Ordnung: Anachronistisches Erzählen

Ordnung: Anachronistisches Erzählen

Erzäh­lun­gen sind sel­ten wirk­lich line­ar. Immer wie­der erfah­ren die Leser, was vor den Ereig­nis­sen in der Erzäh­lung pas­siert ist, und manch­mal auch, was in der Zukunft noch pas­sie­ren wird. Die­se Anal­ep­sen und Pro­lep­sen bzw. Flash­backs und Vor­aus­deu­tun­gen las­sen sich natür­lich kate­go­ri­sie­ren. – Und genau das machen wir in die­sem Arti­kel: Wir schau­en uns an, wel­che Arten von Anal­ep­sen und Pro­lep­sen es über­haupt gibt und was man bei Ana­chro­nien gene­rell beach­ten sollte.

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Bis­her haben wir uns, was Genet­tes Erzähl­theo­rie betrifft, nur mit der Erzähl­per­spek­ti­ve befasst. Doch was für die Struk­tur einer Erzäh­lung laut Genet­te auch noch wich­tig ist, ist die Erzähl­zeit:

Die Zeit, die man braucht, um die Erzäh­lung zu erzählen.

Bei schrift­li­chen Tex­ten läuft das in der Pra­xis auf die Wort- und Sei­ten­an­zahl hin­aus.

Was Genet­te hier kon­kret unter­sucht, ist, wie das Erzähl­te (die Geschich­te selbst) in der Erzäh­lung unter­ge­bracht wird:

Wel­ches Ereig­nis wird wann erwähnt? Wie lan­ge hält sich der Erzäh­ler mit die­sem oder jenem Ereig­nis auf? Wie oft wird ein bestimm­tes Ereig­nis inner­halb der Erzäh­lung angesprochen?

Für die Ana­ly­se der Erzähl­zeit nutzt Genet­te drei Kategorien:

  • Ord­nung
  • Dau­er
  • Fre­quenz

Wir wer­den sie alle nach­ein­an­der bespre­chen und begin­nen heu­te mit der Ordnung.

Ordnung: Story vs. Plot

Am ein­fachs­ten lässt sich die Kate­go­rie der Ord­nung erklä­ren, wenn wir an mei­nen frü­he­ren Arti­kel über Sto­ry und Plot zurückdenken:

  • Sto­ry sind die Ereig­nis­se, wie sie „tat­säch­lich“ pas­sie­ren. Also die chro­no­lo­gisch rich­ti­ge Rei­hen­fol­ge.
  • Plot hin­ge­gen ist die Anord­nung der Ereig­nis­se in der Erzäh­lung. Denn ein Erzäh­ler muss nicht zwang­läu­fig alle Ereig­nis­se in der Rei­hen­fol­ge erwäh­nen, in der sie pas­siert sind, son­dern kann von frü­he­ren Ereig­nis­sen an spä­te­rer Stel­le erzäh­len oder Din­ge, die erst spä­ter pas­sie­ren, schon frü­her andeuten.

Genet­te benutzt zwar nicht die Begrif­fe Sto­ry und Plot, meint mit der „tem­po­ra­len Ord­nung oder Rei­hen­fol­ge der Ereig­nis­se in der Die­ge­se“ und der „pseu­do-tem­po­ra­len Ord­nung ihrer Dar­stel­lung in der Erzäh­lung“ genau das.

Und damit ist die Defi­ni­ti­on von Ord­nung auch ganz einfach:

Ord­nung ist das Ver­hält­nis zwi­schen Sto­ry und Plot.

Und kon­kret bedeu­tet das:

Es geht um Ana­chro­nien (d.h. Anal­ep­sen und Pro­lep­sen) und am Ende sogar ein wenig um die Achronie.

Anachronien

Sofern eine Erzäh­lung expli­zi­te oder impli­zi­te Anhalts­punk­te her­gibt, erfah­ren wir Leser mehr oder weni­ger genau, wann wel­ches Ereig­nis stattfindet.

Wenn Fritz­chen zum Bei­spiel sagt: „Ges­tern war ich im Kino“, dann fand sein Kino­be­such am Tag vor dem Moment statt, in dem er über die­sen Kino­be­such erzählt.

Anhand die­ser Anhalts­punk­te kön­nen wir erken­nen, ob die Ereig­nis­se im Plot anders ange­ord­net sind, als sie tat­säch­lich chro­no­lo­gisch pas­siert sind.

Hier haben Sto­ry und Plot zum Bei­spiel die­sel­be Anordnung:

„Fritz­chen hat ein Eis geges­sen, dann ging er ins Kino.“

Und hier haben wir eine offen­sicht­li­che Dis­so­nanz zwi­schen Sto­ry und Plot:

„Fritz­chen ging ins Kino. Vor­her hat er aber ein Eis gegessen.“

Die­se Dis­so­nanz zwi­schen Sto­ry und Plot nennt Genet­te Anachronie.

Anachronien sind überall!

Und abge­se­hen von ganz simp­len Geschich­ten sind Ana­chro­nien prak­tisch in jeder Erzäh­lung vor­pro­gram­miert. Denn egal, an wel­chem Punkt man eine Geschich­te zu erzäh­len beginnt: Es gibt fast immer etwas Wich­ti­ges, das vor die­sem Punkt pas­siert ist. Über­le­ge selbst:

Beginnt die Geschich­te Dei­nes eige­nen Lebens mit Dei­ner Geburt, dem Ken­nen­ler­nen Dei­ner Eltern, dem Ken­nen­ler­nen dei­ner Groß­el­tern oder mit dem Urknall?

Dei­ne Geschich­te mit dem Urknall zu begin­nen ist natür­lich absurd. Aber wenn Du ihn in Dei­ner Geschich­te ansprichst, hast Du auto­ma­tisch eine Anachronie.

Man­che Ana­chro­nien fal­len natür­lich stär­ker auf als ande­re, doch sie fin­den sich selbst in den unschein­bars­ten Erzählungen:

„Heu­te besuch­te mich ein Freund, den ich vor zwei Jah­ren ken­nen­ge­lernt habe.“

- Bäm! Ana­chro­nie!

Die kunterbunte Welt der Anachronien

All die vie­len Ana­chro­nien gibt es natür­lich in allen mög­li­chen For­men und Far­ben. Spe­zi­ell schaut Genet­te vor allem auf die Reich­wei­te und den Umfang der Anachronie:

  • Reich­wei­te ist dabei die zeit­li­che Distanz zur „eigent­li­chen“ Geschich­te:
    Ob ein Ereig­nis also fünf Minu­ten oder hun­dert Jah­re vor oder nach dem „Jetzt“-Moment in der Geschich­te liegt.
  • Umfang hin­ge­gen bezeich­net die Dau­er der Ana­chro­nie in der Geschich­te:
    Ob dem frü­he­ren oder spä­te­ren Ereig­nis ein Halb­satz oder meh­re­re Kapi­tel gewid­met sind.

Und wo ich eben den „Jetzt“-Moment ange­spro­chen habe:

Die­se Zeit­ebe­ne, auf der die eigent­li­che Geschich­te statt­fin­det, nennt Genet­te Basis­er­zäh­lung. Zum Beispiel:

„Fritz­chen war heu­te im Kino. Vor­her hat er ein Eis geges­sen und dach­te an Lies­chen. Nach dem Kino dach­te er immer noch an Lies­chen und beschloss, sie anzurufen.“

Das Eis­essen ist hier klar die Ana­chro­nie. Der Kino­be­such und der Beschluss, Lies­chen anzu­ru­fen, sind die Basiserzählung.

Natür­lich ist jede Ana­chro­nie gleich­zei­tig selbst eine Erzäh­lung. Sie ist der Basis­er­zäh­lung zwar unter­ge­ord­net, aber sie ist eine Erzäh­lung und sie kann als Basis­er­zäh­lung für eine wei­te­re Ana­chro­nie fun­gie­ren. So ent­ste­hen zum Bei­spiel sol­che Verschachtelungen:

„Fritz­chen war heu­te im Kino. Vor­her hat er ein Eis geges­sen und dach­te an sei­nen gest­ri­gen Streit mit Lies­chen. Nach dem Kino dach­te er immer noch an Lies­chen und beschloss, sie anzurufen.“

Vor allem aber unter­schei­det man bei Ana­chro­nien zwi­schen Anal­ep­sen und Pro­lep­sen: ob die Ana­chro­nie zeit­lich vor oder nach der Basis­er­zäh­lung statt­fin­det. Und weil wir es mit Genet­te zu tun haben, wird es hier erst recht kleinkariert …

Analepsen

Wenn die Ana­chro­nie zeit­lich vor der Basis­er­zäh­lung liegt, dann nennt man sie Anal­ep­se. In Fil­men und im Volks­mund sagt man dazu auch „Flash­back“.

Genet­te unter­schei­det hier vor allem zwi­schen exter­nen und inter­nen Analepsen:

  • Die exter­ne Anal­ep­se ent­hält Ereig­nis­se, die kom­plett vor der Basis­er­zäh­lung pas­siert sind:

Ordnung: Anachronistisches Erzählen

„Heu­te Mor­gen besuch­te mich ein Freund, den ich vor zwei Jah­ren aus den Augen ver­lo­ren habe. Wir haben uns bis zum Mit­tag unterhalten.“

Mit­ten in die­ser Erzäh­lung machen wir einen kur­zen Abte­cher in die Zeit vor zwei Jah­ren und keh­ren dann wie­der in die Gegen­wart zurück.

  • Die inter­ne Anal­ep­se hin­ge­gen ent­hält Ereig­nis­se, die wäh­rend der Basis­er­zäh­lung pas­siert sind:

Ordnung: Anachronistisches Erzählen

„Seit zwei Jah­ren lebe ich in Bei­spiel­stadt. Heu­te Mor­gen besuch­te mich aber ein Freund aus Ande­re­stadt. Er erzähl­te mir von sei­nem eige­nen Umzug vor einem Jahr. Wir haben uns bis zum Mit­tag unterhalten.“

Die Basis­er­zäh­lung beginnt mit dem Umzug nach Bei­spiel­stadt. Und wäh­rend das „Ich“ in Bei­spiel­stadt gelebt hat, ist der Freund eben­falls umgezogen.

Grund­sätz­lich ist auch eine Mischung aus bei­den mög­lich. Genet­te nennt sie ganz sim­pel gemisch­te Anal­ep­se: Sie beginnt vor der Basis­er­zäh­lung und endet mit dem Anfang der Basis­er­zäh­lung:

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„Heu­te Mor­gen besuch­te mich ein Freund aus Ande­re­stadt. Nach mei­nem Umzug nach Bei­spiel­stadt vor zwei Jah­ren haben wir uns aus den Augen ver­lo­ren und vor einem Jahr hat er die Suche nach mir auf­ge­nom­men. Heu­te Mor­gen hat er mich end­lich gefun­den und wir haben uns bis zum Mit­tag unterhalten.“

Die Basis­er­zäh­lung beginnt mit dem Besuch des Freun­des. Dann folgt eine Anal­ep­se mit der Vor­ge­schich­te, wie es zu die­sem Besuch gekom­men ist. Die­se Vor­ge­schich­te wird kom­plett erzählt bis zum Moment des Besuchs selbst.

Genet­te bemerkt aber auch, dass die gemisch­te Anal­ep­se eher sel­ten vorkommt.

Externe und interne Analepsen in der Praxis

Die exter­ne Anal­ep­se hat den unschätz­ba­ren Vor­teil, dass sie sich nie mit der Basis­er­zäh­lung über­schnei­det. Sie ergänzt sie nur.

Anders hin­ge­gen ver­hält es sich mit der inter­nen Anal­ep­se: Weil die Ereig­nis­se in der inter­nen Anal­ep­se sich ja zeit­lich mit der Basis­er­zäh­lung über­schnei­den, besteht die Gefahr, dass sie über­flüs­si­ge Infor­ma­tio­nen ent­hal­ten oder – schlimms­ten­falls – der Basis­er­zäh­lung wider­spre­chen. Des­we­gen unter­schei­det Genet­te zwi­schen hete­ro­die­ge­ti­schen inter­nen Anal­ep­sen und homo­die­ge­ti­schen inter­nen Analepsen:

  • Hete­ro­die­ge­ti­sche inter­ne Anal­ep­sen ent­ge­hen der oben genann­ten Gefahr, indem sie ein­fach einen ande­ren Strang der Geschich­te beschrei­ben als die Basiserzählung:
    Zum Bei­spiel geht es um die Vor­ge­schich­te einer neu­en Figur oder um das Wie­der­auf­tau­chen einer alten Figur, die man aus den Augen ver­lo­ren hat und von der man nun erfährt, was ihr in der Zwi­schen­zeit alles zuge­sto­ßen ist:

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Einen anschau­li­chen Fall haben wir in Der Herr der Rin­ge von J. R. R. Tolkien:
Fro­do wird von Gan­dalf auf die berühm­te Rei­se geschickt. In Bruch­tal begeg­net er ihm wie­der und Gan­dalf erzählt von sei­ner Gefan­gen­nah­me durch Saruman.

  • Homo­die­ge­ti­sche inter­ne Anal­ep­sen hin­ge­gen betref­fen den Hand­lungs­strang der Basis­er­zäh­lung. Des­we­gen müs­sen Autoren hier beson­ders auf­pas­sen, dass sie Infor­ma­tio­nen nicht dop­pelt-mop­peln oder den Infor­ma­tio­nen aus der Basis­er­zäh­lung sogar wider­spre­chen. Genet­te unter­schei­det hier zwi­schen zwei Untertypen:

Ordnung: Anachronistisches Erzählen

    • Kom­ple­ti­ve Anal­ep­sen fül­len nach­träg­lich eine Lücke in der Erzäh­lung.

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Ein sol­ches Bei­spiel fin­det sich in Stolz und Vor­ur­teil von Jane Austen:
Wir beob­ach­ten das Gesche­hen wei­test­ge­hend von Eli­sa­beths Stand­punkt aus – und aus die­ser lücken­haf­ten Per­spek­ti­ve sieht Dar­cy sehr unvor­teil­haft aus. Nach­dem Eli­sa­beth Dar­cy ihre Mei­nung von ihm an den Kopf gewor­fen hat, stellt er ihr in einem Brief sei­ne Per­spek­ti­ve der­sel­ben Ereig­nis­se dar und berich­tet auch von Din­gen, von denen sie nichts wusste.

    • Repe­ti­ti­ve Anal­ep­sen Rück­grif­fe sind meis­tens eher klei­ne Anspie­lun­gen auf bereits Erzähl­tes.

Ordnung: Anachronistisches Erzählen

Im drit­ten Band von Har­ry Pot­ter ret­tet Har­ry Wurm­schwanz das Leben. Im sieb­ten Band erin­nert er ihn wie­der daran:
„Du bringst mich um? […] Nach­dem ich dein Leben geret­tet habe? Du schul­dest mir, Wurmschwanz!“
J. K. Row­ling: Har­ry Pot­ter und die Hei­lig­tü­mer des Todes, Kapi­tel: Das Haus Mal­foy.

Partielle und komplette Analepsen

Sowohl exter­ne als auch inter­ne Anal­ep­sen kön­nen außer­dem par­ti­ell oder kom­plett sein.

  • Eine par­ti­el­le Anal­ep­se beschreibt dabei nur einen Punkt in der Ver­gan­gen­heit und ist nicht an die Gegen­wart ange­bun­den. Oft han­delt es sich um eine ein­zel­ne Infor­ma­ti­on, die wich­tig ist für das Ver­ständ­nis der Basiserzählung:

Ein bekann­tes Bei­spiel befin­det sich im sieb­ten Band von Har­ry Pot­ter:
Als Har­ry, Ron und Her­mi­ne das Mär­chen über den Ursprung der Hei­lig­tü­mer des Todes lesen, erfah­ren wir nur etwas über die Erschaf­fung der Hei­lig­tü­mer und ihre magi­schen Kräf­te. Wir erfah­ren aber nichts über der Wer­de­gang der Hei­lig­tü­mer im Ver­lauf der Jahrhunderte.

  • Eine kom­plet­te Anal­ep­se hin­ge­gen geht bis zur „Gegen­wart“, erzählt die kom­plet­te Vor­ge­schich­te und ist in man­chen Fäl­len ein wich­ti­ger Teil oder sogar der Haupt­teil der Erzählung.

In Remar­ques Roman Die Nacht von Lis­sa­bon begeg­net der Ich-Erzäh­ler in Lis­sa­bon einem Frem­den namens Josef Schwarz. Die­ser Josef Schwarz erzählt ihm, wie und war­um er von Deutsch­land nach Lis­sa­bon gekom­men ist. Die­se Erzäh­lung, die Vor­ge­schich­te von Schwarz, macht den Haupt­teil des Romans aus.

Warnungen bei Analepsen

So viel zu den Anal­ep­sen. Wie aber auch Genet­te selbst immer wie­der anmerkt, gehen sie mit bestimm­ten Gefah­ren ein­her. Daher an die­ser Stel­le eini­ge all­ge­mei­ne Warnungen:

  • Pass auf, dass Du in Dei­nen Anal­ep­sen nicht unnö­tig Infor­ma­tio­nen wie­der­holst, die dem Leser bereits vorliegen:

Wenn Fritz­chen und Lies­chen in einem Kapi­tel ins Thea­ter gehen, dann soll­test Du den Thea­ter­be­such in einem spä­te­ren Kapi­tel nicht nach­er­zäh­len. – Es sei denn, Du ver­legst den Schwer­punkt auf Aspek­te, die Du im ursprüng­li­chen Thea­ter-Kapi­tel weg­ge­las­sen hast. Ansons­ten reicht die blo­ße Erwäh­nung des Thea­ter­be­suchs in den spä­te­ren Kapi­teln völ­lig aus.

  • Pass auch auf, dass die Infor­ma­tio­nen in Dei­nen Anal­ep­sen zu dem pas­sen, was in der Basis­er­zäh­lung bereits erzählt wur­de:

Wenn Fritz­chen zur Ver­ab­re­dung mit Lies­chen zu spät gekom­men ist, soll­test Du in den spä­te­ren Kapi­teln nicht schrei­ben, er sei pünkt­lich gewesen.

  • Da Anal­ep­sen sich außer­dem her­vor­ra­gend eig­nen, um die Hin­ter­grün­de von Figu­ren und Ereig­nis­sen zu erläu­tern, soll­test Du auf­pas­sen, dass die­se Hin­ter­grund­er­zäh­lun­gen nur so aus­führ­lich sind wie nötig. Wenn Du zu vie­le irrele­van­te Details ein­bin­dest, dann ist das Info-Dump. – Und den wol­len die meis­ten nicht lesen.

Wenn Opa Fritz­chen und Oma Lies­chen sich an ihr ers­tes Date im Thea­ter erin­nern, dann soll­test Du nicht jedes klei­ne archi­tek­to­ni­sche Detail des Thea­ters beschrei­ben. Kon­zen­trie­re Dich auf Aspek­te, die unmit­tel­bar ihre Bezie­hung betreffen.

Doch natür­lich sind das nur Tipps und Du kannst gegen alles, was ich hier auf­ge­zählt habe, ver­sto­ßen. Denn wenn Ver­stö­ße einen beson­de­ren Zweck erfül­len, dann sind das Kunst­grif­fe. Ein sehr bekann­ter Kunst­griff die­ser Art fin­det sich im Lied von Eis und Feu­er von Geor­ge R. R. Martin:

Wäh­rend der Schlacht am Schwarz­was­ser begeg­net San­sa San­dor Cle­ga­ne. Die­ser zwingt sie, ihm ein Lied vor­zu­sin­gen. Als San­sa sich spä­ter an die­se Begeg­nung erin­nert, ist sie über­zeugt, San­dor hät­te sie geküsst. War­um die­ser Wider­spuch da ist, wis­sen wir noch nicht, aber der Autor hat ver­spro­chen, dass er im spä­te­ren Ver­lauf der Geschich­te etwas bedeu­ten wird.

Prolepsen

Das viel sel­te­ne­re Gegen­stück zur Anal­ep­se ist die Pro­lep­se, d.h. der Blick in die Zukuft. Damit funk­tio­niert die Pro­lep­se ähn­lich wie die Anal­ep­se, nur in umge­kehr­ter Richtung.

So unter­schei­det Genet­te auch hier zwi­schen intern und extern:

Exter­ne Pro­lep­sen sind Ein­bli­cke in eine Zeit nach dem Ende der Basis­er­zäh­lung: Hier erfah­ren wir, was mit den Figu­ren nach dem Ende der Haupt­hand­lung pas­siert. Das kann eine unbe­stimm­te, fer­ne Zukunft sein oder auch die Gegen­wart eines Erzäh­lers, der sich an ver­gan­ge­ne Ereig­nis­se erinnert:

Ordnung: Anachronistisches Erzählen

In der Schatz­in­sel von Robert L. Ste­ven­son erzählt Jim Haw­kins von Ereig­nis­sen, die weit in der Ver­gan­gen­heit zurückliegen:

„Der Plan, den ich aus­füh­ren woll­te, war an und für sich nicht schlecht. Ich woll­te die san­di­ge Land­zun­ge, die den Anker­platz im Osten von der offe­nen See trennt, bis zu dem wei­ßen Fel­sen hin­ab­ge­hen, den ich ges­tern bemerkt hat­te, um fest­zu­stel­len, on Ben Gunn wirk­lich sein Boot dort ver­steckt hat­te, und ich glau­be auch jetzt noch, daß das schon der Mühe wert war zu untersuchen.“
Robert L. Ste­ven­son: Die Schatz­in­sel, 22. Kapi­tel: Wie mein See­aben­teu­er begann.

Die Wor­te „und ich glau­be auch jetzt noch“ bezie­hen sich auf den Moment, in dem Jim von der Schatz­su­che erzählt. – Also auf eine Zeit, die lan­ge nach den Aben­teu­ern in der Erzäh­lung liegt.

Inter­ne Pro­lep­sen zei­gen, was wäh­rend der Basis­er­zäh­lung spä­ter noch pas­sie­ren wird. Damit brin­gen sie die­sel­ben Gefah­ren mit sich wie inter­ne Analepsen.

Ordnung: Anachronistisches Erzählen

  • Hete­ro­die­ge­ti­sche inter­ne Pro­lep­sen beschrei­ben die zukünf­ti­ge Ent­wick­lung eines ande­ren Strangs, der spä­ter nicht mehr auf­ge­grif­fen wird:

Ordnung: Anachronistisches Erzählen

„Nach der Tren­nung von Lies­chen begann eine dunk­le Pha­se im Leben von Fritz­chen. Er ahn­te nicht, dass auch Lies­chen Jah­re brau­chen wür­de, um über die Tren­nung hin­weg­zu­kom­men. Nach zwei depres­si­ven Jah­ren nahm Fritz­chen sich aber wie­der zusam­men und begann ein neu­es Leben.“

Lies­chens Kri­se pas­siert zur glei­chen Zeit wie die von Fritz­chen, aber sie ist nicht mehr län­ger Teil von Fritz­chens Geschich­te. Damit sind hete­ro­die­ge­ti­sche Pro­lep­sen vor unnö­ti­gen Dop­pelt-Mopp­lun­gen von Infor­ma­tio­nen sicher.

  • Homo­die­ge­ti­sche inter­ne Pro­lep­sen las­sen sich, eben­so wie die homo­die­ge­ti­schen inter­nen Anal­ep­sen, in zwei wei­te­re Kate­go­rien aufteilen:

Ordnung: Anachronistisches Erzählen

    • Kom­ple­ti­ve Pro­lep­sen fül­len eine spä­te­re Lücke aus. Zum Beispiel:

Ordnung: Anachronistisches Erzählen

In einem Kapi­tel plant Lies­chen ihr Tren­nungs­ge­spräch mit Fritz­chen. Im nächs­ten Kapi­tel setzt sie die­sen Plan um, aber wir beob­ach­ten das Gan­ze aus Fritz­chens Per­spek­ti­ve. Durch Fritz­chens Sub­jek­ti­vi­tät ist die­se natür­lich lücken­haft. Doch die Pro­lep­se im Kapi­tel davor füllt die­se Lücke aus. Des­we­gen stört es uns Leser auch nicht, von die­sem Tren­nungs­ge­spräch zwei­mal zu lesen: Denn wir sehen unter­schied­li­che Aspek­te die­ses Ereignisses.

    • Repe­ti­ti­ve Pro­lep­sen sind meis­tens eher klei­ne Andeu­tun­gen auf spä­te­re Ereig­nis­se, von denen in den nach­fol­gen­den Kapi­teln genau­er erzählt wird. Zum Beispiel:

Ordnung: Anachronistisches Erzählen

Am Anfang der Basis­er­zäh­lung ler­nen sich Fritz­chen und Lies­chen ken­nen und der Erzäh­ler warnt: „Noch ahn­te Fritz­chen nicht, wie viel Schmerz die­se Begeg­nung ihm brin­gen wür­de.“ Im spä­te­ren Ver­lauf der Erzäh­lung wer­den Fritz­chen und Lies­chen ein Paar, haben eine Bezie­hungs­kri­se und tren­nen sich wie­der. Nun berich­tet der Erzäh­ler aus­führ­lich von der Tren­nungs­pha­se, die er bei der Begeg­nung von Fritz­chen und Lies­chen nur ange­deu­tet hat.

Hier ist es natür­lich wich­tig, bei der Pro­lep­se nicht zu vie­le Details im Vor­aus preis­zu­ge­ben, denn sonst braucht man die Geschich­te ja nicht mehr zu lesen.

Rein theo­re­tisch könn­te man außer­dem noch zwi­schen kom­plet­ten und par­ti­el­len Pro­lep­sen unter­schei­den. Aller­dings fin­det Genet­te kaum Bei­spie­le für kom­plet­te Pro­lep­sen, d.h. eine kom­plet­te Vor­weg­nah­me der gan­zen Geschich­te bis zur Auf­lö­sung oder bis zum Zeit­punkt des Erzähl­ak­tes an sich. – Das ist aber auch ver­ständ­lich, denn bei einer sol­chen kom­plet­ten Pro­lep­se braucht der Leser die Erzäh­lung ja nicht mehr zu lesen. Aus die­sem Grund stellt Genet­te fest, dass es wohl nur par­ti­el­le Pro­lep­sen gibt, d.h. Pro­lep­sen, die nur einen Aus­schnitt der Zukunft preisgehen.

Vorgriffe und Vorhalte

Die­se Andeu­tun­gen auf spä­te­re Ereig­nis­se kön­nen sowohl expli­zit als auch impli­zit sein.

  • Expli­zi­te Andeu­tun­gen nennt Genet­te Vor­grif­fe. Die­se sind, wie das Wort „expli­zit“ sagt, klar gekenn­zeich­net. Das pas­siert oft durch For­mu­lie­run­gen wie zum Beispiel:

„Wir wer­den spä­ter sehen, dass …“

Vor­grif­fe lösen beim Leser bestimm­te Erwar­tun­gen aus, indem sie kon­kret sagen, was der Leser erwar­ten soll. Das kann durch­aus Fra­gen auf­wer­fen und somit Span­nung auslösen:

„Fritz­chen, Lies­chen, Max und Eri­ka fuh­ren im Som­mer gemein­sam in den Urlaub. Als sie nun ent­spannt auf dem Strand lagen, ahn­ten sie nicht, dass nur einer von ihnen leben­dig heim­keh­ren würde. […]“

  • Impli­zi­te Andeu­tun­gen bzw. Vor­hal­te zei­gen die zukünf­ti­gen Ereig­nis­se eher indi­rekt und oft sind sie erst im Nach­hin­ein als sol­che erkenn­bar. Wir sehen das zum Bei­spiel im Lied von Eis und Feu­er:

Am Anfang ent­de­cken Eddard Stark und sein Gefol­ge einen toten Schat­ten­wolf und die noch leben­den Wel­pen des Schat­ten­wol­fes. Im spä­te­ren Ver­lauf der Geschich­te kommt Eddard Stark, auf des­sen Wap­pen ein Schat­ten­wolf abge­bil­det ist, ums Leben. Eddard Starks Kin­der, die die Wel­pen adop­tiert haben, blei­ben zurück. Damit wur­de mit dem toten Schat­ten­wolf die Zukunft der Fami­lie Stark ange­deu­tet, aber als Leser hat man sich auf den ers­ten Blick nicht unbe­dingt etwas gedacht.

Manch­mal kann das Publi­kum sol­che Vor­hal­te aber durch­aus iden­ti­fi­zie­ren, wenn es bestimm­tes Vor­wis­sen hat. Die­ses Vor­wis­sen kann bei­spiels­wei­se aus einem Pro­log stam­men oder vom Titel der Erzäh­lung herrühren:

Die Bedeu­tung des toten Schat­ten­wol­fes wäre am Anfang viel leich­ter zu erken­nen gewe­sen, wenn zumin­dest der ers­te Band vom Lied von Eis und Feu­er nicht A Game of Thro­nes hei­ßen wür­de, son­dern Das Omen des Schat­ten­wol­fes.

Aller­dings kann der Autor sol­ches Vor­wis­sen so streu­en, dass die Leser auf eine fal­sche Fähr­te gelockt wer­den. Dass sie fal­sche Vor­hal­te sehen und rich­ti­ge Vor­hal­te übersehen. Das fin­det man zum Bei­spiel ger­ne in Krimis.

Abschließendes zu Prolepsen

Wie wir bereits gese­hen haben, kön­nen Pro­lep­sen Span­nung auf­bau­en. Außer­dem kön­nen sie die Wir­kung eines Ereig­nis­ses unter­strei­chen, indem man dem Leser des­sen Nach­wir­kun­gen vor Augen führt.

Aller­dings sind gera­de bei inter­nen Pro­lep­sen, wie gesagt, all die Punk­te zu beach­ten, die für inter­ne Anal­ep­sen gelten:

Ver­mei­de unnö­ti­ge Infor­ma­tio­nen und ach­te dar­auf, dass die Infor­ma­tio­nen in der Pro­lep­se zu denen in der Basis­er­zäh­lung passen.

Achronie

Nach­dem wir nun also die ver­schie­de­nen Arten von Pro­lep­sen und Anal­ep­sen klein­ka­riert sor­tiert haben, brin­gen wir das Gan­ze nun wie­der durch­ein­an­der. Denn es gibt auch sol­che span­nen­den Phänomene:

  • Pro­lep­sen in Pro­lep­sen, Anal­ep­sen in Pro­lep­sen, Pro­lep­sen in Anal­ep­sen etc.
  • Pro­lep­sen, die von der Basis­er­zäh­lung spä­ter wider­legt wer­den und sich als feh­ler­haf­te Zukunfts­fan­ta­sien entpuppen
  • ein Erzäh­ler, der im Vor­aus berich­tet, wie er spä­ter über ein aktu­el­les Ereig­nis erfuhr
  • Anal­ep­sen ohne genau­en Endpunkt
  • Pro­lep­sen und Anal­ep­sen gleichzeitig:
    „Fritz­chen geht auf die Par­ty und sucht Lies­chen. Die­se wird aber, wie wir bereits gese­hen haben, spä­ter kommen.“

Was soll man denn da sagen? – Viel Spaß beim „Ent­wir­ren“! 😛

Doch der abso­lu­te Extrem­fall ist, wenn es in der Erzäh­lung über­haupt kei­ne Zeit­an­ga­ben oder auch nur indi­rek­te Hin­wei­se gibt und wir ein Ereig­nis gar nicht zeit­lich ein­ord­nen kön­nen. Die­sen Fall nennt Genet­te Achro­nie. Und er ist so ver­wir­rend, dass unse­re Mög­lich­kei­ten der Ana­ly­se hier an ihre Gren­zen zu sto­ßen scheinen.

8 Kommentare

  1. Hal­lo. Ich dan­ke dir herz­lich für dei­ne unter­schie­li­chen Erklä­run­gen. Aber ich hab pro­blem mit der Basis­er­zäh­lun­gen. Wie kann ich die Basis­er­zäh­lun­gen erken­nen? freue mich auf dei­ne Erklärungen.

    salvador
    1. Die Basis­er­zäh­lung ist qua­si die „Gegen­wart“. Pro­lep­sen und Anal­ep­sen (Ana­chro­nien) sind in der Regel expli­zit oder impli­zit mar­kiert, d.h.: Es gibt Signa­le, die ange­ben, dass jetzt von etwas Zukünf­ti­gem (z.B. „mor­gen“) oder Ver­gan­ge­nem (z.B. „ges­tern“) erzählt wird. Feh­len die­se Signa­le oder zei­gen sie die Gegen­wart an („nun“, „jetzt“, „heu­te“ etc.), dann ist das meis­tens die Basiserzählung.

        1. Die Basis­er­zäh­lung ist grund­sätz­lich die „Gegen­wart“ der Figu­ren der Geschich­te (also z.B. von Gre­nouil­le), unab­hän­gig davon, ob sie von uns aus (bzw. aus der Sicht der Erzähl­in­stanz) in der Ver­gan­gen­heit, Gegen­wart oder Zukunft liegt.

  2. An einem Orte der Man­cha, an des­sen Namen ich mich nicht erin­nern will, leb­te vor nicht lan­ger Zeit ein Jun­ker, einer von jenen, die einen Speer im Lan­zen­ge­stell, eine alte Tartsche, einen hagern Gaul und einen Wind­hund zum Jagen haben. 

    Ist das eine Analepse?

    Michi
    1. Eine Anal­ep­se ist ein Abste­cher in die Zeit vor der Basis­er­zäh­lung. In Dei­nem Bei­spiel bezieht sich „vor nicht lan­ger Zeit“ aber auf die Basis­er­zäh­lung selbst: Dem Leser wird ver­mit­telt, wo die Basis­er­zäh­lung zeit­lich ein­zu­ord­nen ist. Eine Anal­ep­se wür­de zum Bei­spiel so aus­se­hen (kur­siv hervorgehoben):

      „An einem Orte der Man­cha, an des­sen Namen ich mich nicht erin­nern will, leb­te vor nicht lan­ger Zeit ein Jun­ker, einer von jenen, die einen Speer im Lan­zen­ge­stell, eine alte Tartsche, einen hagern Gaul und einen Wind­hund zum Jagen haben. Sein Urur­ur­groß­va­ter war ein berühm­ter Rit­ter gewe­sen, aber nun war die Zeit der Rit­ter vorüber.“

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