Erzählen in der 2. Person: “Du-Perspektive” bzw. “Du-Erzähler”

Erzählen in der 2. Person: “Du-Perspektive” bzw. “Du-Erzähler”

Kann man den Leser zum Pro­tag­o­nis­ten der Hand­lung machen? Schließlich dienen doch viele Geschicht­en dem Eskapis­mus und ent­führen den Leser in ein alter­na­tives Leben. In der Regel funk­tion­iert das durch Empathie bzw. das Hinein­ver­set­zen in eine fik­tive Fig­ur. Aber kann man den Leser nicht auch direkt in die Geschichte holen? Mit einem “Du-Erzäh­ler”? In diesem Artikel reden wir über den Sinn und Unsinn dieser Erzählweise.

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Erzählen in der 1. und 3. Per­son ist Gang und Gäbe. Aber was ist mit der 2. Per­son? Was ist mit dem Erzäh­ler, der den Leser direkt anspricht und ihn zum Pro­tag­o­nis­ten der Hand­lung macht?

Der Wun­sch für dieses The­ma stammt aus der KreativCrew und hat­te die Begrün­dung: “da sie [die ‘Du-Per­spek­tive’] so sel­ten ist”. Und es wurde auch gle­ich ein zen­trales Prob­lem dieses Erzäh­lers ange­sprochen: “Wieso funk­tion­iert diese Per­spek­tive eher weniger?” Später, als die KreativCrew Detail­wün­sche zu diesem The­ma äußern kon­nte, sprach aus den Beiträ­gen über­wiegend Unver­ständ­nis, warum man sich für eine solche Erzählweise entschei­den sollte. Die Wahrschein­lichkeit ist also hoch, dass auch Du ger­ade ein großes, dick­es Frageze­ichen im Kopf hast.

Küm­mern wir uns also um dieses Frageze­ichen:

Was passiert, wenn man einen “Du-Erzäh­ler” wählt? Wann macht er Sinn? Und warum ist er meis­tens eine schlechte Wahl?

Das besprechen wir in diesem Artikel.

“Du-Perspektive”: Wo sie funktioniert

Obwohl ein “Du-Erzäh­ler” auf den ersten Blick ungewöhn­lich anmutet, ken­nen wir ihn tat­säch­lich aus unserem All­t­ag. Und in dieser All­t­ags­funk­tion taucht er manch­mal auch in Binnen­erzäh­lun­gen von fik­tionalen Werken auf — beispiel­sweise in Remar­ques Der Weg zurück, als der junge Pro­tag­o­nist der Erzäh­lung seines älteren Kriegskam­er­aden Adolf Bethke lauscht. Dessen Ehe ist zer­brochen und er fühlt sich ohne seine Frau ein­sam:

“Er schiebt mir eine Schüs­sel mit Obst hin. «Willst du einen Apfel?» Ich nehme einen und biete ihm eine Zigarre an. Er beißt die Spitze ab und fährt fort: «Sieh, Ernst, ich hab hier gesessen und gesessen und bin halb ver­rückt dabei gewor­den. Wenn du allein bist, ist so ein Haus was Schreck­lich­es. Du gehst durch die Zim­mer — da hängt noch eine Bluse von ihr, da sind ihre Näh­sachen, da ist der Stuhl, auf dem sie immer saß und nähte — und abends, da ste­ht das zweite Bett so weiß und ver­lassen neben dir herum, du siehst alle Augen­blicke ‘rüber und wälzst dich hin und her und kannst nicht schlafen — da geht dir manch­es durch den Kopf, Ernst -»”
Erich Maria Remar­que: Der Weg zurück, Fün­fter Teil, II.

Adolf Bethke sagt “du” und spricht den Pro­tag­o­nis­ten direkt an — aber er meint dabei nicht ihn, Ernst, son­dern sich selb­st. Mit dem “du” fordert Adolf seinen Fre­und eher indi­rekt auf, sich in seine Lage zu ver­set­zen, und sug­geriert auch, dass es jedem in sein­er Sit­u­a­tion so gehen würde wie ihm.

Es ist also ein “Du-Erzäh­ler”, der in Wirk­lichkeit kein “Du-Erzäh­ler” ist, weil ja gar nicht der Ange­sproch­ene gemeint ist. Und das ist auch der Grund, warum dieser “Du-Erzäh­ler” sich nicht merk­würdig oder unnatür­lich anfühlt.

In eine ähn­liche Rich­tung geht auch der “Du-” bzw. “Höflichkeit­splur­al-Sie-Erzäh­ler” in “Sewastopol im Dezem­ber”, der ersten Erzäh­lung von Lew Tol­sto­js Sewastopol-Zyk­lus, in dem der damals noch junge Autor seine Erfahrun­gen während des Krimkrieges ver­ar­beit­et hat. Hier nimmt der Erzäh­ler den Leser mit auf eine Art Sight­see­ing-Tour durch die umkämpfte Stadt. Eine der Sta­tio­nen ist dabei das Lazarett:

“Sie gehen zwis­chen den Bet­ten hin­durch und hal­ten Auss­chau nach einem weniger stren­gen und lei­den­den Gesicht, an das sie her­anzutreten wagen, um zu sprechen.

‘Wo bist du ver­wun­det?’, fra­gen Sie unentschlossen und zaghaft einen alten, abgemagerten Sol­dat­en, der auf sein­er Pritsche sitzt, Sie mit gut­mütigem Blick beobachtet und Sie einzu­laden scheint, an ihn her­anzutreten. Ich sage: ‘zaghaft fra­gen Sie’, weil Lei­den, abge­se­hen von tiefem Mit­ge­fühl, aus irgen­deinem Grund auch die Furcht ein­flößen zu belei­di­gen sowie Hochachtung vor dem, der sie ertra­gen hat.

‘Am Bein’, antwortet der Sol­dat; — doch in genau diesem Moment bemerken Sie selb­st anhand der Fal­ten der Bettdecke, dass er ober­halb des Knies kein Bein mehr hat.”

Lew Tol­stoj: Sewastopol­er Erzäh­lun­gen, Sewastopol im Dezem­ber.

Im Gegen­satz zur Erzäh­lung von Adolf Bethke ist mit diesem “Du-Erzäh­ler” tat­säch­lich der Leser gemeint. Allerd­ings geht es nicht um Dinge, die dem Leser tat­säch­lich zus­toßen, son­dern es han­delt sich um ein Gedanken­spiel: Tol­stoj lädt den Leser ein, sich in die Lage von jeman­dem zu ver­set­zen, der Sewastopol im Dezem­ber 1854 erlebt, und führt ihn durch eine Rei­he typ­is­ch­er Szenen, Inter­ak­tio­nen, Ein­drücke und Gefüh­le.

Somit geht es auch hier nicht wirk­lich um den Leser als Fig­ur, son­dern um eine Ein­ladung, sich in eine Sit­u­a­tion hineinzu­ver­set­zen und die für diese Sit­u­a­tion typ­is­chen Gefüh­le nachzuempfind­en.

“Du-Perspektive”: Wo sie nicht funktioniert

Prob­lema­tisch hinge­gen wird es in Geschicht­en, in denen der Leser tat­säch­lich als voll­w­er­tige Fig­ur auf­taucht. So habe ich als langjährige Fan­fic­tion-Leserin und ‑Autorin nicht schlecht ges­taunt, als ich mit Mitte 20 ein für mich zumin­d­est kom­plett neues Fan­fic­tion-Genre ent­deckt habe: Sexy Fig­ur X Read­er — d. h. Fan­fic­tions, in denen der meis­tens weib­liche und het­ero­sex­uelle Leser mit ein­er meis­tens männlichen Fig­ur eines Fan­doms zusam­menkommt. Dabei gibt es zwei Möglichkeit­en:

  • Die Geschichte kann entwed­er ganz klas­sisch in der 3. Per­son erzählt wer­den, wobei der Name der Leser­fig­ur durch einen Platzhal­ter erset­zt wird,
  • oder die Leser­fig­ur wird direkt mit “du” beze­ich­net.

Und ja, bei­de Alter­na­tiv­en wirken ziem­lich skur­ril und ich zumin­d­est kon­nte solchen Geschicht­en nie viel abgewin­nen. Aber als Lit­er­atur­wis­senschaft­lerin finde ich es dann doch irgend­wie span­nend. Zumin­d­est die zweite Möglichkeit, denn die erste ist ja die gewohnte Erzäh­lung in der 3. Per­son, nur dass die Haupt­fig­ur keinen Namen hat.

Doch was die zweite Möglichkeit ange­ht, so ist das Prob­lem etwas kom­plex­er:

Der Leser ist ein einzi­gar­tiges Indi­vidu­um, wird aber expliz­it aufge­fordert, sich mit ein­er bes­timmten Fig­ur zu iden­ti­fizieren, die anders aussieht als der Leser, anders denkt und anders fühlt und die der Leser auch erst ken­nen­ler­nen muss.

Die Lek­türe von Geschicht­en mit solchen Leser­fig­uren geht — bei mir zumin­d­est — mit solchen befremdlichen Gedanken ein­her:

“Aha? So sehe ich also aus? Ganz und gar nicht wie ich. Und warum fälle ich diese und jene Entschei­dung? Ich würde es ganz anders machen. Wer ist dieses ‘Du’ über­haupt? Ich zumin­d­est nicht.”

Natür­lich haben solche Geschicht­en dur­chaus ihre Fans. Ich schließe auch nicht aus, dass man eine solche Geschichte schreiben kann, ohne dass sie solche befremdlichen Gedanken erzeugt. In dem Fall müsste die Leser­fig­ur aber eine leere Lein­wand ohne nen­nenswerte Per­sön­lichkeit sein und dürfte auch keine gravieren­den Entschei­dun­gen fällen. Davon, dass keine Charak­ter­en­twick­lung stat­tfind­en dürfte, ganz zu schweigen. — Und solche Fig­uren sind ten­den­ziell eher lang­weilig.

Metalepse und Interaktivität

Das Prob­lem bei Leser­fig­uren ist, dass sie die vierte Wand aufzubrechen ver­suchen, ohne dass sie sie wirk­lich auf­brechen. Bzw. sie brechen nur eine Schicht auf, max­i­mal zwei. Doch die dritte bleibt weit­er­hin intakt. Und weil diese dritte Schicht für diesen Erzäh­ler­typ die entschei­dende ist, kann die Met­alepse — zumin­d­est in der beab­sichtigten Form — nur misslin­gen.

Was ich damit meine?

Sprechen wir doch kurz über Kom­mu­nika­tion­sebe­nen …

Kommunikationsebenen und die vierte Wand

In mein­er Erzäh­lanalyse von My Immor­tal von Tara Giles­bie habe ich es bere­its erwäh­nt und für das zweite Hal­b­jahr 2020 ist ein eigen­ständi­ger Artikel dazu geplant: das Mod­ell der Kom­mu­nika­tion­sebe­nen nach Wolf Schmid.

Laut diesem Mod­ell ist die Kom­mu­nika­tion zwis­chen einem konkreten Autor und einem konkreten Leser mit­tels eines lit­er­arischen Werks wie eine Zwiebel aufge­baut:

  • Auf der äußer­sten Ebene sind der konkrete Autor, der Men­sch, der das lit­er­arische Werk geschrieben hat, und der konkrete Leser, der das lit­er­arische Werk ger­ade liest.
  • Inner­halb des lit­er­arischen Werks find­et man den abstrak­ten Autor, der Ein­druck, den man vom Autor bekommt, wenn man das Werk liest, sowie die abstrak­te Vorstel­lung vom Leser, die der Autor beim Schreiben hat, bzw. der ide­ale Leser, für den er das Werk schreibt.
  • Die näch­st­tief­ere Ebene ist die dargestellte Welt. Hier geht es endlich um Dinge, die tat­säch­lich konkret im Text ste­hen. Auf dieser Ebene bewe­gen sich der fik­tive Erzäh­ler, also die Fig­ur, die aus irgendwelchen Grün­den die Geschichte erzählt, und der fik­tive Leser, also die Fig­ur, diese Geschichte erzählt bekommt.
  • Das, was der fik­tive Erzäh­ler erzählt, ist schließlich die erzählte Welt: die Ebene, auf der die Hand­lung stat­tfind­et.

Diese ganzen Schicht­en des Erzäh­lers und des Lesers sind nicht immer sicht­bar, weswe­gen das Mod­ell auf den ersten Blick vielle­icht etwas ver­wirrend ist. Aber ich hoffe, Du kannst mir trotz­dem fol­gen, wenn ich kurz erk­läre, was passiert, wenn man eine Leser­fig­ur in die Hand­lung ein­bringt:

Die Haupt­fig­ur, die Teil der Hand­lung ist und mit den anderen fik­tiv­en Fig­uren inter­agiert, befind­et sich in der erzählten Welt. Der Autor ver­sucht sich jedoch an ein­er Met­alepse, ein­er Durch­brechung von Ebe­nen, indem er diese Haupt­fig­ur zu einem Avatar für den konkreten Leser macht. Weil er all seine konkreten Leser aber nicht ken­nt und diese konkreten Leser auch sehr unter­schiedlich sind, klappt nur ein Ebe­nen­bruch hin zum fik­tiv­en Leser, max­i­mal zum abstrak­ten Leser — Entitäten, die der Autor kon­trol­lieren kann.

Damit ein Bruch zum konkreten Leser möglich ist, damit dieser tat­säch­lich als Fig­ur in der Hand­lung auf­tauchen kann, müsste er die Hand­lung mit seinen indi­vidu­ellen Entschei­dun­gen bee­in­flussen kön­nen.

Und damit wären wir beim The­ma:

Interaktives Erzählen

Das Rezip­ieren ein­er Geschichte ist grund­sät­zlich ein aktiv­er Prozess: Wenn wir ein Buch lesen oder einen Film schauen, dann denken wir mit, stellen in unserem Kopf Verbindun­gen her, vor unserem geisti­gen Auge arbeit­et es und wir inter­pretieren und spekulieren. Noch aktiv­er ist der Rezip­i­ent, wenn er die Sto­ry aktiv bee­in­flusst und dadurch auch zum Mit-Erzäh­ler sein­er indi­vidu­ellen Ver­sion der Geschichte wird. Und wenn die Haupt­fig­ur dabei auch noch ihn selb­st repräsen­tiert, dann wird die Vere­ini­gung von fik­tiv­er Fig­ur und konkretem Leser doch endlich möglich. … Oder?

Schauen wir uns doch mal ein paar ver­schiedene Ansätze an:

Spielbücher

Spiel­büch­er sind eine semi-inter­ak­tive Erzählform, die dem klas­sis­chen Text noch am näch­sten ist: Hier wird eine mit “du” beze­ich­nete Fig­ur in ein Aben­teuer gestürzt und in mehr oder weniger regelmäßi­gen Abstän­den wird der Leser vor die Wahl gestellt, was die Fig­ur als Näch­stes tun soll. Es wer­den mehrere vordefinierte Möglichkeit­en ange­boten und hin­ter jed­er Möglichkeit ste­ht eine Seiten­zahl, wo die Geschichte mit der jew­eili­gen Entschei­dung weit­erge­ht.

Ein Bruch zum konkreten Leser find­et jedoch nur bed­ingt statt, weil der Leser nur stel­len­weise Entschei­dun­gen fällen kann und die vordefinierten Möglichkeit­en nicht zwangsläu­fig die Entschei­dung bein­hal­ten, die der Leser am lieb­sten tre­f­fen würde. Außer­dem kann die Leser­fig­ur hier keine nen­nenswerte Per­sön­lichkeit besitzen und auch dem Plot sind Gren­zen geset­zt - und das macht eine Geschichte mit Tief­gang eher unwahrschein­lich.

Adventures, Visual Novels, Otome …

Durch Com­put­ertech­nolo­gie kön­nen solche Spiel­büch­er aber deut­lich kom­plex­er wer­den: Das Ergeb­nis sind oft text­lastige Videospiele, die aber in der Regel von Stand­bildern, min­i­malen Ani­ma­tio­nen und Sounds begleit­et wer­den. Hier liest der Leser nicht ein­fach nur an ein­er bes­timmten Stelle weit­er, son­dern seine Entschei­dun­gen kön­nen bee­in­flussen, was die anderen Fig­uren von der Spiel­er­fig­ur denken, der Spiel­er kann ein Inven­tar von eingekauften oder gefun­de­nen Gegen­stän­den haben, der die Hand­lung eben­falls bee­in­flusst, und es kann auch Quick-Time-Events geben, bei denen der Spiel­er ein kleines Min­ispiel gewin­nen muss. Es ist also gewis­ser­maßen ein Roman, bei dem beispiel­sweise der Auf­bau von Beziehun­gen simuliert wer­den kann, und das Hantieren mit Objek­ten und Quick-Time-Events fordern vom Leser sog­ar aktive Hand­lun­gen.

Diese Hybri­den aus klas­sis­chem Roman und Videospiel kön­nen dur­chaus kom­plexe, ergreifende Geschicht­en erzählen, die durch die audio­vi­suelle Unter­malung und die Inter­ak­tiv­ität noch umso ergreifend­er sind. Die Pro­tag­o­nis­ten kön­nen dabei sowohl als vordefinierte Fig­uren als auch als Leser­fig­uren konzip­iert sein. Bemerkenswert ist jedoch, dass das Erzählen oft nicht in der 2. Per­son stat­tfind­et, son­dern in der 1. Dass die Fig­ur ein Stel­lvertreter für den Leser ist, merkt man oft nur daran, dass man am Anfang des Spiels den Stan­dard-Namen der Haupt­fig­ur in seinen eige­nen ändern kann. Außer­dem sind die Hand­lungsmöglichkeit­en hier immer noch recht beschränkt und die Leser­fig­uren haben oft auch eine recht flache Per­sön­lichkeit, um dem Spiel­er eine leere Pro­jek­tions­fläche zu bieten. Tief­gang bekommt die Geschichte eher durch andere Fig­uren und die Inter­ak­tio­nen mit ihnen und der Umwelt.

Rollenspiele in Gruppen

Eine akti­vere Rolle spielt der Rezip­i­ent bei Rol­len­spie­len. Es gibt zwar einen vorgegebe­nen Rah­men, doch die Rezip­i­en­ten schlüpfen in die Rollen der einzel­nen Fig­uren und wer­den somit zu Co-Autoren ein­er ganz indi­vidu­ellen Hand­lung.

Was für eine Geschichte am Ende her­auskommt, hängt sehr stark von den Spiel­ern ab. Und damit eine solche Geschichte über­haupt zus­tande kommt, braucht man erst­mal eine Gruppe von Gle­ich­gesin­nten, die mit­spie­len. Das Kom­mu­nika­tion­s­mod­ell mit einem konkreten Autor, Leser und lit­er­arischen Werk ist hier also gar nicht anwend­bar.

Singleplayer-RPGs

Wo es anwend­bar ist, sind Videospiele vom Typ Sin­gle­play­er-RPG. Hier schlüpft man entwed­er in die Rolle ein­er vordefinierten Fig­ur oder man erschafft selb­st eine, gerne auch nach eigen­em Vor­bild. Let­zteres ist beispiel­sweise in der Elder-Scrolls-Rei­he der Fall. — Und sofern man tat­säch­lich ein Abbild sein­er Selb­st erschafft und keine aus­gedachte Fig­ur, wird ein Bruch der vierten Wand dur­chaus möglich: Eine mein­er Spiel­er­fig­uren in The Elder Scrolls V: Skyrim ist eine blonde, blauäugige Frau namens Katha mit einem Fetisch für schwere Rüs­tun­gen und möglichst große Waf­fen. Somit erzählt mir das Spiel, was wäre, wenn ich in der Welt von Skyrim lan­den würde. Dabei greifen vorge­fer­tigte Sto­ry­lines, meine eige­nen Entschei­dun­gen und auch pure Zufälle ineinan­der und gener­ieren eine indi­vidu­elle Geschichte:

Katha hat sich der Kriegergilde der Gefährten angeschlossen und sich in Farkas ver­liebt, wollte sich vor ihren Kam­er­aden beweisen und Farkas beein­druck­en, wurde im weit­eren Ver­lauf zur Wer­wölfin, warf — über­raschend für mich selb­st — ihre moralis­chen Ide­ale über Bord und rot­tete in ihrer Wer­wolfs­form ein­fach aus Spaß an der Freude ganze Ban­diten­lager aus, fand jedoch ihre Moral wieder, nach­dem ihr Men­tor und später auch Farkas ihre Lykantropie auf­gaben. Auch Katha ist mit­tler­weile wieder ein Men­sch gewor­den, hat ein Haus gebaut, Farkas geheiratet und Kinder adop­tiert. Sie führt also wieder ein ehren­haftes Leben, abge­se­hen von der Sache mit ihrem besten Fre­und Mar­cu­rio: Sie hat ihn an ihrem Hochzeit­stag ken­nen­gel­ernt und er hat ihr gle­ich einen Heirat­santrag gemacht. Doch obwohl sie ihn gefriend­zoned hat, nimmt sie ihn auf all ihre Aben­teuer mit, ein­fach weil sie ihn so gern mag und sie ein unschlag­bares Team sind. Und sie genießt es heim­lich, dass er immer noch ver­sucht, sie ihrem Ehe­mann auszus­pan­nen.

Ein richtiger Bruch der vierten Wand hin zum konkreten Rezip­i­en­ten ist jedoch auch hier nicht möglich: Beispiel­sweise kann ich der Skyrim-Katha ohne Mod­i­fika­tio­nen am Spiel keine Größe von 153 cm geben und so ist die Dame im Ver­gle­ich zu mir ein­fach riesig. Und auch das Liebes­dreieck mit Farkas und Mar­cu­rio ist in ein­er Sack­gasse, denn in Skyrim gibt es keine Eifer­suchtsmechanik: Farkas stört es wider aller Real­is­mus-Logik nicht im Ger­ing­sten, dass seine Ehe­frau mehr Zeit mit einem anderen Kerl ver­bringt als mit ihm, wobei der andere Kerl ihr zudem bere­its einen Heirat­santrag gemacht hat und vor ihr unen­twegt mit seinen Fähigkeit­en prahlt. Mar­cu­rio wiederum ist grund­sät­zlich arro­gant und selb­st­darstel­lerisch und prahlt immer, wenn man ihn als Begleit­er auswählt — egal, mit welch­er Fig­ur man spielt und was für eine Vorgeschichte man mit ihm hat. Dass er Katha zu beein­druck­en ver­sucht, ist ein­fach eine Inter­pre­ta­tion, die durch den Kon­text von Kathas indi­vidu­eller Geschichte entste­ht. Es ist somit ein Zusam­men­spiel aus seinem fest­gelegten Stan­dard-Ver­hal­ten, Zufällen im früheren Ver­lauf des Spiels sowie der Inter­pre­ta­tio­nen, die in meinem Kopf entste­hen. Somit kann die Skyrim-Katha noch so sehr mit den Gefühlen der bei­den Her­ren spie­len — Kon­se­quen­zen wird es nicht geben, denn sie wur­den nie pro­gram­miert. Somit reagiert das Spiel nicht in jed­er Hin­sicht auf meine Entschei­dun­gen und manche Hand­lungsstränge laufen ins Leere.

Videospiele ohne Handlung

Ein wirk­lich­es Here­in­holen des Rezip­i­en­ten in die Geschichte ist eigentlich nur in Videospie­len möglich, die über­haupt keine vorge­fer­tigte Hand­lung besitzen: Minecraft beispiel­weise bietet dem Spiel­er nur eine Rei­he von Spielmechaniken, mit denen der Spiel­er tun und lassen kann, was er will. Er kann die Spiel­welt kom­plett umgestal­ten und im Rah­men der “Naturge­set­ze” der Spiel­welt seine einzi­gar­ti­gen Ideen umset­zen, die auch zu einem Ergeb­nis führen. Es entste­ht somit eine indi­vidu­elle Geschichte.

Diese Geschichte bein­hal­tet bis auf den Spiel­er jedoch keine Fig­uren mit ein­er nen­nenswerten Per­sön­lichkeit. Span­nende zwis­chen­men­schliche Inter­ak­tio­nen sucht man hier also verge­blich und ob eine Geschichte mit ander­weit­igem Tief­gang entste­ht, hängt sehr vom indi­vidu­ellen Spielver­lauf auf. Denn Geschicht­en sind eben gar nicht der Sinn von Spie­len wie Minecraft.

Fazit

Damit hal­ten wir für das inter­ak­tive Erzählen also fest:

Es gibt viele Ansätze, um den Rezip­i­en­ten zugle­ich “Leser”, Fig­ur und sog­ar Co-Autor sein zu lassen, doch das geht in der Regel auf Kosten der erzäh­lerischen Qual­ität.

Das inter­ak­tive Erzählen hat an sich sehr viel Poten­tial und einige der ergreifend­sten Geschicht­en wur­den auf diese Weise erzählt. Diese Geschicht­en zeich­nen sich jedoch durch eine Ein­schränkung der Gestal­tungsmöglichkeit­en durch den Rezip­i­en­ten aus (zumin­d­est, wenn man das inter­ak­tive Erzählen in Grup­pen ausklam­mert). Am besten funk­tion­ieren selb­st im inter­ak­tiv­en Genre Geschicht­en, in denen der Rezip­i­ent in die Rolle eines anderen schlüpft.

Anson­sten muss man auch anmerken, dass man selb­st in Werken, in denen man die Haupt­fig­ur selb­st erstellt, nicht zwangsläu­fig ein Alter Ego erschafft. Im Gegen­teil, solche Werke laden einen dazu ein, eine Fan­tasie zu erkun­den.

Ja, ich habe in Skyrim eine Fig­ur, die meinen Namen trägt und mir so ähn­lich sieht, wie das Spiel es zulässt. Aber erstens kann ich mir nicht vorstellen, dass ich im realen Leben tat­säch­lich Men­schen töten würde, schon gar nicht aus Spaß an der Freude, und ein Liebes­dreieck würde mir emo­tionale Prob­leme bere­it­en und ich denke, ich würde es zu lösen ver­suchen, statt die Sit­u­a­tion auszunutzen. Es gibt nun mal einen Unter­schied zwis­chen realen Mit­men­schen und fik­tiv­en Com­put­er­fig­uren ohne richtige Gefüh­le, mit denen man Exper­i­mente anstellen kann, die im realen Leben undenkbar wären. — U. a. auch, weil ihre Pro­gram­mierung zu teil­weise recht absur­dem Ver­hal­ten führt und die Illu­sion, sie wären echte Men­schen, dadurch schnell zer­stört ist.

Zweit­ens ist meine wichtig­ste Spielfig­ur in Skyrim gar nicht Katha, son­dern ein anthro­po­mor­pher Kater namens Dar’a­jar: ein schle­ichen­der Feuer- und Illu­sion­s­magi­er, Vam­pir und Mafi­a­p­ate. Hier habe ich eine fik­tive Fig­ur erschaf­fen, mir eine Hin­ter­grundgeschichte aus­gedacht und spiele let­z­tendlich nur eine Rolle, indem ich han­dle, wie Dar’a­jar han­deln würde.

Schlusswort

Was gibt es am Ende also zu sagen?

Wenn der Erzäh­ler den Leser mit “du” anspricht und ihn zum aktiv­en Pro­tag­o­nis­ten der Hand­lung zu machen ver­sucht, funk­tion­iert das nicht richtig und/oder geht auf Kosten der Tiefe.

Ich möchte nicht auss­chließen, dass man mit ein­er hun­dert­prozenti­gen Leser­fig­ur eine gute Geschichte erzählen kann, doch es ist zumin­d­est schwierig:

Denn je mehr Freiraum der Rezip­i­ent bei der Mit­gestal­tung der Hand­lung hat, desto weniger Freiraum hat der Autor. Und je mehr Freiraum der Autor für sich beansprucht, desto weniger repräsen­tiert die Rezip­i­en­ten­fig­ur den Rezip­i­en­ten.

Der “Du-Erzäh­ler” funk­tion­iert jedoch ganz gut, wenn man damit nicht direkt den konkreten Leser meint, son­dern ihn durch das “Du” nur dazu ein­lädt, sich in eine bes­timmte Sit­u­a­tion hineinzu­ver­set­zen. — In die Sit­u­a­tion eines anderen.

Denn wie es scheint, sind Geschicht­en vor allem dazu da, dem Rezip­i­en­ten Ein­blick in das Innen­leben eines anderen zu bieten. Ihn jemand anders sein zu lassen. Nicht er selb­st.

8 Kommentare

  1. Hey, ich bewun­dere, wie aus­führlich dieser Artikel ist. Teil­weise kann ich nicht ganz so gut fol­gen, aber er ist ein wirk­lich guter Ver­such, dieses kom­plexe The­ma wirk­lich anschaulich herunter zu brechen. Vie­len Dank!

    Anonym
    1. Also… der Artikel ist sehr aus­führlich geschrieben jedoch empfinde ich es mit der Du-Form bei fanfics ganz anders. Wenn du ein Buch liest willst du dich doch in diese Welt fall­en lassen? Warum ist es dann so schw­er für einige sich damit zu iden­ti­fizieren, wenn die Ich-Form genau das­selbe ist? Da fühen sich viele ja auch ange­sprochen und müssten denken „Sowas würde ich nie machen“ und darum geht es dabei auch gar nicht. Der Gedanke jemand anderes zu sein, darum geht es doch. Ich kenne Geschicht­en mit der Du-Form und es geht ein­fach viel tiefer, weil der Schreib­stil so unglaublich schön ist. Es kommt also immer drauf an wie du schreib­st und in den meis­ten fällen sind die Geschicht­en nur sehr halb­herzig geschrieben. Lei­der. Keine Erk­lärung der Gefüh­le, keine großen Beschrei­bun­gen und ständig dieses: Ich ging… Ich set­zte mich… Ich, ich, ich. Und da ist es dann auch völ­lig egal mit welch­er Form man schreibt, weil einen schlecht­en Schreib­stil kann man mit nichts ret­ten

      Mao
      1. Ich glaube, ich ver­ste­he Deinen Stand­punkt und wenn der Du-Erzäh­ler Dir gefällt, dann ist es doch schön. Ich für meinen Teil mag den Du-Erzäh­ler ger­ade deswe­gen nicht, weil ich mich eben beim Lesen fall­en lassen möchte. Der Unter­schied zum Ich-Erzäh­ler ist hier fol­gen­der:
        ● Beim Ich-Erzäh­ler füh­le ich mit ein­er anderen Per­son mit und ver­set­ze mich in ihre Sit­u­a­tion und ihr Innen­leben, ohne jedoch selb­st diese Fig­ur zu sein. Wenn diese Per­son also anders han­delt, als ich es tun würde, habe ich kein Prob­lem damit, solange es für diese andere Per­son logisch ist.
        ● Beim Du-Erzäh­ler hinge­gen wird sug­geriert, dass ich selb­st gemeint bin. Wenn diese Fig­ur in der Geschichte also auch nur einen Hauch von Per­sön­lichkeit hat, wird diese Fig­ur sich von mir unter­schei­den. Mit dem “Du” wird mir zwar gesagt, dass ich gemeint bin, aber gle­ichzeit­ig sehe ich, dass die Fig­ur kaum etwas mit mir zu tun hat. Dadurch entste­ht eine soge­nan­nte kog­ni­tive Dis­so­nanz, die mich aus dem Lese­fluss reißt und mich somit daran hin­dert, mich fall­en zu lassen.
        Aber es stimmt eigentlich auch, dass es sehr stark darauf ankommt, wie eine Geschichte geschrieben ist. Eine gut geschriebene Geschichte mit einem Du-Erzäh­ler würde ich ein­er schlecht geschriebe­nen Geschichte mit einem Ich-Erzäh­ler jed­erzeit vorziehen.

  2. Wenn ich ein­mal ein Buch schreiben würde, was nicht irgend n Hand­buch zu irgend ner Soft­ware oder komis­chen CPU-Architek­tur ist, würde ich das wohl in der 2. Per­son schreiben… Ein­fach da ich nur Erfahrung im Erzählen in der 2. Per­son habe. Bin sel­ber Dun­geon Mas­ter, das ist die einzige Erfahrung, die ich mir Geschicht­en habe… Finde es per­sön­lich auch schwierig sich in eine Per­son here­in zu set­zen, die nicht als du ange­sprochen ist… Kön­nte aber gut mein Asperg­er sein und der Fakt, dass ich halt auch DnD-Play­er bin -> meis­tens eben auch die 2. Per­son bei Erzäh­lun­gen habe…

  3. Wenig­stens wird nicht von Auto- und Homo oder Het­erodiegese im fast unver­ständlichen Sinne von Gen­net oder auch Sten­zel geschrieben, son­dern es wer­den sehr klar und ver­ständlich jene Aspek­te mit­geteilt, denen ich zus­timme. Durch ein “DU” füh­le “ICH” mich als Leser nicht ange­sprochen, ein­fach weil ich sicher­lich anders bin als das, was der Autor/Autorin gemeint hat — und oft stimmt auch das DU-Geschlecht nicht, dann kommt es ganz eige­nar­tig hinüber. Aber, wenn der Autor/AUtorin meint, so bess­er ver­standen zu wer­den, seine/ihre Entschei­dung — ich bin kein Fan davon.
    Erzählthe­o­rie oder auch “NARR-at-olo­gie” — suum cuique, wie der “Fran­zose” zu sagen pflegt

    Reinhard
    1. Och, Stanzel und Genette kann man dur­chaus ver­ste­hen, bloß sind the­o­retis­che Mod­elle eben ziem­lich abstrakt und man muss schon der Typ für sowas sein. Eben­so wie auch der Du-Erzäh­ler gewis­ser­maßen eine Typ­sache zu sein scheint. Es gibt Leser, die lieben sowas. Aber das ist meis­tens ja auch eine sehr bes­timmte Art von Geschicht­en.

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