Wo immer Gruppen entstehen, kristallisiert sich bald eine Rangordnung heraus. Und obwohl solche Rangordnungen oft formalen Regeln unterworfen sind, spielen auch unterschwellige und unterbewusste Dynamiken eine Rolle. Beim World-Building und beim Erschaffen von Figuren müssen wir auf solche Feinheiten achten. Schauen wir uns also an, wie Hierarchien und Machtstrukturen funktionieren …
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Wo immer sich eine Gruppe zusammenfindet, haben einige Mitglieder mehr zu sagen als andere. Ob es eine Clique von Freunden ist oder eine ganze Gesellschaft: Menschen, Tiere oder Fantasiewesen bilden Gruppen, um gemeinsam an einem Strang zu ziehen. Und jemand muss nun mal den Strang auswählen.
Wer genau den Strang auswählt, hängt von vielen Faktoren ab. Schauen wir uns also an, wie und warum Hierarchien entstehen, wie sie funktionieren und was einen guten Anführer ausmacht.
Sinn und Entstehung
Einer meiner absoluten Lieblingsfilme, Master and Commander, spielt an Bord des englischen Kriegsschiffes HMS Surprise während der Napoleonischen Kriege. Unter dem Kommando von Captain Jack Aubrey macht die HMS Surprise Jagd auf ein haushoch überlegenes französisches Kaperschiff, die Acheron.
Der Film beginnt eines Morgens vor der Küste Brasiliens, als die Matrosen der HMS Surprise und der diensthabende Wachoffizier Hollom etwas im Nebel zu sehen glauben. Midshipman Hollom, der mit seinen 30 Jahren immer noch nicht zum Leutnant aufgestiegen ist, muss entscheiden, ob die Crew gefechtsklar machen soll, ist sich jedoch nicht sicher, ob das geheimnisvolle Etwas eine Bedrohung ist. Midshipman Calamy, noch ein Teenager, gesellt sich dazu und drängt ihn zu einer Entscheidung. Als Hollom jedoch weiterhin zögert, dreht sich Calamy zur Crew um gibt den Befehl, gefechtsklar zu machen.
Kurze Zeit später, als die HMS Surprise kampfbereit ist, beginnt der Beschuss. Das Etwas im Nebel entpuppt sich als die feindliche Acheron, die der Surprise aufgelauert hat. Hätte Calamy Hollom seinen Zweifeln überlassen, wären die 197 Seelen an Bord der Surprise geliefert gewesen.
Master and Commander gilt als historisch authentische Darstellung des Mikrokosmos Kriegsschiff Anfang des 19. Jahrhunderts. Und Hierarchie spielt in diesem Mikrokosmos eine zentrale Rolle: Fast 200 Mann müssen wie ein einziger Organismus funktionieren, wenn sie den Krieg auf hoher See überleben wollen. Die Offiziere und Unteroffiziere müssen schnell Entscheidungen fällen. Die Matrosen haben ohne Diskussion zu gehorchen. Und wenn ein Offizier oder Unteroffizier keinerlei Führungsqualitäten zeigt und die Matrosen ihn nicht respektieren, dann zerlegt die Gemeinschaft sich selbst von innen heraus.
Genau das ist, was mit Midshipman Hollom passiert: Sein Selbstbewusstsein liegt irgendwo bei null, er sehnt sich nach Bestätigung und versucht, sich bei der Crew anzubiedern. Deswegen haben die Männer keinen Respekt vor ihm. Sie gehorchen ihm formal, aber als die Surprise eine Pechsträhne durchmacht, erklären sie ihn zum Sündenbock und mobben ihn in den Selbstmord.
Das komplette Gegenteil ist Captain Aubrey. Er versteht die Wichtigkeit von Hierarchie auf dem Schiff und setzt sie – wenn nötig – mit eiserner Faust durch. Als ein betrunkener Matrose gegenüber dem ranghöheren Hollom nicht salutiert und ihn stattdessen sogar anrempelt, lässt er den Mann traditionsgemäß auspeitschen. Doch grundsätzlich liebt Aubrey sein Schiff und seine Crew, ist großzügig, kameradschaftlich und trauert aufrichtig um die Toten nach einem Gefecht. Und er ist auch selbst nicht froh, als er sich gezwungen sieht, den betrunkenen Matrosen zu bestrafen. Kurzum: Er hat einen Auftrag und geht ihm pflichtbewusst nach, lässt dabei aber auch nicht das Wohlergehen seiner Männer aus den Augen.
Das ist es zumindest, was die meisten seiner Männer sehen: Aubrey ist beliebt. Sein bester Freund, der Schiffsarzt Stephen Maturin, hinterfragt ihn jedoch und warnt ihn immer wieder davor, in die Tyrannei abzurutschen. Aubrey ist nämlich sehr ambitioniert und will die Acheron unbedingt besiegen. Obwohl der Feind haushoch überlegen ist, setzt er sich gegen die Ratschläge seiner Offiziere durch und nimmt den Kampf auf. Er geht große Risiken ein, setzt das Leben seiner Männer aufs Spiel und ist damit derjenige, der eigentlich für die Pechsträhne der Surprise verantwortlich ist. Doch weil die Crew ihn so sehr liebt, sucht sie sich, wie gesagt, einen anderen Sündenbock.
Damit ist Master and Commander nicht nur eine wunderbare Darstellung vom Leben auf einem englischen Kriegsschiff Anfang des 19. Jahrhunderts mit all den überlebensnotwendigen Hierarchien, sondern setzt sich auch mit der toxischen Wirkung dieser Hierarchien auseinander.
Formale Hierarchien und faktische Hierarchien
Nicht zuletzt wird in Master and Commander deutlich, dass formale Hierarchien und faktische Hierarchien zwei verschiedene paar Schuhe sind:
Schon Tiere, die sich in Gruppen zusammenfinden, haben meistens jemanden, der das Sagen hat. Und auch Menschen scheinen einen solchen hierarchischen Instinkt zu besitzen:
Breakfast Club zum Beispiel wird u. a. sehr eindrücklich gezeigt, wie zwei männliche Exemplare der Spezies Homo sapiens um die Stellung des Alphamännchens konkurrieren. Dazu hört auch der Kampf um die Aufmerksamkeit des Alphaweibchens Claire. Das ist eine Dynamik, die ganz natürlich entsteht, obwohl es gar keine Notwendigkeit gibt: Bei der Gruppe handelt es sich um fünf Schüler, die an einem Samstag nachsitzen müssen, nicht mehr.
Was den Menschen jedoch unterscheidet, ist, dass die hierarchische Position eben auch eine formale Komponente hat: Wird im Tierreich der Kompetenteste zum Anführer, zählen bei Menschen auch Dinge wie Abstammung, Alter, Dienstgrad, Aussehen, Auftreten etc. Und so kommt es auch häufig vor, dass hierarchisch höhere Positionen von Leuten besetzt werden, die überhaupt nicht passen:
- In Klasse 7–8 hatte ich zum Beispiel einen Physiklehrer, bei dem die Schüler während des Unterrichts rein und raus spaziert sind. Jeder hat gemacht, was er will, und sich in voller Lautstärke mit seinem Nachbarn unterhalten. Dem Unterricht zu folgen war unmöglich. Und einmal war ich sogar die einzige, die zur Physikstunde aufgekreuzt ist. Ja, auf der einen Seite waren meine Mitschüler offenbar unfähig, diesem Lehrer auch nur ein Minimum an zwischenmenschlichem Respekt entgegenzubringen. Aber andererseits ist jemand, der keinerlei Autorität ausstrahlt und sich nicht durchsetzen kann, im Lehrerberuf einfach nur falsch. Kinder haben ein feines Gespür für Schwäche und nutzen sie aus, so sehr man sie auch zu zivilisiertem Miteinander erziehen mag.
- Ein anderes Extrem sind Narzissten, die Studien zufolge tatsächlich überproportional häufig in Machtpositionen vertreten sind. Müssen sich die Anführer im Tierreich erst beweisen, kommt man unter Menschen sehr weit, wenn man gut täuschen kann. Narzissten streben nicht deswegen Machtpositionen an, weil sie auf die Verantwortung scharf sind und die Gruppe zum Erfolg führen wollen, sondern sie sehnen sich nach Kontrolle per se, um ihre tiefsitzende Angst zu kompensieren, sowie nach Aufmerksamkeit und Bewunderung als Gegengewicht zu ihrem monströsen Minderwertigkeitskomplex. Und das Problem bei Narzissten ist, dass sie oft über gute schauspielerische Fähigkeiten verfügen: Sie lügen, täuschen Kompetenz vor und spinnen Intrigen, um Konkurrenten auszuschalten. Und wenn sie die ersehnte Machtposition endlich erreichen, fahren sie Projekte gegen die Wand, vergiften das Team und fühlen sich dabei großartig. Denn am Scheitern des Projekts sind immer andere schuld, niemals sie selbst.
Hierarchische Instinkte
Diese Dualität von formalen und faktischen Hierarchien scheint ein ewiges Problem des Menschen zu sein. Die Notwendigkeit von Hierarchien an sich ist dem Menschen durchaus bewusst und er versucht, sie in feste Strukturen zu pressen, die bestimmen, wer unter welchen Bedingungen aufsteigen darf. Bloß missachten diese Strukturen oft die tierische Komponente des Menschen, der die Kompetenz anderer unbewusst immer noch nach den Kriterien der Jäger und Sammler beurteilt: Oft genug kann man beobachten, wie in Teams eben nicht auf den Experten in einer bestimmten Frage gehört wird, sondern auf die vermeintlich stärkere Persönlichkeit bzw. auf die Person, die als kompetenter wahrgenommen wird. Und menschliche Wahrnehmung lässt sich allzu leicht täuschen.
- Eine große Rolle spielen dabei das Aussehen und Auftreten: Die optisch attraktivere oder zumindest gepflegtere Person ist im Vorteil, weil ihr auf unterbewusster, tierischer Ebene bessere Gesundheit und dadurch mehr Stärke unterstellt wird. Jemand, der langsam und deutlich spricht, sendet das Signal aus, ein starkes Raubtier zu sein, das sich vor niemandem zu fürchten braucht. Auf etwas weniger animalische Weise wird auch die Kleidung als Statussymbol wahrgenommen.
- Auch angeborene körperliche Merkmale, für die das Individuum nichts kann, werden für unbewusste Rückschlüsse auf die Kompetenz missbraucht: Frauen werden nachweislich im Schnitt weniger ernst genommen als Männer, großen Menschen bringt man tendenziell mehr Respekt entgegen, während Kleinwüchsige darum kämpfen müssen, als Erwachsene ernst genommen zu werden, Menschen mit tieferer Stimme nimmt das Tier in uns offenbar als stärker wahr usw.
Nichts – gar nichts – davon hat etwas mit tatsächlicher Kompetenz zu tun. Zumindest nicht in unserer Zeit. Es mag sein, dass in der Steinzeit körperliche Stärke eine Kernkompetenz eines guten Anführers war, aber wenn es beispielsweise um wirtschaftliche Entscheidungen geht, sollten wir auf Menschen hören, die sich mit Wirtschaft auskennen. Aber faktisch reicht fachliche Kompetenz eben nicht aus: Der Anführer muss auch auf rein instinktiver, animalischer Ebene überzeugen.
Bis wir alle gelernt haben, uns gegenseitig als gleichwertige Menschen wahrzunehmen, wird es noch sehr lange dauern. Und bis dahin können wir noch so fleißig formale Hierarchiemodelle erfinden und perfektionieren – faktisch hören werden wir weiterhin auf die steinzeitlichen Alphamännchen.
Herrschaftsformen und Machtstrukturen
Doch was für formale und faktische Hierarchiemodelle gibt es überhaupt? – Auf jeden Fall: zu viele zum Aufzählen. Aber hier ein grober Überblick:
Familiendynamiken
Familie ist ein verhältnismäßig kleiner Kreis von Menschen, in dem man sich gut kennt. Deswegen spielt die Persönlichkeit hier wohl die größte Rolle. So kann der Ehemann und Vater in einer patriarchalen Gesellschaft das formale Familienoberhaupt sein, aber oft genug ist es die Ehefrau und Mutter, die aus dem Hintergrund heraus den Ton angibt. In vielen patriarchalen Gesellschaften geht das sogar so weit, dass die erwachsenen Söhne nicht mal den kleinen Finger rühren können, wenn ihre Frau Mama dagegen ist.
Frauen haben also durchaus etwas zu sagen in patriarchalen Gesellschaften, nur meistens beschränkt sich ihr Einflussbereich auf Haushalt und Familie, unabhängig von ihren persönlichen Vorlieben und Talenten. Wenn es sich jedoch um eine sehr einflussreiche Familie handelt und der „Haushalt“ ein ganzer Staat ist, dann kann die Königin oder Königinmutter durchaus das faktische Staatsoberhaupt sein, auch wenn es ihr Ehemann oder Sohn ist, der auf dem Thron sitzt. Und wenn der männliche Herrscher wie ein Kind mit seinen Zinnsoldaten spielt und bei seinen Untertanen unbeliebt ist, kann es durchaus auch vorkommen, dass seine Ehefrau ihn mal eben entthront, sich selbst die Krone aufsetzt und jahrzehntelang erfolgreich regiert und ihre Liebhaber wechselt wie Unterwäsche (siehe Katharina II. und Peter III. von Russland).
Doch auch unter Männern ist nicht alles eindeutig. Ist es oft üblich, dass der älteste Sohn nach dem Tod des Vaters zum Familienoberhaupt aufsteigt, greift diese Tradition dennoch nicht immer. Napoleon Bonaparte war zum Beispiel nur der zweitälteste Sohn, wurde nach dem Tod seines Vaters aber das Oberhaupt der Familie – im Alter von nur 15 Jahren. Ein fiktives, aber trotzdem überaus glaubwürdiges Beispiel ist Michael Corleone, der in Der Pate als jüngster Sohn nach dem Tod seines Vaters zum neuen Mafiaboss aufsteigt.
Herrschaftsformen
Geht es aber nun um Machtstrukturen in einem ganzen Staat, spielen Formalitäten eine größere Rolle. Zumindest ist die Rollenverteilung und Herrschaftsnachfolge wesentlich elaborierter als einfach nur „Vater“ oder „ältester Sohn“. Natürlich ist niemals zu vergessen, dass die herrschenden Eliten durchaus den Machtstrukturen ihrer jeweiligen Familien unterworfen sind, aber welche Familien zu den herrschenden Eliten gehören, variiert von System zu System.
Du kennst viele Varianten: Demokratie (Herrschaft des Volkes), Monarchie (Alleinherrschaft), Aristokratie (Besten- bzw. Adelsherrschaft), Oligarchie (Herrschaft weniger), Anarchie (Herrschaft von niemandem) …
Allerdings gibt es auch weniger bekannte „Kratien“: Gerontokratie (Herrschaft der Alten, Ältestenrat), Technokratie (Herrschaft der Wissenschaft und Technik), Epistokratie (Philosophenherrschaft), Theokratie (Gottesherrschaft), Meritokratie (Herrschaft durch anerkannte Leistungen), Algokratie (Herrschaft von Algorithmen) …
Natürlich sind bei all diesen Herrschaftsformen auch Kombinationen möglich: Ein Monarch kann zugleich ein Philosoph sein (Epistokratie), jemand, der sich verdient gemacht hat, kann in einer Demokratie zum Staatsoberhaupt gewählt werden (Meritokratie) und ein spannender Fall ist die Wahlmonarchie, wie sie beispielsweise im Heiligen Römischen Reich (deutscher Nation) und in der Adelsrepublik Polen-Litauen praktiziert wurde.
Damit kann ein bestimmtes Herrschaftskonzept auch verschiedene Gesichter haben: Wenn das Volk in einer Demokratie unmittelbar über politische Sachfragen abstimmt, dann ist das eine direkte Demokratie. Die Bundesrepublik Deutschland hingegen ist eine repräsentative Demokratie, d. h. wir wählen Vertreter, die für uns Entscheidungen fällen. Eine negative Spielart der Demokratie wäre die Ochlokratie, die Pöbelherrschaft, bei der jede unqualifizierte, selbstsüchtige Dumpfbacke und ihr Hund mitentscheiden dürfen.
Betonen sollten wir außerdem, dass es natürlich oft einen Unterschied gibt zwischen dem, was auf dem Papier steht, und dem, wie die Herrschaft in einem konkreten Fall tatsächlich funktioniert. Denn seien wir ehrlich: Einige Demokratien haben in der Praxis doch einen oligarchischen oder gar kleptokratischen Beigeschmack.
Diese Abweichungen von der offiziellen Herrschaftsform würden die entsprechenden Staaten aber natürlich niemals offen zugeben. Erst recht nicht, wenn es sich de facto um Systeme wie die Kakistokratie oder die Pornokratie handelt.
- Die Kakistokratie ist dabei genau das, wonach es sich anhört: Herrschaft der Kaka bzw. der Schlechtesten. So habe ich persönlich zum Beispiel hin und wieder das Gefühl, in einer Kakistokratie zu leben, in der vor allem die dümmsten, inkompetentesten, rücksichtslosesten, verlogensten und geldgierigsten Menschen an die Macht kommen.
- Die Pornokratie ist fast das, wonach es sich anhört: Mätressenherrschaft. Berühmtestes Beispiel: das Papsttum im 10. Jahrhundert.
Wenn Du Dich über die verschiedenen „Kratien“ weiter informieren möchtest, hier eine Liste der Herrschaftsformen. Selbst die Bierokratie (Herrschaft des Bieres) wurde da nicht vergessen.
Herrschaft durchsetzen
Kommen wir aber nun zur Praxis: Denn egal, wie eine Hierarchie auf dem Papier aussehen mag und wie man sie de facto nennen möchte – in der Regel sind die Dynamiken viel komplexer. Nicht nur, weil das Faktische manchmal vom Formalen abweicht, sondern auch, weil das Faktische eben nicht immer eindeutig ist und viele Aspekte eine Rolle spielen.
So ist die Lehnspyramide, wie sie im Geschichtsunterricht auftaucht, ziemlicher Unsinn. Während meines Studiums besuchte ich eine Vorlesung zum Thema Lehnswesen im Mittelalter und in der allerersten Sitzung teilte der Dozent, Prof. Dr. Steffen Patzold, Kopien einer Seite aus einem baden-württembergischen Schulbuch aus. Und dann ging er den Text Satz für Satz durch und erklärte, was daran falsch oder ungenau ist.
Die einzelnen Punkte ausführlich zu erläutern würde den Rahmen dieses Artikels sprengen, daher fasse ich nur grob und plump zusammen, was ich während meines Bachelor-Studiums mit Hauptfach Geschichtswissenschaft über mittelalterliche Herrschaftssysteme gelernt habe:
Zunächst erst mal sollte die Tiefe einer Beziehung zwischen Vasall und Lehnsherr nicht überbewertet werden: Wenn der Vasall „ewige Treue“ schwörte, dann bedeutete es eher, dass er seinen Herrn nicht mal eben abstechen würde. Mehr nicht. Damit hinderte ihn auch nichts daran, mehrere Lehnsherren zu haben, die eventuell sogar verfeindet waren. Denn ursprünglich handelte es sich beim Lehnswesen wohl um ein Wirrwarr von ganz banalen Geschäftsbeziehungen, die erst mit der Zeit eine hierarchische Struktur bekommen haben.
Inmitten dieses Gewirrs von Geschäftsbeziehungen war der König auch längst nicht die mächtigste Figur im Reich. Adlige, die reicher waren als er und auch besser vernetzt, hatten faktisch mehr zu sagen bzw. konnten unabhängig vom König ihr Ding machen. Bzw. der König brauchte ihre Unterstützung, wenn er etwas durchsetzen wollte. Und diese Unterstützung bekam er zum Beispiel durch Verhandlungen, Versprechen und strategische Ehen. Unterm Strich war die mittelalterliche „Hierarchieordnung“ also eher ein Netz von geschäftlichen und persönlichen Beziehungen, in dem alle irgendwie voneinander abhängig waren, und wo der König nur den Knotenpunkt darstellte, nicht die Spitze einer Pyramide.
Vor allem musste ein mittelalterlicher König auch vor Ort präsent sein, um seine Macht auszuüben. Denn die Befolgung seiner Erlasse und Gesetze musste ja kontrolliert werden. Damit waren die mittelalterlichen Könige sehr viel unterwegs und richtige Hauptstädte konnten erst entstehen, als auch die Macht zentralisierter wurde und die Hierarchien rigider. Eine der wichtigsten Voraussetzungen dafür war wiederum die Weiterentwicklung der Infrastruktur: Denn erst wenn ein Herrscher die Möglichkeit hat, relativ schnell mit seinen Vertretern vor Ort zu kommunizieren, kann er es sich leisten, dauerhaft in seiner Lieblingsresidenz zu hausen.
Das war nur ein sehr grobes und abstraktes historisches Beispiel von unzähligen.
Und egal, welches Hierarchiesystem Du Dir aus der Geschichte oder Gegenwart herauspickst: Wenn Du auch nur ein bisschen in die Tiefe gräbst, entpuppt es sich meistens als kompliziert.
Hierarchiefaktoren
Dasselbe gilt im Prinzip auch für kleinere Gruppen. Zwar spielen Dinge wie die Infrastruktur bei einem Heldenteam, bei dem alle Mitglieder immer zusammen unterwegs sind, eher weniger eine Rolle. Dafür sind andere Faktoren aber umso wichtiger:
- An allererster Stelle sind da natürlich Kultur, Traditionen und Werte: Wird der Adel besonders respektiert, dann werden die Adligen in der Gruppe sicherlich etwas zu sagen haben. Respektiert man alte Menschen, dann wird der alte Greis vermutlich das letzte Wort haben. Werden magische Fähigkeiten besonders wertgeschätzt, wird man vor allem auf die Hexe hören.
- Eng daran gekoppelt ist auch die Mentalität: So sind die Deutschen ja u. a. für ihre Autoritätshörigkeit bekannt. Bereits Napoleon schätzte seine deutschen Soldaten, weil sie im Gegensatz zu den Franzosen, die ja gerade erst eine Revolution hinter sich hatten, weniger zu Befehlsverweigerung neigten. Höchstens unter Einfluss von Alkohol. Damit haben formale Hierarchien unter autochthonen Deutschen tendenziell mehr Gewicht als in anderen Gesellschaften.
- Und natürlich ist da auch der Faktor von roher Gewalt: Denn Dein Gegenüber mag eine noch so wichtige, einflussreiche Person sein und noch so beeindruckende Titel haben, aber wenn Du eine Pistole hast und er nicht, dann hast Du das Sagen. Umgekehrt wiederum kann es auch für den formalen Anführer manchmal nötig sein, seine Macht mit Gewalt durchzusetzen: So war der Schriftsteller Ernst Jünger während des Ersten Weltkrieges ein offenbar fähiger, beliebter und mehrfach ausgezeichneter Leutnant. Und nichtsdestotrotz beschreibt er in seinem Buch In Stahlgewittern, wo er kurz nach dem Krieg seine Erinnerungen niedergeschrieben hat, eine Situation, in der er sich gezwungen sah, fliehende Soldaten mit seiner Pistole zu bedrohen, damit sie stehenblieben und die Stellung hielten. Später begegnete er einem anderen Offizier, der dasselbe tat.
Und das sind nur einige Beispiele für Dinge, die die Hierarchie innerhalb einer Gruppe beeinflussen können. Welche Faktoren in Deinem Werk relevant sein sollen, ist Dir überlassen. Doch der wohl wichtigste Faktor, an dem nichts vorbeiführt und den wir bereits bei der Besprechung von Master and Commander angeschnitten haben, ist die Persönlichkeit. Reden wir also etwas ausführlicher darüber …
Macht und Persönlichkeit
Sicherlich brennt Dir seit meinen Ausführungen über hierarchische Instinkte der ein oder andere Einwand unter den Nägeln: Vielleicht kennst Du persönlich Frauen, vor denen alles stramm steht, und zwar nicht ausschließlich in Haus und Familie. Vielleicht kennst Du Kleinwüchsige oder auch etwas klein geratene Normalgroße, die durchsetzungsfähige Chefs sind. Und vielleicht hast Du Master and Commander gesehen und denkst die ganze Zeit an Midshipman Lord William Blakeney, der mit seinen ca. 13 Jahren zu den jüngsten Crewmitgliedern gehört, seinem Alter entsprechend eine kindliche Stimme hat und dem am Anfang des Films der rechte Arm amputiert wird: In der finalen Schlacht hat er ein Kommando und führt einen Trupp wesentlich älterer Matrosen in den Kampf.
Was macht eine Führungspersönlichkeit also aus?
Beziehungen
Bei den mittelalterlichen Königen haben wir ja bereits gesehen, dass Beziehungen eine große Rolle spielen. Und dieses Prinzip gilt nicht nur im Mittelalter, sondern immer und überall:
Wer die meisten Freunde bzw. Anhänger hat, hat am meisten zu sagen.
Es ist zum Beispiel egal, dass Fritzchen offiziell zum Anführer bestimmt wurde, wenn die meisten Teammitglieder eher Lieschen respektieren. Außer Fritzchen ist schwer bewaffnet und die anderen nicht. In dem Fall muss Fritzchen sich aber vor einer Meuterei fürchten und wird vermutlich nachts nicht schlafen können, weil man dann seine Waffen stehlen und gegen ihn richten könnte.
Beziehungen beruhen jedoch nicht immer auf persönlicher Sympathie – zumindest nicht ausschließlich. Es können auch zum Beispiel gemeinsame politische Interessen sein: So kommt es durchaus vor, dass Menschen sich mit ihren Feinden gegen einen noch größeren gemeinsamen Feind verbünden. Auch Ideologien und speziell Religion spielen oft eine wichtige Rolle: In vorchristlicher Zeit leiteten Anführer ihre Abstammung gerne von den Göttern her – und wer die Gottheit, von der Du angeblich abstammst, respektiert, wird auch Dich respektieren. In christlicher Zeit wiederum ist man König von Gottes Gnaden – wer also ein gläubiger Christ ist, soll Gottes Willen respektieren und Dir gehorchen. Und wenn Deine Pläne mit der christlichen Ideologie in Konflikt geraten, folgst Du dem Beispiel von Heinrich VIII. von England und führst in Deinem Land eine neue Version des Christentums ein.
Empathie
Um Menschen beeinflussen und um sich scharen zu können, solltest Du idealerweise sowohl über eine starke kognitive als auch über eine affektive Empathie verfügen. Kognitive Empathie ist dabei die Fähigkeit, die Gefühle anderer Menschen wahrzunehmen und zu verstehen. Affektive Empathie ist die Fähigkeit, die Gefühle anderer Menschen auch selbst nachzufühlen. Der Unterschied wird besonders deutlich, wenn eine dieser Empathien beeinträchtigt ist:
- So werden bei Autisten angeborene Defizite in der kognitiven Empathie beobachtet. Sie haben oft Schwierigkeiten, die Gefühle anderer Menschen zu erkennen und auch eigene Gefühle zu äußern. Ihre affektive Empathie ist jedoch nicht betroffen und einigen Untersuchungen zufolge oft sogar überdurchschnittlich stark ausgeprägt, sodass Autisten, wenn sie denn die Gefühle eines anderen Menschen verstanden haben, sehr intensiv mitfühlen. Unterm Strich sind das also sehr emotionale, mitfühlende Menschen, die meistens sehr ehrlich, idealistisch und loyal sind, von der Außenwelt jedoch leider oft als kalt und arrogant missverstanden und abgelehnt werden. Zwar ist kognitive Empathie erlernbar und sogenannte „hochfunktionale Autisten“ können sich auch ziemlich erfolgreich als neurotypisch (nicht autistisch) tarnen – tatsächlich interessieren sich viele Autisten für Psychologie, weil sie die Menschen um sich herum und auch sich selbst verstehen wollen -, aber weil ihre kognitive Empathie angelernt und nicht „natürlich“ ist, laufen sie Gefahr, als unauthentisch wahrgenommen zu werden. Außer sie haben Schauspieltalent. (Tatsächlich gehört Schauspielern zu den Lieblingsberufen von Autisten, weil sie sich in ihrem Alltag ohnehin ständig verstellen müssen.)
- Das Gegenteil von Autisten sind Psychopathen und Narzissten: Sie verfügen über kognitive Empathie, aber die affektive Empathie ist beeinträchtigt. Soll heißen: Sie sehen, was andere Menschen fühlen, aber es ist ihnen egal. Außerdem können sie nach außen hin wunderbar Gefühle simulieren, häufig zu Manipulationszwecken. Während Psychopathen trotz statistisch höherer Neigung zu kriminellem oder anderweitig asozialem Verhalten nicht zwangsläufig Schaden anrichten, sind Narzissten durch und durch toxisch, weil sich alles in ihrem Leben um ihr Ego dreht. Das heißt: Ein „gutartiger“ Psychopath könnte zum Beispiel ein Feuerwehrmann sein, der unerschrocken in brennende Häuser geht, sich von den Schmerzensschreien der Opfer nicht durcheinanderbringen lässt und knallhart die Rettungsaktion durchzieht und dafür als Held gefeiert wird. Ein Narzisst hingegen wird diesen Beruf wahrscheinlich gar nicht erst ergreifen, weil: O mein Gott, er wird doch nicht sein Leben für andere aufs Spiel setzen! Lieber lässt er die Rettungsaktion von jemand anderem durchführen und schmückt sich nachher mit dessen Lorbeeren.
Ein guter Anführer braucht, wie gesagt, beide Arten von Empathie, denn ohne kognitive Empathie wird er Schwierigkeiten haben, mit anderen Menschen zu interagieren, und ohne affektive Empathie kommt er zwar durchaus in eine Machtposition, entpuppt sich jedoch mit großer Wahrscheinlichkeit als Monster.
Einer der Gründe, warum kognitive Empathie zu Führungspositionen verhilft, ist, dass sie einem ermöglicht, andere Menschen mehr oder weniger bewusst zu beeindrucken. Selbstbewusstsein zum Beispiel ist zweifellos wichtig für einen guten Anführer, aber ein Autist kann noch so selbstbewusst sein – wenn er seine kognitive Empathie nicht trainiert, wirkt er wie ein Alien und wird nicht akzeptiert. Davon, dass das Selbstbewusstsein von Autisten durch die jahrelange Ablehnung durch ihr Umfeld oft zerstört ist, ganz zu schweigen. Psychopathen und Narzissten hingegen müssen nicht unbedingt echtes Selbstbewusstsein haben, denn sie können es sehr gut darstellen. Auch können sie sehr überzeugend ihre vermeintlichen Fähigkeiten zur Schau stellen und anderen Menschen durch gut platzierte Komplimente ein gutes Gefühl geben und sich persönliche Sympathie sichern. Deswegen fallen andere Menschen so oft auf sie herein.
Kurzum: Kognitive Empathie verhilft zu Charisma. Manche Menschen haben es von Natur aus, andere können es trainieren und wieder andere können die Theorie lernen, um ihre fiktiven Figuren charismatisch zu machen. Ich empfehle an dieser Stelle die YouTube-Kanäle RedeFabrik und Charisma on Command.
Entscheidungsfähigkeit
Während Charisma und Beziehungspflege einem helfen, Macht aufzubauen und zu stabilisieren, kommt es bei der Ausübung von Macht vor allem auf Kompetenz an: Neben Fachkenntnissen im jeweiligen Bereich sind das vor allem Intelligenz und Entscheidungsfähigkeit. Zu Deutsch:
Ein guter Anführer weiß, was zu tun ist, und tut es auch.
Und wenn er nicht weiß, was zu tun ist, dann findet er es heraus und lässt sich notfalls von anderen intelligenten Leuten beraten. Hier wiederum ist seine kognitive Empathie bzw. Menschenkenntnis wichtig, damit er sich kompetente Berater auswählt und keine reinen Selbstdarsteller. Daher gehört zu einem guten Anführer auch eine Portion Bescheidenheit bzw. die Fähigkeit, anderen mehr Intelligenz und Fachkenntnisse einzuräumen als sich selbst. Denn ein guter Anführer muss nun mal nicht in allem der Beste sein. Strenggenommen kann er Intelligenz, Fachkenntnisse und Beziehungspflege sogar anderen überlassen. Aber er muss die besten Entscheidungen fällen.
Um also wieder auf das konkrete Beispiel von Lord Blakeney zu sprechen zu kommen: Er mag ein Kind sein, aber er ist auch die vielleicht empathischste Figur im ganzen Film und genießt deswegen von allen Seiten Sympathie, eignet sich als Offizier in Ausbildung aktiv Kompetenzen als Seemann und Soldat an, beweist wiederholt Tapferkeit, beispielsweise, als er die Amputation seines Arms übersteht (ohne Anästhesie, wohlgemerkt!), und reagiert auf die Wendungen des finalen Gefechts schnell und korrekt. Mit anderen Worten: Er ist das badassigste Kind, das jemals über die Leinwände und Bildschirme geflimmert ist, und das ganz ohne Superkräfte oder anderweitigen Schnickschnack. Jemandem wie ihm folgt man bis ans Ende der Welt.
Schlusswort
Wie Du also siehst,
beeinflussen das World-Building und das Erschaffen von Figuren sich gegenseitig.
Wie eine Gruppe hierarchisch aufgebaut ist, hängt teilweise mit den Persönlichkeiten der Figuren zusammen und diese wiederum werden von ihrer jeweiligen gesellschaftlichen Position beeinflusst: Jemand, der von Geburt an gewohnt ist, dass man ihn ernst nimmt, ist meistens selbstbewusster und kann seine angeborene Position in der Hierarchie besser verteidigen. Andererseits aber kann jemand, der sich seine Stellung erst erkämpfen muss, seinen Charakter öffentlich unter Beweis stellen und dadurch andere beeindrucken und hinter sich scharen. Die Möglichkeiten sind unbegrenzt und dieser Artikel soll nur als Anregung dienen.
Ansonsten ist auch zu bedenken, dass die hierarchische Position einer Figur durchaus gruppen- und situationsabhängig ist:
So mag Ludwig Breyer aus Remarques Der Weg zurück in den Schützengräben des Ersten Weltkrieges ein respektierter und ordenbehängter Leutnant gewesen sein, der im Alleingang einen Panzer lahmgelegt hat, aber bei der Regimentszusammenkunft nach dem Krieg ist er wieder ein Schüler, der noch seinen Abschluss nachholen muss. Sein ehemaliger Bursche hingegen ist „Großinstallateur mit Wasserspülung und flotter Lage an der Hauptgeschäftsstraße“ und „klopft [Ludwig] behäbig auf die Schulter“. Und ein schlechter Unteroffizier ist im zivilen Leben Oberlehrer und „erkundigt sich überlegen nach […] Ludwigs Examen“.
Erich Maria Remarque: Der Weg zurück, Vierter Teil, IV.
Und zu guter Letzt: Aus der KreativCrew kam die Frage, wie das Prinzip „Show, don’t tell“ bei Hierarchien funktioniert. Weil man diese Frage aber zu allen Aspekten des World-Buildings stellen kann, schreit sie nach einem eigenen Artikel. Zwar habe ich bereits einen Artikel zu Exposition, World-Building und Info-Dumping, wo es auch um „Show, don’t tell“ geht, aber er ist schon alt und hat durchaus Verbesserungspotential. Deswegen ist diese Frage, bezogen auf World-Building allgemein, jetzt offiziell auf der Themenliste.