch eine Frage ist immer noch offen: Wo passiert das Ganze? Was ist das für eine Welt? Und welchen Gesetzen folgt sie?
In dieser neuen Reihe befassen wir uns genau damit: dem World-Building.
Und das ist nicht nur etwas für Fantasy- und Science-Fiction-Autoren, die ihre eigenen Universen erschaffen, sondern auch für jene, die ihre Geschichten in der “realen Welt” ansiedeln: Denn hier erschafft der Autor eine fiktionalisierte Version realer Orte, Gesellschaften, ihrer Grundprinzipien etc.
Mit anderen Worten: Dieses Thema ist wichtig für alle Schreiberlinge. Und darum dreht sich auch dieser erste Teil der Reihe:
Welche Bedeutung hat die Welt, in der die Geschichte spielt? Was ist bei der Wahl bzw. Entwicklung des Schauplatzes zu beachten? Wie präsentiert man ihn am besten und welche Gefahren lauern?
Finden wir es heraus!
Was ist World-Building?
Beginnen wir am besten mit der Definition:
World-Building ist, wie der Begriff schon sagt, das Bauen von Welten.
Und dabei geht es nicht nur um Orte, sondern auch um Strukturen gesellschaftlicher, wirtschaftlicher, kultureller und jeder anderen Art. Es geht um die Menschen, die diese Orte bewohnen und ihre Regeln des Miteinanders. Es geht um die Vorgeschichte dieser Orte und wie sie mit den anderen Orten der Welt verknüpft sind. Es geht um Normen und Werte, Erwartungen, Wünsche und Bedürfnisse. Und nicht zuletzt geht es auch um Symbolik.
Soll heißen:
Es geht nicht nur um Geografie, sondern um grundlegende Gesetze, nach denen die Welt in der Geschichte — und damit auch die Geschichte selbst — funktioniert.
Erinnern wir uns zum Beispiel an einen Klassiker:
Der Film Der Pate beginnt damit, dass der Mafiaboss Vito Corleone während der Hochzeit seiner Tochter Audienz hält, sich die Anliegen seiner “Untertanen” anhört und Urteile fällt. Damit findet in dieser Szene massives World-Building statt: Der Zuschauer lernt die Welt der Corleones kennen, sieht, wie die Macht des Mafiabosses bzw. “Paten” funktioniert, und wird mit Besonderheiten wie dem “Angebot, das man nicht ablehnen kann” vertraut gemacht.
Ohne diesen Beginn ist der Rest des Films undenkbar. Denn:
Die Geschichte kann nur dann Sinn ergeben, wenn all diese Dinge — wenn das World-Building Sinn ergibt.
Und damit gilt:
Die Geschichte und das World-Building sind untrennbar miteinander knüpft.
World-Building und die Geschichte
Denken wir zunächst einmal an Tolkiens Der Herr der Ringe und Martins Das Lied von Eis und Feuer: Beides sind High-Fantasy-Reihen von epischen Ausmaßen mit ausgefeilten Welten voller komplexer Hintergrundgeschichten, Magie und Mythologien. Doch bei all ihrer Ähnlichkeit kann man die Welten, in denen die Geschichten angesiedelt sind, nicht einfach vertauschen:
Denn Tolkiens Arda ist eine Welt, in der Gut und Böse einen schier endlosen Kampf ausfechten, der schon während der Schöpfung der Welt begann und von dem der Ringkrieg nur eine einzelne Episode darstellt. Währenddessen sind die Kategorien von Gut und Böse in der bekannten Welt von Martins Universum völlig obsolet, praktisch alle Orte, Völker und Religionen haben ihre Licht- und Schattenseiten und deswegen können die Konflikte in der Eis und Feuer-Saga es sich leisten, so nah an unserer Realität zu sein. Während bei Tolkien das Gute zwar korrumpiert werden kann, die Dimensionen von Gut und Böse aber dennoch erhalten bleiben, handelt man bei Martin vor allem aus Eigeninteresse bzw. tut aus seiner eigenen, subjektiven Sicht das Richtige und ist damit im Prinzip weder gut noch böse.
Also kurz: Tolkiens Welt ist mythologischer, es geht mehr um abstrakte Prinzipien und deswegen passt Der Herr der Ringe mit seinen klaren moralischen Kategorien nahtlos hinein. Martins Welt hingegen ist viel konkreter mit ihren konkreten Situationen, konkreten Reaktionen, konkreten Konflikten, konkreten Dilemmas, konkreten Entscheidungen und konkreten Maßnahmen. In einem Interview merkte Martin an, dass Tolkien beispielsweise nie Aragorns Steuerpolitik beschrieben hat. Und das bringt den zentralen Unterschied zwischen den beiden Welten genau auf den Punkt: In Tolkiens Welt ist nur relevant, dass Aragorn ein guter, weiser König wurde. In Martins Werk sind Fragen nach der Steuerpolitik essenziell.
Was passiert, wenn man die abstrakten Prinzipien von Tolkiens Werk auf Das Lied von Eis und Feuer überträgt, hat übrigens des desaströse Ende der Eis und Feuer-Verfilmung Game of Thrones gezeigt: Der ursprünglich raffinierte Plot wurde auf die Kategorien von Gut und Böse reduziert, die Figuren verloren ihre psychologische Komplexität und somit passen die letzten beiden Staffeln vom Plot her gar nicht mehr in die Welt und zu den Figuren, die im Verlauf der vorherigen Staffeln erschaffen wurden. Der Herr der Ringe und Das Lied von Eis und Feuer sind auf ihre jeweils höchst eigene Weise genial. Aber ein Herr der Ringe-hafter Plot in der Welt von Martin ist billiges 08/15-Fantasy, wie es von zweitklassigen Nachahmern, die die Genialität ihrer Vorbilder nicht verstehen, geschrieben wird.
Wir lernen also:
Gutes World-Building orientiert sich an den Figuren, am Hauptkonflikt und vor allem am zentralen Thema.
Thema und Symbolik
Vor allem hängt auch die Entwicklung der Welt mit dem Arc des Protagonisten zusammen:
So ist die Harry Potter-Reihe unter anderem eine Coming-of-Age-Geschichte. Ebenso wie Harry Potter und seine Freunde erwachsener werden, wird auch die Zaubererwelt immer komplexer und düsterer: Ist der erste Teil noch ein putziges Kinderbuch über Abenteuer an einer Zauberschule, findet im letzten Teil ein brutaler Krieg statt, in dem die Zauberschule zum Schlachtfeld wird.
Dabei müssen die Veränderungen der Welt nicht unbedingt objektiv gravierend sein, sondern können auch einfach nur symbolisch die innere Entwicklung der Figuren spiegeln:
Als die verwaiste Mary Lennox, die Protagonistin von Frances H. Burnetts Der geheime Garten, auf das Gut ihres Onkels zieht, ist sie ein verzogenes, kränkliches und hässliches Kind, ihr Cousin Colin ist ebenfalls verzogen und wird für schwer krank und gelähmt gehalten und ihr Onkel ist in ewiger Trauer um seine Frau gefangen. Das düstere Innenleben spiegelt sich auch in der kahlen, trostlosen Landschaft: Das Gut liegt im Moor und es ist Winter. Als Mary aber im Verlauf der Geschichte einen geheimen Garten entdeckt und sich um ihn kümmert, entwickelt sie sich zum Positiven und stößt auch eine Veränderung bei Colin und ihrem Onkel an. Der konkrete geheime Garten auf dem Gut erblüht und steht damit auch metaphorisch für den inneren Garten der Figuren, für ihre erblühten Seelen.
Was diese Symbolik angeht, so werden bestimmte Orte in der Regel mit bestimmten Dingen assoziiert:
So kann ein Wald zum Beispiel ein magischer Ort sein, wo hübsche Feen leben, oder auch ein gruseliger Ort, an dem man Yetis, Werwölfe und andere gefährliche, mysteriöse Kreaturen trifft. In einem Wald kann man von Räubern überfallen werden oder sich aber vor Verfolgern verstecken. Und nicht zuletzt kann ein Wald auch ungebändigte Natur symbolisieren — oder aber von Menschen angepflanzt worden sein.
Viele potentielle Settings haben eine mehr oder weniger universelle Symbolik, so vielfältig und widersprüchlich sie auch sein mag:
Da wäre der eben besprochene Wald, ein geheimnisvoller, potentiell gefährlicher Ausdruck der Natur. Da ist das Moor im Geheimen Garten, das im Winter trostlos wirkt, im Frühling und Sommer aber auflebt. Da ist die Stadt, die einerseits für Zivilisation steht, andererseits aber auch als wilder Dschungel wahrgenommen werden kann. Und so weiter …
Dabei sind im Übrigen auch kreative Kombinationen möglich:
So ist der Film Girls Club – Vorsicht bissig! an einer amerikanischen High School angesiedelt, gewissermaßen einer Miniaturversion der Gesellschaft: Hier herrscht eine hauseigene Diktatorin mit ihren Handlangern und unter der Oberfläche finden erbitterte Machtkämpfe statt. Die Protagonistin kommt dabei nicht zufällig aus Afrika, denn so kann sie die High School immer wieder mit der afrikanischen Wildnis vergleichen, die ja ebenfalls von Macht- und Revierkämpfen geprägt ist.
Andere Settings bzw. einzelne Facetten sind hingegen an eine bestimmte Kultur geknüpft:
So kann man zum Beispiel sagen, dass Der Pate nicht zufällig überwiegend in den USA spielt: Denn hier wird im Prinzip eine dunkle Variante des American Dream gezeigt, als ein sizilianischer Junge in die USA migriert und dort zum Mafiaboss aufsteigt. Und obwohl sein Sohn Michael von den kriminellen Machenschaften seiner Familie zunächst nicht viel hält, kann er sich den Gesetzen seiner Welt nicht entziehen und führt den American Dream seiner Familie mit eiserner Faust fort.
In Tolstojs Krieg und Frieden kommt die kulturell-spirituelle Spaltung Russlands zum Ausdruck, wenn man sich anschaut, welche Figuren in St. Petersburg und welche in Moskau leben. St. Petersburg wurde erst Anfang des 18. Jahrhunderts nach westlichen Vorbildern gebaut und eher künstlich zur Hauptstadt gemacht. Es ist die Stadt der Politik, der Überheblichkeit, des Fremden, der Intrigen und der Lüge. Moskau hingegen, zu Tolstojs Zeiten die historische Hauptstadt, ist durchdrungen vom Russischen, von Wahrheit, Heimat und Tradition, und sie ist das Zuhause der Sympathieträger des Romans, der Familie des Grafen Rostow. Dessen lebhafte, aufrichtige Tochter Natascha, die ultimative Sympathieträgerin, erlebt aber ausgerechnet im verlogenen St. Petersburg einen extremen Tiefpunkt, als sie um ein Haar mit dem verantwortungslosen Anatol Kuragin durchbrennt, obwohl sie mit ihrem geliebten Andrej Bolkonski verlobt ist.
Die Symbolik des Settings wird im Übrigen nicht weniger relevant, wenn das Setting regelmäßig wechselt:
So ist die weit, weit entfernte Galaxis der Star Wars-Filme zweifellos ein unendlich großes Sammelsurium unterschiedlichster Planeten. Doch hier kann man sehr gut sehen, wie viel ein Ort über seine Bewohner aussagen kann: Luke, der das Gefühl hat, in seinem langweiligen Alltagsleben festzustecken, wohnt auf einem Wüstenplaneten, der unscheinbare, geheimnisvolle Meister Yoda lebt in einem wilden Sumpf und die Diener des Imperiums tummeln sich in den sterilen, leblosen Gängen des Todessterns.
Auch im Herrn der Ringe wechseln Szenerie und Völker: Die kleinen Hobbits aus dem idyllischen Auenland reisen durch die ätherischen Reiche der Elben, eine von Orks und einem urzeitlichen Dämon bewohnte Unterwelt, die irdischen, aber stolzen Reiche der Menschen sowie durch das kahle Reich des Bösen. Und die kleinen, unscheinbaren Hobbits, retten diese große, magische Welt. Das ist sehr ausdrucksstark.
Um es also kurz zusammenzufassen:
Gutes World-Building liefert nicht nur einen geeigneten Schauplatz für die Geschichte, sondern spiegelt auch die Werte sowie die äußeren und inneren Entwicklungsprozesse der Figuren, die diese Schauplätze bevölkern. Damit trägt es zur Gesamtaussage des Werkes bei und kommentiert durchaus auch die reale Welt des konkreten Autors und konkreten Rezipienten.
Ausarbeitung und Exposition
Wenn Du nun also das passende Setting für das Thema Deiner Geschichte gefunden hast und weißt, wie Du die Welt und ihre Veränderung mit dem Plot und den Figuren verknüpfen willst, ist das bereits die halbe Miete. Und dennoch muss die Welt noch ausgearbeitet und angemessen präsentiert werden.
Und da lauert schon die erste Gefahr: Denn oft ist man so sehr vom eigenen World-Building fasziniert, dass man den Blick für das Wesentliche verliert. Bitte versteh’ mich nicht falsch: Es ist keineswegs verkehrt, die Welt, in der Deine Geschichte spielt, bis ins kleineste Detail auszuarbeiten, zumal das ja auch unheimlich Spaß macht. Aber der Leser wird das meiste davon nicht brauchen. Denn es trägt nichts zum Thema und zur Botschaft Deines Werks bei. Es ist unnötiger Fluff.
Daher merke:
Weniger ist mehr.
Erstens sollte der Leser die Welt möglichst leicht verstehen können und zweitens lenken zu viele Details vom Eigentlichen, vom Kern der Geschichte, ab.
Schauen wir uns ein Negativbeispiel an:
Ich habe mich ja schon so einige Male als Assassin’s Creed-Fan geoutet und wie auch viele andere, bemerke ich, wie das Franchise mit den Jahren seine Identität verliert. Ich wiederum verliere deswegen allmählich das Interesse. Und speziell in Bezug auf Storytelling und World-Building beobachte ich Folgendes:
Die Grundidee und das zentrale Thema haben mich vom ersten Teil an fasziniert: Hinter der Fassade der uns aus der Schule bekannten Geschichte findet ein geheimer Krieg zwischen Templern und Assassinen statt. Beide Geheimorden kämpfen dabei für den Frieden. Doch während die Templer ihn durch Kontrolle und Ordnung erreichen wollen, setzen die Assassinen auf Freiheit. Eine wichtige Rolle spielen in diesem Krieg geheimnisvolle Artefakte, die von einer fiktiven Vorgängerzivilisation, den Isu, hinterlassen wurden und selbst im Vergleich zu unseren modernsten Technologien wie Magie wirken. Die Templer wollen diese Artefakte nutzen, um die Menschheit zu kontrollieren, und die Assassinen wollen sie daran hindern.
Nun spielte dieser ideologische Konflikt in den früheren Assassin’s Creed-Teilen eine sehr zentrale Rolle. Die Arcs der Protagonisten drehten sich dabei in der Regel um das Verständnis von Freiheit sowie die Wichtigkeit einer Balance mit Verantwortung. Es ging darum, dass Freiheit eben nicht einfach bedeutet, zu tun, was man will, sondern kritisches Denken erfordert sowie die Bereitschaft, mit den Konsequenzen der eigenen Entscheidungen zu leben.
In den letzten Jahren jedoch rückte dieses Thema gegenüber dem World-Building immer mehr in den Hintergrund. Man erfährt mehr über die Entstehung der beiden Geheimorden, die Isu spielen eine immer größere Rolle und die Protagonisten sind schon lange keine richtigen Assassinen mehr. Die Welt, in der Assassin’s Creed spielt, wird immer ausgefeilter und verwirrender, aber mit dem Credo der Assassinen haben die letzten Spiele herzlich wenig zu tun.
Im Vergleich mit dem World-Building in Assassin’s Creed mutet das World-Building in unserem Positivbeispiel, dem Universum von Avatar — Der Herr der Elemente und der Nachfolgewerke, nahezu primitiv an:
Vier Elemente, vier Nationen und der Avatar, der alle vier Elemente beherrscht und das Gleichgewicht wahren soll. Zwar erfährt man auch hier die Hintergründe — in der Nachfolgeserie Die Legende von Korra wird beispielsweise die Entstehung des Avatar erläutert. Doch es kommt dabei nicht zur Verselbstständigung dieser Erzählungen. Man erfährt von den Hintergründen stets nur das, was für die eigentliche Geschichte wichtig ist. Und wichtig ist im Avatar-Universum eben das Thema des Gleichgewichts: Aang soll das Gleichgewicht zwischen den Nationen herstellen und Korra das Gleichgewicht zwischen Ideologien. Das zentrale Thema bleibt erhalten.
Wir sehen also:
Es ist nicht notwendig und auch nicht ratsam, jeden Winkel der Welt zu zeigen und alle Details zu erklären.
Konzentriere Dich daher auf das zentrale Thema, die Figuren und den Plot und zeige von Deinem World-Building nur das, was wirklich relevant ist.
Die fiktive Welt “lebendig” machen
Nun magst Du an dieser Stelle vielleicht einwenden, dass Details doch wichtig sind, um der fiktiven Welt Leben einzuhauchen. Dass Atmosphäre aufgebaut werden muss. Und dass logische Erklärungen notwendig sind, damit der Rezipient dem Geschehen folgen kann.
Hier ist allerdings zu beachten, dass es immer auf die Geschichte ankommt. Und damit eben auch auf das zentrale Thema und die Botschaft.
Muss das World-Building realistisch sein?
Betrachten wir mal den sowjetischen Animationszweiteiler Die Bremer Stadtmusikanten und Auf den Spuren der Bremer Stadtmusikanten:
Der erste Trickfilm ist lose an das Märchen der Brüder Grimm angelehnt und der zweite ist die Fortsetzung. Die vier Tiere sind hier bereits ein fertiger musikalischer Wanderzirkus und haben auch einen Menschen, den “Troubadour”, in ihrer Mitte. Sie machen Musik, tanzen, jonglieren und vollführen akrobatische Tricks. Bei einem dieser Auftritte begegnet der Troubadour der Prinzessin und die beiden verlieben sich. Nach einigen Komplikationen gewinnt der Troubadour das Vertrauen des Königs und darf mit der Prinzessin zusammen sein. Weil diese aber offenbar von einem wilderen Leben träumt, brennt sie mit dem Troubadour und seinem Wanderzoo durch. Daher setzt der König einen genialen Detektiv auf die Stadtmusikanten an. Der entführt die Prinzessin und bringt sie zurück zu ihrem Vater. Die Musikanten verfolgen ihn und während die Tiere zur Ablenkung ein Konzert geben, setzt der Troubadour den König, den Detektiv und die Wachen außer Gefecht, befreit die Prinzessin und zusammen mit ihr verlassen die Musikanten die Stadt unter dem Jubel des Volkes.
Das World-Building ist dabei einfach nur absurd: Die Stadt selbst wirkt pseudo-mittelalterlich und ‑frühneuzeitlich, die Menschen am königlichen Hof kommen aus dem achtzehnten Jahrhundert und der offensichtlich Sherlock-Holmes-inspirierte Detektiv hat ein Auto, zwei Revolver und einen Fotoapparat im rechten Auge, was ihn wohl zu einer Art Cyborg macht. Die Stadtmusikanten und speziell der Troubadour sowie die Prinzessin entstammen hingegen der damaligen Gegenwart der späten 60er und frühen 70er Jahre — einer Zeit, als die Sowjetunion sich westlichen kulturellen Einflüssen geöffnet hatte: Die Musikanten spielen Rock mit E‑Gitarren, die offenbar keine Elektrizität brauchen, der Troubadour trägt Schlaghosen und einen V‑Ausschnitt bis zum Bauchnabel und die Prinzessin ein Minikleidchen, das mehr wie ein langes Shirt aussieht.
Nun wurden die beiden animierten Musicals sehr widersprüchlich interpretiert und es wurde von verschiedenen Lagern sowohl Sozialismusfeindlichlichkeit als auch Sozialismusbefürwortung darin gesehen. Faktisch drin ist tatsächlich die Opposition zwischen den alten, egoistischen und charakterschwachen Eliten und ihren Handlangern und den jungen, rebellischen Figuren des Troubadour und der Prinzessin, die vier aufrichtige tierische Freunde haben und vom Volk bejubelt werden. Und während die Welt überwiegend aus anachronistisch durchmischten Klischees des historischen Europa besteht, werden die sympathischen Rebellen durch ihr damals modernes Design und Auftreten hervorgehoben. Das absurde World-Building trägt also direkt zur Charakterisierung der Figuren bei, zumal die Anachronie der Rebellen auch nicht stört, weil ja die gesamte Welt aus anachronistischen Klischees besteht. Damit wirkt diese noch so haarsträubend zusammenhanglose Welt dennoch in sich geschlossen, atmosphärisch und “lebendig”.
Wir merken also:
Wenn es dem Zweck der Geschichte dient, muss das World-Building nicht einmal logisch sein.
Aber ja, natürlich, manche Geschichten erfordern eine realistische Welt.
Und je realistischer die Geschichte, desto realistischer und logischer sollte dementsprechend auch das World-Building sein:
Man stelle sich das Desaster vor, wenn Das Lied von Eis uns Feuer in der Welt der sowjetischen Bremer Stadtmusikanten angesiedelt wäre! — Aber wie verhindert man, dass eine genau solche Monstrosität entsteht?
Eine realistische Welt erschaffen
Wenn Du beschlossen hast, dass Du eine logische, realistische Welt brauchst, dann hast Du zunächst sehr viel Recherche vor Dir. Es sei denn, Du schreibst nur über Dinge, die Du kennst, und das ist nicht immer der Fall. Je nach dem, wie die fiktive Welt aussehen soll, wirst Du daher nicht umhin kommen, mit offenen Augen durch die reale Welt zu gehen, Dich verstärkt für bestimmte Milieus und/oder Epochen zu interessieren, physikalische Gesetze nachzuschlagen, Fachliteratur über alltägliche Dinge wie das Wetter zu lesen, Dich mit Märchen und Mythologien verschiedener Kulturen zu befassen, Dich mit Psychologie, Geschichte und Politiktheorie auseinanderzusetzen und so weiter.
Es ist dabei schwer zu sagen, was einfacher ist: sinniges World-Building für eine Geschichte, die in unserer Welt angesiedelt ist und daher besondere Präzision erfordert, oder sinniges World-Building für eine Geschichte, die in einer fiktiven Welt spielt mit ausgedachten Gesetzen und Prinzipien, die aber trotzdem ein in sich geschlossenes Ganzes ergeben sollen. Doch während bei Ersterem vor allem gilt: Recherche, Recherche und nochmal Recherche, stellt sich bei Letzterem die Frage nach hilfreichen Tools und Modellen.
Jene, die auf solche Tools und Modelle warten, werde ich an dieser Stelle allerdings enttäuschen: Sicherlich werden wir in den späteren Teilen, in denen wir Einzelaspekte des World-Buildings behandeln, auch über Modelle sprechen. Aber wenn es um das Erschaffen von fiktiven Welten an sich geht, so bin ich persönlich sehr skeptisch gegenüber Modellen, Fragebögen und anderen Werkzeugen. Denn solche Dinge setzen beobachtbare Normen voraus, wie sie beispielsweise bei der Erzählperspektive festgestellt werden können. Und das bedeutet:
Modelle helfen am meisten dort, wo die technischen Möglichkeiten eingeschränkt sind. Und beim Aufbauen von fiktiven Welten ist genau das nicht der Fall.
Denn das ist doch das Schöne an ausgedachten Welten: Im Idealfall sind sie neu, originell und einzigartig. Wenn man sich außerdem allzu sehr auf ein Modell oder eine bestimmte Technik konzentriert, sehe ich die Gefahr, dass man die eigentliche Geschichte, das zentrale Thema und die beabsichtigte Botschaft aus den Augen verliert.
Und wenn die eigentliche Geschichte in den Hintergrund gerät, dann wirken all Deine noch so liebevoll herausgearbeiteten Details eher irrelevant, leblos und statisch. Weil sich ja nichts verändert bzw. nichts Interessantes passiert. Wie auf einer leeren Bühne.
Ergo:
Was eine Welt wirklich lebendig macht, sind nicht Realismus und Details, sondern das Leben darin: die Bewegung, die Konflikte, die Handlung.
Die einzigen Tools, die ich persönlich beim World-Building sinnvoll finde, sind Mittel zum Ordnen von Information. Also Dinge wie eigene Lexika, Stammbäume, Steckbriefe, Bilder von den Figuren, Übersichtstabellen, Landkarten und Stadtpläne etc. Aber das würde den Rahmen dieses Artikels sprengen. Daher können wir, wenn Du magst, ein andermal darüber reden.
Beschreibungen und Details
Nun hast Du also eine Welt, die zu Deiner Geschichte passt. Wie verpackst Du sie jetzt in einen Text, damit ihre Lebendigkeit beim Leser ankommt?
Über Beschreibungen allgemein haben wir bereits in einem früheren Artikel gesprochen. Darin ging es um vier Punkte:
- In der Kürze liegt die Würze
- Show, don’t tell
- Originelle Stilmittel und Wortwahl
- Die Macht der Erzählperspektive
Detailliertere Ausführungen findest Du im entsprechenden Artikel. An dieser Stelle ist zunächst nur wichtig, dass Beschreibungen zum World-Building gehören und Du diese Punkte alleine schon deswegen beachten solltest.
In Bezug auf das World-Building sind aber auch noch weitere Punkte von Bedeutung:
- So wichtig Details und Beschreibungen auch sind — Du solltest sie nicht wiederholen. Einmal beschreiben reicht. Später können und sollen die einzelnen Aspekte zwar aufgegriffen werden — jedoch nur, wenn die jeweilige Stelle das erfordert: Wenn es also zur Stimmung, zur Handlung oder zu etwas anderem beiträgt. Der Leser will nun mal nicht immer wieder dasselbe lesen und sich wiederholende Beschreibungen sind daher einfach nur nutzloser Ballast.
- Wenn ich sage, dass Du nicht jeden Winkel der fiktiven Welt zu zeigen brauchst, dann gilt das auch im Kleinen für die Orte, Dinge, Wesen usw., die tatsächlich in der Geschichte vorkommen. Deine Aufgabe ist es, ein allgemeines Gefühl von dem Dorf zu geben, durch das Deine Figuren gerade reisen. Was für eine Ausstrahlung hat es? Welche Gefühle weckt es und warum? Ist vielleicht gerade die Pest am Wüten und die wenigen Bewohner, die noch leben, haben sich in ihren Häusern verschanzt? Dann konzentriere Dich auf die allgemeine Stille, auf den Leichengeruch und den Kirchturm, der in diesem Zusammenhang mehr wie ein riesiger Grabstein wirkt. Und wenn in einem verlassenen Garten das Leben wuchert, dann beschreibe nicht die fröhlich summenden Bienen, sondern die Niederlage des Menschen gegenüber der Natur, den Verfall der Zivilisation: wie eine Bank, auf der einst Menschen gesessen haben, jetzt mit Moos bedeckt ist, wie ein Vogelpärchen sich in einem Schrank ein Nest gebaut hat und wie die Ratten sich ungehindert an den Essensvorräten im Keller bedienen. Picke also die Details und Aspekte heraus, die zur Stimmung und zum Plot beitragen.
- “Show, don’t tell” gilt nicht nur bei Beschreibungen, sondern auch bei der Informationsvermittlung, beispielsweise bei Hintergrundgeschichten. Soll heißen: Du musst dem Leser nicht alles vorkauen. Gib ihm eine Szenerie, erlaube ihm zu beobachten und lass ihn eins und eins selbst zusammenzählen. Sage zum Beispiel nicht direkt, dass in dem Dorf die Pest wütet. Beschreibe stattdessen einfach das deprimierende Bild und lege die ein oder andere mit Pestbeulen übersäte Leiche auf die Straße. Der Leser wird schon verstehen, was da passiert ist. Ebenso wie der Leser sich die Hintergrundgeschichte von jemandem denken kann, der nicht viel redet, mit Narben bedeckt ist und seine Freizeit mit dem Saufen verbringt. Und weil der Leser so in die Entstehung des geistigen Bildes stärker involviert ist, weil er nicht einfach etwas vorgelegt bekommt, sondern auch selbst an dem Kopfkino schrauben muss, wirkt die Szenerie umso lebendiger. Ich meine, natürlich wirst Du nicht komplett um Erklärungen herumkommen, aber beschränke sie lieber auf das Nötigste.
- Achte darauf, dass Du es bei der Konzentration auf das zentrale Thema und das Nötigste dennoch nicht übertreibst. Den Leser interessieren kleine, schmückende Details nämlich durchaus und er braucht im Verlauf der Geschichte hin und wieder Raum zum Durchatmen. Ebenso wie die Figuren manchmal einfach nur zusammen Kaffee trinken sollten, dürfen sie sich die Orte, die sie besuchen, bei Gelegenheit genauer ansehen und die Hintergrundgeschichten dazu erfahren. Und wenn die Heldengruppe einen Ort zweimal besucht, ist es interessant, wenn dort zwischenzeitlich Veränderungen eingetreten sind. Denn das zeigt, dass das Leben hier weitergeht, selbst wenn die Hauptfiguren nicht anwesend sind. Pass bei solchen schmückenden Details aber auf, dass Du keine reinen Filler-Szenen oder gar Filler-Kapitel schreibst. Lass darin etwas vorkommen, das trotzdem noch wichtig für den Plot ist. Und wenn die schmückenden Details dabei auch noch subtil auf das Innenleben der Figuren oder bestimmte Aspekte des Plots anspielen, dann ist das perfekt.
- Vermeide Info-Dump! Selbst wenn man es mit den Informationen über die Welt auf das Nötigste beschränkt, wird man dennoch Dinge erklären müssen. Und manchmal muss es sogar sehr explizit passieren, indem der Erzähler oder eine Figur sich hinstellt und die notwendigen Informationen runterrattert. Das ist Info-Dump. Doch dazu und zu möglichen Alternativen bei der Informationsvermittlung habe ich bereits einen Artikel. Wenn Du also mehr wissen möchtest, dann schaue doch vorbei!
Schlussbemerkung
Das war also unser sehr allgemeiner Einstieg ins Thema World-Building. Dir wird aufgefallen sein, dass ich nicht ausführlich auf die Unterschiede zwischen Geschichten, die unserer Welt spielen, und Geschichten, für die komplett neue Welten erschaffen wurden, eingegangen bin. Die Sache ist, dass Geschichten der letzteren Sorte, in der Regel Fantasy und Science-Fiction, zwar auf den ersten Blick mehr World-Building haben, auf den zweiten Blick aber die Geschichten, die in der “Realität” angesiedelt sind, mit fast denselben Herausforderungen einhergehen:
Bei Historienromanen muss viel recherchiert, durchdacht und erklärt werden, damit die Geschichte für einen Nicht-Historiker nachvollziehbar ist. Wenn Du über die Mafia schreibst, dann musst Du dem Leser, der mit größter Wahrscheinlichkeit kein Mafiosi ist, diese Welt näherbringen. Und selbst wenn Du über Dinge wie Schule schreibst, eine banale, kleine Welt, die jeder kennt, so ist doch keine Schule wie die andere und hat ihre eigenen Geschichten, Besonderheiten und Sachverhalte, die einem Außenstehenden erst erklärt werden müssen.
Aber ja, ich gebe zu, man braucht nicht allzu viele Worte, um gewöhnliche Schafe auf einer gewöhnlichen Wiese zu beschreiben. Die meisten Menschen wissen, was ein Schaf ist und wie es aussieht, und daher kannst Du Dich damit begnügen, die Besonderheiten dieser speziellen Schafe zu beschreiben. Wenn es aber um Holomisuhasitams vom Planeten Furzevick geht, dann möchte der Leser wissen, was das für Kreaturen sind, wie sie aussehen, was sie so machen, was sie fressen, ob sie überhaupt fressen etc. pp. Das nimmt natürlich viel mehr Raum ein.
Allerdings gilt auch hier:
Schweife nicht allzu sehr vom eigentlichen Thema ab, behalte die Geschichte im Auge und erkläre nur so viel wie nötig. Überfordere den Leser nicht. Vor allem nicht im ersten Band einer Serie, wenn der Leser erst noch entscheiden muss, ob die fiktive Welt ihn überhaupt interessiert.