„A Game of Thrones“ von G. R. R. Martin

„A Game of Thrones“ von G. R. R. Martin

Wie macht Geor­ge R. R. Mar­tin Das Lied von Eis und Feu­er so span­nend? Die Erzähl­per­spek­ti­ve spielt dabei eine wich­ti­ge Rol­le. In die­sem Arti­kel wird A Game of Thro­nes, der ers­te Band der Roman­rei­he, unter Zuhil­fe­nah­me der Model­le von Stan­zel und Genet­te ana­ly­siert. Denn man kann von Mar­tin sehr viel über das Erzäh­len lernen.

(In der Video-Ver­si­on die­ses Arti­kels hat sich bei Genet­tes Kate­go­rie der Ebe­ne lei­der ein Feh­ler ein­ge­schli­chen. Ich kann ihn lei­der nicht mehr kor­ri­gie­ren. Des­we­gen emp­feh­le ich, sich bei die­sem Punkt an die Text-Ver­si­on zu hal­ten. Ich bit­te um Ent­schul­di­gung für die Umstände.)

Die Foli­en für die­ses Video gibt es für Ste­ady-Abon­nen­ten und Kanal­mitglieder auf You­Tube als PDF zum Download.

A Game of Thro­nes ist der ers­te Teil der Fan­ta­sy-Saga Das Lied von Eis und Feu­er (A Song of Ice and Fire). Die Hand­lung spielt auf zwei Kon­ti­nen­ten, näm­lich Wes­teros und Essos. In die­sem ers­ten Teil geht es vor­ran­ging um die hoch­ade­li­ge Fami­lie Stark, die in das Cha­os des auf­zie­hen­den Krie­ges um den Eiser­nen Thron rutscht. Dabei wird die rea­le Bedro­hung, wie im rea­len Leben, völ­lig über­se­hen: Die­se ist eine Armee von Unto­ten, die aus dem Nor­den kommt und von fan­tas­ti­schen Wesen ange­führt wird, die man als „die Ande­ren“ bzw. als „Wei­ße Wan­de­rer“ bezeichnet.

Bevor es aber nun mit der eigent­li­chen Ana­ly­se los­geht, noch eine Anmer­kung zur gewähl­ten Aus­ga­be: Auf Deutsch erschien A Game of Thro­nes in zwei Bän­den, näm­lich Die Her­ren von Win­ter­fell und Das Erbe von Win­ter­fell. Spä­ter folg­te eine limi­tier­te Auf­la­ge mit dem Titel Eisen­thron. In neue­ren Aus­ga­ben wer­den außer­dem Eigen­na­men ein­ge­deutscht, obwohl sie in den älte­ren im Ori­gi­nal belas­sen wur­den. Um Ver­wir­rung durch die ver­schie­de­nen deut­schen Aus­ga­ben zu ver­mein­den, arbei­te ich hier aus­schließ­lich mit dem eng­lisch­spra­chi­gen Original.

Besonderheiten von A Game of Thrones

Was Mar­tins Roman­rei­he beson­ders aus­zeich­net, ist das mas­si­ve World-Buil­ding: Es gibt zahl­rei­che Orte und jeder hat eige­ne Geschich­te; es gibt zig Kul­tu­ren, zig Men­ta­li­tä­ten und Inter­es­sen und sie alle hän­gen mit­ein­an­der zusam­men und sind in Kon­flikt mit­ein­an­der. Auch die meis­ten Figu­ren haben eine aus­ge­ar­bei­te­te Hin­ter­grund­ge­schich­te und damit eine nach­voll­zieh­ba­re Moti­va­ti­on für ihre Hand­lun­gen. Außer­dem erzeugt Mar­tin viel Span­nung durch einen Plot mit vie­len Geheim­nis­sen, Intri­gen und uner­war­te­ten Wendungen.

Erzählt wird durch das Pris­ma von „PoV“-Figuren in der 3. Per­son, d.h. durch Reflek­tor­fi­gu­ren, und die Erzäh­lung ist in der Ver­gan­gen­heits­form gehal­ten. Jedes Kapi­tel hat sei­ne eige­ne Reflek­tor­fi­gur und damit wech­seln die Reflek­tor­fi­gu­ren von Kapi­tel zu Kapi­tel. Das führt dazu, dass jedes Kapi­tel im Prin­zip einen Zeit- und Orts­wech­sel zum vor­he­ri­gen Kapi­tel dar­stellt und im End­ef­fekt hat der Roman kei­ne rich­ti­ge Haupt­fi­gur oder kei­nen rich­ti­gen Haupthandlungsort.

A Game of Thrones in Stanzels Typenkreis

Wenn man Stan­zels Typen­kreis auf A Game of Thro­nes anwen­det, kann man fol­gen­de Ten­den­zen erkennen:

  • Die Reflek­tor­fi­gur steht im Vordergrund.
  • Es herrscht eine Nicht­iden­ti­tät der Seins­be­rei­che von Erzäh­ler und Figuren.
  • Der Erzäh­ler hat eine Innenperspektive.

"A Game of Thrones" von G. R. R. Martin

Trotz häu­fi­ger Per­spek­tiv­wech­sel, also häu­fi­ger Wech­sel der Reflek­tor­fi­gu­ren, wer­den die­se Scha­blo­nen in jedem Kapi­tel strikt eingehalten.

Trägt man nun die­se Beob­ach­tun­gen in den Typen­kreis selbst ein, liegt A Game of Thro­nes ganz klar im Bereich der per­so­na­len Erzähl­si­tua­ti­on.

A Game of Thrones durch das Prisma von Genette

Wen­det man Genet­te an, kann man bei der Stim­me eine ein­deu­ti­ge Situa­ti­on beobachten:

  • Spä­te­re Nar­ra­ti­on: Die Erzäh­lung ist in der Ver­gan­gen­heit gehalten.
  • Die Haupt­hand­lung fin­det auf der int­ra­die­ge­ti­schen Ebe­ne statt, aber der Roman ent­hält auch die ein oder ande­re meta­die­ge­ti­sche Erzäh­lung. Das dient unter ande­rem der Explo­si­ti­on: Bei­spiels­wei­se erfährt der Leser von der Lan­gen Nacht dadurch, dass Old Nan Bran die­se Geschich­te erzählt.
  • Der Erzäh­ler ist klar hete­ro­die­ge­tisch.

Wenn es aller­dings um den Modus geht, sind die Din­ge weni­ger eindeutig:

  • Im jeweils ein­zel­nen Kapi­tel haben wir es mit der inter­nen Foka­li­sie­rung zu tun: Der Erzäh­ler weiß so viel wie die Figuren.
  • Gleich­zeitg kann man sich aber fra­gen, ob es nicht eine leich­te Ten­denz zur Null­fo­ka­li­sie­rung gibt:
    1. Wenn man ein Kapi­tel im Kon­text der ande­ren Kapi­tel betrach­tet: Denn zum Bei­spiel gibt es ein Kapi­tel, in dem Arya Kat­zen fan­gen soll, sich dabei in den Ver­lie­ßen ver­irrt und dann zufäl­lig ein Gespräch belauscht. In dem Gespräch wird ein Bas­tard erwähnt und Arya glaubt, dass es sich dabei um ihren Halb­bru­der Jon Snow han­delt. Aber durch ein frü­he­res Kapi­tel, erzählt durch das Pris­ma von Eddard Stark, ist bekannt, dass es um einen ande­ren Bas­tard geht, näm­lich Gen­dry. Der Erzäh­ler gibt über Aryas Unwis­sen jedoch kei­nen Kom­men­tar ab: Er stellt sich unwis­send, aber als Leser weiß man, dass Arya hier etwas miss­ver­stan­den hat.
    2. Außer­dem gibt es manch­mal inner­halb der Kapi­tel selbst sol­che Stel­len wie:

      „Final­ly they cal­led for a lit­ter and car­ri­ed him off to his tent, dazed and unmo­ving. San­sa never saw it.“
      „Schließ­lich wur­de eine Tra­ge geholt und er in sein Zelt getra­gen, benom­men und unbe­weg­lich. San­sa sah es nicht.“
      Geor­ge R. R. Mar­tin: A Game of Thro­nes, New York 1996 (Aus­ga­be 2011), Sei­te 297.

      Wenn San­sa etwas nicht gese­hen hat, dann hat sie es nicht gese­hen. Und ein wirk­lich intern foka­li­sier­ter Erzäh­ler kann eigent­lich gar nicht wis­sen bzw. erwähnt nicht, was die Reflek­tor­fi­gur nicht gese­hen hat.

  • Dar­über hin­aus scheint es noch eine Ten­denz zur exter­nen Foka­li­sie­rung zu geben: Denn man erfährt als Leser nicht alles, was die Figu­ren wis­sen. Zum Bei­spiel ist die Fra­ge, wer die Eltern von Jon Snow sind, eins der größ­ten Geheim­nis­se der Roman­rei­he. Man soll­te davon aus­ge­hen, dass Eddard Stark, der Jon Snow als sei­nen Bas­tard bezeich­net, weiß, wer Jon Snows rich­ti­ge Eltern sind bzw. wer sei­ne Mut­ter ist. Man muss auch anneh­men, dass Eddard Stark hin und wie­der über die­ses Geheim­nis nach­denkt. Nun hat Eddard von allen Reflek­tor­fi­gu­ren in A Game of Thro­nes tat­säch­lich die meis­ten Kapi­tel. Trotz­dem blei­ben die Eltern von Jon Snow nach wie vor ein Geheimnis.

Dass es im Fall von A Game of Thro­nes ein biss­chen schwie­rig ist, die Foka­li­sie­rung zu benen­nen, bedeu­tet nicht, dass die Foka­li­sis­erung varia­bel ist. Sie ist in jedem Kapi­tel im Gro­ßen und Gan­zen intern und es gibt kei­ne Sprün­ge von Foka­li­sie­rungs­typ zu Fokalisierungstyp.

Die Wirkung des Erzählers in A Game of Thrones

Die gera­de beob­ach­te­ten Erzähl­merk­ma­le erzeu­gen meh­re­re wich­ti­ge Effekte:

In Bezug auf die Hand­lung lässt sich sagen, dass wir hier einen Erzäh­ler haben, der der Hand­lung aus vie­len ver­schie­de­nen per­so­na­len bzw. intern foka­li­sier­ten Blick­win­keln folgt. Mit ande­ren Worten:

Wir haben es mit vie­len Frosch­per­spek­ti­ven zu tun.

Das führt dazu, dass nie­mand so recht weiß, was objek­tiv rich­tig und falsch ist. Als Leser hat man viel­leicht den meis­ten Über­blick – ein­fach, weil man vie­le Per­spek­ti­ven kennt. Ande­rer­seits muss man sagen, dass die Aus­wahl der Per­spek­ti­ven, die man gebo­ten bekommt, trotz­dem ein­ge­schränkt ist. Wir neh­men das Gesche­hen nur durch das Pris­ma bestimm­ter Figu­ren wahr. Ande­re Per­spek­ti­ven auf das Gesche­hen blei­ben uns ver­wehrt. Dadurch haben wir kein objek­ti­ves Bild: Zum Bei­spiel wis­sen wir bis an den heu­ti­gen Tag nicht, war­um die Ande­ren bzw. die Wei­ßen Wan­de­rer die Mensch­heit angrei­fen wollen.

Hin­zu kommt, dass die Wahr­neh­mung der Reflek­tor­fi­gu­ren nicht immer zuver­läs­sig ist. Immer­hin haben wir es hier mit der Innen­per­spek­ti­ve bzw. der inter­nen Foka­li­sie­rung zu tun. Bei­spiels­wei­se fällt die Reflek­tor­fi­gur San­sa Stark in einem spä­te­ren Roman dadurch auf, dass sie sich an einen Kuss erin­nert, der gar nicht statt­ge­fun­den hat.

In Bezug auf Emo­ti­on ermög­licht die Innen­per­spek­ti­ve bzw. inter­ne Foka­li­sie­rung ein emo­tio­na­les Mit­fie­bern mit den Reflek­tor­fi­gu­ren. Gleich­zei­tig len­ken die häu­fi­gen Per­spek­tiv­wech­sel aber auch genau davon ab. Zum Bei­spiel: Man liest ein Kapi­tel über sei­ne Lieb­lings­fi­gur, kommt dann zum nächs­ten Kapi­tel und ist plötz­lich ganz woanders.

Damit balan­ciert Mar­tin zwi­schen einer empa­thi­schen Dar­stel­lung des Innen­le­bens sei­ner Figu­ren und ein­fach der schie­ren Mas­se von Hand­lung, die er wie­der­ge­ben will.

Der Effekt einer Distanz

Im Gro­ßen und Gan­zen kann man sagen, dass Mar­tin für eine gewis­se Distanz zum Gesche­hen sorgt:

Dazu zählt, dass wir hier den Fall einer spä­te­ren Nar­ra­ti­on und einen hete­ro­die­ge­ti­schen Erzäh­ler haben. Die Geschich­te ist in der Ver­gan­gen­heit pas­siert und wird von einem Erzäh­ler erzählt, der nicht Teil der erzähl­ten Welt ist. Mit ande­ren Worten:

Die Geschich­te ist ziem­lich offen­sicht­lich „bear­bei­tet“.

Außer­dem las­sen sich gewis­ser­ma­ßen Merk­ma­le eines „Came­ra-Eye“ bzw. eines „neu­tra­len Erzäh­lers“ beob­ach­ten. Damit ist nicht gemeint, dass der Erzäh­ler wirk­lich „neu­tral“ sei, son­dern dass wir das Innen­le­ben der Figu­ren nur häpp­chen­wei­se prä­sen­tiert bekom­men: Wir erfah­ren nur, wel­che Gedan­ken und Gefüh­le die Figu­ren zu dem Zeit­punkt haben, zu dem das jewei­li­ge Kapi­tel statt­fin­det. Was sie davor und danach den­ken und füh­len, erfah­ren wir nicht.

Die­se „Moment­auf­nah­men“ bewir­ken, dass wir trotz Innen­per­spek­ti­ve nicht alles über die Reflek­tor­fi­gu­ren erfahren.

Fazit: Der Erzähler führt den Leser an der Nase herum

Die Erzähl­per­spek­ti­ve in A Game of Thro­nes ist mas­siv auf Geheim­nis­se und das Ver­schwei­gen von Infor­ma­tio­nen aus­ge­rich­tet. Durch die vie­len Frosch­per­spek­ti­ven wird der Leser bewusst ver­wirrt, hat aber den Ein­druck, viel zu wis­sen. Die eigent­li­che Distanz zum Gesche­hen wird durch die Innen­per­spek­ti­ve bzw. durch die inter­ne Foka­li­sie­rung inner­halb ein­zel­ner Kapi­tel kaschiert.

Damit hat Mar­tin genau die rich­ti­ge Mischung für sein Fan­ta­sy-Epos gefun­den: Die Erzähl­per­spek­ti­ve trägt mas­siv dazu bei, Span­nung auf­zu­bau­en und zu erhal­ten, indem dem Leser viel Infor­ma­ti­on geschickt vor­ent­hal­ten wird.

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