Geschichten besser erzählen: Den rich­tigen Erzähler finden mit dem Typen­kreis von Stanzel

Geschichten besser erzählen: Den rich­tigen Erzähler finden mit dem Typen­kreis von Stanzel

Ein unpas­sender Erzähler kann selbst die beste Geschichte zer­stören. Wer ein eigenes Buch schreibt, muss den Erzähler also sorg­fältig aus­wählen. Ich selbst finde dabei erzähl­wis­sen­schaft­liche Modelle sehr hilf­reich. Und in diesem Artikel erkläre ich, wie ich den Typen­kreis von Stanzel, das bekann­teste Modell, für mich selbst abwandle: Aus einem reinen Ana­ly­se­werk­zeug ent­stehen drei Fragen, die mir helfen, den rich­tigen Erzähler für meine Geschichten zu finden.

Die Folien für dieses Video gibt es für Steady-Abon­nenten und Kanal­mitglieder auf You­Tube als PDF zum Down­load.

Im Artikel über die Defi­ni­tion von Erzählen habe ich fol­gende Faust­regel auf­ge­stellt:

Eine noch so inter­es­sante Geschichte, vor­ge­tragen durch einen schlechten Erzähler, kommt schlecht an.

Eine noch so unspek­ta­ku­läre Geschichte, vor­ge­tragen durch einen guten Erzähler, kommt gut an.

Es stellt sich also nun die Frage:

Wie finde ich für meine Geschichte einen guten Erzähler?

Nun, heute zeige ich, wie ich den Typen­kreis von Stanzel modi­fi­ziere und zweck­ent­fremde, um für meine Geschichten den rich­tigen Erzähler zu finden.

Was ist der Typen­kreis von Stanzel?

Stan­zels Typen­kreis ist das bekann­teste Modell, das zur Ana­lyse der Erzähl­per­spek­tive ver­wendet wird. Seine Bekannt­heit reicht so weit, dass es in ver­ein­fachter Form in der Schule gelehrt wird. Ein­fach aus­ge­drückt:

Es ist das Modell, das mit den Begriffen

  • Ich-Erzähler,
  • aukt­orialer (bzw. all­wis­sender) Erzähler

und

  • per­so­naler Erzähler

ope­riert.

Eine aus­führ­li­chere Erklä­rung fin­dest Du in diesem Artikel.

Hier jedoch redu­ziere und ver­än­dere ich dieses Modell so weit, wie es mir als Autor nützt, um einen pas­senden Erzähler zu finden.

Um ein paar Grund­lagen kommen wir aber trotzdem nicht herum …

Der Kreis und seine Achsen

Der wich­tigste Punkt, der in der Schule in der Regel aus­ge­lassen wird, ist, dass der Typen­kreis eben ein Kreis ist. Das heißt:

Die Über­gänge zwi­schen den klas­si­schen Erzähl­si­tua­tionen sind flie­ßend.

Außerdem hat der Typen­kreis drei Achsen und jede Erzähl­si­tua­tion bildet jeweils einen Pol einer Achse. Diese drei Achsen sind:

  • Modus
  • Person
  • Per­spek­tive

Einen pas­senden Erzähler finden mit 3 Fragen

Die drei Achsen des Typen­kreises sind die Grund­lage für die drei Fragen, mit denen der pas­sende Erzähler gefunden werden soll:

  • Jede Achse stellt eine Frage mit je zwei Ant­wort­mög­lich­keiten.
  • Bei jeder Ant­wort­mög­lich­keit kann die aus­ge­suchte Eigen­schaft ver­schieden stark aus­ge­prägt sein.
  • Die Kom­bi­na­tion der Ant­worten für die drei Achsen ergibt schließ­lich die Posi­tion des Erzäh­lers im Typen­kreis.

Schauen wir uns des­wegen die drei Achsen und die damit zusam­men­hän­genden Fragen im Detail an.

Modus

Auf der Achse des Modus stellt man die Frage, wer im Vor­der­grund stehen soll:

  • der Erzähler (der die Geschichte erzählt)

oder

  • die Reflek­tor­figur (durch deren Augen erzählt wird)?

Das läuft auf die Frage hinaus:

Wie sichtbar soll der Erzähler sein?

Ein Erzähler kann näm­lich über Infor­ma­tionen ver­fügen, die die Reflek­tor­figur gar nicht hat. Zum Bei­spiel durch zeit­liche Distanz (wie im Fall eines erzäh­lenden Ich oder eines Erzäh­lers als Her­aus­geber) oder durch Ein­blick in das Innen­leben meh­rerer Figuren. Der Erzähler kann auch gene­rell all­wis­send sein. Das macht ihn natür­lich beson­ders sichtbar.

Das alles bedeutet nun, dass man ganz unterm Strich fragt:

Wie viel soll mein Leser wissen?

Soll er mehr wissen als die Figuren? Soll er weniger wissen als die Figuren? Oder genauso viel wie die Figuren? – Abhängig davon, was man als Autor errei­chen möchte, sollte man sich das im Vor­feld über­legen.

Person

Hier fragen wir, in wel­cher „Welt“ sich der Erzähler befinden soll:

  • Befindet er sich in der­selben „Welt“ wie die Figuren

oder

  • befindet er sich nicht in der­selben „Welt“ wie die Figuren?

Mit anderen Worten, wir fragen:

Steckt der Erzähler mitten im Geschehen oder beob­achtet er nur?

Ein Erzähler, der mitten im Geschehen steckt, han­delt. Er ist damit Teil der Geschichte – ent­weder als Prot­ago­nist oder als Neben­figur. Oder als jemand, der her­aus­zu­finden ver­sucht, was vor langer Zeit mal geschehen ist. Wichtig ist: Er befindet sich in der­selben „Welt“ wie die Figuren. Das heißt: Er ist irgendwie mit dem Geschehen ver­bunden.

Das Ganze bedeutet nun, dass man sich unterm Strich fragt:

Mit wem soll sich mein Leser iden­ti­fi­zieren?

Soll er das Geschehen durch die Augen einer han­delnden Figur vor­nehmen? Oder durch die eines Zeugen? Oder soll er als unsicht­barer Beob­achter im Kopf einer Figur sitzen? – Das nur als ein paar mög­liche Bei­spiele.

Per­spek­tive

Hier geht es um die Frage, ob wir die Figuren von innen oder von außen wahr­nehmen:

  • Wird das Innen­leben der Figuren offen­bart

oder

  • werden sie nur von außen betrachtet?

Das ist also die Frage:

Wie tief blickt der Erzähler in die Figuren hinein?

Gibt er also die Gedanken und Gefühle der Figuren direkt wieder oder deutet er sie nur an?

Und ganz unterm Strich bedeutet das schließ­lich:

Was soll mein Leser fühlen?

Soll der Leser unmit­telbar erfahren, was im Inneren der Figuren vor sich geht? Oder soll er anhand von äußer­li­chen Beob­ach­tungen selbst­ständig Schlüsse ziehen?

Erzähler finden mit Stanzel: prak­ti­sches Bei­spiel

Zuge­geben, das war gerade sehr viel Theorie. Wagen wir uns also ein prak­ti­sches Bei­spiel.

Wir setzen uns die Auf­gabe:

Der Leser soll mit der Haupt­figur ver­schmelzen und mit ihr mit­fühlen.

Für die Achse des Modus stellen wir uns, wie gesagt, die Frage:

Wie viel soll mein Leser wissen?

Wenn der Leser mit der Haupt­figur ver­schmelzen und mit­fühlen soll, dann bietet es sich an, einen Erzähler zu wählen, der exakt so viel weiß wie die Figur. Das heißt:

Die Reflek­tor­figur soll im Vor­der­grund stehen.

Auf der Achse der Person hin­gegen wird es ein biss­chen kniff­liger:

Mit wem soll sich mein Leser iden­ti­fi­zieren?

Einer­seits kann man mit einer Ich-Erzähl­si­tua­tion ergrei­fende Geschichten quasi „aus erster Hand“ erzählen. Ande­rer­seits hat man es als Leser mit einem Ich zu tun, das nicht man selbst ist. Die Haupt­figur, mit der man eigent­lich ver­schmelzen soll, ist in diesem Fall viel­mehr ein Gegen­über.

Des­wegen ist es meiner Mei­nung nach besser, wenn der Erzähler mög­lichst unsichtbar ist. Dem­entspre­chend sollte er sich auch

nicht in der­selben „Welt“ befinden wie die Figuren.

Aber da man sich bei diesem Punkt, wie gesagt, streiten kann und eine Ich-Erzähl­si­tua­tion, wenn gut gehand­habt, hier eben­falls wun­derbar funk­tio­nieren kann, gebe ich diesem Punkt an dieser Stelle eine gerin­gere Prio­rität.

Auf der Achse der Per­spek­tive schließ­lich …

Wie soll mein Leser fühlen?

… ent­scheiden wir uns ganz klar für die

Innen­per­spek­tive.

Wenn der Leser mit der Haupt­figur mit­fühlen soll, muss er ja einen mög­lichst guten Ein­blick in ihr Inneres bekommen.

Was sich nun her­aus­kris­tal­li­siert, ist der Sektor an der Grenze zwi­schen der Ich-Erzähl­si­tua­tion und der per­so­nalen Erzähl­si­tua­tion. Durch ihn ver­läuft übri­gens auch die Grenze der Erzäh­lung in der dritten und der ersten Person.

Geschichten besser erzählen: Den richtigen Erzähler finden mit dem Typenkreis von Stanzel

Wir wählen also eine per­so­nale Erzähl­si­tua­tion mit einigen Ten­denzen in Rich­tung Ich-Erzähl­si­tua­tion.

Fertig!

Abschlie­ßende Hin­weise

Dass der Leser in eine Geschichte kom­plett ein­tau­chen und mit den Figuren ver­schmelzen soll, wird oft erwartet und gefor­dert. Aber man darf nie­mals ver­gessen:

Es gibt nicht die eine rich­tige Art zu erzählen.

Was für eine Geschichte gut ist, ist für eine andere Geschichte Gift: Man kann Harry Potter nicht so erzählen wie den Herrn der Ringe; und man kann den Herrn der Ringe nicht so erzählen wie Harry Potter.

Ein Erzähler muss vor allem zu seiner Geschichte passen. Des­wegen muss sich ein Autor vor allem die Frage stellen:

Worum geht es in meiner Geschichte? Was will ich damit errei­chen?

Erst, wenn man diese Dinge für sich geklärt hat, kann man sich bewusst einen pas­senden Erzähler aus­su­chen.

Ansonsten sollte man auch nicht ver­gessen,

dass ein Erzähler auch dyna­misch sein kann.

Das heißt: Er kann sich wäh­rend der Erzäh­lung ver­än­dern. Der Erzähler im Herrn der Ringe zum Bei­spiel ist aukt­orial; aber an man­chen Stellen wird er eher per­sonal, um die ent­spre­chende Stelle inter­es­santer zu machen.

In Bezug auf die Erzähl­per­spek­tive sind also unend­lich viele Spie­le­reien mög­lich.

Und der beste Weg zu lernen, wel­cher Erzähler wie funk­tio­niert, sind Lesen und das Ana­ly­sieren des Gele­senen.

Das ist auch der Grund, warum ich auf dieser Seite unter anderem Erzähl­ana­lysen anstelle. Schau doch vorbei!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert