Erzähl­per­spek­tive: Ein­halten oder wech­seln?

Erzähl­per­spek­tive: Ein­halten oder wech­seln?

Viele Autoren schwören auf den Tipp, man solle die gewählte Erzähl­per­spek­tive streng ein­halten. Doch manchmal ist ein Per­spek­tiv­wechsel besser. In diesem Artikel bespre­chen wir detail­liert, was es mit dem Ein­halten und Wech­seln von Erzähl­per­spek­tiven auf sich hat: Wann sollte man sie ein­halten? Wann wech­seln? Und was sollte man sonst noch beachten?

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Ein häu­figer Schreib­tipp lautet, die gewählte Erzähl­per­spek­tive streng ein­zu­halten. Manche sehen diesen Tipp sogar als regel­rechte Schreibregel.

Was ich von Schreib­re­geln halte, habe ich bereits in einem eigen­stän­digen Video erläu­tert. Kurz zusam­men­ge­fasst bin ich der Mei­nung, dass es keine Schreib­re­geln gibt. – Nur Schreib­tipps, die man befolgen kann oder auch nicht. Je nach dem, was die eigene Geschichte braucht.

Damit kann auch bei der Erzähl­per­spek­tive jeder Autor frei ent­scheiden, ob er sie ein­hält oder nicht.

Was bedeutet es also, die gewählte Erzähl­per­spek­tive ein­zu­halten? Worauf muss man achten? Und wann sind Per­spek­tiv­wechsel sinn­voll? Wie setzt man sie am besten um?

Über all das reden wir in diesem Artikel.

Erzähl­per­spek­tiven all­ge­mein

Bevor wir jedoch über das Ein­halten und Wech­seln von Erzähl­per­spek­tiven reden, müssen kurz auf Erzähl­per­spek­tiven all­ge­mein ein­gehen.

Wenn Du schon eine Weile dabei bist, dann weißt Du, dass ich die ver­ball­hornte Vari­ante von Stan­zels Typen­kreis, die man in der Schule lernt, von ganzem Herzen ablehne. – Und davon abge­sehen bin ich ohnehin ein Genette-Fan­girl. Als sol­ches ope­riere ich nur ungern mit den Kon­zepten „Ich-Erzähler“, „per­so­naler Erzähler“ und „aukt­orialer Erzähler“. Den „neu­tralen Erzähler“ lehne ich als stu­dierte Lite­ra­tur­wis­sen­schaft­lerin sowieso ab.

Wenn Du Dich mit Erzähl­per­spek­tiven gene­rell beschäf­tigen möch­test, dann emp­fehle ich meinen Artikel über Stan­zels Typen­kreis und die kom­plette Reihe zu Genettes Erzähl­theorie.

Für diesen Artikel möchte ich aber den­noch zwei Punkte beson­ders betonen:

  • In Stan­zels Typen­kreis gehen die drei Erzähl­si­tua­tionen flie­ßend inein­ander über. Die Erzäh­ler­typen sind also kei­nes­wegs strikt getrennt. Genette hin­gegen brö­selt die Erzähl­per­spek­tive in viele Ein­zel­ka­te­go­rien auf. Und die beiden ein­zigen Kate­go­rien, die für das heu­tige Thema über­haupt von Inter­esse sind, sind Modus und teil­weise Stimme. In den anderen drei Kate­go­rien kommt es in den meisten Geschichten ganz natür­lich zu Wech­seln.
  • Sowohl Stanzel als auch Genette beob­achten in der Lite­ratur völlig legi­time Brüche der Erzähl­per­spek­tive. Stanzel spricht in diesem Fall von einem dyna­mi­schen Erzähler. Genette hat in der Kate­gorie des Modus die variable Foka­li­sie­rung.

Bei Brü­chen der Erzähl­per­spek­tive sind vor allem zwei Teil­aspekte von Bedeu­tung:

  • die Foka­li­sie­rung, d.h. durch wessen Augen der Erzähler auf das Geschehen blickt, und
  • ob der Erzähler hetero- oder homo­die­get­sich ist, was oft auf die Frage hin­aus­läuft, ob der Erzähler in der ersten oder dritten Person

Auf diese Aspekte werden wir uns nach­fol­gend kon­zen­trieren.

Tipps: Erzähl­per­spek­tive ein­halten

Der Tipp, die gewählte Erzähl­per­spek­tive strikt ein­zu­halten, hat einen ganz ein­fa­chen Grund:

Dadurch kann sich der Leser ohne Brüche vom Erzähl­strom treiben lassen.

Die Erzähl­per­spek­tive defi­niert die Posi­tion, von der aus der Leser das Geschehen erlebt. Ein plötz­li­cher Wechsel bedeutet damit auto­ma­tisch, dass der Leser gewis­ser­maßen „ent­wur­zelt“ wird: Plötz­lich ist da eine Distanz zu den Figuren, mit denen er sich bisher iden­ti­fi­ziert hat, der Text liest sich irgendwie falsch und die ganze Geschichte fühlt sich ganz anders an. Schlimms­ten­falls rui­niert eine solche Ent­frem­dung das gesamte Lese­er­lebnis.

Wenn Du also keinen guten Grund hast, dem Leser eine solche „Ent­wur­ze­lung“ anzutun, dann halte die Erzähl­per­spek­tive bitte ein.

Doch bevor Du die Erzähl­per­spek­tive über­haupt ein­halten kannst, musst Du sie sorg­fältig aus­wählen. Damit Du später auch gar nicht erst in Ver­su­chung kommst, sie zu bre­chen.

Kläre also mög­lichst früh­zeitig für Dich selbst:

Was muss der Erzähler leisten? Welche Infor­ma­tionen muss er dem Leser ver­mit­teln? Wie soll er diese Infor­ma­tionen ver­mit­teln?

Aus Deinen Ant­worten auf diese Fragen ergeben sich wei­tere Über­le­gungen:

Wer ist der Erzähler bzw. durch wessen Augen blickt er? Wo befindet er sich inner­halb der Geschichte? Steckt er im Körper einer Figur oder schwebt er all­wis­send über dem Geschehen? Was weiß er und was weiß er nicht?

„Frosch­per­spek­tive“: Ich-Erzähler, per­so­naler Erzähler, interne Foka­li­sie­rung

Blickt der Erzähler durch die Augen einer Figur, spricht Genette von interner Foka­li­sie­rung. Bei Stanzel ist sie ein Aspekt der per­so­nalen und der Ich-Erzähl­si­tua­tion.

Erzählst Du die Geschichte also aus der Sicht einer oder meh­rerer Reflek­tor­fi­guren, soll­test Du an einem Grund­prinzip fest­halten:

Beachte nach Mög­lich­keit alle fünf Sinne der Reflek­tor­figur - und nur der Reflek­tor­figur.

Was nimmt diese Figur wahr und was nicht? Stimmen diese Wahr­neh­mungen mit der Wirk­lich­keit überein oder sind sie feh­ler­haft? Der Blick durch die Augen einer Reflek­tor­figur sorgt für emo­tio­nale Nähe. Aber gleich­zeitig ist der Leser von allem abge­schnitten, was nicht in den Wahr­neh­mungs­ho­ri­zont der Figur fällt. Damit ist er oft auch weniger in der Lage, die Fehler und Irr­tümer der Figur als solche zu erkennen.

Ein häu­figer Fehler beim Ein­halten der internen Foka­li­sie­rung sind äußere Beschrei­bungen der Reflek­tor­figur:

„Pippin hatte die Knie ange­zogen und hielt den Ball zwi­schen ihnen. Er beugte sich tief dar­über und sah aus wie ein nasch­haftes Kind, das sich in einem Winkel fern von den anderen über eine Schüssel mit Essen her­macht.“
J. R. R. Tol­kien: Der Herr der Ringe: Die zwei Türme, 3. Buch, 11. Kapitel: Der Palantír.

Hier kann Pippin selbst nicht wissen, dass er wie ein „nasch­haftes Kind“ aus­sieht. Das ist ganz klar ein Blick von außen. Natür­lich liegt beim Herrn der Ringe eine Null­fo­ka­li­sie­rung vor und des­wegen ist diese Stelle kein Bruch der Erzähl­per­spek­tive. Doch viele uner­fah­rene Autoren binden solche Außen­be­ob­ach­tungen gerne in ihre intern foka­li­sierten Erzäh­lungen ein – und stören damit den Lese­fluss ihrer Geschichte.

Manchmal erscheint eine Außen­sicht auf die Reflek­tor­figur jedoch not­wendig. Übli­cher­weise ent­steht das Pro­blem am Anfang einer Geschichte, wenn der Autor das Aus­sehen seiner Reflek­tor­figur beschreiben will. Das hat zur Her­aus­bil­dung der kli­schee­haften „Spie­gel­szene“ geführt:

In einer sol­chen Szene blickt die Reflek­tor­figur in den Spiegel, damit der Erzähler ihr Aus­sehen beschreiben kann.

Oft tragen solche „Spie­gel­szenen“ jedoch nichts zur Geschichte bei und sind mitt­ler­weile – wie gesagt – ein Kli­schee. Wenn eine Spie­gel­szene in Deiner Geschichte jen­seits der äußeren Beschrei­bung der Reflek­tor­figur keine Daseins­be­rech­ti­gung hat, soll­test Du auf sie ver­zichten.

Eben­falls gefähr­lich für die interne Foka­li­sie­rung sind Begleit­sätze bei Gedanken und Wahr­neh­mungen der Reflek­tor­figur:

„Fritz­chen sah, wie Lies­chen über die Straße lief. Sie hat es wohl eilig, dachte er.“

„Fritz­chen sah“ und „dachte er“ schaffen Distanz zur Figur. Denn wenn wir etwas beob­achten oder denken, dann denken wir in der Regel nicht daran, dass wir es sehen oder denken. Wir sehen und denken ein­fach. Und weil wir das Geschehen ja durch die Augen der Reflek­tor­figur beob­achten, ist ohnehin klar, dass die Wahr­neh­mungen und Gedanken der Reflek­tor­figur gehören. Daher könnte das Bei­spiel von eben so umfor­mu­liert werden:

„Drüben beim Buch­laden lief Lies­chen über die Straße. Sie hatte es wohl eilig.“

„Vogel­per­spek­tive“: Aukt­orialer Erzähler, Null­fo­ka­li­sie­rung

Die aukt­oriale Per­spek­tive bzw. die Null­fo­ka­li­sie­rung bietet dagegen mehr Mög­lich­keiten und ist leichter ein­zu­halten.

Denn hier kann der Erzähler beliebig zwi­schen dem All­wissen der „Vogel­per­spek­tive“ und den vielen „Frosch­per­spek­tiven“ der ein­zelnen Figuren springen, ohne dass ein Bruch ent­steht. Der Preis, den man zahlt, ist meis­tens eine schwä­chere emo­tio­nale Bin­dung zu den ein­zelnen Figuren.

Der Vor­teil ist, dass die aukt­oriale Erzähl­si­tua­tion bzw. die Null­fo­ka­li­sie­rung besser geeignet ist, um „grö­ßere“ Geschichten zu erzählen mit vielen Figuren, kom­plexen Zusam­men­hängen und ver­wo­benen Hand­lungs­strängen. Damit ist diese „Vogel­per­spek­tive“, die nach Belieben in die „Frosch­per­spek­tiven“ ein­zelner Figuren „hin­ein­zoomt“, ziem­lich nah am Film­genre mit seinem Wechsel zwi­schen Totalen und Groß­auf­nahmen.

Ein lite­ra­ri­sches Bei­spiel für einen gut umge­setzten Wechsel zwi­schen „Totalen“ und „Groß­auf­nahmen“ ist Quo Vadis? von Henryk Sien­kie­wicz:

Wäh­rend des Brandes vom Rom lie­fert der Erzähler all­ge­meine Beschrei­bungen, wie die unter­schied­li­chen Bevöl­ke­rungs­gruppen mit der Kata­strophe umgehen, die all­ge­gen­wär­tige Anar­chie, die Aus­brei­tung des Feuers … Die Aus­maße der Tra­gödie und die poli­ti­sche und gesell­schaft­liche Bedeu­tung des Brandes werden spürbar. Doch gleich­zeitig schlüpft der Erzähler hin und wieder in die Schuhe des Prot­ago­nisten Vini­cius, der in dem all­ge­meinen Chaos seine Ver­lobte sucht. Damit geht die Geschichte des Prot­ago­nisten voran und der Leser spürt, was der Brand für ihn per­sön­lich bedeutet.

Erzählen in der 1. und 3. Person: Homo- und hete­ro­die­ge­ti­scher Erzähler

Die ein­zige Art von Per­spek­tiv­bruch, die beim null­fo­ka­li­sierten Erzähler auf­treten kann, ist der Wechsel zwi­schen einer Erzäh­lung in der ersten und dritten Person. Also zwi­schen dem Ich- und dem Er-/Sie-Erzähler. Und selbst beim intern foka­li­sierten Erzähler fällt ein sol­cher Bruch sofort ins Auge, obwohl der Wahr­neh­mungs­ho­ri­zont eines per­so­nalen und eines Ich-Erzäh­lers oft nahezu iden­tisch ist.

Über­lege Dir also genau, ob der Erzähler Teil der erzählten Welt sein soll oder nicht. Ob er zugleich der Prot­ago­nist ist oder nicht. Ob er das Wort „ich“ in den Mund nimmt oder nicht.

Wäh­rend ein homo­die­ge­ti­scher Erzähler (Teil der erzählten Welt), immer „ich“ sagt, kann ein hete­ro­die­ge­ti­scher Erzähler (außer­halb der erzählten Welt) sich aus­su­chen, ob er das tut oder nicht. Doch wofür Du Dich auch ent­schei­dest: Fälle die Ent­schei­dung bewusst und halte an ihr fest!

Behalte stets im Hin­ter­kopf, wo der Erzähler sich in Bezug auf die Geschichte befindet. Dann soll­test Du auch nicht in Ver­su­chung kommen, die erste und die dritte Person zu ver­mi­schen.

Ein nicht zu unter­schät­zender Aspekt der Ent­schei­dung ist der Gebrauch von Pro­nomen, wenn die Haupt­figur mit anderen Figuren inter­agiert:

Mal ange­nommen, der Prot­ago­nist ist Fritz­chen und der Erzähler benutzt die dritte Person. Wenn Fritz­chen mit Lies­chen spricht, kann der Erzähler ihre Namen durch „er“ und „sie“ ersetzen und es bleibt klar, wer was tut und sagt. Inter­agiert Fritz­chen hin­gegen mit Max, ist jeder von ihnen ein „Er“.

Etwas weniger mar­kant ist das Pro­blem mit „sie“ als dritte Person Sin­gular und dritte Person Plural. Denn hier gibt in der Regel die übrige Gram­matik Auf­schluss dar­über, wel­ches „sie“ gerade vor­liegt – ob es also um Lies­chen oder die vielen Men­schen auf der Straße geht.

Sicher vor jeder Art von Ver­wechs­lungen ist dagegen die erste Person. Denn ein „Ich“ als Prot­ago­nist hat ein Per­so­nal­pro­nomen für sich allein. Damit ist ein Ich-Erzähler ein biss­chen „bequemer“ zu schreiben. Zumal das Wort „ich“ den Autor erfah­rungs­gemäß immer wieder an die ein­ge­schränkte Per­spek­tive der Reflek­tor­figur erin­nert. Das ver­rin­gert die Gefahr, in die aukt­oriale Erzähl­si­tua­tion abzu­driften.

Damit ist ein Ich-Erzähler - mal abge­sehen von den indi­vi­du­ellen Anfor­de­rungen der jewei­ligen Geschichte – für Anfänger tat­säch­lich besser geeignet als er Er-/Sie-Erzähler. Doch mit ein wenig Übung und Auf­merk­sam­keit steht der Er-/Sie-Erzähler dem Ich-Erzähler in nichts nach:

Um Ver­wechs­lungen beim „Er“ zu ver­meiden, kann der Erzähler häu­figer auf die Namen der Figuren zurück­greifen. Viele Autoren befürchten zwar, dass die stän­dige Namens­nen­nung den Leser auf Dauer stören könnte. Doch erfah­rungs­gemäß ist das nicht der Fall. Über Namen wird – wie über häu­fige Wörter wie „sagte“ – oft ein­fach drü­ber­ge­lesen. Solange die Namen also nicht allzu pene­trant benutzt werden, fällt ihre häu­fige Ver­wen­dung nicht auf.

Tipps: Erzähl­per­spek­tive wech­seln

Wir haben ja gerade gesagt:

  • Die interne Foka­li­sie­rung baut Nähe zur Reflek­tor­figur auf.

Und:

  • Die Null­fo­ka­li­sie­rung ist gut geeignet, um „grö­ßere“ Geschichten zu erzählen.

Doch was ist, wenn man die Vor­teile beider Foka­li­sie­rungen kom­bi­nieren möchte?

Fol­gende Mög­lich­keiten bieten sich an:

  • Man kann den aukt­orialen null­fo­ka­li­sierten Erzähler stärker und länger in das Innere der ein­zelnen Figuren „zoomen“ lassen.
  • Man kann die Infor­ma­tionen, die dem intern foka­li­sierten Erzähler nicht vor­liegen, in Dia­logen und anderen Inter­ak­tionen ein­fließen lassen. Zum Bei­spiel können die anderen Figuren darin ihre Gefühle aus­drü­cken.
  • Ansonsten können die anderen Per­spek­tiven, grö­ßere Zusam­men­hänge und Über­blicks­dar­stel­lungen auch in Bin­nen­er­zäh­lungen unter­ge­bracht werden.

Aber natür­lich kann man auch den Erzähler selbst „umpflanzen“

Meh­rere „Ichs“ oder Reflek­tor­fi­guren

Gerade, wenn es in einer Geschichte meh­rere Hand­lungs­stränge gibt, die auch räum­lich von­ein­ander getrennt sind, bietet es sich an, zwi­schen deren „Frosch­per­spek­tiven“ zu springen. Der Unter­schied zum aukt­orialen bzw. null­fo­ka­li­sierten Erzähler ist dabei, dass es keine all­ge­meinen Beschrei­bungen aus „Vogel­per­spek­tive“ gibt.

Sinn­voll ist sol­ches „Per­spek­tiv­springen“ auch, wenn es meh­rere Haupt­fi­guren gibt, die sich zwar alle an einem Ort befinden, aber gleich wichtig sind und eine rele­vante Cha­rak­ter­ent­wick­lung durch­ma­chen.

Und weil bei sol­chem „Per­spek­tiv­springen“ des Erzäh­lers vieles schief­gehen kann, hier einige Tipps:

  • Jede Reflek­tor­figur sollte für die Gesamt­ge­schichte eine Funk­tion haben. Wenn Du eine Per­spek­tive ein­baust, ein­fach weil Du in das Innen­leben dieser Figur ein­tau­chen möch­test, es aber nichts zur Geschichte bei­trägt, dann ist diese Per­spek­tive über­flüssig. Ver­giss nicht, dass Per­spek­tiv­wechsel den Leser „ent­wur­zeln“. Tu es ihm also nicht leicht­fertig an! Son­dern ori­en­tiere Dich lieber am Lied von Eis und Feuer: Hier haben die Ereig­nisse im Leben einer Figur oft direkte Aus­wir­kungen für die anderen Hand­lungs­stränge. Die Romane haben viele Per­spek­tiven, aber sie sind alle mit­ein­ander ver­knüpft und tragen zur Gesamt­ge­schichte bei.
  • Was das Lied von Eis und Feuer auch gut umsetzt, ist die Regel von nur einer Per­spek­tive pro Kapitel. Klare Grenzen schwä­chen den „Ent­wur­ze­lungs­ef­fekt“ der Per­spek­tiv­sprünge ein wenig ab: Denn durch das Ende eines Kapi­tels wird der Lese­fluss ohnehin kurz unter­bro­chen. Diese „Regel“ kann natür­lich – wenn nötig – auch gebro­chen werden. Die Per­spek­tiven können sogar flie­ßend inein­ander über­gehen. Das macht jedoch nur selten Sinn.
  • Ein Pro­blem, das Das Lied von Eis und Feuer nur teil­weise bewäl­tigen kann, sind die „Tren­nungs­schmerzen“ man­cher Leser am Ende eines Kapi­tels über ihre jewei­lige Lieb­lings­figur. Es liegt nun mal in der Natur der Leser, dass sie manche Figuren und Hand­lungs­stränge lieber mögen als andere. Lieb­lings­per­spek­tiven und Hass­per­spek­tiven sind da vor­pro­gram­miert. Somit kann man dem auch nur bedingt ent­ge­gen­wirken, indem man jede Per­spek­tive – wie bereits emp­fohlen – rele­vant macht, die Figuren mög­lichst sym­pa­thisch und/oder inter­es­sant und jeden ein­zelnen Hand­lungs­strang mög­lichst span­nend.
  • Was mit inter­es­santen Figuren ein­her­geht, sind die unter­schied­li­chen „Stimmen“ dieser Figuren: Wenn Fritz­chens und Lies­chens Kapitel sich völlig gleich lesen, geht ein guter Teil ihrer Indi­vi­dua­lität ver­loren und sie wirken weniger inter­es­sant. Jeder Mensch hat seine eigene Per­sön­lich­keit, seine eigene Art der Wahr­neh­mung und seine eigene Sprache. Des­wegen sollte der Leser idea­ler­weise auch ohne Namens­nen­nung erkennen können, aus wessen Sicht ein Kapitel erzählt wird.
  • Das Umher­springen zwi­schen Per­spek­tiven bringt auch die Gefahr von inhalt­li­chen Wie­der­ho­lungen mit sich. Wenn also mehr­mals das­selbe erzählt wird, nur aus ver­schie­denen Per­spek­tiven. Das stört in der Regel den Lese­fluss massiv, weil der Leser ja wissen will, wie es wei­ter­geht, statt­dessen aber erzählt bekommt, was er bereits weiß. Des­wegen soll­test Du solche inhalt­li­chen Wie­der­ho­lungen nach Mög­lich­keit ver­meiden: Wenn Fritz­chen bereits vom Date mit Lies­chen erzählt hat, dann reicht es, wenn Lies­chen in ihrem Kapitel nur kurz erwähnt, dass es statt­ge­funden hat, oder nur ein­zelne Momente her­aus­pickt, die ihr per­sön­lich wichtig sind. Nach­er­zäh­lungen von bereits Bekanntem sind nur sinn­voll, wenn sie etwas Rele­vantes zur Geschichte bei­tragen. In allen anderen Fällen sind solche Nach­er­zäh­lungen ein No-Go.
  • Wenn man Nach­er­zäh­lungen aber ver­meiden soll – Was ist, wenn man eine Szene mit meh­reren Reflek­tor­fi­guren hat? Aus wessen Sicht sollte man erzählen? Die Ant­wort auf diese Fragen bekommst Du, wenn Du Dir einige Detail­fragen stellst: Wessen Per­spek­tive ist an kon­kret dieser Stelle am inter­es­san­testen? Für wen steht am meisten auf dem Spiel? Wer hat den inter­es­san­testen Kon­flikt? Wessen Per­spek­tive passt am besten zum Zweck der Szene? Denke gut nach und wähle die Per­spek­tive, die am sinn­vollsten und span­nendsten ist.

Inter­es­sante Bei­spiele

Das war aber alles nur all­ge­mein und theo­re­tisch. Die Mög­lich­keiten, wie Per­spek­tiv­wechsel in der Praxis aus­sehen können, sind schier unend­lich. Von Werken wie dem Lied von Eis und Freuer, in dem Per­spek­tiv­springen das erzäh­le­ri­sche Grund­prinzip bildet, bis hin zu Werken, in denen Per­spek­tiv­wechsel nur selten vor­kommen, ist alles erlaubt, solange es zur Geschichte passt.

Ein inter­es­santer Ein­satz von zwei sich abwech­selnden Per­spek­tiven als System findet sich im Krimi Der Tote im Salon­wagen von Boris Akunin:

Hier ver­sucht der Detektiv Erast Fand­orin nicht den Mörder zu ermit­teln: Der ist der Anführer einer links­ra­di­kalen Ter­ror­or­ga­ni­sa­tion – und hat beim Mord buch­stäb­lich die Unter­schrift seiner Truppe hin­ter­lassen. Bloß kann der Mörder nicht gefasst werden, weil offenbar jemand in den höheren Rängen der Polizei geheime Infor­ma­tionen an ihn wei­ter­gibt. Somit sucht Fand­orin vor allem nach dem Ver­räter in den eigenen Reihen.

Fand­orins Kapitel wech­seln sich jedoch mit Kapi­teln aus der Sicht Mör­ders ab. Der idea­lis­ti­sche Grin ver­steht seinen Terror als Kampf für eine bes­sere und gerech­tere Welt. Seit einiger Zeit bekommt er mys­te­riöse Post mit hilf­rei­chen Geheim­in­for­ma­tionen über die Pläne der Polizei. Und er will her­aus­finden, wer ihm hilft, warum und ob das alles nicht eine Falle ist. Am Ende begreift er, dass der mys­te­riöse Dritte seinen Idea­lismus nur für per­sön­liche Zwecke miss­braucht.

Dadurch ent­steht ein inter­es­santes Dreieck: Fand­orin und Grin sind beide Prot­ago­nisten der Geschichte und der mys­te­riöse Dritte ist ihr gemein­samer Ant­ago­nist. Gleich­zeitig erfüllen Fand­orin und Grin die Rolle eines wei­teren Ant­ago­nisten für den jeweils anderen. Die beiden sich abwech­selnden Per­spek­tiven des Detek­tivs und des Ter­ro­risten defi­nieren die facet­ten­reiche Natur des Toten im Salon­wagen.

Ein wei­terer inter­es­santer Fall ist auch San­sibar oder der letzte Grund von Alfred Andersch:

Hier wird jedes Kapitel aus der Sicht einer oder meh­rerer Figuren erzählt. Und obwohl der Erzähler intern foka­li­siert ist, kommt es mitten im Kapitel gerne mal zu Per­spek­tiv­wech­seln. Und in einem extremen Fall findet der Per­spek­tiv­wechsel sogar mitten im Satz statt:

„Er bemerkte, daß Judith ihren Kopf ganz leicht wen­dete und ihn ansah, er war ver­sucht, seinen Blick zu senken, aber in der glei­chen Sekunde bezwang er das Gefühl, von dem er nun wußte, daß es Furcht war, und sie sahen sich an, noch immer spie­gelte sich das Leucht­feuer in ihren Augen, es glänzte auf und erlosch, ich kann die Farbe seiner Augen nicht erkennen, dachte Judith, ich stelle mir vor, daß sie grau sind, viel­leicht von etwas hel­lerem Grau als sein Anzug, ich möchte ihn gern einmal bei Tag sehen, ich kenne nicht einmal seinen Namen, und Gregor fragte: Wie heißen Sie eigent­lich?“
Alfred Andersch: San­sibar oder der letzte Grund, Kapitel 32: Judith – Gregor.

Die Per­spek­tiven von Judith und Gregor, die sich zuein­ander hin­ge­zogen fühlen, ver­schmelzen hier zu einem Satz. Und wie sich an dessen Ende her­aus­stellt, denken sie in diesem einen Moment tat­säch­lich das­selbe. Das Paar, das in dem Roman nicht zusam­men­kommt, ist zumin­dest für diesen Augen­blick Eins.

Eine sehr sel­tene Art des Per­spek­tiv­wech­sels ist der Wechsel zwi­schen der Erzäh­lung in der ersten und in der dritten Person. Wie bereits ange­deutet, fällt ein sol­cher Wechsel in der Regel sehr stark ins Auge und ich kenne jen­seits von Erst­lings­werken voller Anfän­ger­fehler kaum Bei­spiele dafür.

Was aber nicht heißen soll, dass es nicht gut umge­setzt werden kann. Einer meiner Lieb­lings­ro­mane, Im Westen nichts Neues von Erich Maria Remarque, macht das näm­lich vor­bild­lich:

Der kom­plette Roman wird durch einen Ich-Erzähler in der Prä­sens­form erzählt. Nur das Ende – der Tod des Prot­ago­nisten wird aukt­orial und im Prä­ter­itum beschrieben. Damit hat der Autor bewusst die wohl bru­talste Form der „Ent­wur­ze­lung“ gewählt: Der Leser wird aus dem Inneren des Prot­ago­nisten geschleu­dert wie eine Seele aus einem plötz­lich getö­teten Körper.

Abschlie­ßende Bemer­kungen

Dem auf­merk­samen Leser wird auf­ge­fallen sein, dass es noch einige andere Dinge zu erwähnen gibt:

Was ist, zum Bei­spiel, mit der Erzäh­lung in der zweiten Person? Was mit dem sel­tenen – dafür aber umso mehr fas­zi­nie­renden Du-Erzähler?

Tat­säch­lich hatte ich vor, diesem Thema einen ganzen Artikel zu widmen. Damals fand es in der Krea­tiv­Crew jedoch keinen Anklang, also ließ ich es sein. Jetzt kam aus der Krea­tiv­Crew aber doch der Wunsch nach der „Du-Per­spek­tive“. Des­wegen bekommt sie 2020 einen eigenen Artikel.

Ein anderes sel­tenes Phä­nomen sind Per­spek­tiven, die für uns füh­lende Wesen nur schwer nach­voll­ziehbar sind. Zum Bei­spiel im Fall einer emo­ti­ons­losen Ali­en­rasse oder einer Maschine oder von etwas ander­weitig Unbe­lebtem. Für solche Per­spek­tiven gelten unterm Strich aller­dings genau die­selben Prin­zi­pien wie für die interne Foka­li­sie­rung bei mensch­li­chen oder men­schen­ähn­li­chen Figuren:

Ver­giss nie, wer oder was Deine Reflek­tor­figur ist und was in ihren Wahr­neh­mungs­ho­ri­zont fällt und was nicht.

Wenn die Reflek­tor­figur also keine Gefühle kennt, dann wird sie viel­leicht Lies­chens Tränen und gesenkte Mund­winkel sehen. Sie wird es aber nicht unbe­dingt auto­ma­tisch als Trau­rig­keit inter­pre­tieren. Oder sie wird es nur des­wegen als Trau­rig­keit ver­stehen, weil sie irgend­wann gelernt hat, dass Men­schen so ihre Trau­rig­keit aus­drü­cken. Und darin liegt die Schwie­rig­keit einer unmensch­li­chen Reflek­tor­figur: Das Prinzip ist genauso wie bei Men­schen oder men­schen­ähn­li­chen Wesen, aber man muss auf klit­ze­kleine Details achten, um die Per­spek­tive auch wirk­lich ein­zu­halten.

Nicht zuletzt ist da auch noch der viel­leicht wich­tigste Punkt:

Egal, ob Du Dich fürs Ein­halten einer bestimmten Per­spek­tive ent­schei­dest oder den Erzähler zwi­schen meh­reren Reflek­tor­fi­guren umher­springen lässt:

Du wirst nie­mals alle Leser glück­lich machen.

Manche Leser werden eine bestimmte Per­spek­tive ver­missen, andere werden die Sprünge oder zumin­dest bestimmte Reflek­tor­fi­guren hassen. Des­wegen kommt es bei der Wahl einer oder meh­rerer Per­spek­tiven immer auf die Geschichte selbst an:

Was willst Du mit Deiner Erzäh­lung errei­chen? Was will Deine Ziel­gruppe? Und wie bringst Du beides am besten unter einen Hut?

Ich würde ganz dreist sagen: Wenn Du diese Fragen für Dich geklärt hast, ist das schon die halbe Miete.

6 Kommentare

  1. In dem meisten Lehr­bü­chern zum Thema Erzähl­technik werden mir zu wenige BEI­SPIELE zitiert, anhand derer die Aus­füh­rungen anschau­lich gemacht werden. So auch in dem obigen Artikel. Mir ist klar, dass sol­ches eine zusätz­liche Mords­ar­beit für die Autor*innen bedeuten würde, denn es müsste ja auch ganz und gar auf eigenen Recher­chen beruhen und wäre wohl nur von jemandem zu bewäl­tigen, der/die nicht haupt­säch­lich aka­de­mi­sche Texte wahr­nimmt, son­dern auf dem Gebiet der Pri­mär­li­te­ratur wahn­sinnig belesen ist. Ich wäre jedoch extrem dankbar, wenn ein kom­pe­tenter Mensch, z. B. die Schreib­technikerin, statt­dessen wenigs­tens mal eine Liste von erzähl­tech­nisch beson­ders gekonnten und inter­es­santen Erzähl­texten der Welt­li­te­ratur, vor­nehm­lich aus dem 20. Jh. (Romane, Novellen, Kurz­ge­schichten) als mög­li­chen STU­DI­EN­OB­JEKTEN zusam­men­stellen könnte.

    Hans-Georg Schoelzel
    1. Vielen herz­li­chen Dank fürs Feed­back! Und ja, meine Artikel könnten tat­säch­lich näher an der Praxis sein bzw. mehr Bei­spiele haben. Das Pro­blem ist leider tat­säch­lich die Umsetz­bar­keit. Für mich allein wäre dieser Mehr­auf­wand im Moment nicht zu schaffen. Ich notiere mir die Bitte um mehr Bei­spiele zu diesem Thema jedoch gerne als Idee für einen (Steady-)Live­stream; viel­leicht wäre wenigs­tens das eines Tages machbar.
      Nochmal vielen Dank für die Anre­gung!

  2. Dazu ein Tipp aus dem Buch „Die 50 Werk­zeuge für gutes Schreiben“: Mög­lichst viel selber lesen – und den Text der AutorInnen genau auf solche tech­ni­schen Fragen abklopfen. Ich muß ein­räumen, dass es bei mir inso­fern leicht ist, als ich sowieso eine Lese­ratte bin (und mein Mann auch, der hat die ganzen „Klas­siker“). Ich nehme mir ein Buch, das ich in den letzten Monaten gern gelesen habe und schaue bewußt auf die Per­spek­tiven-Frage, oder darauf, wie nah der oder die AutorIn jeweils den Prot­ago­nisten ist. Das hilft mir, ein „Gefühl“ dafür zu ent­wi­ckeln. Ich falle aber auch immer wieder auf ver­füh­re­ri­sche Außen-Beschrei­bungen rein und bedauere, dass ich dann doch darauf ver­zichten muss…

    Michaela Wöss

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