Neutraler Erzähler und unzuverlässiger Erzähler

Neutraler Erzähler und unzuverlässiger Erzähler

Wenn man über Erzäh­ler­typen redet, taucht unter anderem der Begriff “neu­traler Erzäh­ler” auf. Dabei gilt die Vorstel­lung von einem neu­tralen Erzäh­ler in der heuti­gen Lit­er­atur­wis­senschaft aus gutem Grund als Unsinn. Denn eigentlich ist jed­er Erzäh­ler poten­tiell unzu­ver­läs­sig. — Warum? Das erfährst Du in diesem Artikel: Denn hier geht es um die Irrtümer hin­ter dem neu­tralen Erzäh­ler und die Logik hin­ter dem unzu­ver­läs­si­gen Erzäh­ler.

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Meine Schulzeit ist nun viele Jahre her und heute weiß ich, dass mir dort viel Unsinn beige­bracht wurde. Das gilt natür­lich auch für den Deutschunter­richt: Denn da tauchte immer wieder der Begriff “neu­traler Erzäh­ler” auf. Nach meinem lit­er­atur­wis­senschaftlichen Studi­um weiß ich aber: Ein Erzäh­ler ist nie, nie, NIE! neu­tral.

Denn jed­er Erzäh­ler ist poten­tiell unzu­ver­läs­sig!

Warum ein Erzähler nie neutral ist

1979 erschien die erste Aus­gabe von The­o­rie des Erzäh­lens von Franz Karl Stanzel. Heute gilt es als Stan­dard­w­erk der Erzählthe­o­rie, aber: Es gab zahlre­iche Über­ar­beitun­gen. Eine beson­ders wesentliche war ganz am Anfang:

In der ursprünglichen Ver­sion hat­te Stanzels Erzählthe­o­rie näm­lich vier Erzäh­ler­typen:

  • Ich-Erzäh­ler
  • auk­to­ri­aler Erzäh­ler
  • per­son­aler Erzäh­ler
  • neu­traler Erzäh­ler

Beson­ders bezüglich des neu­tralen Erzäh­lers hagelte es Kri­tik und bere­its in der zweit­en Aus­gabe ent­fer­nte Stanzel ihn aus dem Mod­ell.

Aber was heißt das nun? Es gibt keinen neu­tralen Erzäh­ler? Aber was ist mit dem “Cam­era-Eye”? Was ist mit dieser Art von Erzäh­ler, der lediglich nur eine nüchterne Beschrei­bung der äußeren Vorgänge liefert, der nicht wertet und sich generell im Hin­ter­grund hält und nicht wahrnehm­bar ist?

“Kamera” vs. Objektivität

Nun, das “Cam­era-Eye” find­et sich in Stanzels Mod­ell dur­chaus: Der auk­to­ri­ale Erzäh­ler ist jemand, der dur­chaus “Ich” sagen kann, es aber nicht muss. Sagt er “Ich”, macht er sich sicht­bar. Macht er jedoch einen Schritt in Rich­tung der per­son­alen Erzählsi­t­u­a­tion, wird er zu einem auk­to­ri­alen Erzäh­ler, der sich im Hin­ter­grund hält.

Und zwis­chen diesem Punkt und dem Beginn des per­son­alen Erzäh­lers liegt die „szenis­che Darstel­lung“. — Die Darstel­lung der Ereignisse wie durch eine Kam­era: nüchtern, unsicht­bar und schein­bar neu­tral und objek­tiv.

Neutraler Erzähler und unzuverlässiger Erzähler

Was man bei “Kam­eras” allerd­ings immer im Hin­terkopf behal­ten muss, ist, dass sie nie die objek­tive Real­ität wiedergeben.

Hier zum Beispiel zwei Fotos von meinem St. Peters­burg-Urlaub, genauer gesagt aus dem Dorf Man­dro­gi:

Neutraler Erzähler und unzuverlässiger Erzähler

Was ist das also für ein Ort? Ein ruhiges Plätzchen, wo man entspan­nte Waldspaziergänge machen kann?

Äh, nein.

Man­dro­gi ist eine Sta­tion für Kreuz­fahrtschiffe auf der Strecke zwis­chen St. Peters­burg und Moskau, den bei­den Haupt­städten Rus­s­lands. Scharen von Touris­ten erkun­den die Museen rund um Handw­erk, Tra­di­tio­nen und das Leben auf dem Land generell. Von einem Wod­ka-Muse­um bis zum Stre­ichel­zoo ist dort alles vertreten und man ver­bringt dort ganz lock­er einen ganzen aben­teuer­lichen, laut­en Tag. Für meine bei­den oberen Fotos habe ich die bei­den wahrschein­lich einzi­gen ruhi­gen Plätzchen aus­ge­sucht. Jew­eils rechts und links von den Blick­en auf den Wald herrschte eigentlich viel Trubel.

Wir hal­ten also fest:

Eine Kam­era ist nie neu­tral: Sie zeigt immer nur einen sorgfältig aus­gewählten Auss­chnitt — und wir wis­sen nie, was alles aus dem Bild aus­ge­lassen wurde.

Neutralität und Unzuverlässigkeit

Das­selbe Prinzip wie bei der Kam­era gilt auch fürs Erzählen:

Denn wenn es eine Erzäh­lung gibt, gibt es immer jeman­den, der erzählt.

Und Erzählen ist per def­i­n­i­tionem ein „Fil­ter­prozess“:

  • Welche Vor­fälle wer­den für die Geschichte aus­gewählt?
  • Wie wer­den diese Vor­fälle ange­ord­net?
  • Wie wer­den diese Vor­fälle präsen­tiert?

Der­jenige, der erzählt, bes­timmt somit die Auswahl, Anord­nung und Präsen­ta­tion der Vor­fälle!

Damit ist Erzählen automa­tisch eine Ver­fälschung der objek­tiv­en Ereignisse.

Und daraus resul­tiert:

Jed­er Erzäh­ler ist poten­tiell unzu­ver­läs­sig!

5 Parameter der Perspektive

Wer diese Seite schon etwas länger ken­nt, weiß, dass ich ein Fan von Wolf Schmid bin. Er ist ein deutsch­er Slaw­ist und hat außer­dem seine eigene Erzählthe­o­rie. Darin schlägt er fünf Para­me­ter der Per­spek­tive vor, die man, wie ich finde, beson­ders gut anwen­den kann, um das, was der Erzäh­ler einem erzählt, zu hin­ter­fra­gen:

  • räum­liche Per­spek­tive: Die Posi­tion im Raum bes­timmt, welche Bruchteile des Gesamt­geschehens man wahrn­immt.

    Wenn der Erzäh­ler vor einem Haus ste­ht, weiß er nicht, was sich innen drin oder dahin­ter abspielt. Wenn der Erzäh­ler sich in Ameri­ka befind­et, sieht er nicht, was in Afri­ka stat­tfind­et. Wenn der Erzäh­ler hin­ter ein­er anderen Per­son ste­ht, sieht er ihr Gesicht nicht.

  • ide­ol­o­gis­che Per­spek­tive: Wis­sen, Denkweise und Werte bes­tim­men mit, was man wie wahrn­immt.

    Während ein Durch­schnitts­bürg­er einen Tippfehler auf der Getränkekarte eines Restau­rants überse­hen oder ignori­eren wird, wird ein Rechtschreibfetis­chist ihm seine ganze Aufmerk­samkeit wid­men. Damit kön­nen zwei unter­schiedliche Per­so­n­en, die sich an ein und dem­sel­ben Ort befind­en und densel­ben Vor­fall sehen, völ­lig unter­schiedliche Dinge wahrnehmen. Wir alle haben unsere indi­vidu­ellen Schw­er­punk­te, worauf wir acht­en, wenn wir durch die Welt gehen.

  • zeitliche Per­spek­tive: Der zeitliche Abstand zum Geschehen bee­in­flusst eben­falls die Wahrnehmung.

    Zwis­chen dem eigentlichen Erfassen eines Ereigniss­es und der Wieder­gabe verge­ht in der Regel einige Zeit. Und in dieser Zeit kann viel passieren: Hin­ter­grund­in­for­ma­tio­nen, Neube­w­er­tung des Wahrgenomme­nen, Vergessen von Details.

  • sprach­liche Per­spek­tive: Durch unter­schiedliche Sprache kann das­selbe Geschehen unter­schiedlich präsen­tiert wer­den.

    Die Wort­wahl und die konkreten For­mulierun­gen und Beto­nun­gen kön­nen das Innen­leben zum Zeit­punkt des Erfassens wieder­spiegeln oder eben auch nicht. Man kann einen bes­timmten Slang ver­wen­den — oder auch nicht. Außer­dem hat Sprache Ein­fluss auf unsere Gedanken­welt und damit auch auf unsere Wahrnehmung.

  • perzep­tive Per­spek­tive: Eine Per­spek­tive kann durch das Pris­ma ein­er Fig­ur geprägt sein oder auch nicht (trotz Innen­sicht).

    Der Erzäh­ler eines fik­tionalen Textes hat die Wahl, durch wessen “Augen” er auf das Geschehen blickt: Durch seine eige­nen oder die ein­er bes­timmten Fig­ur? Und wenn er durch die Augen ein­er Fig­ur blickt: Übern­immt er die Wahrnehmungen der Fig­ur und hält sich im Hin­ter­grund oder hat er trotz gle­ich­er Augen einen eige­nen Kopf und nimmt Dinge wahr, die der Fig­ur gar nicht auf­fall­en?

(Wolf Schmid: Ele­mente der Nar­ra­tolo­gie, 2. Auflage 2008, S. 130 ff.)

Diese fünf Para­me­ter kann man nun auf jede Erzählper­spek­tive anwen­den und sehen, wie das Bild, das dem Leser ver­mit­telt wird, über­haupt zus­tandekommt. Damit bekom­men wir eine unge­fähre Ahnung vom Grad der “Ver­fälschung” der objek­tiv­en Ereignisse.

Unzuverlässiger Erzähler ≠ unzuverlässiger Erzähler

Nun will aber natür­lich nicht jed­er Autor seine Leser “anlü­gen”, denn:

  • Oft genug wollen Autoren ein­fach nur eine Geschichte erzählen:
    Der Fokus liegt auf der Hand­lung und was der Erzäh­ler sagt, ist (inner­halb der fik­tiv­en Welt) auch tat­säch­lich so passiert.
  • Oft gibt der Erzäh­ler auch nur die sub­jek­tive Wahrnehmung ein­er Fig­ur wieder:
    Ja, der Erzäh­ler erzählt vielle­icht Dinge, die nicht stim­men, aber es sind eigentlich die Irrtümer der Fig­ur, durch deren Pris­ma der Erzäh­ler erzählt. Also die Fig­ur irrt sich und der Erzäh­ler irrt sich mit.
  • Manche Erzäh­ler laden indi­rekt zum Hin­ter­fra­gen der Erzäh­lung ein:
    In eini­gen Sit­u­a­tio­nen ist schnell klar, dass die Erzählper­spek­tive eigen­willig und daher zu hin­ter­fra­gen ist.
  • Und einige Erzäh­ler führen den Leser (gezielt) in die Irre:
    Der Erzäh­ler erzählt von Din­gen, die nie oder anders stattge­fun­den haben oder lässt auch einige Dinge weg.

Beispiel 1: Lolita von Vladimir Nabokov

Ein Beispiel für einen bewusst unzu­ver­läs­sig konzip­ierten Erzäh­ler find­et sich in Nabokovs Loli­ta:

In diesem Roman geht es um die pädophile Beziehung des Ich-Erzäh­lers Hum­bert Hum­bert zu sein­er Stieftochter “Loli­ta” (eigentlich Dolores).

Bei der Lek­türe sind u.a. drei Punk­te zu bedenken:

  • Der Leser blickt auss­chließlich durch das (ver­störende) Pris­ma des Verge­waltigers.
  • Es sollte klar sein, dass Dolores die Dinge anders wahrn­immt als der Erzäh­ler.
  • Es sollte auch klar sein, dass Dolores’ wahres Innen­leben höch­stens nur angedeutet wird.

Und genau hier hat der Roman ein Prob­lem — näm­lich Leser, die nicht (aus­re­ichend) zwis­chen den Zeilen lesen. In der Kri­tik wurde Dolores oft als garstiges, ver­zo­genes Mäd­chen beschrieben und Nabokovs Frau fand, dass die Beschrei­bung ihrer Hil­flosigkeit und ihres Mutes von den Kri­tik­ern nicht bemerkt wurde.

Beispiel 2: Der Postmeister von Alexander Puschkin

Ein anderes Beispiel für eine hin­ter­fra­gungswürdi­ge Erzählweise ist Der Post­meis­ter von Puschkin. Diese Erzäh­lung bietet je nach “Grad des Zwis­chen-den-Zeilen-Lesens” zwei unter­schiedliche Geschicht­en:

  • buch­stäbliche Lek­türe: Das schöne Mäd­chen Dun­ja wird von einem Offizier ver­führt.
  • Lek­türe zwis­chen den Zeilen: Das schöne Mäd­chen Dun­ja ver­führt einen Offizier.

Das kommt dadurch zus­tande, dass der Ich-Erzäh­ler die Sichtweise des Vaters des Mäd­chens übern­immt und sie für ein hil­flos­es Opfer hält (oder hal­ten will). Der Leser kann jedoch andere Details und Sym­bole bemerken. Zum Beispiel:

  • Dun­ja weiß um ihre Schön­heit und flirtet sehr selb­st­be­wusst mit Män­nern. Das fällt gle­ich am Anfang auf durch die Art und Weise, wie sie mit dem Ich-Erzäh­ler umge­ht.
  • In ein­er späteren Szene sitzt Dun­ja auf der Arm­lehne des Ses­sels des Offiziers “wie eine Rei­t­erin auf englis­chem Sat­tel” und wick­elt sich dessen Haare um den Fin­ger. Hier spielt nicht nur eine Geste der Ver­führung eine Rolle und der Aus­druck: “jeman­den um den Fin­ger wick­eln”, son­dern auch die Darstel­lung von Dun­ja als aktive Rei­t­erin, während der Offizier offen­bar als metapho­risches Pferd fungiert.

Damit hal­ten wir fest: Der Erzäh­ler hier ist keineswegs per­vers oder ander­weit­ig mis­strauen­er­weck­end, aber er übern­immt die Erzäh­lung des Vaters unhin­ter­fragt und führt unvor­sichtige Leser damit in die Irre.

Unzuverlässiger Erzähler: Ja oder Nein?

Bei­de Beispiele verdeut­lichen, dass Lesen eine Kun­st für sich ist, die nicht jed­er beherrscht bzw. beherrschen will:

  • Viele Leser wollen sich ein­fach nur zurück­lehnen und sich von der Erzäh­lung treiben lassen und nicht hin­ter­fra­gen.
  • Manchen Lesern fehlt auch die Aufmerk­samkeit, um wichtige kleine Details zu erken­nen.

Diese bei­den Umstände machen einen bewusst unzu­ver­läs­sig gemacht­en Erzäh­ler zu einem ziem­lichen Risiko. Lohnt sich sowas also über­haupt?

Schreib mir Deine Mei­n­ung unten in die Kom­mentare!

Meine eigene Mei­n­ung ist:

Unzu­ver­läs­siges Erzählen ist span­nend, denn man kann nach- und mit­denken und man ist mit der Erzäh­lung ins­ge­samt länger und mehr beschäftigt.

Für vor­sichtige Autoren daher ein ganz sub­jek­tiv­er “Kom­pro­miss-Tipp” von mir:

Wenn es in der Erzäh­lung keine Auflö­sung gibt, in der alles richtiggestellt wird, sollte die Geschichte in bei­den Leseweisen gut sein!

10 Kommentare

  1. Hal­lo Katha,

    eine tolle Seite hast du hier aufge­baut. Ger­ade weil es so wenige Verbindun­gen zwis­chen der The­o­rie der Lit­er­atur­wis­senschaft und der Prax­is des Schreibens gibt. Muss noch ein Weilchen stör­bern …

    “Unzu­ver­läs­siges Erzählen ist span­nend, denn man kann nach- und mit­denken und man ist mit der Erzäh­lung ins­ge­samt länger und mehr beschäftigt.”

    Sehe ich auch so. Daher eignet es sich auch beson­ders für Romane, die die Leser eher intellek­tuell ange­hen, wie klas­sis­che Who-Dun­nit-Krim­is oder anspruchsvolle Lit­er­atur. In Escapis­mus-Tex­ten wie Fan­ta­sy oder stark emo­tion­al ori­en­tierten Roma­nen wie Romance dürften sich die Leser hinge­gen weniger über die Unzu­ver­läs­sigkeit des Erzäh­lers freuen.

    Schö­nen Gruß

    Stephan Wald­schei­dt

    1. Wow, Stephan Wald­schei­dt, welch hoher Besuch! Ist mir eine Ehre!

      Ja, was gut und was schlecht für eine Geschichte ist, hängt sehr stark mit dem Genre (und damit der Ziel­gruppe) zusam­men. 100%-ige Zus­tim­mung.

      Vie­len Dank fürs Lob und schöne Grüße zurück!

      Katha Joos

  2. Worum han­delt es sich denn dein­er Mei­n­ung nach bei der Mar­quise von O.
    Dort kommt es an Schlüs­sel­stellen zu ein­deutigem auk­to­ri­alen und per­son­alen Erzäh­lver­hal­ten. In weit­en Teilen aber wed­er noch. Wie würdest du das nen­nen?

    Ute Rogge
    1. Das ist eine gute Frage. Ich würde sagen, der Erzäh­ler ist auf den ersten Blick auk­to­r­i­al (mit gele­gentlichen Ten­den­zen in Rich­tung des per­son­alen Erzäh­lers). Aber er ist sehr wäh­lerisch, wie viel er von seinem All­wis­sen preis­gibt …
      Nach Genette ist er null­fokalisiert und het­erodiegetisch. Doch auch hier sind Ten­den­zen zur inter­nen und exter­nen Fokalisierung hin zu beobacht­en. Und vor allem ist die Fokalisierung bzw. Stanzel’sche Erzählsi­t­u­a­tion sehr abhängig von der jew­eili­gen Inter­pre­ta­tion …
      Kleist zieht alle Reg­is­ter, damit die Erzäh­lung wie ein authen­tis­ch­er Bericht wirkt. Und den­noch: Was die Mar­quise in ihrer Bewusst­losigkeit nicht wahrgenom­men oder vielle­icht auch aus ihrem Gedächt­nis ver­drängt hat, das ver­schweigt auch der Erzäh­ler. Später erfahren wir dann aber immer wieder von Din­gen, die die Mar­quise nicht (oder erst später) mit­bekommt.
      Ich würde also sagen, rein the­o­retisch wäre der auk­to­ri­ale bzw. null­fokalisierte Erzäh­ler schon richtig. Aber prak­tisch würde ich wohl eher von ein­er vari­ablen Fokalisierung bzw. von einem dynamis­chen Erzäh­ler reden. Mit der Beto­nung, dass ger­ade diese Vari­abil­ität bzw. Dynamik hin­ter der Unzu­ver­läs­sigkeit des Erzäh­lers steckt: Denn als Leser weiß man oft nicht sich­er, welche Fokalisierung bzw. Erzählsi­t­u­a­tion ger­ade vor­liegt, und ist sein­er eige­nen Inter­pre­ta­tion über­lassen.
      Na ja. Ich hoffe, meine Über­legun­gen ergeben irgen­deinen Sinn. Wie gesagt, das ist eine sehr, sehr gute Frage.

  3. Ein entschei­den­der Irrtum ist, wenn man “Erzäh­ler”, “Erzählhal­tung”, “Erzäh­lver­hal­ten” und “Erzählstrate­gie” gle­ich­set­zt!
    Und es ist eigentlich jedem, der sich mit Erzählthe­o­rie beschäftigt, bewusst, dass das The­ma äußerst kom­plex ist und viele Kom­po­nen­ten zu beacht­en sind. Die ver­schiede­nen Spielarten lassen sich nicht zufrieden­stel­lend und umfassend sys­tem­a­tisieren, und daher han­delt es sich immer um Mod­elle, die man zu den Vari­anten des Erzäh­lens entwick­elt hat.
    Man reduziert (v.a. i der Schule!) daher die Phänomene auf drei ide­al­typ­is­che Erzählstrate­gien. Es han­delt sich dabei um Kon­struk­te, die drei Grund­möglichkeit­en erzäh­lerischen Vorge­hens zusam­men­fasst

    Barbara
    1. Ja, das The­ma ist extrem kom­plex. Und wenn man tief genug gräbt, ist man irgend­wann bei den exis­ten­ziellen Fra­gen der Philoso­phie. Da ist es nur ver­ständnlich, dass ger­ade in der Schule die bere­its vere­in­fachen­den Mod­elle noch weit­er vere­in­facht und zusam­menge­fasst wer­den. Prob­lema­tisch wird es nur, wenn man mit ober­fläch­lichen Mod­ellen tiefer­ge­hende Analy­sen anstellen will. Aber dazu lernt man später an der Uni ja kom­plexere Mod­elle. — Denn ganz ohne Mod­elle kön­nen wir Men­schen wohl nicht auskom­men.

  4. Hal­lo Katha!

    Ich habe deinen Beitrag mit Begeis­terung gele­sen, echt ein gross­es Kom­pli­ment an dich für die tolle Gestal­tung. Vor allem gefall­en mir auch die Beispiele, die du anführst und ich sehe das ähn­lich wie du. Ich denke dabei beispiel­sweise an die Geschichte von “The Girl on the Train”, dort hat man ja grund­sät­zlich auch eine unzu­ver­läs­sige (weil alko­ho­lab­hängig) Erzäh­lerin. Das gesamte Buch wird vor diesem Hin­ter­grund nochmals deut­lich span­nen­der, da man nicht wis­sen kann, was genau der Wahrheit entspricht und was nicht. Das Prob­lem, was ich dabei sehe ist, dass die meis­ten Leute, wie du das auch sagst, sich nicht die Mühe machen (wollen), mehr zu inter­pretieren und deswe­gen geht dieser Effekt des unzu­ver­läs­si­gen Erzäh­lers lei­der oft­mals unter. Für den aufmerk­samen Leser ist ein unzu­ver­läs­siger Erzäh­ler aber eine Her­aus­forderung, da man ständig hin­ter­fra­gen muss, was denn nun der Wahrheit entspricht und was dazu gedichtet wird. Grund­sät­zlich finde ich aber span­nend, einen Erzäh­ler zu haben, der nicht zu 100% ver­trauenswürdig ist.

    Besten Dank für die tollen Aus­führun­gen!

    Timon
    1. Her­zlichen Dank fürs Lob!
      Und ja, der unzu­ver­läs­sige Erzäh­ler ist abso­lut span­nend und durch ihn ist eine Erzäh­lung deut­lich mehr als “nur” eine Geschichte. Solche Erzäh­ler sind immer wieder eine tolle Her­aus­forderung.

  5. Hal­lo Katha,

    ger­ade disku­tieren wir im Montse­gur Autoren­fo­rum über Per­spek­tiv­en und dabei bin ich auf deine Seite gestoßen. Sehr über­sichtlich, gute Beispiele, gut zu ver­ste­hen.
    Ich unter­richte auch Kreatives Schreiben und werde meinen Teil­nehmerin­nen diese Seite empfehlen

    Großes Lob und lieben Gruß
    Hen­ning Schöt­tke

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