Autoren lesen anders als andere Bücherwürmer. Denn sie wollen lernen und ihr eigenes Schreiben verbessern. Ihr Blick ist analytisch. Und wenn auch Du Dich verbessern möchtest: In diesem Artikel erkläre ich Schritt für Schritt, wie man die Werke anderer Autoren analysiert.
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Meiner – und nicht nur meiner – Beobachtung nach schreiben Menschen, die viel lesen, tendenziell bessere Texte. Damit ist das Lesen für einen Autor auch ein Lernprozess.
Noch effektiver ist er aber, wenn man beim Lesen nicht einfach schmökert, sondern – wie ich in einem früheren Artikel bereits empfohlen habe – die Werke anderer Autoren bewusst liest und analysiert. Wenn man die Strukturen und Techniken hinter qualitativ hochwertigen Texten versteht.
Die dafür benötigten Analysekompetenzen lernt man in der Schule jedoch nur bedingt. Später kann man natürlich Literaturwissenschaft studieren. – Doch das ist kein Weg für jedermann.
Deswegen habe ich hier eine speziell auf Autoren zugeschnittene Schritt-für-Schritt-Anleitung, wie man andere Texte „seziert“, um aus ihren zu lernen.
Vorbemerkung
Vorher aber ein kleiner Hinweis: Heute fokussiere ich mich nicht auf die Analyse einzelner Teilbereiche wie Erzählperspektive, Plot, Figuren etc., sondern auf das Analysieren generell. Denn das Analyseverfahren ist bei jedem Teilbereich im Prinzip gleich. Und zu all den verschiedenen Einzelaspekten beim Schreiben veröffentliche ich laufend eigene Artikel. Wenn Du also bei einem bestimmten Werk einen solchen Einzelaspekt analysieren möchtest, dann empfehle ich, dass Du die Theorie und die Tipps aus diesen Artikeln mit der Theorie und den Tipps in diesem Artikel kombinierst.
Schritt 1: Fragestellung formulieren
Eine Analyse macht man nicht einfach so ins Blaue hinein. Denn es gibt unendlich viele Gesichtspunkte, unter denen man ein Werk analysieren kann.
Um also nennenswerte Erkenntnisse gewinnen zu können, musst Du zunächst erst mal wissen, was Du überhaupt herausfinden möchtest. Deswegen:
Formuliere eine Fragestellung!
Beobachte Deine Reaktionen beim Lesen des Werkes. Beobachte die Reaktionen anderer Leute. Halte Ausschau nach Besonderheiten.
Wirken die Figuren hier besonders lebendig? Rührt eine Szene zu Tränen? Hat Dich ein Plot Twist regelrecht umgehauen?
Das alles sind gute Gründe, ein Werk zu analysieren.
Ebenfalls gute Gründe zum Analysieren sind die Fehler des anderen Autors:
Warum wirkt der Protagonist unsympathisch? Warum ist der Plot so verwirrwend? Warum kann man den Schreibstil nicht ernst nehmen?
Alternativ kannst Du auch direkt von einem bestimmten Gesichtspunkt ausgehen und einer etwas allgemeineren Fragestellung nachgehen:
Wie wird in Deinem Lieblingsbuch eigentlich die Erzählperspektive gehandhabt und wie welche Wirkung hat sie? Wie geht ein bestimmter Autor mit Metaphern um und welchen Effekt hat das? Wie werden in einem bestimmten Werk neue Figuren eingeführt?
Wie Du also siehst: Du kannst fragen, was immer Du willst. Wichtig ist, dass Du überhaupt eine Frage hast und Dein Analysefeld einschränkst. Ein Ziel hast. Dir selbst Grenzen setzt. Denn alles analysieren kannst Du nicht.
Schritt 2: Recherche und Theorie
Wenn Du nun also definiert hast, was Du herausfinden möchtest, dann ergibt sich von selbst, mit welchen Teilbereichen Du Dich näher auseinandersetzen musst. Und um Dich mit diesen Teilbereichen in einem einzelnen Werk zu beschäftigen, brauchst Du möglichst viel Hintergrundwissen zu diesen Themen. – Und hier kommen Recherche und theoretische Modelle ins Spiel.
Denn man muss nicht jedes Mal das Rad neu erfinden:
Über die Funktionsweise und Wirkung verschiedener Stilmittel wurde schon sehr viel gesagt, es gibt viele Modelle zur Analyse der Erzählperspektive und es gibt Erfahrungswerte, Tipps und Modelle von anderen Autoren, die versuchen, das Schreiben zu systematisieren. Usw. usf.
Recherchiere also die für Deine Analyse relevanten Themen. Ob übers Internet, in Bibliotheken oder wo auch immer. Kratze so viel Material zusammen wie Du verdauen kannst.
Am besten ist es aber natürlich, wenn Du diese Themen nicht nur dann recherchierst, wenn Du sie brauchst, sondern Dich permanent weiterbildest. Dadurch wirst Du irgendwann jederzeit auf ein breites Arsenal von Hintergrundwissen und Werkzeug zurückgreifen und direkt beim Lesen anwenden können.
Besonders günstig ist es, wenn das von Dir zu analysierende Werk bereits von anderen analysiert wurde:
Gibt es dazu schon Aufsätze oder sogar ganze Monographien? Gibt es dazu Diskussionen in Online-Foren? Gibt es interessante Rezensionen zu diesem Werk? Gibt es evtl. sogar bereits Analysen mit genau Deiner Fragestellung?
Du musst den Aussagen in den bereits veröffentlichten Publikationen zu dem Thema aber nicht unbedingt zustimmen. Wenn Du meinst, dass der Autor einer anderen Analyse sich irrt, dann ist das Dein gutes Recht. Die Lektüre anderer Publikationen zu Deinem Thema soll nur dem Zweck dienen, andere Sichtweisen kennenzulernen, auf bestimmte Textstellen aufmerksam zu werden und den eigenen Denkprozess anzukurbeln.
Sinnvoll ist es im Übrigen auch, nicht nur Publikationen zum gewählten Werk zu suchen, sondern auch zu ähnlichen Werken:
Gibt es andere Erzählungen, in denen eine ähnliche Wirkung wie im zu analysierenden Werk erzeugt wurde? Wird der Autor des zu analysierenden Werkes oft mit einem bestimmten anderen Autor verglichen? Wurde das zu analysierende Werk direkt von einem bestimmten anderen Werk inspiriert?
Vergleiche mit ähnlichen Werken oder Inspirationen können manchmal durchaus sehr aufschlussreich sein.
Schritt 3: Beobachtungen und Gedanken zusammentragen
Nun hast Du also jede Menge Material von theoretischen Modellen über Schreibtipps bis hin zu Analysebemühungen anderer Leute.
Im nächsten Schritt wendest Du dieses Material auf das zu analysierende Werk an:
Klappere die Modelle Punkt für Punkt ab, prüfe das Werk auf die Einhaltung oder Nicht-Einhaltung bestimmter Schreibtipps, prüfe die Aussagen in den bereits existierenden Analysen und prüfe, ob die Beobachtungen zu ähnlichen Werken auch für das von Dir zu analysierende Werk gelten.
Mache Dir zu all dem Notizen. Notiere auch alles, was Dir selbst auffällt, sogar ganz spontane Gedanken, auffällige oder anderweitig wichtige Textstellen … Einfach alles.
Das solltest Du aber nach Möglichkeit nicht durcheinander machen: Denn meistens zeichnen sich bereits zu Beginn einer Analyse bestimmte Unterthemen ab.
Beginne also möglichst früh, Deine Notizen zu sortieren.
Mit großer Wahrscheinlichkeit wirst Du diese vorläufige Ordnung später sowieso noch weiter anpassen. Sie muss also nicht perfekt sein. Aber sie sollte zumindest existieren. Denn sonst wirst Du Dich irgendwann in Deinen eigenen Notizen verlieren. Beuge dem also von Anfang an vor.
Schritt 4: Zusammenhänge herstellen
Der nächste Schritt ist vielleicht der schwierigste. Hier geht es nämlich darum, die Rechercheergebnisse und die eigenen Beobachtungen und Gedanken miteinander logisch zu verknüpfen und ggf. Gesetzmäßigkeiten und Strukturen aufzuzeigen.
Wenn Du nun die Menge an Notizen betrachtest, mag das auf den ersten Blick als unmöglich erscheinen. Doch Du hast Deine Notizen nicht umsonst in Unterthemen aufgeteilt.
Gehe also in kleinen Schritten vor und widme Dich einem Unterthema nach dem anderen.
Fasse Deine Erkenntnisse außerdem für jedes Unterthema in einem kleinen Zwischenfazit zusammen. Dadurch brauchst Du Dir für das Gesamtfazit am Ende nur diese Zwischenfazits durchzulesen, sie miteinander zu verknüpfen und zusammenzufassen.
In der Praxis kann das Zum Beispiel so aussehen:
Du untersuchst, warum eine Geschichte Dich so stark emotional berührt.
- In einem Unterthema stellst Du fest, dass man durch den intern fokalisierten Erzähler einen tiefen Einblick in das Innenleben der Figur bekommt. Dadurch fühlt man mit der Figur sehr stark mit.
- In einem anderen Unterthema beobachtest Du, dass der Text sehr viel erlebte Rede enthält, was zu einer Verschmelzung von Erzählerrede und Figurenrede führt. Auch dadurch wird Nähe zur Figur aufgebaut.
- Nach der Analyse vieler Unterthemen kommst Du im Gesamtfazit zu dem Schluss, dass der Autor in jedem Teilbereich – von der Erzählperspektive über den Sprachgebrauch bis hin zur Plotstruktur – alle Register gezogen hat, um den Leser an den Gedanken und Gefühlen der Hauptfigur teilhaben zu lassen.
Durch dieses Vorgehen erkennst Du nach und nach, dass guten Büchern in der Regel tatsächlich eine auf die beabsichtigte Wirkung angepasste Auswahl von Erzähltechniken zugrunde liegt. Dabei kann der Autor diese Auswahl sowohl bewusst als auch intuitiv getroffen haben. Aber Fakt ist und bleibt:
Wenn ein Buch gut ist, dann hat das einen Grund.
Ebenso hat es einen Grund, wenn ein Werk schlecht ist. Dieser wird während einer sorgfältigen Analyse sichtbar.
Hier bietet es sich allerdings an, über Verbesserungsvorschläge nachzudenken. Denn es ist zwar schön und gut, wenn Du weißt, was Du nicht machen sollst. Besser ist es allerdings zu wissen, was Du stattdessen machen kannst.
Beim Herstellen von Zusammenhängen musst Du allerdings darauf achten, dass Du nicht nur das siehst, was Du sehen möchtest. Dass Du nicht Dinge übersiehst, die Deiner Meinung eigentlich widersprechen. Wenn es in dem Text zum Beispiel etwas gibt, das einfach nicht zu Deiner Interpretation passen will, dass sollte dieses Etwas genauer betrachtet werden.
Trenne vor allem klar zwischen:
-
Dingen, die Deine persönliche Empfindung sind,
-
der Meinung anderer Leser und
-
dem, was tatsächlich im Text steht!
Wenn Du oder jemand anderes zum Beispiel meint, Figur X wäre arrogant, dann sollte das anhand des Textes begründet werden können. Und wenn es keine Textstellen gibt, die vom arroganten Charakter der Figur zeugen, dann sind die subjektiven Arroganzvorwürfe einzelner Leser nichts wert.
Sollten aber ziemlich viele Leser der Meinung sein, Figur X wäre arrogant, obwohl es im Text keinerlei Anhaltspunkte dafür gibt, dann wäre das natürlich ein spannendes Thema für eine weitere Analyse.
Schritt 5: Das Gelernte selbst anwenden
Wenn Du also nun weißt, wie gute Autoren mit ihren Geschichten die beabsichtigte Wirkung erzielen, dann weißt Du auch genau, was Du tun musst, wenn Du dieselbe oder zumindest eine ähnliche Wirkung erreichen möchtest. Und durch die Auseinandersetzung mit schlechten Büchern lernst Du auch, welche Gefahren lauern und wie Du ihnen ausweichen kannst.
Das alles bedeutet allerdings nicht, dass Du andere Autoren kopierst. Da brauchst Du Dir keine Sorgen machen. Wir alle sind Individuen und Du kannst tun, was Du willst, aber Du wirst niemals genauso schreiben wie ein anderer Autor. Man wird höchstens Einflüsse erkennen können.
Umgekehrt bedeutet das auch, dass es sinnlos ist, genau so schreiben zu wollen wie Dein Lieblingsautor. Denn so genial dieser Autor auch sein mag: Jeder gute Autor ist auf seine eigene Weise genial und Deine Aufgabe ist es eher, Deinen eigenen Stil zu finden.
Denn ein eigener Stil ist tausendmal genialer als ein Abklatsch der Genialität eines anderen Autors.
Und ja, wie bereits kurz erwähnt, wählen gute Autoren die richtigen Erzähltechniken manchmal intuitiv. Ich will gegen Bauchgefühl auch nichts sagen. Außer dass man, wenn man nicht als Wunderkind auf die Welt gekommen ist, das Gelingen oder Nicht-Gelingen des eigenen Werkes so dem Zufall überlässt. Und wenn wir davon ausgehen, dass Du Deinen Roman so gut hinbekommen möchtest, wie er nur werden kann,
dann ist das Lernen aus den Erfolgen und Fehlern anderer Autoren das Beste, was Du tun kannst.
Schlussbemerkungen
Das in diesem Artikel vorgestellte Verfahren mag sehr wissenschaftlich anmuten, doch es ist tatsächlich vereinfacht. Denn zu einer literaturwissenschaftlichen Arbeit gehören neben bestimmten Formalia auch Dinge wie eine These in der Einleitung, eine Begründung für die Wahl bestimmter Modelle und Verfahren etc. Wenn Du hingegen einfach für Dich selbst analysierst, um etwas zu lernen, dann kannst Du relativ „frei nach Schnauze“ vorgehen. Solange die Analyse für Dich selbst insgesamt Sinn ergibt und Erkenntnisse liefert, ist alles gut.
Du magst Dich aber auch fragen: Wer macht denn ernsthaft solche Analysen? - Die Antwort ist: Ich. Als Teenager habe ich nämlich angefangen, auf Fanfiktion.de äußerst ausführliches Feedback zu verteilen. Und obwohl dieses Feedback nicht die Form einer wissenschaftlichen Analyse hatte, lag meinen Kommentaren genau das geschilderte Verfahren zugrunde. Und es war die wohl lehrreichste Zeit meines Schreiberlingdaseins.
Und auch, wenn das geschilderte Verfahren vielleicht aufwendig und schwerfällig wirkt: Das muss nicht so sein. Denn die einzelnen Schritte müssen zum Beispiel nicht unbedingt nacheinander abgearbeitet werden, sondern können fließend ineinander übergehen. So kannst Du Dir zum Beispiel bereits beim Lesen und später beim Recherchieren Markierungen und Notizen machen und diese sofort ordnen.
Außerdem kann der ganze Prozess natürlich auch komplett im Kopf stattfinden. – Vor allem, wenn die Fragestellung nicht sehr umfangreich ist. Meiner Erfahrung nach bleibt jedoch mehr hängen, wenn man seine Ergebnisse tatsächlich schriftlich festhält, zum Beispiel in Form von Feedback direkt an den Autor oder in Form einer Rezension.
Und mit der Zeit wird das Analysieren eh schneller. Mit zunehmender Übung wird Dir einfach mehr auffallen und Du musst nicht mehr allzu viel recherchieren. In manchen Fällen wirst Du sogar schon auf den ersten Blick sagen können, warum in einer Geschichte etwas funktioniert oder nicht.
Die Kehrseite ist da natürlich, dass man Analysieren beim Lesen irgendwann nicht mehr abstellen kann. Man kann sich bei einem guten Buch dann nicht mehr fallen lassen. Es wird zu einer Art Berufskrankheit. Aber man kann damit leben. Und vor allem schätzt man dadurch hochqualitative Bücher, die man trotz dieser „Analysekrankheit“ immer noch genießen kann, umso mehr.
Ich hatte mir dieses Thema im Kreativ Team gewünscht. Vielen Dank dafür das Du das Thema umgesetzt hast! Ich habe sehr viel daraus gelernt.
Und Dir wiederum danke für den Themenvorschlag! Ohne Dich gäbe es diesen Artikel wahrscheinlich nicht.