Starke Frauen

Starke Frauen

Heut­zu­tage wollen alle Geschichten über starke Frauen erzählen. Von fried­li­cher Eman­zi­pa­tion bis hin zum Action Girl ist alles ver­treten. Und doch ver­kommen auch diese neuen Hel­dinnen schnell zu abge­dro­schenen Kli­schees. Wie erschafft man also inter­es­sante (!) starke Frauen? Und was ist eine „starke Frau“ über­haupt? Hier einige grund­le­gende Über­le­gungen …

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Vor­sicht, heute wird es explosiv! Denn wann immer man heut­zu­tage über Geschlech­ter­un­ter­schiede, Geschlech­ter­rollen und deren Dar­stel­lung in den Medien spricht, ent­steht viel Geschrei, viel Zoff und es hagelt Dis­likes. – Dabei ist es egal, was man sagt, für welche „Seite“ man sich aus­spricht oder ob man neu­tral bleibt.

Doch gleich­zeitig zeigt diese sen­sible Reak­tion vieler Men­schen, wie wichtig solche Themen sind. Wir haben bereits über Mary Sues gespro­chen sowie nach neuen Helden für Jungen und Männer gesucht.

Nun ist es aber an der Zeit, das Thema in seinen Grund­festen anzu­pa­cken. Zumin­dest die weib­liche Hälfte davon:

Moderne Geschichten sind voll von Ver­su­chen, starke Frau­en­fi­guren zu erschaffen.

Aber was macht eine starke Frau über­haupt aus?

Und wie ver­hin­dert man, dass die starken Frauen in der eigenen Geschichte zu platten Kli­schees ver­kommen?

Diesen äußerst wich­tigen Fragen gehen wir heute nach.

Was ist eine „starke Frau“?

„Starke Frau“ setzt sich zusammen aus: „stark“ und „Frau“. Holen wir also tat­säch­lich so weit aus und defi­nieren als erstes die Begriffe „Stärke“ und „Frau“.

Was ist „Stärke“?

Ich denke, wir sind uns alle einig, was kör­per­liche Stärke bedeutet:

  • Wenn man mehr kör­per­liche Kraft besitzt als der Durch­schnitt.

Sie äußert sich zum Bei­spiel darin, dass man schwere Gegen­stände heben oder hart zuschlagen kann.

  • Manchmal reden wir aber auch von Stärke, wenn das Fehlen einer beson­deren kör­per­li­chen Kraft durch andere Mittel kom­pen­siert wird:

Zum Bei­spiel durch Schuss­waffen, magi­sche Fähig­keiten, vir­tuose Kampf­technik oder poli­ti­sche und/oder gesell­schaft­liche Macht.

Doch ich denke, wir sind uns auch alle einig, dass es auch noch andere Arten von Stärke gibt:

  • Näm­lich die geis­tige, cha­rak­ter­liche, innere Stärke.

Und was das ist, vari­iert tat­säch­lich von Kultur zu Kultur, von Epoche zu Epoche und von Mensch zu Mensch. Ein Bei­spiel:

Bei uns im Westen wird es begrüßt, wenn jemand, der ein anderes Leben führen will als seine Familie für richtig hält, sich aktiv wehrt. Das liegt unter anderem daran, dass die west­eu­ro­päi­sche und US-ame­ri­ka­ni­sche Men­ta­lität sehr indi­vi­dua­lis­tisch ist. Die Inter­essen und die Frei­heit des Indi­vi­duums stehen über den Inter­essen der All­ge­mein­heit. Eine starke Per­sön­lich­keit weiß, was sie will, und setzt sich durch.

In fern­öst­li­chen Kul­turen hin­gegen ist es genau umge­kehrt: Die Inter­essen des Indi­vi­duums sind den Inter­essen der All­ge­mein­heit oder zumin­dest der Familie unter­ge­ordnet. Folg­lich gilt jemand, der zum Bei­spiel durch das Aus­leben seiner indi­vi­du­ellen Inter­essen die Gefühle seiner Familie ver­letzt, als infan­tiler Egoist. Eine starke Per­sön­lich­keit stellt ihre per­sön­li­chen Inter­essen hin­tenan, dient dem All­ge­mein­wohl und respek­tiert die älteren Fami­li­en­mit­glieder.

(Hier ein höchst inter­es­santer Artikel zu dem Thema: T. K. Mar­nell: Ame­rican vs. East Asian Sto­rytel­ling.)

Was ist „innere Stärke“ also? Das Über­winden wid­riger Umstände, um ein authen­ti­scheres Leben zu führen? Oder Rück­sicht auf die Gefühle anderer, Demut und Ver­ge­bung?

Oder beides?

Innere Stärke und das Indi­vi­duum

Schauen wir uns mal ein anderes Bei­spiel an:

Fritz­chen und Lies­chen und Max und Erika sind Paare. Fritz­chen und Erika gehen mit­ein­ander fremd. Lies­chen ist eine klein­laute Maus, die von Fritz­chen alles hin­nimmt und sich an ihn klam­mert. Wenn sie sich also von ihm trennt, zeigt sie Stärke. Max hin­gegen lässt nichts auf sich sitzen und schlägt immer zurück. Wenn er Erika aus Liebe ver­zeiht und ein­sieht, dass auch er nicht feh­lerlos ist, zeigt er Stärke.

Lies­chen und Max sind unter­schied­liche Men­schen mit unter­schied­li­chen Pro­blemen, obwohl sie sich in einer ähn­li­chen Situa­tion befinden. Des­wegen bedeutet Stärke für jeden von ihnen etwas anderes. Aber in beiden Fällen wird über den eigenen Schatten gesprungen.

Und wenn es eine all­ge­mein­gül­tige Defi­ni­tion von „innerer Stärke“ über­haupt geben kann, dann, denke ich, haben wir sie gerade eben for­mu­liert:

Innere Stärke ist die Kraft, über den eigenen Schatten zu springen.

Seine Ängste zu über­winden, seinen Stolz …

Innere Stärke braucht somit vor allem eine Schwäche.

Und letzt­end­lich ist das die Eigen­schaft, die in den „großen Geschichten“ wohl am meisten besungen wird. Oder wie Sam­weis Gamd­schie es am Ende von Die zwei Türme for­mu­liert, als Frodo kurz vorm Auf­geben ist:

„Die Leute in diesen Geschichten hatten stets die Gele­gen­heit umzu­kehren, nur taten sie es nicht. Sie gingen weiter. Weil sie an irgend­etwas geglaubt haben.“

Was auch immer die Werte deiner Figur also sind:

Wenn sie nach ihren Werten lebt (wel­cher Natur diese auch sein mögen) und dazu ihre Schat­ten­seiten über­windet (wei­ter­geht, obwohl Umkehren ein­fa­cher wäre), dann ist das eine starke Per­sön­lich­keit.

Und ich wage außerdem zu behaupten:

Eine starke Per­sön­lich­keit ist das, was eine Figur wirk­lich inter­es­sant macht. Kör­per­liche Stärke ist schön und gut – aber sie ist rein äußer­lich. Was den Leser tief berührt und inspi­riert, ist eher innere Stärke. Und das völlig unab­hängig vom Geschlecht der Figur.

Was ist eine „Frau“?

Auch hier lässt sich die Defi­ni­tion auf­brö­seln, näm­lich in sex und gender:

  • Sex: Rein bio­lo­gisch betrachtet ist eine Frau alles, was zwei X‑Chromosome hat. Aus diesen zwei X‑Chromosomen ergibt sich eine Hor­mon­mi­schung, die bestimmte kör­per­liche Merk­male und Ver­hal­tens­weisen begüns­tigt.
  • Gender: Gesell­schaft­lich betrachtet vari­iert die Vor­stel­lung davon, was eine Frau aus­macht, je nach Kultur und Epoche. Das schlägt sich in der Erzie­hung und anderen Umwelt­ein­flüssen nieder und begüns­tigt bestimmte Vor­stel­lungen und Ver­hal­tens­weisen.

Sowohl sex als auch gender sind Gegen­stand hit­ziger Dis­kus­sionen. Wäh­rend über die pri­mären und sekun­dären Geschlechts­merk­male einer Frau in der Regel Einig­keit herrscht, ist oft unklar, welche als „weib­lich“ gel­tenden Ver­hal­tens­weisen bio­lo­gisch und welche gesell­schaft­lich bedingt sind.

Sicher sagen kann man nur, dass es bei Geschlech­ter­un­ter­schieden – selbst bei ein­deutig bio­lo­gi­schen – grund­sätz­lich nur um Ten­denzen geht.

Ja, Männer sind ten­den­ziell größer und stärker als Frauen. Aber es gibt auch viele große, mus­ku­löse Frauen und kleine, schmäch­tige Männer.

Frauen und ihr Umfeld

Es ist daher grund­sätz­lich falsch, eine strenge Grenze zwi­schen den Geschlech­tern zu ziehen. Wir sind alle in erster Linie ein­fach nur Men­schen. Die Unter­schiede sind minimal. Und ein Mann und eine Frau, die einer bestimmten Gruppe ange­hören (zum Bei­spiel einer bestimmten sozialen Schicht) haben mehr mit­ein­ander gemeinsam als mit einem Mann bzw. einer Frau aus einer anderen Gruppe.

Des­wegen ist beim Erschaffen von weib­li­chen Figuren immer auch ihr Umfeld zu berück­sich­tigen.

Und beim Stich­wort „Umfeld“ denken wir auch schnell an Kul­turen und/oder frü­here Epo­chen mit tra­di­tio­nel­leren Vor­stel­lungen von Weib­lich­keit. Und wir fragen uns, inwie­fern eine Frau, die in einer sol­chen Kultur oder Epoche einen untra­di­tio­nellen Weg ein­schlägt, über­haupt rea­lis­tisch ist.

Ohne jemandem auf die Füße treten zu wollen, würde ich an dieser Stelle aber sagen, dass eine solche Fra­ge­stel­lung gewis­ser­maßen modernes Kli­schee­denken ist.

Denn es drängt alle Kon­zepte von Weib­lich­keit, die es auf der Welt gab und gibt, in zwei Schub­laden: „eman­zi­piert“ und „tra­di­tio­nell“. Dass es da ziem­lich viele ver­schie­dene Aus­prä­gungen gibt, fällt gerne unter den Tisch.

Zum Bei­spiel kann man grob sagen, dass die Geschlech­ter­rollen in Russ­land ten­den­ziell tra­di­tio­neller sind als in Deutsch­land. Ich stamme jedoch selbst aus Russ­land und muss da das ein oder andere große, dicke Aber anfügen. Am besten illus­triert das ein Artikel einer deut­schen Jour­na­listin, die eine Zeit lang in Russ­land gear­beitet hat. Leider ist es Jahre her, dass ich diesen Artikel gelesen habe. Ich habe den Link nicht abge­spei­chert und seit ca. drei Jahren ver­suche ich, diesen Artikel wie­der­zu­finden. Wenn Du ihn also fin­dest, sag mir bitte Bescheid und ich ver­linke ihn hier.

Aber nun zur Geschichte: Die deut­sche Jour­na­listin schreibt über Politik. Und sie merkt, dass in Deutsch­land viele über­rascht sind, dass sie als Frau über Politik schreibt. Auch in Russ­land reagierten die Men­schen auf sie mit Über­ra­schung – aber nicht wegen ihres Schwer­punktes „Politik“, son­dern weil sie sich nicht schminkt und keine hohen Absätze trägt. Ihre Kom­pe­tenz beim Thema Politik hat nie jemand ange­zwei­felt.

Man kann viele Gesell­schaften der unseren gegen­über­stellen. Und auch, wenn wir unsere eigene Kultur in vielen Fällen für pro­gessiver halten, müssen wir doch bedenken, dass wir das Andere stets aus einer sehr ein­ge­schränkten Per­spek­tive betrachten. Natür­lich halten wir unsere Kultur für besser. Wir haben ihre Werte mit der Mut­ter­milch ver­ab­reicht bekommen. Wir halten sie für die objek­tive Wahr­heit.

Doch wenn wir über Frauen in einer anderen Kultur und/oder einer anderen Zeit schreiben wollen, müssen wir unseren Hori­zont aus­weiten und sehr viel recher­chieren:

Wel­ches Frau­en­bild hat die aus­ge­wählte Kultur/Epoche genau? Woher kommt dieses Frau­en­bild? Und wie äußert sich das kon­kret im Alltag?

His­to­ri­sche Vor­bilder

Auch ist ein bestimmtes Frau­en­bild stets immer nur ein Bild. Und wie man mit einem Bild umgeht, ent­scheidet jedes Indi­vi­duum selbst. Des­wegen hat es in der Geschichte auch schon immer Frauen gegeben, die aus ihrer tra­di­tio­nellen Rolle her­aus­ge­bro­chen oder her­aus­ge­fallen sind:

  • Es gab Frauen, die als Männer ver­kleidet in den Krieg gezogen sind. Ein Bei­spiel aus dem Ame­ri­ka­ni­schen Unab­hän­gig­keits­krieg ist Deborah Sampson. Ein Bei­spiel aus den Napo­leo­ni­schen Kriegen ist Nadeschda Durowa, die nach ihrer Ent­lar­vung vom Zaren sogar ein Offi­zier­spa­tent bekam und ihren Dienst fort­setzen durfte.
  • Es gab aber auch Frauen, die sich gar nicht erst ver­kleiden mussten. Ein sol­ches Bei­spiel ist Ljud­mila Paw­lit­schenko: Mit ihren 309 Tref­fern gehört sie zu den effi­zi­en­testen Scharf­schützen des Zweiten Welt­krieges. Des­wegen kennt man sie im eng­lisch­spra­chigen Raum auch als „Lady Death“.
  • Manche Frauen wurden aber auch durch ihre kri­mi­nellen Machen­schaften berühmt, so zum Bei­spiel die Pira­tinnen Mary Read und Anne Bonny. Oder auch Sofja Perows­kaja, eine rus­si­sche Revo­lu­tio­närin, die maß­geb­lich an der Ermor­dung von Alex­ander II. betei­ligt war.

Das waren natür­lich nur einige wenige Bei­spiele …

  • Und von Herr­sche­rinnen und Por­no­kratie (d.h. Mätres­sen­herr­schaft) will gar nicht erst anfangen …

Damit halten wir fest:

Eine Frau, die ihre tra­di­tio­nelle Rolle ver­lässt, war in frü­heren Zeiten natür­lich keine Regel. Aber das war auch nicht unmög­lich.

Die Moti­va­tionen der eben auf­ge­zählten Frauen waren dabei so viel­fältig wie die Frauen selbst. Manche wurden schon früh in ihrem Leben aus unter­schied­li­chen Gründen als Jungen ver­kleidet, andere han­delten aus Liebe zu jemandem … Men­schen­leben sind immer sehr indi­vi­duell. Und so sind es auch mensch­liche Beweg­gründe.

Ich würde daher neben gründ­li­cher Recherche zur jewei­ligen Kultur bzw. Epoche auch nach Bio­gra­phien von Frauen suchen, die der Figur in Deiner eigenen Geschichte ähneln:

In wel­chen Fami­li­en­ver­hält­nissen sind diese Frauen auf­ge­wachsen? Wie hat sich ihr ganz per­sön­li­ches Welt­bild ent­wi­ckelt? Welche Werte und Ideale hatten sie? Wann genau und wie sind sie zum ersten Mal aus ihrer tra­di­tio­nellen Rolle her­aus­ge­fallen? Was haben sie dadurch gelernt?

Finde reale Vor­bilder für Deine Figur, schraube dann an ihr herum und mach sie indi­vi­duell. Und denke daran:

Regeln – und damit auch gesell­schaft­liche Rollen – mögen noch so sehr ver­an­kert sein. Doch jedes Indi­vi­duum kann immer ent­scheiden, ob es diese Regeln befolgt. Und wenn diese Regeln aus irgend­einem Grund die per­sön­li­chen Inter­essen des Indi­vi­duums ver­letzen, wird das Indi­vi­duum ent­weder klein­laut bei­geben oder aber Mittel und Wege suchen, diese Regeln zu umgehen. Wofür das Indi­vi­duum sich ent­scheidet, hängt vom indi­vi­du­ellen Cha­rakter ab.

Und daraus resul­tuert auch noch ein wei­terer Tipp:

Über­lege, was Dich dazu bringt, bestimmte Regeln zu bre­chen. Warum läufst Du bei Rot über die Straße? Warum spickst Du bei Prü­fungen? Und warum fährst Du schwarz?

Wenn Du aus prak­ti­schen, wirt­schaft­li­chen oder exis­ten­zi­ellen Gründen Regeln brichst, dann können das Frauen in noch so kon­ser­va­tiven Gesell­schaften auch.

Defi­ni­tion: „starke Frau“

Meiner Mei­nung nach wird beim Erschaffen von „starken Frauen“ oft „geschlampt“: Statt eine inter­es­sante Figur zu ent­wi­ckeln, wird auf Abkür­zungen zurück­ge­griffen. Bei­spiel­weise bekommt die Frau ein­fach tra­di­tio­nell männ­liche Eigen­schaften ver­passt oder es wird direkt eine im Prinzip kli­schee­haft männ­liche Figur kre­iert und ist nur rein äußer­lich weib­lich.

Dabei sollten „starke Frauen“ eigent­lich nicht schwie­riger zu erschaffen sein als „starke Männer“:

Denn eine „starke Frau“ ist vor allem ein starker Mensch weib­li­chen Geschlechts.

Natür­lich fällt die gesell­schaft­liche Prä­gung oft anders aus als bei Män­nern. Doch gesell­schaft­liche Regeln und Richt­li­nien sollten auch nicht über­be­wertet werden. Denn wir haben ja bereits gesehen: Es gibt keine Regeln ohne Aus­nahmen.

„Starke Frauen“ und inter­es­sante Frauen

Und weil Stärke rein inner­lich sein kann, muss eine „starke Frau“ streng­ge­nommen auch keine Krie­gerin sein. Wenn wir uns ansehen, was Aschen­puttel alles erträgt, ohne eine ver­bit­terte Men­schen­has­serin zu werden, müssen wir auch sie als „starke Frau“ bezeichnen. Aber ob es sie auto­ma­tisch zu einer inter­es­santen Figur macht, steht auf einem anderen Blatt.

Dass inter­es­sante Frau­en­fi­guren gerne aus ihrer tra­di­tio­nellen Rolle her­aus­fallen, hat, denke ich, einen ganz ein­fa­chen Grund: Figuren in Kon­flikt mit der ganzen Gesell­schaft sind ein­fach span­nend. Denn gute Geschichten leben von Kon­flikten. Und wenn Figuren einen Kon­flikt mit ihrer eigenen Iden­tität (zum Bei­spiel als Frau) haben, dann ist das umso besser: Denn so haben wir auch einen schönen inneren Kon­flikt.

Und das ist der Punkt, der die „starke Frau“ Aschen­puttel meiner Mei­nung nach wirk­lich lang­weilig macht:

Sie ist stark, ja, aber sie hat keinen inter­es­santen Kon­flikt. Natür­lich leidet sie. Aber sie ist inner­lich so rein und per­fekt, dass sie von vorn­herein bes­tens aus­ge­stattet ist, um die Unmensch­lich­keit ihr gegen­über zu ertragen.

Ganz ehr­lich? Ich würde zu gerne sehen, wie Aschen­puttel durch die Miss­hand­lungen sei­tens ihrer Familie all­mäh­lich – wie jeder nor­male Mensch es täte – Aggres­sionen kriegt. Ich will passiv aggres­sives Ver­halten sehen, gewürzt mit Rache- und Mord­fan­ta­sien. Und einen stän­digen inneren Kampf, um die eigene Mensch­lich­keit zu bewahren. Und eine post­trau­ma­ti­sche Belas­tungs­stö­rung statt eines Hap­pily Ever After wäre sicher­lich auch span­nend.

Frauen in der Lite­ra­tur­ge­schichte

Eigent­lich ist das ein Thema für ganze Lite­ra­tur­wis­sen­schaft­ler­kar­rieren. Fasst man es jedoch mög­lichst knapp zusammen, kann man bei der tra­di­tio­nellen Dar­stel­lung von Frauen zwei Grund­ten­denzen fest­halten:

  • die Hei­lige:
    Sie ist in der Regel jung, schön und so unschuldig wie es nur mög­lich ist. Sie ist voller Mit­ge­fühl, meis­tens reli­giös und natür­lich Jung­frau. Typi­scher­weise ist sie außerdem blond und blau­äugig. In Geschichten ist sie der pas­sive Love Inte­rest des Helden, die Beloh­nung für seine Mühen und hat abge­sehen von ihrer engel­haften Per­fek­tion keinen nen­nens­werten Cha­rakter. In eher düs­teren Geschichten ist sie ein unschul­diges Opfer, das ent­weder grausam ermordet oder gefangen gehalten wird.
  • die Hure:
    Sie ist die Per­so­ni­fi­ka­tion von Sünde, Laster und allem, was schlecht ist. Dabei muss sie nicht buch­stäb­lich eine Hure – im Sinne von: Pro­sti­tu­ierte – sein, son­dern kann auch in Gestalt einer häss­li­chen Hexe auf­tau­chen. Oft ist sie aber tat­säch­lich schön – oder viel­mehr: sexy. In diesem Fall ver­dreht sie Män­nern durch ihren Sex­ap­peal den Kopf und treibt sie ins Ver­derben. Kurzum: Wie auch immer ihre Gestalt aus­sehen mag – Sie ist vor allem ein Monster.

Das Pro­blem ist, dass weder die eine noch die andere Grund­ten­denz die Frau wirk­lich als Mensch dar­stellt. Frei­lich gibt es auch bei Män­nern eine gefähr­liche Kli­schee-Dicho­tomie, die wir bereits in einem frü­heren Artikel ange­spro­chen haben. Doch bei den Män­nern ist zumin­dest auf der einen Seite ein Held mit Zielen und Wün­schen. Wenn eine Frau etwas errei­chen will, ist sie über­durch­schnitt­lich oft eine „Hure“.

Diese Dicho­tomie hat auch den Nach­teil, dass Frauen tat­säch­lich oft als reiner und unschul­diger wahr­ge­nommen werden als sie sind. Und manche Frauen nutzen das aus, indem sie das „Unschul­dige Frau als Opfer“-Klischee aus­spielen. Diese beiden Schub­laden lie­fern auch eine gute Grund­lage für frus­trierte Männer, die alle Frauen für Huren halten. Und auch „Sluts­ha­ming“ hat hier seine Wur­zeln. Mit anderen Worten:

Die Heilige-vs.-Hure-Dichotomie ent­mensch­licht Frauen.

Bemer­kens­werte Bei­spiele und ein neuer Archetyp

Inter­es­sant ist in diesem Zusam­men­hang die Figur der Sonja Mar­me­la­dowa aus Dos­to­jew­skis Ver­bre­chen und Strafe. Denn sie ist eine hei­lige Hure:

Sie ist zutiefst reli­giös, unschuldig des Dieb­stahls beschul­digt und stig­ma­ti­siert, und sie ist eine Art Mentor-Figur für den Prot­ago­nisten Ras­kol­nikow. Aber gleich­zeitig pro­sti­tu­iert sie sich, um ihre Familie durch­zu­füt­tern. Im Prinzip ist das ein hei­liges Mär­ty­rium. Und dabei ist ihre Figur psy­cho­lo­gisch rea­lis­tisch: Sie ist heilig, aber nicht so per­fekt wie Aschen­puttel. Sie denkt durchaus an Selbst­mord. Doch die Ver­ant­wor­tung für ihre Familie und ihre Fröm­mig­keit halten sie davon ab.

Inter­es­sant sind auch die Romane Juli­ette und Jus­tine vom Mar­quis de Sade:

Juli­ette und Jus­tine sind ver­waiste, mit­tel­lose Schwes­tern, die völlig gegen­sätz­liche Lebens­wege ein­schlagen. Wäh­rend die tugend­hafte Jus­tine von allem und jedem miss­han­delt wird, wird Juli­ette Pro­sti­tu­ierte, begeht Ver­bre­chen, nimmt an einer Viel­zahl von Orgien teil und wird schließ­lich reich und glück­lich. Die Vor­stel­lung, dass die Hei­lige siegt und die Hure ver­liert, wird hiermit umge­dreht.
(Eine Lek­türe will ich an dieser Stelle aber nicht unbe­dingt emp­fehlen. Wir spre­chen hier immerhin von einem Autor, aus dessen Namen der Begriff „Sadismus“ ent­standen ist.)

In jün­gerer Zeit gibt es immer wieder den Trend, Frauen mit ste­reotyp männ­li­chen Eigen­schaften zu ver­sehen. Das Ergibnis sind der Archetyp des Action Girls und seine zahl­rei­chen Unter­typen: Unterm Strich also Frauen, die in tra­di­tio­nell männ­liche Domänen vor­dringen und – wie der Name bereits andeutet – zu Action-Krie­ge­rinnen werden.

Es gibt dabei – wie bei jedem anderen Archetyp auch – sowohl gute als auch schlechte Umset­zungen. Das ist meiner Mei­nung nach ein klares Zei­chen dafür, dass ein neuer Archetyp an sich das Pro­blem nicht löst. Schlimms­ten­falls erschafft es sogar eine Reihe neuer Kli­schees, die uns sys­te­ma­tisch auf die Nerven gehen.

Nein … Um Kli­schees zu ver­meiden, muss man zum wirk­li­chen Kern des Pro­blems vor­dringen.

Das „Geschlecht“ von Geschichten

Das ist natür­lich eine sehr sub­jek­tive Beob­ach­tung, aber ich würde behaupten, dass es spe­zi­fisch weib­liche und spe­zi­fisch männ­liche Geschichten gibt: Das sind Geschichten, in denen das Geschlecht der Haupt­figur nicht durch das andere Geschlecht ersetzt werden könnte. Es geht also sehr stark darum, dass die Haupt­figur weib­lich bzw. männ­lich ist.

  • Bei­spiele für spe­zi­fisch weib­liche Geschichten sind Mulan, Die Geisha und Anna Kare­nina. Diese Geschichten würden ein­fach nicht funk­tio­nieren, wenn ihre Prot­ago­nisten Männer wären.
  • Bei­spiele für spe­zi­fisch männ­liche Geschichten sind Top Gun, Napola – Elite für den Führer und Fight Club. Hier würde es keinen Sinn ergeben, wenn die Prot­ago­nisten Frauen wären.

Solche geschlechts­spe­zi­fi­schen Geschichten sind meiner Mei­nung nach jedoch eher selten. Denn die meisten Geschichten halte ich für geschlechts­neu­tral: Hier kann das Geschlecht der Haupt­figur umge­dreht werden, ohne dass es an der Grund­struktur der Geschichte etwas ändert.

  • Bei­spiele für geschlechts­neu­trale Geschichten sind Der Herr der Ringe, Harry Potter und Star Wars. Würde man hier das Geschlecht der Haupt­fi­guren umkehren, würden sich natür­lich klei­nere und grö­ßere Details und Plot­punkte ändern. Doch wenn sich Har­riet Potter zum Bei­spiel in Cedric Dig­gory statt Cho Chang ver­liebt hätte, wäre es immer noch eine Geschichte von einem Kind geblieben, das das Geheimnis um den Stein der Weisen und die Kammer des Schre­ckens lüftet, dem Dunklen Lord ent­ge­gen­treten muss, sich selbst opfert und das Böse besiegt. Das Geschlecht der Haupt­figur spielt da eher eine unter­ge­ord­nete Rolle. Es geht in diesen Geschichten eben nicht darum, dass Frodo, Harry Potter und Luke Sky­walker männ­lich sind.
  • Auch viele Kriegs­ge­schichten, klas­si­sche Lite­ratur und Geschichten über his­to­ri­sche Ereig­nisse halte ich für im Grunde geschlechts­neu­tral: Dass die Figuren in der Regel männ­lich sind, ergibt sich his­to­risch. In den Geschichten selbst geht es aber weniger um Männ­lich­keit und die Rolle des Mannes in der Gesell­schaft, son­dern um all­ge­mein­mensch­liche Werte und Erfah­rungen – um Dinge, die Frauen in einer ver­gleich­baren Situa­tion ähn­lich emp­finden würden.

Dass das Umswit­chen der Geschlechter in sol­chen Geschichten tat­säch­lich funk­tio­nieren kann, zeigt übri­gens die Disney-Adap­tion der Schatz­insel. Dass die Figuren im ursprüng­li­chen Roman fast alle männ­lich sind, ist rein his­to­risch bedingt. In Der Schatz­planet ver­setzt Disney die Geschichte in ein fan­tas­ti­sches Sci­ence Fic­tion-Set­ting und ersetzt Cap­tain Smol­lett durch die weib­liche Cap­tain Amelia. Der Kern der Geschichte bleibt aber erhalten und auch die anderen Figuren hätten locker durch Frauen ersetzt werden können.

Das Pro­blem in den Sto­rytel­ling-Trends der Lite­ra­tur­ge­schichte ist meiner Mei­nung nach nicht das Fehlen krie­ge­ri­scher Frauen, son­dern dass geschlechts­neu­trale Geschichten viel öfter von Män­nern erzählen als von Frauen.

Die Männer werden somit implizit als „Stan­dard-Geschlecht“ hin­ge­stellt. Inter­es­sante, starke weib­liche Prot­ago­nisten gibt es ten­den­ziell eher bei spe­zi­fisch weib­li­chen Geschichten. All­ge­mein­mensch­liche Ange­le­gen­heiten werden sys­te­ma­tisch männ­li­chen Figuren über­lassen.

Doch zum Glück gibt es geschlechts­neu­trale Geschichten mit weib­li­chen Haupt­fi­guren in letzter Zeit immer öfter. Die Tri­bute von Panem ist so ein Bei­spiel:

Das Schöne an Kat­niss Ever­deen ist nicht, dass sie ein Action Girl ist, son­dern dass sie eine fein und glaub­würdig her­aus­ge­ar­bei­tete Figur ist. Und wenn man an dem ein oder anderen Detail schraubt, könnte Kat­niss auch genauso gut männ­lich sein und die Geschichte würde trotzdem im Großen und Ganzen funk­tio­nieren.

Ein­zig­ar­tige, mehr­di­men­sio­nale Figuren

Nach all diesen Aus­füh­rungen lautet mein „Rezept“ für wei­test­ge­hend kli­schee­freie „starke Frauen“ wie folgt:

  • Hänge Dich nicht an Arche­typen auf und ver­suche nicht gezielt, eine „starke Frau“ zu erschaffen.
  • Kon­zen­triere Dich viel­mehr darauf, eine starke Figur zu erschaffen. Sofern es keine spe­zi­fisch weib­liche Geschichte ist, stelle das Geschlecht mehr in den Hin­ter­grund.
  • Wenn es eine spe­zi­fisch weib­liche Geschichte ist und/oder das Set­ting die Geschlech­ter­rolle wichtig macht, dann recher­chiere die Kultur bzw. Epoche und suche reale Vor­bilder.
  • Denke bitte außerdem auch in anderen Punkten an Rea­lismus: Eine noch so kämp­fe­ri­sche Frau ist immer noch ein Mensch und damit auch für die psy­chi­schen Folgen von Gewalt anfällig. Wenn eine Frau durch das Töten trau­ma­ti­siert wird, dann ist sie nicht schwach, son­dern ein glaub­wür­diger Mensch.
  • „Starke Frauen“ müssen auch nicht unbe­dingt Kämp­fe­rinnen sein und/oder alles tra­di­tio­nell „Weib­liche“ ablehnen. Denn wirk­liche Stärke hat nichts mit Geschlech­ter­ste­reo­typen zu tun.
  • Es ist übri­gens auch sinn­voll, auch weib­liche Neben­fi­guren gut her­aus­zu­ar­beiten. Wie viele weib­liche Neben­fi­guren eine Geschichte über eine „starke Frau“ braucht, hängt sehr stark von der Geschichte selbst ab. Manche Geschichten lassen sehr viele Frauen zu; in anderen Geschichten – bei­spiels­weise sol­chen, die von als Sol­daten ver­klei­deten Frauen han­deln – wird das eher schwierig. Viel wich­tiger ist aber, wie die weib­li­chen Neben­fi­guren dar­ge­stellt werden. Denn wenn nur die Heldin eine nen­nens­werte Per­sön­lich­keit besitzt und die anderen Frauen nur Kli­schees ver­kör­pern, hat der Autor die Pro­bleme bei der Dar­stel­lung von Frauen offenbar immer noch nicht ver­standen.

Mit anderen Worten:

Erschaffe inter­es­sante, starke und glaub­wür­dige Figuren weib­li­chen Geschlechts und reibe dem Leser um Him­mels Willen nicht unter die Nase, dass es eine „starke Frau“ ist.

4 Kommentare

  1. Toller Artikel mit vielen wich­tigen Punkten!
    Nur eine Sache möchte ich ergänzen: Meiner Mei­nung nach sind nicht nur Figuren „stark“, die feste Werte haben und über ihren Schatten springen, son­dern auch solche, die an ihren Werten fest­halten, auch wenn alles dagegen spricht.
    Eine der berüh­rendsten Szenen in Harry Potter ist für mich, wie Harry am Ende des 5. Teils sich dagegen auf­lehnt, von Vol­de­mort über­nommen zu werden. Obwohl er am Boden liegt, Vol­de­mort kräf­te­mäßig absolut unter­legen ist, und auch gerade erst Sirius ermordet wurde, hält er an seinen Glauben an das Gute in der Welt und seine Freunde fest und über­windet so Vol­de­morts Macht. Bei der Szene muss ich jedes Mal wieder heulen ;_;

    Kuma
    1. Danke fürs Lob!
      Ich denke, feste Werte zu haben und an ihnen fest­zu­halten, obwohl alles dagegen spricht, ist das­selbe. Denn man kann an seinen Werten ja nur fest­halten, wenn man sie hat und wenn sie fest sind. Die Szene, die Du beschreibst, passt, würde ich sagen, also durchaus zum Über­winden von Schwächen/Schatten: Harry ist geschwächt (und gene­rell schwä­cher als Vol­de­mort), aber er über­windet diese Schwäche.

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