Ord­nung: Ana­chro­nis­ti­sches Erzählen

Ord­nung: Ana­chro­nis­ti­sches Erzählen

Erzäh­lungen sind selten wirk­lich linear. Immer wieder erfahren die Leser, was vor den Ereig­nissen in der Erzäh­lung pas­siert ist, und manchmal auch, was in der Zukunft noch pas­sieren wird. Diese Anal­epsen und Pro­lepsen bzw. Flash­backs und Vor­aus­deu­tungen lassen sich natür­lich kate­go­ri­sieren. — Und genau das machen wir in diesem Artikel: Wir schauen uns an, welche Arten von Anal­epsen und Pro­lepsen es über­haupt gibt und was man bei Ana­chro­nien gene­rell beachten sollte.

Die Folien für dieses Video gibt es für Steady-Abon­nenten und Kanal­mitglieder auf You­Tube als PDF zum Down­load.

Bisher haben wir uns, was Genettes Erzähl­theorie betrifft, nur mit der Erzähl­per­spek­tive befasst. Doch was für die Struktur einer Erzäh­lung laut Genette auch noch wichtig ist, ist die Erzähl­zeit:

Die Zeit, die man braucht, um die Erzäh­lung zu erzählen.

Bei schrift­li­chen Texten läuft das in der Praxis auf die Wort- und Sei­ten­an­zahl hinaus.

Was Genette hier kon­kret unter­sucht, ist, wie das Erzählte (die Geschichte selbst) in der Erzäh­lung unter­ge­bracht wird:

Wel­ches Ereignis wird wann erwähnt? Wie lange hält sich der Erzähler mit diesem oder jenem Ereignis auf? Wie oft wird ein bestimmtes Ereignis inner­halb der Erzäh­lung ange­spro­chen?

Für die Ana­lyse der Erzähl­zeit nutzt Genette drei Kate­go­rien:

  • Ord­nung
  • Dauer
  • Fre­quenz

Wir werden sie alle nach­ein­ander bespre­chen und beginnen heute mit der Ord­nung.

Ord­nung: Story vs. Plot

Am ein­fachsten lässt sich die Kate­gorie der Ord­nung erklären, wenn wir an meinen frü­heren Artikel über Story und Plot zurück­denken:

  • Story sind die Ereig­nisse, wie sie „tat­säch­lich“ pas­sieren. Also die chro­no­lo­gisch rich­tige Rei­hen­folge.
  • Plot hin­gegen ist die Anord­nung der Ereig­nisse in der Erzäh­lung. Denn ein Erzähler muss nicht zwang­läufig alle Ereig­nisse in der Rei­hen­folge erwähnen, in der sie pas­siert sind, son­dern kann von frü­heren Ereig­nissen an spä­terer Stelle erzählen oder Dinge, die erst später pas­sieren, schon früher andeuten.

Genette benutzt zwar nicht die Begriffe Story und Plot, meint mit der „tem­po­ralen Ord­nung oder Rei­hen­folge der Ereig­nisse in der Die­gese“ und der „pseudo-tem­po­ralen Ord­nung ihrer Dar­stel­lung in der Erzäh­lung“ genau das.

Und damit ist die Defi­ni­tion von Ord­nung auch ganz ein­fach:

Ord­nung ist das Ver­hältnis zwi­schen Story und Plot.

Und kon­kret bedeutet das:

Es geht um Ana­chro­nien (d.h. Anal­epsen und Pro­lepsen) und am Ende sogar ein wenig um die Achronie.

Ana­chro­nien

Sofern eine Erzäh­lung expli­zite oder impli­zite Anhalts­punkte her­gibt, erfahren wir Leser mehr oder weniger genau, wann wel­ches Ereignis statt­findet.

Wenn Fritz­chen zum Bei­spiel sagt: „Ges­tern war ich im Kino“, dann fand sein Kino­be­such am Tag vor dem Moment statt, in dem er über diesen Kino­be­such erzählt.

Anhand dieser Anhalts­punkte können wir erkennen, ob die Ereig­nisse im Plot anders ange­ordnet sind, als sie tat­säch­lich chro­no­lo­gisch pas­siert sind.

Hier haben Story und Plot zum Bei­spiel die­selbe Anord­nung:

„Fritz­chen hat ein Eis gegessen, dann ging er ins Kino.“

Und hier haben wir eine offen­sicht­liche Dis­so­nanz zwi­schen Story und Plot:

„Fritz­chen ging ins Kino. Vorher hat er aber ein Eis gegessen.“

Diese Dis­so­nanz zwi­schen Story und Plot nennt Genette Ana­chronie.

Ana­chro­nien sind überall!

Und abge­sehen von ganz simplen Geschichten sind Ana­chro­nien prak­tisch in jeder Erzäh­lung vor­pro­gram­miert. Denn egal, an wel­chem Punkt man eine Geschichte zu erzählen beginnt: Es gibt fast immer etwas Wich­tiges, das vor diesem Punkt pas­siert ist. Über­lege selbst:

Beginnt die Geschichte Deines eigenen Lebens mit Deiner Geburt, dem Ken­nen­lernen Deiner Eltern, dem Ken­nen­lernen deiner Groß­el­tern oder mit dem Urknall?

Deine Geschichte mit dem Urknall zu beginnen ist natür­lich absurd. Aber wenn Du ihn in Deiner Geschichte ansprichst, hast Du auto­ma­tisch eine Ana­chronie.

Manche Ana­chro­nien fallen natür­lich stärker auf als andere, doch sie finden sich selbst in den unschein­barsten Erzäh­lungen:

„Heute besuchte mich ein Freund, den ich vor zwei Jahren ken­nen­ge­lernt habe.“

- Bäm! Ana­chronie!

Die kun­ter­bunte Welt der Ana­chro­nien

All die vielen Ana­chro­nien gibt es natür­lich in allen mög­li­chen Formen und Farben. Spe­ziell schaut Genette vor allem auf die Reich­weite und den Umfang der Ana­chronie:

  • Reich­weite ist dabei die zeit­liche Distanz zur „eigent­li­chen“ Geschichte:
    Ob ein Ereignis also fünf Minuten oder hun­dert Jahre vor oder nach dem „Jetzt“-Moment in der Geschichte liegt.
  • Umfang hin­gegen bezeichnet die Dauer der Ana­chronie in der Geschichte:
    Ob dem frü­heren oder spä­teren Ereignis ein Halb­satz oder meh­rere Kapitel gewidmet sind.

Und wo ich eben den „Jetzt“-Moment ange­spro­chen habe:

Diese Zeit­ebene, auf der die eigent­liche Geschichte statt­findet, nennt Genette Basis­er­zäh­lung. Zum Bei­spiel:

„Fritz­chen war heute im Kino. Vorher hat er ein Eis gegessen und dachte an Lies­chen. Nach dem Kino dachte er immer noch an Lies­chen und beschloss, sie anzu­rufen.“

Das Eis­essen ist hier klar die Ana­chronie. Der Kino­be­such und der Beschluss, Lies­chen anzu­rufen, sind die Basis­er­zäh­lung.

Natür­lich ist jede Ana­chronie gleich­zeitig selbst eine Erzäh­lung. Sie ist der Basis­er­zäh­lung zwar unter­ge­ordnet, aber sie ist eine Erzäh­lung und sie kann als Basis­er­zäh­lung für eine wei­tere Ana­chronie fun­gieren. So ent­stehen zum Bei­spiel solche Ver­schach­te­lungen:

„Fritz­chen war heute im Kino. Vorher hat er ein Eis gegessen und dachte an seinen gest­rigen Streit mit Lies­chen. Nach dem Kino dachte er immer noch an Lies­chen und beschloss, sie anzu­rufen.“

Vor allem aber unter­scheidet man bei Ana­chro­nien zwi­schen Anal­epsen und Pro­lepsen: ob die Ana­chronie zeit­lich vor oder nach der Basis­er­zäh­lung statt­findet. Und weil wir es mit Genette zu tun haben, wird es hier erst recht klein­ka­riert …

Anal­epsen

Wenn die Ana­chronie zeit­lich vor der Basis­er­zäh­lung liegt, dann nennt man sie Anal­epse. In Filmen und im Volks­mund sagt man dazu auch „Flash­back“.

Genette unter­scheidet hier vor allem zwi­schen externen und internen Anal­epsen:

  • Die externe Anal­epse ent­hält Ereig­nisse, die kom­plett vor der Basis­er­zäh­lung pas­siert sind:

Ordnung: Anachronistisches Erzählen

„Heute Morgen besuchte mich ein Freund, den ich vor zwei Jahren aus den Augen ver­loren habe. Wir haben uns bis zum Mittag unter­halten.“

Mitten in dieser Erzäh­lung machen wir einen kurzen Abte­cher in die Zeit vor zwei Jahren und kehren dann wieder in die Gegen­wart zurück.

  • Die interne Anal­epse hin­gegen ent­hält Ereig­nisse, die wäh­rend der Basis­er­zäh­lung pas­siert sind:

Ordnung: Anachronistisches Erzählen

„Seit zwei Jahren lebe ich in Bei­spiel­stadt. Heute Morgen besuchte mich aber ein Freund aus Ande­re­stadt. Er erzählte mir von seinem eigenen Umzug vor einem Jahr. Wir haben uns bis zum Mittag unter­halten.“

Die Basis­er­zäh­lung beginnt mit dem Umzug nach Bei­spiel­stadt. Und wäh­rend das „Ich“ in Bei­spiel­stadt gelebt hat, ist der Freund eben­falls umge­zogen.

Grund­sätz­lich ist auch eine Mischung aus beiden mög­lich. Genette nennt sie ganz simpel gemischte Anal­epse: Sie beginnt vor der Basis­er­zäh­lung und endet mit dem Anfang der Basis­er­zäh­lung:

Ordnung: Anachronistisches Erzählen

„Heute Morgen besuchte mich ein Freund aus Ande­re­stadt. Nach meinem Umzug nach Bei­spiel­stadt vor zwei Jahren haben wir uns aus den Augen ver­loren und vor einem Jahr hat er die Suche nach mir auf­ge­nommen. Heute Morgen hat er mich end­lich gefunden und wir haben uns bis zum Mittag unter­halten.“

Die Basis­er­zäh­lung beginnt mit dem Besuch des Freundes. Dann folgt eine Anal­epse mit der Vor­ge­schichte, wie es zu diesem Besuch gekommen ist. Diese Vor­ge­schichte wird kom­plett erzählt bis zum Moment des Besuchs selbst.

Genette bemerkt aber auch, dass die gemischte Anal­epse eher selten vor­kommt.

Externe und interne Anal­epsen in der Praxis

Die externe Anal­epse hat den unschätz­baren Vor­teil, dass sie sich nie mit der Basis­er­zäh­lung über­schneidet. Sie ergänzt sie nur.

Anders hin­gegen ver­hält es sich mit der internen Anal­epse: Weil die Ereig­nisse in der internen Anal­epse sich ja zeit­lich mit der Basis­er­zäh­lung über­schneiden, besteht die Gefahr, dass sie über­flüs­sige Infor­ma­tionen ent­halten oder — schlimms­ten­falls — der Basis­er­zäh­lung wider­spre­chen. Des­wegen unter­scheidet Genette zwi­schen hete­ro­die­ge­ti­schen internen Anal­epsen und homo­die­ge­ti­schen internen Anal­epsen:

  • Hete­ro­die­ge­ti­sche interne Anal­epsen ent­gehen der oben genannten Gefahr, indem sie ein­fach einen anderen Strang der Geschichte beschreiben als die Basis­er­zäh­lung:
    Zum Bei­spiel geht es um die Vor­ge­schichte einer neuen Figur oder um das Wie­der­auf­tau­chen einer alten Figur, die man aus den Augen ver­loren hat und von der man nun erfährt, was ihr in der Zwi­schen­zeit alles zuge­stoßen ist:

Ordnung: Anachronistisches Erzählen

Einen anschau­li­chen Fall haben wir in Der Herr der Ringe von J. R. R. Tol­kien:
Frodo wird von Gan­dalf auf die berühmte Reise geschickt. In Bruchtal begegnet er ihm wieder und Gan­dalf erzählt von seiner Gefan­gen­nahme durch Sar­uman.

  • Homo­die­ge­ti­sche interne Anal­epsen hin­gegen betreffen den Hand­lungs­strang der Basis­er­zäh­lung. Des­wegen müssen Autoren hier beson­ders auf­passen, dass sie Infor­ma­tionen nicht dop­pelt-mop­peln oder den Infor­ma­tionen aus der Basis­er­zäh­lung sogar wider­spre­chen. Genette unter­scheidet hier zwi­schen zwei Unter­typen:

Ordnung: Anachronistisches Erzählen

    • Kom­ple­tive Anal­epsen füllen nach­träg­lich eine Lücke in der Erzäh­lung.

Ordnung: Anachronistisches Erzählen

Ein sol­ches Bei­spiel findet sich in Stolz und Vor­ur­teil von Jane Austen:
Wir beob­achten das Geschehen wei­test­ge­hend von Eli­sa­beths Stand­punkt aus — und aus dieser lücken­haften Per­spek­tive sieht Darcy sehr unvor­teil­haft aus. Nachdem Eli­sa­beth Darcy ihre Mei­nung von ihm an den Kopf geworfen hat, stellt er ihr in einem Brief seine Per­spek­tive der­selben Ereig­nisse dar und berichtet auch von Dingen, von denen sie nichts wusste.

    • Repe­ti­tive Anal­epsen Rück­griffe sind meis­tens eher kleine Anspie­lungen auf bereits Erzähltes.

Ordnung: Anachronistisches Erzählen

Im dritten Band von Harry Potter rettet Harry Wurm­schwanz das Leben. Im siebten Band erin­nert er ihn wieder daran:
„Du bringst mich um? […] Nachdem ich dein Leben gerettet habe? Du schul­dest mir, Wurm­schwanz!“
J. K. Row­ling: Harry Potter und die Hei­lig­tümer des Todes, Kapitel: Das Haus Malfoy.

Par­ti­elle und kom­plette Anal­epsen

Sowohl externe als auch interne Anal­epsen können außerdem par­tiell oder kom­plett sein.

  • Eine par­ti­elle Anal­epse beschreibt dabei nur einen Punkt in der Ver­gan­gen­heit und ist nicht an die Gegen­wart ange­bunden. Oft han­delt es sich um eine ein­zelne Infor­ma­tion, die wichtig ist für das Ver­ständnis der Basis­er­zäh­lung:

Ein bekanntes Bei­spiel befindet sich im siebten Band von Harry Potter:
Als Harry, Ron und Her­mine das Mär­chen über den Ursprung der Hei­lig­tümer des Todes lesen, erfahren wir nur etwas über die Erschaf­fung der Hei­lig­tümer und ihre magi­schen Kräfte. Wir erfahren aber nichts über der Wer­de­gang der Hei­lig­tümer im Ver­lauf der Jahr­hun­derte.

  • Eine kom­plette Anal­epse hin­gegen geht bis zur „Gegen­wart“, erzählt die kom­plette Vor­ge­schichte und ist in man­chen Fällen ein wich­tiger Teil oder sogar der Haupt­teil der Erzäh­lung.

In Remar­ques Roman Die Nacht von Lis­sabon begegnet der Ich-Erzähler in Lis­sabon einem Fremden namens Josef Schwarz. Dieser Josef Schwarz erzählt ihm, wie und warum er von Deutsch­land nach Lis­sabon gekommen ist. Diese Erzäh­lung, die Vor­ge­schichte von Schwarz, macht den Haupt­teil des Romans aus.

War­nungen bei Anal­epsen

So viel zu den Anal­epsen. Wie aber auch Genette selbst immer wieder anmerkt, gehen sie mit bestimmten Gefahren einher. Daher an dieser Stelle einige all­ge­meine War­nungen:

  • Pass auf, dass Du in Deinen Anal­epsen nicht unnötig Infor­ma­tionen wie­der­holst, die dem Leser bereits vor­liegen:

Wenn Fritz­chen und Lies­chen in einem Kapitel ins Theater gehen, dann soll­test Du den Thea­ter­be­such in einem spä­teren Kapitel nicht nach­er­zählen. — Es sei denn, Du ver­legst den Schwer­punkt auf Aspekte, die Du im ursprüng­li­chen Theater-Kapitel weg­ge­lassen hast. Ansonsten reicht die bloße Erwäh­nung des Thea­ter­be­suchs in den spä­teren Kapi­teln völlig aus.

  • Pass auch auf, dass die Infor­ma­tionen in Deinen Anal­epsen zu dem passen, was in der Basis­er­zäh­lung bereits erzählt wurde:

Wenn Fritz­chen zur Ver­ab­re­dung mit Lies­chen zu spät gekommen ist, soll­test Du in den spä­teren Kapi­teln nicht schreiben, er sei pünkt­lich gewesen.

  • Da Anal­epsen sich außerdem her­vor­ra­gend eignen, um die Hin­ter­gründe von Figuren und Ereig­nissen zu erläu­tern, soll­test Du auf­passen, dass diese Hin­ter­grund­er­zäh­lungen nur so aus­führ­lich sind wie nötig. Wenn Du zu viele irrele­vante Details ein­bin­dest, dann ist das Info-Dump. — Und den wollen die meisten nicht lesen.

Wenn Opa Fritz­chen und Oma Lies­chen sich an ihr erstes Date im Theater erin­nern, dann soll­test Du nicht jedes kleine archi­tek­to­ni­sche Detail des Thea­ters beschreiben. Kon­zen­triere Dich auf Aspekte, die unmit­telbar ihre Bezie­hung betreffen.

Doch natür­lich sind das nur Tipps und Du kannst gegen alles, was ich hier auf­ge­zählt habe, ver­stoßen. Denn wenn Ver­stöße einen beson­deren Zweck erfüllen, dann sind das Kunst­griffe. Ein sehr bekannter Kunst­griff dieser Art findet sich im Lied von Eis und Feuer von George R. R. Martin:

Wäh­rend der Schlacht am Schwarz­wasser begegnet Sansa Sandor Cle­gane. Dieser zwingt sie, ihm ein Lied vor­zu­singen. Als Sansa sich später an diese Begeg­nung erin­nert, ist sie über­zeugt, Sandor hätte sie geküsst. Warum dieser Wider­spuch da ist, wissen wir noch nicht, aber der Autor hat ver­spro­chen, dass er im spä­teren Ver­lauf der Geschichte etwas bedeuten wird.

Pro­lepsen

Das viel sel­te­nere Gegen­stück zur Anal­epse ist die Pro­lepse, d.h. der Blick in die Zukuft. Damit funk­tio­niert die Pro­lepse ähn­lich wie die Anal­epse, nur in umge­kehrter Rich­tung.

So unter­scheidet Genette auch hier zwi­schen intern und extern:

Externe Pro­lepsen sind Ein­blicke in eine Zeit nach dem Ende der Basis­er­zäh­lung: Hier erfahren wir, was mit den Figuren nach dem Ende der Haupt­hand­lung pas­siert. Das kann eine unbe­stimmte, ferne Zukunft sein oder auch die Gegen­wart eines Erzäh­lers, der sich an ver­gan­gene Ereig­nisse erin­nert:

Ordnung: Anachronistisches Erzählen

In der Schatz­insel von Robert L. Ste­venson erzählt Jim Haw­kins von Ereig­nissen, die weit in der Ver­gan­gen­heit zurück­liegen:

„Der Plan, den ich aus­führen wollte, war an und für sich nicht schlecht. Ich wollte die san­dige Land­zunge, die den Anker­platz im Osten von der offenen See trennt, bis zu dem weißen Felsen hin­ab­gehen, den ich ges­tern bemerkt hatte, um fest­zu­stellen, on Ben Gunn wirk­lich sein Boot dort ver­steckt hatte, und ich glaube auch jetzt noch, daß das schon der Mühe wert war zu unter­su­chen.“
Robert L. Ste­venson: Die Schatz­insel, 22. Kapitel: Wie mein See­aben­teuer begann.

Die Worte „und ich glaube auch jetzt noch“ beziehen sich auf den Moment, in dem Jim von der Schatz­suche erzählt. — Also auf eine Zeit, die lange nach den Aben­teuern in der Erzäh­lung liegt.

Interne Pro­lepsen zeigen, was wäh­rend der Basis­er­zäh­lung später noch pas­sieren wird. Damit bringen sie die­selben Gefahren mit sich wie interne Anal­epsen.

Ordnung: Anachronistisches Erzählen

  • Hete­ro­die­ge­ti­sche interne Pro­lepsen beschreiben die zukünf­tige Ent­wick­lung eines anderen Strangs, der später nicht mehr auf­ge­griffen wird:

Ordnung: Anachronistisches Erzählen

„Nach der Tren­nung von Lies­chen begann eine dunkle Phase im Leben von Fritz­chen. Er ahnte nicht, dass auch Lies­chen Jahre brau­chen würde, um über die Tren­nung hin­weg­zu­kommen. Nach zwei depres­siven Jahren nahm Fritz­chen sich aber wieder zusammen und begann ein neues Leben.“

Lies­chens Krise pas­siert zur glei­chen Zeit wie die von Fritz­chen, aber sie ist nicht mehr länger Teil von Fritz­chens Geschichte. Damit sind hete­ro­die­ge­ti­sche Pro­lepsen vor unnö­tigen Dop­pelt-Mopp­lungen von Infor­ma­tionen sicher.

  • Homo­die­ge­ti­sche interne Pro­lepsen lassen sich, ebenso wie die homo­die­ge­ti­schen internen Anal­epsen, in zwei wei­tere Kate­go­rien auf­teilen:

Ordnung: Anachronistisches Erzählen

    • Kom­ple­tive Pro­lepsen füllen eine spä­tere Lücke aus. Zum Bei­spiel:

Ordnung: Anachronistisches Erzählen

In einem Kapitel plant Lies­chen ihr Tren­nungs­ge­spräch mit Fritz­chen. Im nächsten Kapitel setzt sie diesen Plan um, aber wir beob­achten das Ganze aus Fritz­chens Per­spek­tive. Durch Fritz­chens Sub­jek­ti­vität ist diese natür­lich lücken­haft. Doch die Pro­lepse im Kapitel davor füllt diese Lücke aus. Des­wegen stört es uns Leser auch nicht, von diesem Tren­nungs­ge­spräch zweimal zu lesen: Denn wir sehen unter­schied­liche Aspekte dieses Ereig­nisses.

    • Repe­ti­tive Pro­lepsen sind meis­tens eher kleine Andeu­tungen auf spä­tere Ereig­nisse, von denen in den nach­fol­genden Kapi­teln genauer erzählt wird. Zum Bei­spiel:

Ordnung: Anachronistisches Erzählen

Am Anfang der Basis­er­zäh­lung lernen sich Fritz­chen und Lies­chen kennen und der Erzähler warnt: „Noch ahnte Fritz­chen nicht, wie viel Schmerz diese Begeg­nung ihm bringen würde.“ Im spä­teren Ver­lauf der Erzäh­lung werden Fritz­chen und Lies­chen ein Paar, haben eine Bezie­hungs­krise und trennen sich wieder. Nun berichtet der Erzähler aus­führ­lich von der Tren­nungs­phase, die er bei der Begeg­nung von Fritz­chen und Lies­chen nur ange­deutet hat.

Hier ist es natür­lich wichtig, bei der Pro­lepse nicht zu viele Details im Voraus preis­zu­geben, denn sonst braucht man die Geschichte ja nicht mehr zu lesen.

Rein theo­re­tisch könnte man außerdem noch zwi­schen kom­pletten und par­ti­ellen Pro­lepsen unter­scheiden. Aller­dings findet Genette kaum Bei­spiele für kom­plette Pro­lepsen, d.h. eine kom­plette Vor­weg­nahme der ganzen Geschichte bis zur Auf­lö­sung oder bis zum Zeit­punkt des Erzähl­aktes an sich. — Das ist aber auch ver­ständ­lich, denn bei einer sol­chen kom­pletten Pro­lepse braucht der Leser die Erzäh­lung ja nicht mehr zu lesen. Aus diesem Grund stellt Genette fest, dass es wohl nur par­ti­elle Pro­lepsen gibt, d.h. Pro­lepsen, die nur einen Aus­schnitt der Zukunft preis­gehen.

Vor­griffe und Vor­halte

Diese Andeu­tungen auf spä­tere Ereig­nisse können sowohl explizit als auch implizit sein.

  • Expli­zite Andeu­tungen nennt Genette Vor­griffe. Diese sind, wie das Wort „explizit“ sagt, klar gekenn­zeichnet. Das pas­siert oft durch For­mu­lie­rungen wie zum Bei­spiel:

„Wir werden später sehen, dass …“

Vor­griffe lösen beim Leser bestimmte Erwar­tungen aus, indem sie kon­kret sagen, was der Leser erwarten soll. Das kann durchaus Fragen auf­werfen und somit Span­nung aus­lösen:

„Fritz­chen, Lies­chen, Max und Erika fuhren im Sommer gemeinsam in den Urlaub. Als sie nun ent­spannt auf dem Strand lagen, ahnten sie nicht, dass nur einer von ihnen lebendig heim­kehren würde. […]“

  • Impli­zite Andeu­tungen bzw. Vor­halte zeigen die zukünf­tigen Ereig­nisse eher indi­rekt und oft sind sie erst im Nach­hinein als solche erkennbar. Wir sehen das zum Bei­spiel im Lied von Eis und Feuer:

Am Anfang ent­de­cken Eddard Stark und sein Gefolge einen toten Schat­ten­wolf und die noch lebenden Welpen des Schat­ten­wolfes. Im spä­teren Ver­lauf der Geschichte kommt Eddard Stark, auf dessen Wappen ein Schat­ten­wolf abge­bildet ist, ums Leben. Eddard Starks Kinder, die die Welpen adop­tiert haben, bleiben zurück. Damit wurde mit dem toten Schat­ten­wolf die Zukunft der Familie Stark ange­deutet, aber als Leser hat man sich auf den ersten Blick nicht unbe­dingt etwas gedacht.

Manchmal kann das Publikum solche Vor­halte aber durchaus iden­ti­fi­zieren, wenn es bestimmtes Vor­wissen hat. Dieses Vor­wissen kann bei­spiels­weise aus einem Prolog stammen oder vom Titel der Erzäh­lung her­rühren:

Die Bedeu­tung des toten Schat­ten­wolfes wäre am Anfang viel leichter zu erkennen gewesen, wenn zumin­dest der erste Band vom Lied von Eis und Feuer nicht A Game of Thrones heißen würde, son­dern Das Omen des Schat­ten­wolfes.

Aller­dings kann der Autor sol­ches Vor­wissen so streuen, dass die Leser auf eine fal­sche Fährte gelockt werden. Dass sie fal­sche Vor­halte sehen und rich­tige Vor­halte übersehen. Das findet man zum Bei­spiel gerne in Krimis.

Abschlie­ßendes zu Pro­lepsen

Wie wir bereits gesehen haben, können Pro­lepsen Span­nung auf­bauen. Außerdem können sie die Wir­kung eines Ereig­nisses unter­strei­chen, indem man dem Leser dessen Nach­wir­kungen vor Augen führt.

Aller­dings sind gerade bei internen Pro­lepsen, wie gesagt, all die Punkte zu beachten, die für interne Anal­epsen gelten:

Ver­meide unnö­tige Infor­ma­tionen und achte darauf, dass die Infor­ma­tionen in der Pro­lepse zu denen in der Basis­er­zäh­lung passen.

Achronie

Nachdem wir nun also die ver­schie­denen Arten von Pro­lepsen und Anal­epsen klein­ka­riert sor­tiert haben, bringen wir das Ganze nun wieder durch­ein­ander. Denn es gibt auch solche span­nenden Phä­no­mene:

  • Pro­lepsen in Pro­lepsen, Anal­epsen in Pro­lepsen, Pro­lepsen in Anal­epsen etc.
  • Pro­lepsen, die von der Basis­er­zäh­lung später wider­legt werden und sich als feh­ler­hafte Zukunfts­fan­ta­sien ent­puppen
  • ein Erzähler, der im Voraus berichtet, wie er später über ein aktu­elles Ereignis erfuhr
  • Anal­epsen ohne genauen End­punkt
  • Pro­lepsen und Anal­epsen gleich­zeitig:
    „Fritz­chen geht auf die Party und sucht Lies­chen. Diese wird aber, wie wir bereits gesehen haben, später kommen.“

Was soll man denn da sagen? — Viel Spaß beim „Ent­wirren“! 😛

Doch der abso­lute Extrem­fall ist, wenn es in der Erzäh­lung über­haupt keine Zeit­an­gaben oder auch nur indi­rekte Hin­weise gibt und wir ein Ereignis gar nicht zeit­lich ein­ordnen können. Diesen Fall nennt Genette Achronie. Und er ist so ver­wir­rend, dass unsere Mög­lich­keiten der Ana­lyse hier an ihre Grenzen zu stoßen scheinen.

8 Kommentare

  1. Hallo. Ich danke dir herz­lich für deine unter­schie­li­chen Erklä­rungen. Aber ich hab pro­blem mit der Basis­er­zäh­lungen. Wie kann ich die Basis­er­zäh­lungen erkennen? freue mich auf deine Erklä­rungen.

    salvador
    1. Die Basis­er­zäh­lung ist quasi die „Gegen­wart“. Pro­lepsen und Anal­epsen (Ana­chro­nien) sind in der Regel explizit oder implizit mar­kiert, d.h.: Es gibt Signale, die angeben, dass jetzt von etwas Zukünf­tigem (z.B. „morgen“) oder Ver­gan­genem (z.B. „ges­tern“) erzählt wird. Fehlen diese Signale oder zeigen sie die Gegen­wart an („nun“, „jetzt“, „heute“ etc.), dann ist das meis­tens die Basis­er­zäh­lung.

        1. Die Basis­er­zäh­lung ist grund­sätz­lich die „Gegen­wart“ der Figuren der Geschichte (also z.B. von Gre­nouille), unab­hängig davon, ob sie von uns aus (bzw. aus der Sicht der Erzähl­in­stanz) in der Ver­gan­gen­heit, Gegen­wart oder Zukunft liegt.

  2. An einem Orte der Mancha, an dessen Namen ich mich nicht erin­nern will, lebte vor nicht langer Zeit ein Junker, einer von jenen, die einen Speer im Lan­zen­ge­stell, eine alte Tartsche, einen hagern Gaul und einen Wind­hund zum Jagen haben.

    Ist das eine Anal­epse?

    Michi
    1. Eine Anal­epse ist ein Abste­cher in die Zeit vor der Basis­er­zäh­lung. In Deinem Bei­spiel bezieht sich „vor nicht langer Zeit“ aber auf die Basis­er­zäh­lung selbst: Dem Leser wird ver­mit­telt, wo die Basis­er­zäh­lung zeit­lich ein­zu­ordnen ist. Eine Anal­epse würde zum Bei­spiel so aus­sehen (kursiv her­vor­ge­hoben):

      „An einem Orte der Mancha, an dessen Namen ich mich nicht erin­nern will, lebte vor nicht langer Zeit ein Junker, einer von jenen, die einen Speer im Lan­zen­ge­stell, eine alte Tartsche, einen hagern Gaul und einen Wind­hund zum Jagen haben. Sein Urur­ur­groß­vater war ein berühmter Ritter gewesen, aber nun war die Zeit der Ritter vor­über.“

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert