Plot-Twists sind eine tolle Sache: Sie machen die Handlung spannender und fressen sich in das Gedächtnis des Lesers. Doch wie funktionieren sie und wie erschafft man einen Plot-Twist, der überraschend ist, aber zugleich auch organisch aus der Geschichte erwächst? Diesem faszinierenden Thema widmen wir uns in diesem Artikel.
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Ein guter Plot ist eine Abenteuerreise: Da folgt man einem Pfad und glaubt, man weiß, wo es hingeht. Doch dann – Blitze, Erdbeben und die Welt steht Kopf.
Was ist da passiert?
Eine unerwartete Wendung, eine Enthüllung, ein Plot-Twist.
Und weil gute Plot-Twists in der Regel mit einer Erschütterung der Handlung und der Emotionen einhergehen, bleiben sie dem Leser lange im Gedächtnis.
Wie funktioniert also ein guter Plot-Twist? Welche Voraussetzungen müssen erfüllt sein? Und wie bereitet man ihn vor? – Das besprechen wir in diesem Artikel.
Plot-Twist: Definition
Plot-Twists sind überraschende Wendungen in einer Erzählung.
Sie erschüttern den Leser, steigern oft die Spannung und machen einen manchmal auch nachdenklich.
Dabei würde ich zwischen zwei Typen unterscheiden:
- Plot-Twist durch Information: Man erfährt etwas, das vergangene Ereignisse und/oder bestimmte Figuren in ein anderes Licht rückt.
Ein Beispiel ist Severus Snape in der Harry Potter-Reihe: Er wird sogar sehr regelmäßig zum Gegenstand eines Plot-Twists. Erst glauben wir, er wolle den Stein der Weisen stehlen, aber dann erweist er sich als unschuldig und hat Harry sogar beschützt. Dann glauben wir, er sei einer der „Guten“, aber dann tötet er Dumbledore. Schließlich steht er als Bösewicht da – aber nur, bis enthüllt wird, dass er die ganze Zeit heimlich für die „Guten“ gearbeitet hat. - Plot-Twist durch Geschehen: Es passiert etwas, das den weiteren Verlauf der Erzählung radikal ändert.
Ein Beispiel ist die Rote Hochzeit im Lied von Eis und Feuer bzw. Game of Thrones: Catelyn und ihr Sohn Robb sind die Protagonisten eines wichtigen Handlungsstrangs und unter den Lesern wichtige Sympathieträger. Man erwartet, dass sie auch weiterhin im Krieg der Fünf Könige mitmischen. – Doch dann werden sie plötzlich ermordet und alles steht Kopf.
Im Grunde ist es aber egal, welchem Typ ein Plot-Twist angehört. Denn das Prinzip ist hinter beiden Typen weitestgehend dasselbe. Vor allem müssen ganz bestimmte Voraussetzungen erfüllt sein.
Voraussetzungen für einen guten Plot-Twist
Allem voran müssen wir festhalten, dass ein Plot-Twist immer ein möglichst ereignishaftes Ereignis ist.
Dabei benutze ich die Begriffe „Ereignis“ und „Ereignishaftigkeit“ so, wie in einem früheren Artikel zu dem Thema definiert. Dem Ganzen liegt das Konzept von Wolf Schmid zugrunde und es besagt, dass ein Ereignis vor allem real und abgeschlossen sein muss. Darüber hinaus müssen auch Merkmale der Ereignishaftigkeit (Relevanz, Imprädiktabilität, Konsekutivität, Irreversibilität, Non-Iterativität) gegeben sein. Diese sind jedoch unterschiedlich wichtig und sind von Ereignis zu Ereignis unterschiedlich ausgeprägt. Für eine detailliertere Erklärung verweise ich aber auf den entsprechenden Artikel.
Die zweite Voraussetzung für einen guten Plot-Twist ist, dass er logisch ist bzw. den Regeln der erzählten Welt folgt.
Wenn in einem historischen Kriegsfilm wie 1917 plötzlich ein rosa Elefant durch Bild läuft, dann stellt es alles auf den Kopf, ja. Aber ein rosa Elefant passt nun mal beim besten Willen nicht in die Schützengräben des Ersten Weltkriegs. Er verstößt auch gegen das zentrale Thema und trägt nichts zur Botschaft bei. Deswegen gibt es in 1917 zum Glück keine rosa Elefanten.
Ein gutes Vorbild ist die bereits erwähnte Rote Hochzeit: Schon im ersten Buch bzw. in der ersten Staffel sagt Cersei zu Eddard:
„When you play the game of thrones, you win or you die.“
George R. R. Martin: A Game of Thrones, Kapitel 45.
Das ist die zentrale Spielregel im Krieg der Fünf Könige. Catelyn und Robb haben das Spiel gespielt und sie haben Fehler gemacht. Deswegen müssen sie jetzt sterben. Ihre Ermordung ist ein Schock, aber sie ist zugleich die logische Konsequenz ihres Handelns.
Die dritte Voraussetzung wurde eben bereits angedeutet:
Ein wirklich guter Plot-Twist ist mit dem zentralen Thema, der Botschaft und damit auch mit dem zentralen Konflikt der Erzählung verknüpft.
Die Rote Hochzeit ist sehr eng an das Motiv der Spiels der Throne gekoppelt, das sich wie ein roter Faden durch die ganze Geschichte zieht. Und auch der Twist, dass Severus Snape aus Liebe zu Harry Potters Mutter die ganze Zeit für die „Guten“ gearbeitet hat, dreht sich um das zentrale Thema der Buchreihe: Durch die Liebe seiner Mutter wurde Harry zum „Jungen, der überlebte“, er selbst kämpft aus Liebe zu seinen Mitmenschen gegen das „Böse“ und bringt schließlich sich selbst zum Opfer. – Und da passt es nur zu gut, dass auch Snape vor allem aus Liebe gehandelt hat. So wurde der dunkle Lord Voldemort nicht durch die Kampfkraft der „Guten“ besiegt, sondern durch die Kraft der Liebe.
Schlechte Plot-Twists
Nun gibt es aber nicht nur gute Plot-Twists, sondern auch schlechte. So ein Beispiel findet sich meiner Meinung nach in der achten Staffel von Game of Thrones:
Nach den Regeln der erzählten Welt ist es durchaus möglich, dass nicht Jon Snow, sondern Arya den Nachtkönig tötet, und es ist ein sehr ereignishaftes Ereignis. Doch ich sehe hier zwei Probleme:
- Erstens ist der Tod des Nachtkönigs zwar ein ereignishaftes Ereignis, aber er war abzusehen und ist daher an sich kein Plot-Twist. Der Twist besteht vielmehr in der Identität des Nachtkönigtöters. Doch ob der Nachtkönig nun von Jon oder von Arya getötet wird, ist für die Erzählung irrelevant: Es ändert nichts am weiteren Verlauf der Geschichte. Damit mangelt es diesem Plot-Twist dann doch an Relevanz und damit auch an Ereignishaftigkeit.
- Zweitens ist nicht ganz klar, wie die Identität des Nachtkönigtöters mit dem zentralen Thema zusammenhängt. Man kann natürlich argumentieren, dass es in der Serie ja auch um den Kampf der Lebenden gegen die Toten geht und dass Aryas Werdegang sehr eng mit dem Gott des Todes verknüpft ist. Doch das muss der Zuschauer sich erst selbst zusammeninterpretieren. Dieser Twist erwächst sozusagen nicht organisch aus der Erzählung. Denn er wurde nicht ausreichend vorbereitet: Viele Zuschauer sind der Meinung, dass andere Figuren mindestens genauso gut in die Rolle des Nachtkönigtöters gepasst hätten.
Einen Plot-Twist vorbereiten
Wie bereitet man also einen Plot-Twist vor, damit der Leser sich im entscheidenden Moment überrascht und nicht hintergangen fühlt?
Ich würde sagen:
Ein guter Plot-Twist ist vorhersehbar und unvorhersehbar zugleich.
Wenn man ihn zum ersten Mal liest, ist man überrascht. Aber zugleich fühlt er sich nicht so an, als käme er aus heiterem Himmel.
Und das wiederum bedeutet:
Bereits vor dem Plot-Twist gibt es Hinweise darauf, aber sie werden geschickt verschleiert.
Schauen wir uns diese beiden Bestandteile der Vorbereitung von Plot-Twists also gesondert an.
Plot-Twists andeuten
Inwiefern ein Plot-Twist schon im Voraus angedeutet werden kann, hängt natürlich vom Plot-Twist selbst ab. Aber klassische Mittel für Foreshadowing sind:
- Vorhalte:
Als solche bezeichnet Gérard Genette Prolepsen, in denen zukünftige Ereignisse indirekt angedeutet werden, beispielsweise durch mehr oder weniger entfernt ähnliche Szenen, Symbole oder besondere Details, deren Bedeutung man erst durch den Plot-Twist wirklich versteht. - Vorgriffe:
Darunter versteht Gérard Genette Prolepsen, die zukünftige Ereignisse explizit kennzeichnen, beispielsweise Prophezeiungen. Weil Vorgriffe eben unmissverständlich auf zukünftige Ereignisse hinweisen, scheinen sie für zarte Andeutungen von Plot-Twists auf den ersten Blick ungeeignet zu sein. Der Twist kann später jedoch darin bestehen, dass die Prophezeiung zwar aufgeht, aber ganz und gar nicht so, wie man es erwartet hat. - Tschechows Gewehr/Pistole:
Der russische Schriftsteller erklärte mehrmals folgendes Prinzip:
„Wenn Sie im ersten Akt eine Pistole an die Wand gehängt haben, dann muss im letzten Akt damit geschossen werden.“
Dieses Prinzip kann natürlich auch in übertragenem Sinne verwendet werden: So kann es sich zum Beispiel auch um eine scheinbar unwichtige Nebenfigur handeln, deren Bedeutung erst durch den Plot-Twist aufgedeckt wird, oder auch um eine Lektion, die dem Protagonisten im entscheidenden Moment das Leben rettet. Wenn man Tschechows Gewehr an Plot-Twists koppelt, geht es einfach darum, dass das, was beim Plot-Twist eine zentrale Rolle spielt, bereits an früherer Stelle – wenigstens am Rande – erwähnt wurde. - unzeitliche Verknüpfungen:
Diese Art von Verknüpfung verbindet zwei Elemente durch Ähnlichkeit oder Unterschied miteinander. An einen Plot-Twist gekoppelt bedeutet das: Der Plot-Twist wird durch einen Gegenstand, ein Motiv, eine Geste oder was auch immer mit einer anderen Stelle verknüpft.
Ein Beispiel für eine Andeutung findet sich in Das Wandelnde Schloss von Diana Wynne Jones:
Der Zauberer Howl ist ein Womanizer und macht sich stundenlang im Bad zurecht, bevor er einer Dame begegnet. Doch sobald eine Dame sich in ihn verliebt, verliert er das Interesse an ihr. Deswegen sagt sein Lehrling Michael, dass er erst dann glaubt, dass Howl sich verliebt hat, wenn der vergisst, sich aufwendig zurechtzumachen. Als die Protagonistin gegen Ende des Buches in der Klemme steckt, erscheint Howl unrasiert, ungekämmt und in zerfetzten Kleidern, um sie zu retten. Zu dem Zeitpunkt noch interpretiert die Protagonistin es zwar als Liebe für eine andere Dame, aber der aufmerksame Leser sollte wird an dieser Stelle eindeutig gemerkt haben, dass der liebesunfähige Womanizer Howl sich tatsächlich in die Protagonistin verliebt hat.
Plot-Twists verschleiern
Damit ein Twist aber wirklich etwas auf den Kopf stellt, muss man glaubhaft einen vermeintlichen Status Quo aufbauen, der die Wahrheit, die durch den Twist ans Licht kommt, verschleiert.
Bei Plot-Twists durch Information ist dabei oft die Erzählperspektive von entscheidender Bedeutung. Wie in einem früheren Artikel bereits erklärt, berichtet ein Erzähler niemals objektiv:
Denn das Erzählen ist nur durch willkürliches Herausfiltern und Verknüpfen der vermeintlich wichtigen Ereignisse möglich.
Doch was ist, wenn die Wahrnehmung der Erzählinstanz lückenhaft ist?
Harry Potter und seine Freunde zum Beispiel beobachten im Stein der Weisen, dass Snape nach dem Trollangriff verdächtig humpelt, Harry unentwegt anstarrt und etwas murmelt, als dessen Besen verrücktspielt, und auch generell ein absoluter Widerling ist. Also kommen sie – und mit ihnen der Leser – zu dem Schluss, dass Snape der „Böse“ ist. Dabei übersehen sie Dinge, die auf den eigentlichen Missetäter hinweisen, und interpretieren die Vorfälle mit Snape einfach völlig falsch.
In diesem Fall fungiert Snape als sogenannter Red Herring: Ein Element, das die Aufmerksamkeit des Lesers auf sich ziehen soll, um von Hinweisen auf die Wahrheit abzulenken. Außerdem hilft es, Andeutungen in Szenen einzubauen, bei denen der Schwerpunkt ganz woanders liegt. Und einige entscheidende Details können natürlich auch komplett weggelassen werden bzw. außerhalb des Wissenshorizonts des Erzählers liegen.
Bei Plot-Twists durch Geschehen spielen oft Erwartungen und gerne auch Klischees im Kopf des Lesers eine Rolle.
So ist Robb Stark im Krieg der Fünf Könige äußerst erfolgreich und er und seine Mutter Catelyn sind Publikumslieblinge. Weder ist innerhalb der erzählten Welt seine Niederlage abzusehen noch rechnen die Leser damit, dass der Autor gleich zwei Publikumslieblinge umbringt. So etwas ist in Geschichten einfach untypisch und das Phänomen Plot Armor weit verbreitet.
Es gibt also viele Möglichkeiten, den Leser mit Irrtümern zu füttern. Und je glaubhafter der vermeintliche Status Quo aufgebaut wird, desto schockierender der Plot-Twist.
Schlusswort und Ausblick
So viel also zu Plot-Twists. Doch natürlich ist jeder Plot-Twist individuell und ob Dein konkreter Twist wirklich funktioniert, wissen Deine Testleser am besten. Du solltest also auf keinen Fall auf sie verzichten und ihnen gut zuhören.
Und ganz zum Schluss kann ich Dir nur raten, keine Plot-Twists auf Teufel komm raus einzubauen. Wenn der Twist Sinn macht und auch funktioniert – sehr schön! Aber wenn Deine Geschichte zwar vorhersehbar ist, die Leser sie aber trotzdem lieben, dann kommt sie wohl auch ohne Twist gut aus.
Was beim Thema Plot-Twist aber auch noch mitschwingt, ist der Unterschied zwischen Autoren, die vor dem Schreiben alles durchplanen, und Autoren, die ihre Geschichte erst während des Schreibens „entdecken“. Das ist jedoch ein ganz eigenständiges Thema, dem wir uns im zweiten Halbjahr 2020 widmen werden.