Wie macht George R. R. Martin Das Lied von Eis und Feuer so spannend? Die Erzählperspektive spielt dabei eine wichtige Rolle. In diesem Artikel wird A Game of Thrones, der erste Band der Romanreihe, unter Zuhilfenahme der Modelle von Stanzel und Genette analysiert. Denn man kann von Martin sehr viel über das Erzählen lernen.
(In der Video-Version dieses Artikels hat sich bei Genettes Kategorie der Ebene leider ein Fehler eingeschlichen. Ich kann ihn leider nicht mehr korrigieren. Deswegen empfehle ich, sich bei diesem Punkt an die Text-Version zu halten. Ich bitte um Entschuldigung für die Umstände.)
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A Game of Thrones ist der erste Teil der Fantasy-Saga Das Lied von Eis und Feuer (A Song of Ice and Fire). Die Handlung spielt auf zwei Kontinenten, nämlich Westeros und Essos. In diesem ersten Teil geht es vorranging um die hochadelige Familie Stark, die in das Chaos des aufziehenden Krieges um den Eisernen Thron rutscht. Dabei wird die reale Bedrohung, wie im realen Leben, völlig übersehen: Diese ist eine Armee von Untoten, die aus dem Norden kommt und von fantastischen Wesen angeführt wird, die man als „die Anderen“ bzw. als „Weiße Wanderer“ bezeichnet.
Bevor es aber nun mit der eigentlichen Analyse losgeht, noch eine Anmerkung zur gewählten Ausgabe: Auf Deutsch erschien A Game of Thrones in zwei Bänden, nämlich Die Herren von Winterfell und Das Erbe von Winterfell. Später folgte eine limitierte Auflage mit dem Titel Eisenthron. In neueren Ausgaben werden außerdem Eigennamen eingedeutscht, obwohl sie in den älteren im Original belassen wurden. Um Verwirrung durch die verschiedenen deutschen Ausgaben zu vermeinden, arbeite ich hier ausschließlich mit dem englischsprachigen Original.
Besonderheiten von A Game of Thrones
Was Martins Romanreihe besonders auszeichnet, ist das massive World-Building: Es gibt zahlreiche Orte und jeder hat eigene Geschichte; es gibt zig Kulturen, zig Mentalitäten und Interessen und sie alle hängen miteinander zusammen und sind in Konflikt miteinander. Auch die meisten Figuren haben eine ausgearbeitete Hintergrundgeschichte und damit eine nachvollziehbare Motivation für ihre Handlungen. Außerdem erzeugt Martin viel Spannung durch einen Plot mit vielen Geheimnissen, Intrigen und unerwarteten Wendungen.
Erzählt wird durch das Prisma von „PoV“-Figuren in der 3. Person, d.h. durch Reflektorfiguren, und die Erzählung ist in der Vergangenheitsform gehalten. Jedes Kapitel hat seine eigene Reflektorfigur und damit wechseln die Reflektorfiguren von Kapitel zu Kapitel. Das führt dazu, dass jedes Kapitel im Prinzip einen Zeit- und Ortswechsel zum vorherigen Kapitel darstellt und im Endeffekt hat der Roman keine richtige Hauptfigur oder keinen richtigen Haupthandlungsort.
A Game of Thrones in Stanzels Typenkreis
Wenn man Stanzels Typenkreis auf A Game of Thrones anwendet, kann man folgende Tendenzen erkennen:
- Die Reflektorfigur steht im Vordergrund.
- Es herrscht eine Nichtidentität der Seinsbereiche von Erzähler und Figuren.
- Der Erzähler hat eine Innenperspektive.
Trotz häufiger Perspektivwechsel, also häufiger Wechsel der Reflektorfiguren, werden diese Schablonen in jedem Kapitel strikt eingehalten.
Trägt man nun diese Beobachtungen in den Typenkreis selbst ein, liegt A Game of Thrones ganz klar im Bereich der personalen Erzählsituation.
A Game of Thrones durch das Prisma von Genette
Wendet man Genette an, kann man bei der Stimme eine eindeutige Situation beobachten:
- Spätere Narration: Die Erzählung ist in der Vergangenheit gehalten.
- Die Haupthandlung findet auf der intradiegetischen Ebene statt, aber der Roman enthält auch die ein oder andere metadiegetische Erzählung. Das dient unter anderem der Explosition: Beispielsweise erfährt der Leser von der Langen Nacht dadurch, dass Old Nan Bran diese Geschichte erzählt.
- Der Erzähler ist klar heterodiegetisch.
Wenn es allerdings um den Modus geht, sind die Dinge weniger eindeutig:
- Im jeweils einzelnen Kapitel haben wir es mit der internen Fokalisierung zu tun: Der Erzähler weiß so viel wie die Figuren.
- Gleichzeitg kann man sich aber fragen, ob es nicht eine leichte Tendenz zur Nullfokalisierung gibt:
- Wenn man ein Kapitel im Kontext der anderen Kapitel betrachtet: Denn zum Beispiel gibt es ein Kapitel, in dem Arya Katzen fangen soll, sich dabei in den Verließen verirrt und dann zufällig ein Gespräch belauscht. In dem Gespräch wird ein Bastard erwähnt und Arya glaubt, dass es sich dabei um ihren Halbbruder Jon Snow handelt. Aber durch ein früheres Kapitel, erzählt durch das Prisma von Eddard Stark, ist bekannt, dass es um einen anderen Bastard geht, nämlich Gendry. Der Erzähler gibt über Aryas Unwissen jedoch keinen Kommentar ab: Er stellt sich unwissend, aber als Leser weiß man, dass Arya hier etwas missverstanden hat.
- Außerdem gibt es manchmal innerhalb der Kapitel selbst solche Stellen wie:
„Finally they called for a litter and carried him off to his tent, dazed and unmoving. Sansa never saw it.“
„Schließlich wurde eine Trage geholt und er in sein Zelt getragen, benommen und unbeweglich. Sansa sah es nicht.“
George R. R. Martin: A Game of Thrones, New York 1996 (Ausgabe 2011), Seite 297.Wenn Sansa etwas nicht gesehen hat, dann hat sie es nicht gesehen. Und ein wirklich intern fokalisierter Erzähler kann eigentlich gar nicht wissen bzw. erwähnt nicht, was die Reflektorfigur nicht gesehen hat.
- Darüber hinaus scheint es noch eine Tendenz zur externen Fokalisierung zu geben: Denn man erfährt als Leser nicht alles, was die Figuren wissen. Zum Beispiel ist die Frage, wer die Eltern von Jon Snow sind, eins der größten Geheimnisse der Romanreihe. Man sollte davon ausgehen, dass Eddard Stark, der Jon Snow als seinen Bastard bezeichnet, weiß, wer Jon Snows richtige Eltern sind bzw. wer seine Mutter ist. Man muss auch annehmen, dass Eddard Stark hin und wieder über dieses Geheimnis nachdenkt. Nun hat Eddard von allen Reflektorfiguren in A Game of Thrones tatsächlich die meisten Kapitel. Trotzdem bleiben die Eltern von Jon Snow nach wie vor ein Geheimnis.
Dass es im Fall von A Game of Thrones ein bisschen schwierig ist, die Fokalisierung zu benennen, bedeutet nicht, dass die Fokalisiserung variabel ist. Sie ist in jedem Kapitel im Großen und Ganzen intern und es gibt keine Sprünge von Fokalisierungstyp zu Fokalisierungstyp.
Die Wirkung des Erzählers in A Game of Thrones
Die gerade beobachteten Erzählmerkmale erzeugen mehrere wichtige Effekte:
In Bezug auf die Handlung lässt sich sagen, dass wir hier einen Erzähler haben, der der Handlung aus vielen verschiedenen personalen bzw. intern fokalisierten Blickwinkeln folgt. Mit anderen Worten:
Wir haben es mit vielen Froschperspektiven zu tun.
Das führt dazu, dass niemand so recht weiß, was objektiv richtig und falsch ist. Als Leser hat man vielleicht den meisten Überblick – einfach, weil man viele Perspektiven kennt. Andererseits muss man sagen, dass die Auswahl der Perspektiven, die man geboten bekommt, trotzdem eingeschränkt ist. Wir nehmen das Geschehen nur durch das Prisma bestimmter Figuren wahr. Andere Perspektiven auf das Geschehen bleiben uns verwehrt. Dadurch haben wir kein objektives Bild: Zum Beispiel wissen wir bis an den heutigen Tag nicht, warum die Anderen bzw. die Weißen Wanderer die Menschheit angreifen wollen.
Hinzu kommt, dass die Wahrnehmung der Reflektorfiguren nicht immer zuverlässig ist. Immerhin haben wir es hier mit der Innenperspektive bzw. der internen Fokalisierung zu tun. Beispielsweise fällt die Reflektorfigur Sansa Stark in einem späteren Roman dadurch auf, dass sie sich an einen Kuss erinnert, der gar nicht stattgefunden hat.
In Bezug auf Emotion ermöglicht die Innenperspektive bzw. interne Fokalisierung ein emotionales Mitfiebern mit den Reflektorfiguren. Gleichzeitig lenken die häufigen Perspektivwechsel aber auch genau davon ab. Zum Beispiel: Man liest ein Kapitel über seine Lieblingsfigur, kommt dann zum nächsten Kapitel und ist plötzlich ganz woanders.
Damit balanciert Martin zwischen einer empathischen Darstellung des Innenlebens seiner Figuren und einfach der schieren Masse von Handlung, die er wiedergeben will.
Der Effekt einer Distanz
Im Großen und Ganzen kann man sagen, dass Martin für eine gewisse Distanz zum Geschehen sorgt:
Dazu zählt, dass wir hier den Fall einer späteren Narration und einen heterodiegetischen Erzähler haben. Die Geschichte ist in der Vergangenheit passiert und wird von einem Erzähler erzählt, der nicht Teil der erzählten Welt ist. Mit anderen Worten:
Die Geschichte ist ziemlich offensichtlich „bearbeitet“.
Außerdem lassen sich gewissermaßen Merkmale eines „Camera-Eye“ bzw. eines „neutralen Erzählers“ beobachten. Damit ist nicht gemeint, dass der Erzähler wirklich „neutral“ sei, sondern dass wir das Innenleben der Figuren nur häppchenweise präsentiert bekommen: Wir erfahren nur, welche Gedanken und Gefühle die Figuren zu dem Zeitpunkt haben, zu dem das jeweilige Kapitel stattfindet. Was sie davor und danach denken und fühlen, erfahren wir nicht.
Diese „Momentaufnahmen“ bewirken, dass wir trotz Innenperspektive nicht alles über die Reflektorfiguren erfahren.
Fazit: Der Erzähler führt den Leser an der Nase herum
Die Erzählperspektive in A Game of Thrones ist massiv auf Geheimnisse und das Verschweigen von Informationen ausgerichtet. Durch die vielen Froschperspektiven wird der Leser bewusst verwirrt, hat aber den Eindruck, viel zu wissen. Die eigentliche Distanz zum Geschehen wird durch die Innenperspektive bzw. durch die interne Fokalisierung innerhalb einzelner Kapitel kaschiert.
Damit hat Martin genau die richtige Mischung für sein Fantasy-Epos gefunden: Die Erzählperspektive trägt massiv dazu bei, Spannung aufzubauen und zu erhalten, indem dem Leser viel Information geschickt vorenthalten wird.