Viele Autoren schwören auf den Tipp, man solle die gewählte Erzählperspektive streng einhalten. Doch manchmal ist ein Perspektivwechsel besser. In diesem Artikel besprechen wir detailliert, was es mit dem Einhalten und Wechseln von Erzählperspektiven auf sich hat: Wann sollte man sie einhalten? Wann wechseln? Und was sollte man sonst noch beachten?
Die Folien für dieses Video gibt es für Steady-Abonnenten und Kanalmitglieder auf YouTube als PDF zum Download.
Ein häufiger Schreibtipp lautet, die gewählte Erzählperspektive streng einzuhalten. Manche sehen diesen Tipp sogar als regelrechte Schreibregel.
Was ich von Schreibregeln halte, habe ich bereits in einem eigenständigen Video erläutert. Kurz zusammengefasst bin ich der Meinung, dass es keine Schreibregeln gibt. – Nur Schreibtipps, die man befolgen kann oder auch nicht. Je nach dem, was die eigene Geschichte braucht.
Damit kann auch bei der Erzählperspektive jeder Autor frei entscheiden, ob er sie einhält oder nicht.
Was bedeutet es also, die gewählte Erzählperspektive einzuhalten? Worauf muss man achten? Und wann sind Perspektivwechsel sinnvoll? Wie setzt man sie am besten um?
Über all das reden wir in diesem Artikel.
Erzählperspektiven allgemein
Bevor wir jedoch über das Einhalten und Wechseln von Erzählperspektiven reden, müssen kurz auf Erzählperspektiven allgemein eingehen.
Wenn Du schon eine Weile dabei bist, dann weißt Du, dass ich die verballhornte Variante von Stanzels Typenkreis, die man in der Schule lernt, von ganzem Herzen ablehne. – Und davon abgesehen bin ich ohnehin ein Genette-Fangirl. Als solches operiere ich nur ungern mit den Konzepten „Ich-Erzähler“, „personaler Erzähler“ und „auktorialer Erzähler“. Den „neutralen Erzähler“ lehne ich als studierte Literaturwissenschaftlerin sowieso ab.
Wenn Du Dich mit Erzählperspektiven generell beschäftigen möchtest, dann empfehle ich meinen Artikel über Stanzels Typenkreis und die komplette Reihe zu Genettes Erzähltheorie.
Für diesen Artikel möchte ich aber dennoch zwei Punkte besonders betonen:
- In Stanzels Typenkreis gehen die drei Erzählsituationen fließend ineinander über. Die Erzählertypen sind also keineswegs strikt getrennt. Genette hingegen bröselt die Erzählperspektive in viele Einzelkategorien auf. Und die beiden einzigen Kategorien, die für das heutige Thema überhaupt von Interesse sind, sind Modus und teilweise Stimme. In den anderen drei Kategorien kommt es in den meisten Geschichten ganz natürlich zu Wechseln.
- Sowohl Stanzel als auch Genette beobachten in der Literatur völlig legitime Brüche der Erzählperspektive. Stanzel spricht in diesem Fall von einem dynamischen Erzähler. Genette hat in der Kategorie des Modus die variable Fokalisierung.
Bei Brüchen der Erzählperspektive sind vor allem zwei Teilaspekte von Bedeutung:
- die Fokalisierung, d.h. durch wessen Augen der Erzähler auf das Geschehen blickt, und
- ob der Erzähler hetero- oder homodiegetsich ist, was oft auf die Frage hinausläuft, ob der Erzähler in der ersten oder dritten Person
Auf diese Aspekte werden wir uns nachfolgend konzentrieren.
Tipps: Erzählperspektive einhalten
Der Tipp, die gewählte Erzählperspektive strikt einzuhalten, hat einen ganz einfachen Grund:
Dadurch kann sich der Leser ohne Brüche vom Erzählstrom treiben lassen.
Die Erzählperspektive definiert die Position, von der aus der Leser das Geschehen erlebt. Ein plötzlicher Wechsel bedeutet damit automatisch, dass der Leser gewissermaßen „entwurzelt“ wird: Plötzlich ist da eine Distanz zu den Figuren, mit denen er sich bisher identifiziert hat, der Text liest sich irgendwie falsch und die ganze Geschichte fühlt sich ganz anders an. Schlimmstenfalls ruiniert eine solche Entfremdung das gesamte Leseerlebnis.
Wenn Du also keinen guten Grund hast, dem Leser eine solche „Entwurzelung“ anzutun, dann halte die Erzählperspektive bitte ein.
Doch bevor Du die Erzählperspektive überhaupt einhalten kannst, musst Du sie sorgfältig auswählen. Damit Du später auch gar nicht erst in Versuchung kommst, sie zu brechen.
Kläre also möglichst frühzeitig für Dich selbst:
Was muss der Erzähler leisten? Welche Informationen muss er dem Leser vermitteln? Wie soll er diese Informationen vermitteln?
Aus Deinen Antworten auf diese Fragen ergeben sich weitere Überlegungen:
Wer ist der Erzähler bzw. durch wessen Augen blickt er? Wo befindet er sich innerhalb der Geschichte? Steckt er im Körper einer Figur oder schwebt er allwissend über dem Geschehen? Was weiß er und was weiß er nicht?
„Froschperspektive“: Ich-Erzähler, personaler Erzähler, interne Fokalisierung
Blickt der Erzähler durch die Augen einer Figur, spricht Genette von interner Fokalisierung. Bei Stanzel ist sie ein Aspekt der personalen und der Ich-Erzählsituation.
Erzählst Du die Geschichte also aus der Sicht einer oder mehrerer Reflektorfiguren, solltest Du an einem Grundprinzip festhalten:
Beachte nach Möglichkeit alle fünf Sinne der Reflektorfigur - und nur der Reflektorfigur.
Was nimmt diese Figur wahr und was nicht? Stimmen diese Wahrnehmungen mit der Wirklichkeit überein oder sind sie fehlerhaft? Der Blick durch die Augen einer Reflektorfigur sorgt für emotionale Nähe. Aber gleichzeitig ist der Leser von allem abgeschnitten, was nicht in den Wahrnehmungshorizont der Figur fällt. Damit ist er oft auch weniger in der Lage, die Fehler und Irrtümer der Figur als solche zu erkennen.
Ein häufiger Fehler beim Einhalten der internen Fokalisierung sind äußere Beschreibungen der Reflektorfigur:
„Pippin hatte die Knie angezogen und hielt den Ball zwischen ihnen. Er beugte sich tief darüber und sah aus wie ein naschhaftes Kind, das sich in einem Winkel fern von den anderen über eine Schüssel mit Essen hermacht.“
J. R. R. Tolkien: Der Herr der Ringe: Die zwei Türme, 3. Buch, 11. Kapitel: Der Palantír.
Hier kann Pippin selbst nicht wissen, dass er wie ein „naschhaftes Kind“ aussieht. Das ist ganz klar ein Blick von außen. Natürlich liegt beim Herrn der Ringe eine Nullfokalisierung vor und deswegen ist diese Stelle kein Bruch der Erzählperspektive. Doch viele unerfahrene Autoren binden solche Außenbeobachtungen gerne in ihre intern fokalisierten Erzählungen ein – und stören damit den Lesefluss ihrer Geschichte.
Manchmal erscheint eine Außensicht auf die Reflektorfigur jedoch notwendig. Üblicherweise entsteht das Problem am Anfang einer Geschichte, wenn der Autor das Aussehen seiner Reflektorfigur beschreiben will. Das hat zur Herausbildung der klischeehaften „Spiegelszene“ geführt:
In einer solchen Szene blickt die Reflektorfigur in den Spiegel, damit der Erzähler ihr Aussehen beschreiben kann.
Oft tragen solche „Spiegelszenen“ jedoch nichts zur Geschichte bei und sind mittlerweile – wie gesagt – ein Klischee. Wenn eine Spiegelszene in Deiner Geschichte jenseits der äußeren Beschreibung der Reflektorfigur keine Daseinsberechtigung hat, solltest Du auf sie verzichten.
Ebenfalls gefährlich für die interne Fokalisierung sind Begleitsätze bei Gedanken und Wahrnehmungen der Reflektorfigur:
„Fritzchen sah, wie Lieschen über die Straße lief. Sie hat es wohl eilig, dachte er.“
„Fritzchen sah“ und „dachte er“ schaffen Distanz zur Figur. Denn wenn wir etwas beobachten oder denken, dann denken wir in der Regel nicht daran, dass wir es sehen oder denken. Wir sehen und denken einfach. Und weil wir das Geschehen ja durch die Augen der Reflektorfigur beobachten, ist ohnehin klar, dass die Wahrnehmungen und Gedanken der Reflektorfigur gehören. Daher könnte das Beispiel von eben so umformuliert werden:
„Drüben beim Buchladen lief Lieschen über die Straße. Sie hatte es wohl eilig.“
„Vogelperspektive“: Auktorialer Erzähler, Nullfokalisierung
Die auktoriale Perspektive bzw. die Nullfokalisierung bietet dagegen mehr Möglichkeiten und ist leichter einzuhalten.
Denn hier kann der Erzähler beliebig zwischen dem Allwissen der „Vogelperspektive“ und den vielen „Froschperspektiven“ der einzelnen Figuren springen, ohne dass ein Bruch entsteht. Der Preis, den man zahlt, ist meistens eine schwächere emotionale Bindung zu den einzelnen Figuren.
Der Vorteil ist, dass die auktoriale Erzählsituation bzw. die Nullfokalisierung besser geeignet ist, um „größere“ Geschichten zu erzählen mit vielen Figuren, komplexen Zusammenhängen und verwobenen Handlungssträngen. Damit ist diese „Vogelperspektive“, die nach Belieben in die „Froschperspektiven“ einzelner Figuren „hineinzoomt“, ziemlich nah am Filmgenre mit seinem Wechsel zwischen Totalen und Großaufnahmen.
Ein literarisches Beispiel für einen gut umgesetzten Wechsel zwischen „Totalen“ und „Großaufnahmen“ ist Quo Vadis? von Henryk Sienkiewicz:
Während des Brandes vom Rom liefert der Erzähler allgemeine Beschreibungen, wie die unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen mit der Katastrophe umgehen, die allgegenwärtige Anarchie, die Ausbreitung des Feuers … Die Ausmaße der Tragödie und die politische und gesellschaftliche Bedeutung des Brandes werden spürbar. Doch gleichzeitig schlüpft der Erzähler hin und wieder in die Schuhe des Protagonisten Vinicius, der in dem allgemeinen Chaos seine Verlobte sucht. Damit geht die Geschichte des Protagonisten voran und der Leser spürt, was der Brand für ihn persönlich bedeutet.
Erzählen in der 1. und 3. Person: Homo- und heterodiegetischer Erzähler
Die einzige Art von Perspektivbruch, die beim nullfokalisierten Erzähler auftreten kann, ist der Wechsel zwischen einer Erzählung in der ersten und dritten Person. Also zwischen dem Ich- und dem Er-/Sie-Erzähler. Und selbst beim intern fokalisierten Erzähler fällt ein solcher Bruch sofort ins Auge, obwohl der Wahrnehmungshorizont eines personalen und eines Ich-Erzählers oft nahezu identisch ist.
Überlege Dir also genau, ob der Erzähler Teil der erzählten Welt sein soll oder nicht. Ob er zugleich der Protagonist ist oder nicht. Ob er das Wort „ich“ in den Mund nimmt oder nicht.
Während ein homodiegetischer Erzähler (Teil der erzählten Welt), immer „ich“ sagt, kann ein heterodiegetischer Erzähler (außerhalb der erzählten Welt) sich aussuchen, ob er das tut oder nicht. Doch wofür Du Dich auch entscheidest: Fälle die Entscheidung bewusst und halte an ihr fest!
Behalte stets im Hinterkopf, wo der Erzähler sich in Bezug auf die Geschichte befindet. Dann solltest Du auch nicht in Versuchung kommen, die erste und die dritte Person zu vermischen.
Ein nicht zu unterschätzender Aspekt der Entscheidung ist der Gebrauch von Pronomen, wenn die Hauptfigur mit anderen Figuren interagiert:
Mal angenommen, der Protagonist ist Fritzchen und der Erzähler benutzt die dritte Person. Wenn Fritzchen mit Lieschen spricht, kann der Erzähler ihre Namen durch „er“ und „sie“ ersetzen und es bleibt klar, wer was tut und sagt. Interagiert Fritzchen hingegen mit Max, ist jeder von ihnen ein „Er“.
Etwas weniger markant ist das Problem mit „sie“ als dritte Person Singular und dritte Person Plural. Denn hier gibt in der Regel die übrige Grammatik Aufschluss darüber, welches „sie“ gerade vorliegt – ob es also um Lieschen oder die vielen Menschen auf der Straße geht.
Sicher vor jeder Art von Verwechslungen ist dagegen die erste Person. Denn ein „Ich“ als Protagonist hat ein Personalpronomen für sich allein. Damit ist ein Ich-Erzähler ein bisschen „bequemer“ zu schreiben. Zumal das Wort „ich“ den Autor erfahrungsgemäß immer wieder an die eingeschränkte Perspektive der Reflektorfigur erinnert. Das verringert die Gefahr, in die auktoriale Erzählsituation abzudriften.
Damit ist ein Ich-Erzähler - mal abgesehen von den individuellen Anforderungen der jeweiligen Geschichte – für Anfänger tatsächlich besser geeignet als er Er-/Sie-Erzähler. Doch mit ein wenig Übung und Aufmerksamkeit steht der Er-/Sie-Erzähler dem Ich-Erzähler in nichts nach:
Um Verwechslungen beim „Er“ zu vermeiden, kann der Erzähler häufiger auf die Namen der Figuren zurückgreifen. Viele Autoren befürchten zwar, dass die ständige Namensnennung den Leser auf Dauer stören könnte. Doch erfahrungsgemäß ist das nicht der Fall. Über Namen wird – wie über häufige Wörter wie „sagte“ – oft einfach drübergelesen. Solange die Namen also nicht allzu penetrant benutzt werden, fällt ihre häufige Verwendung nicht auf.
Tipps: Erzählperspektive wechseln
Wir haben ja gerade gesagt:
- Die interne Fokalisierung baut Nähe zur Reflektorfigur auf.
Und:
- Die Nullfokalisierung ist gut geeignet, um „größere“ Geschichten zu erzählen.
Doch was ist, wenn man die Vorteile beider Fokalisierungen kombinieren möchte?
Folgende Möglichkeiten bieten sich an:
- Man kann den auktorialen nullfokalisierten Erzähler stärker und länger in das Innere der einzelnen Figuren „zoomen“ lassen.
- Man kann die Informationen, die dem intern fokalisierten Erzähler nicht vorliegen, in Dialogen und anderen Interaktionen einfließen lassen. Zum Beispiel können die anderen Figuren darin ihre Gefühle ausdrücken.
- Ansonsten können die anderen Perspektiven, größere Zusammenhänge und Überblicksdarstellungen auch in Binnenerzählungen untergebracht werden.
Aber natürlich kann man auch den Erzähler selbst „umpflanzen“ …
Mehrere „Ichs“ oder Reflektorfiguren
Gerade, wenn es in einer Geschichte mehrere Handlungsstränge gibt, die auch räumlich voneinander getrennt sind, bietet es sich an, zwischen deren „Froschperspektiven“ zu springen. Der Unterschied zum auktorialen bzw. nullfokalisierten Erzähler ist dabei, dass es keine allgemeinen Beschreibungen aus „Vogelperspektive“ gibt.
Sinnvoll ist solches „Perspektivspringen“ auch, wenn es mehrere Hauptfiguren gibt, die sich zwar alle an einem Ort befinden, aber gleich wichtig sind und eine relevante Charakterentwicklung durchmachen.
Und weil bei solchem „Perspektivspringen“ des Erzählers vieles schiefgehen kann, hier einige Tipps:
- Jede Reflektorfigur sollte für die Gesamtgeschichte eine Funktion haben. Wenn Du eine Perspektive einbaust, einfach weil Du in das Innenleben dieser Figur eintauchen möchtest, es aber nichts zur Geschichte beiträgt, dann ist diese Perspektive überflüssig. Vergiss nicht, dass Perspektivwechsel den Leser „entwurzeln“. Tu es ihm also nicht leichtfertig an! Sondern orientiere Dich lieber am Lied von Eis und Feuer: Hier haben die Ereignisse im Leben einer Figur oft direkte Auswirkungen für die anderen Handlungsstränge. Die Romane haben viele Perspektiven, aber sie sind alle miteinander verknüpft und tragen zur Gesamtgeschichte bei.
- Was das Lied von Eis und Feuer auch gut umsetzt, ist die Regel von nur einer Perspektive pro Kapitel. Klare Grenzen schwächen den „Entwurzelungseffekt“ der Perspektivsprünge ein wenig ab: Denn durch das Ende eines Kapitels wird der Lesefluss ohnehin kurz unterbrochen. Diese „Regel“ kann natürlich – wenn nötig – auch gebrochen werden. Die Perspektiven können sogar fließend ineinander übergehen. Das macht jedoch nur selten Sinn.
- Ein Problem, das Das Lied von Eis und Feuer nur teilweise bewältigen kann, sind die „Trennungsschmerzen“ mancher Leser am Ende eines Kapitels über ihre jeweilige Lieblingsfigur. Es liegt nun mal in der Natur der Leser, dass sie manche Figuren und Handlungsstränge lieber mögen als andere. Lieblingsperspektiven und Hassperspektiven sind da vorprogrammiert. Somit kann man dem auch nur bedingt entgegenwirken, indem man jede Perspektive – wie bereits empfohlen – relevant macht, die Figuren möglichst sympathisch und/oder interessant und jeden einzelnen Handlungsstrang möglichst spannend.
- Was mit interessanten Figuren einhergeht, sind die unterschiedlichen „Stimmen“ dieser Figuren: Wenn Fritzchens und Lieschens Kapitel sich völlig gleich lesen, geht ein guter Teil ihrer Individualität verloren und sie wirken weniger interessant. Jeder Mensch hat seine eigene Persönlichkeit, seine eigene Art der Wahrnehmung und seine eigene Sprache. Deswegen sollte der Leser idealerweise auch ohne Namensnennung erkennen können, aus wessen Sicht ein Kapitel erzählt wird.
- Das Umherspringen zwischen Perspektiven bringt auch die Gefahr von inhaltlichen Wiederholungen mit sich. Wenn also mehrmals dasselbe erzählt wird, nur aus verschiedenen Perspektiven. Das stört in der Regel den Lesefluss massiv, weil der Leser ja wissen will, wie es weitergeht, stattdessen aber erzählt bekommt, was er bereits weiß. Deswegen solltest Du solche inhaltlichen Wiederholungen nach Möglichkeit vermeiden: Wenn Fritzchen bereits vom Date mit Lieschen erzählt hat, dann reicht es, wenn Lieschen in ihrem Kapitel nur kurz erwähnt, dass es stattgefunden hat, oder nur einzelne Momente herauspickt, die ihr persönlich wichtig sind. Nacherzählungen von bereits Bekanntem sind nur sinnvoll, wenn sie etwas Relevantes zur Geschichte beitragen. In allen anderen Fällen sind solche Nacherzählungen ein No-Go.
- Wenn man Nacherzählungen aber vermeiden soll – Was ist, wenn man eine Szene mit mehreren Reflektorfiguren hat? Aus wessen Sicht sollte man erzählen? Die Antwort auf diese Fragen bekommst Du, wenn Du Dir einige Detailfragen stellst: Wessen Perspektive ist an konkret dieser Stelle am interessantesten? Für wen steht am meisten auf dem Spiel? Wer hat den interessantesten Konflikt? Wessen Perspektive passt am besten zum Zweck der Szene? Denke gut nach und wähle die Perspektive, die am sinnvollsten und spannendsten ist.
Interessante Beispiele
Das war aber alles nur allgemein und theoretisch. Die Möglichkeiten, wie Perspektivwechsel in der Praxis aussehen können, sind schier unendlich. Von Werken wie dem Lied von Eis und Freuer, in dem Perspektivspringen das erzählerische Grundprinzip bildet, bis hin zu Werken, in denen Perspektivwechsel nur selten vorkommen, ist alles erlaubt, solange es zur Geschichte passt.
Ein interessanter Einsatz von zwei sich abwechselnden Perspektiven als System findet sich im Krimi Der Tote im Salonwagen von Boris Akunin:
Hier versucht der Detektiv Erast Fandorin nicht den Mörder zu ermitteln: Der ist der Anführer einer linksradikalen Terrororganisation – und hat beim Mord buchstäblich die Unterschrift seiner Truppe hinterlassen. Bloß kann der Mörder nicht gefasst werden, weil offenbar jemand in den höheren Rängen der Polizei geheime Informationen an ihn weitergibt. Somit sucht Fandorin vor allem nach dem Verräter in den eigenen Reihen.
Fandorins Kapitel wechseln sich jedoch mit Kapiteln aus der Sicht Mörders ab. Der idealistische Grin versteht seinen Terror als Kampf für eine bessere und gerechtere Welt. Seit einiger Zeit bekommt er mysteriöse Post mit hilfreichen Geheiminformationen über die Pläne der Polizei. Und er will herausfinden, wer ihm hilft, warum und ob das alles nicht eine Falle ist. Am Ende begreift er, dass der mysteriöse Dritte seinen Idealismus nur für persönliche Zwecke missbraucht.
Dadurch entsteht ein interessantes Dreieck: Fandorin und Grin sind beide Protagonisten der Geschichte und der mysteriöse Dritte ist ihr gemeinsamer Antagonist. Gleichzeitig erfüllen Fandorin und Grin die Rolle eines weiteren Antagonisten für den jeweils anderen. Die beiden sich abwechselnden Perspektiven des Detektivs und des Terroristen definieren die facettenreiche Natur des Toten im Salonwagen.
Ein weiterer interessanter Fall ist auch Sansibar oder der letzte Grund von Alfred Andersch:
Hier wird jedes Kapitel aus der Sicht einer oder mehrerer Figuren erzählt. Und obwohl der Erzähler intern fokalisiert ist, kommt es mitten im Kapitel gerne mal zu Perspektivwechseln. Und in einem extremen Fall findet der Perspektivwechsel sogar mitten im Satz statt:
„Er bemerkte, daß Judith ihren Kopf ganz leicht wendete und ihn ansah, er war versucht, seinen Blick zu senken, aber in der gleichen Sekunde bezwang er das Gefühl, von dem er nun wußte, daß es Furcht war, und sie sahen sich an, noch immer spiegelte sich das Leuchtfeuer in ihren Augen, es glänzte auf und erlosch, ich kann die Farbe seiner Augen nicht erkennen, dachte Judith, ich stelle mir vor, daß sie grau sind, vielleicht von etwas hellerem Grau als sein Anzug, ich möchte ihn gern einmal bei Tag sehen, ich kenne nicht einmal seinen Namen, und Gregor fragte: Wie heißen Sie eigentlich?“
Alfred Andersch: Sansibar oder der letzte Grund, Kapitel 32: Judith – Gregor.
Die Perspektiven von Judith und Gregor, die sich zueinander hingezogen fühlen, verschmelzen hier zu einem Satz. Und wie sich an dessen Ende herausstellt, denken sie in diesem einen Moment tatsächlich dasselbe. Das Paar, das in dem Roman nicht zusammenkommt, ist zumindest für diesen Augenblick Eins.
Eine sehr seltene Art des Perspektivwechsels ist der Wechsel zwischen der Erzählung in der ersten und in der dritten Person. Wie bereits angedeutet, fällt ein solcher Wechsel in der Regel sehr stark ins Auge und ich kenne jenseits von Erstlingswerken voller Anfängerfehler kaum Beispiele dafür.
Was aber nicht heißen soll, dass es nicht gut umgesetzt werden kann. Einer meiner Lieblingsromane, Im Westen nichts Neues von Erich Maria Remarque, macht das nämlich vorbildlich:
Der komplette Roman wird durch einen Ich-Erzähler in der Präsensform erzählt. Nur das Ende – der Tod des Protagonisten wird auktorial und im Präteritum beschrieben. Damit hat der Autor bewusst die wohl brutalste Form der „Entwurzelung“ gewählt: Der Leser wird aus dem Inneren des Protagonisten geschleudert wie eine Seele aus einem plötzlich getöteten Körper.
Abschließende Bemerkungen
Dem aufmerksamen Leser wird aufgefallen sein, dass es noch einige andere Dinge zu erwähnen gibt:
Was ist, zum Beispiel, mit der Erzählung in der zweiten Person? Was mit dem seltenen – dafür aber umso mehr faszinierenden Du-Erzähler?
Tatsächlich hatte ich vor, diesem Thema einen ganzen Artikel zu widmen. Damals fand es in der KreativCrew jedoch keinen Anklang, also ließ ich es sein. Jetzt kam aus der KreativCrew aber doch der Wunsch nach der „Du-Perspektive“. Deswegen bekommt sie 2020 einen eigenen Artikel.
Ein anderes seltenes Phänomen sind Perspektiven, die für uns fühlende Wesen nur schwer nachvollziehbar sind. Zum Beispiel im Fall einer emotionslosen Alienrasse oder einer Maschine oder von etwas anderweitig Unbelebtem. Für solche Perspektiven gelten unterm Strich allerdings genau dieselben Prinzipien wie für die interne Fokalisierung bei menschlichen oder menschenähnlichen Figuren:
Vergiss nie, wer oder was Deine Reflektorfigur ist und was in ihren Wahrnehmungshorizont fällt und was nicht.
Wenn die Reflektorfigur also keine Gefühle kennt, dann wird sie vielleicht Lieschens Tränen und gesenkte Mundwinkel sehen. Sie wird es aber nicht unbedingt automatisch als Traurigkeit interpretieren. Oder sie wird es nur deswegen als Traurigkeit verstehen, weil sie irgendwann gelernt hat, dass Menschen so ihre Traurigkeit ausdrücken. Und darin liegt die Schwierigkeit einer unmenschlichen Reflektorfigur: Das Prinzip ist genauso wie bei Menschen oder menschenähnlichen Wesen, aber man muss auf klitzekleine Details achten, um die Perspektive auch wirklich einzuhalten.
Nicht zuletzt ist da auch noch der vielleicht wichtigste Punkt:
Egal, ob Du Dich fürs Einhalten einer bestimmten Perspektive entscheidest oder den Erzähler zwischen mehreren Reflektorfiguren umherspringen lässt:
Du wirst niemals alle Leser glücklich machen.
Manche Leser werden eine bestimmte Perspektive vermissen, andere werden die Sprünge oder zumindest bestimmte Reflektorfiguren hassen. Deswegen kommt es bei der Wahl einer oder mehrerer Perspektiven immer auf die Geschichte selbst an:
Was willst Du mit Deiner Erzählung erreichen? Was will Deine Zielgruppe? Und wie bringst Du beides am besten unter einen Hut?
Ich würde ganz dreist sagen: Wenn Du diese Fragen für Dich geklärt hast, ist das schon die halbe Miete.
In dem meisten Lehrbüchern zum Thema Erzähltechnik werden mir zu wenige BEISPIELE zitiert, anhand derer die Ausführungen anschaulich gemacht werden. So auch in dem obigen Artikel. Mir ist klar, dass solches eine zusätzliche Mordsarbeit für die Autor*innen bedeuten würde, denn es müsste ja auch ganz und gar auf eigenen Recherchen beruhen und wäre wohl nur von jemandem zu bewältigen, der/die nicht hauptsächlich akademische Texte wahrnimmt, sondern auf dem Gebiet der Primärliteratur wahnsinnig belesen ist. Ich wäre jedoch extrem dankbar, wenn ein kompetenter Mensch, z. B. die Schreibtechnikerin, stattdessen wenigstens mal eine Liste von erzähltechnisch besonders gekonnten und interessanten Erzähltexten der Weltliteratur, vornehmlich aus dem 20. Jh. (Romane, Novellen, Kurzgeschichten) als möglichen STUDIENOBJEKTEN zusammenstellen könnte.
Vielen herzlichen Dank fürs Feedback! Und ja, meine Artikel könnten tatsächlich näher an der Praxis sein bzw. mehr Beispiele haben. Das Problem ist leider tatsächlich die Umsetzbarkeit. Für mich allein wäre dieser Mehraufwand im Moment nicht zu schaffen. Ich notiere mir die Bitte um mehr Beispiele zu diesem Thema jedoch gerne als Idee für einen (Steady-)Livestream; vielleicht wäre wenigstens das eines Tages machbar.
Nochmal vielen Dank für die Anregung!
Dazu ein Tipp aus dem Buch „Die 50 Werkzeuge für gutes Schreiben“: Möglichst viel selber lesen – und den Text der AutorInnen genau auf solche technischen Fragen abklopfen. Ich muß einräumen, dass es bei mir insofern leicht ist, als ich sowieso eine Leseratte bin (und mein Mann auch, der hat die ganzen „Klassiker“). Ich nehme mir ein Buch, das ich in den letzten Monaten gern gelesen habe und schaue bewußt auf die Perspektiven-Frage, oder darauf, wie nah der oder die AutorIn jeweils den Protagonisten ist. Das hilft mir, ein „Gefühl“ dafür zu entwickeln. Ich falle aber auch immer wieder auf verführerische Außen-Beschreibungen rein und bedauere, dass ich dann doch darauf verzichten muss…
Ja, als Autor muss man vor allem viel lesen. Dadurch lernt man nicht nur die Tricks der „Meister“ kennen, sondern erweitert auch generell seinen schreiberischen Horizont. 👍
Habe gerade deinen Kanal entdeckt und bin BEGEISTERT !! Danke für diese kompetente, klare und niveauvolle Behandlung unserer Themen! Werde künftig alles konsumieren, was du anbietest…
Danke sehr fürs Lob und viel Spaß weiterhin mit meinem Content! 😊