Ordnung: Anachronistisches Erzählen

Ordnung: Anachronistisches Erzählen

Erzäh­lun­gen sind sel­ten wirk­lich lin­ear. Immer wieder erfahren die Leser, was vor den Ereignis­sen in der Erzäh­lung passiert ist, und manch­mal auch, was in der Zukun­ft noch passieren wird. Diese Analepsen und Pro­lepsen bzw. Flash­backs und Voraus­deu­tun­gen lassen sich natür­lich kat­e­gorisieren. — Und genau das machen wir in diesem Artikel: Wir schauen uns an, welche Arten von Analepsen und Pro­lepsen es über­haupt gibt und was man bei Anachronien generell beacht­en sollte.

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Bish­er haben wir uns, was Genettes Erzählthe­o­rie bet­rifft, nur mit der Erzählper­spek­tive befasst. Doch was für die Struk­tur ein­er Erzäh­lung laut Genette auch noch wichtig ist, ist die Erzäh­lzeit:

Die Zeit, die man braucht, um die Erzäh­lung zu erzählen.

Bei schriftlichen Tex­ten läuft das in der Prax­is auf die Wort- und Sei­t­e­nan­zahl hin­aus.

Was Genette hier konkret unter­sucht, ist, wie das Erzählte (die Geschichte selb­st) in der Erzäh­lung unterge­bracht wird:

Welch­es Ereig­nis wird wann erwäh­nt? Wie lange hält sich der Erzäh­ler mit diesem oder jen­em Ereig­nis auf? Wie oft wird ein bes­timmtes Ereig­nis inner­halb der Erzäh­lung ange­sprochen?

Für die Analyse der Erzäh­lzeit nutzt Genette drei Kat­e­gorien:

  • Ord­nung
  • Dauer
  • Fre­quenz

Wir wer­den sie alle nacheinan­der besprechen und begin­nen heute mit der Ord­nung.

Ordnung: Story vs. Plot

Am ein­fach­sten lässt sich die Kat­e­gorie der Ord­nung erk­lären, wenn wir an meinen früheren Artikel über Sto­ry und Plot zurück­denken:

  • Sto­ry sind die Ereignisse, wie sie “tat­säch­lich” passieren. Also die chro­nol­o­gisch richtige Rei­hen­folge.
  • Plot hinge­gen ist die Anord­nung der Ereignisse in der Erzäh­lung. Denn ein Erzäh­ler muss nicht zwan­gläu­fig alle Ereignisse in der Rei­hen­folge erwäh­nen, in der sie passiert sind, son­dern kann von früheren Ereignis­sen an später­er Stelle erzählen oder Dinge, die erst später passieren, schon früher andeuten.

Genette benutzt zwar nicht die Begriffe Sto­ry und Plot, meint mit der “tem­po­ralen Ord­nung oder Rei­hen­folge der Ereignisse in der Diegese” und der “pseu­do-tem­po­ralen Ord­nung ihrer Darstel­lung in der Erzäh­lung” genau das.

Und damit ist die Def­i­n­i­tion von Ord­nung auch ganz ein­fach:

Ord­nung ist das Ver­hält­nis zwis­chen Sto­ry und Plot.

Und konkret bedeutet das:

Es geht um Anachronien (d.h. Analepsen und Pro­lepsen) und am Ende sog­ar ein wenig um die Achronie.

Anachronien

Sofern eine Erzäh­lung explizite oder implizite Anhalt­spunk­te hergibt, erfahren wir Leser mehr oder weniger genau, wann welch­es Ereig­nis stat­tfind­et.

Wenn Fritzchen zum Beispiel sagt: “Gestern war ich im Kino”, dann fand sein Kinobe­such am Tag vor dem Moment statt, in dem er über diesen Kinobe­such erzählt.

Anhand dieser Anhalt­spunk­te kön­nen wir erken­nen, ob die Ereignisse im Plot anders ange­ord­net sind, als sie tat­säch­lich chro­nol­o­gisch passiert sind.

Hier haben Sto­ry und Plot zum Beispiel dieselbe Anord­nung:

“Fritzchen hat ein Eis gegessen, dann ging er ins Kino.”

Und hier haben wir eine offen­sichtliche Dis­so­nanz zwis­chen Sto­ry und Plot:

“Fritzchen ging ins Kino. Vorher hat er aber ein Eis gegessen.”

Diese Dis­so­nanz zwis­chen Sto­ry und Plot nen­nt Genette Anachronie.

Anachronien sind überall!

Und abge­se­hen von ganz sim­plen Geschicht­en sind Anachronien prak­tisch in jed­er Erzäh­lung vor­pro­gram­miert. Denn egal, an welchem Punkt man eine Geschichte zu erzählen begin­nt: Es gibt fast immer etwas Wichtiges, das vor diesem Punkt passiert ist. Über­lege selb­st:

Begin­nt die Geschichte Deines eige­nen Lebens mit Dein­er Geburt, dem Ken­nen­ler­nen Dein­er Eltern, dem Ken­nen­ler­nen dein­er Großel­tern oder mit dem Urk­nall?

Deine Geschichte mit dem Urk­nall zu begin­nen ist natür­lich absurd. Aber wenn Du ihn in Dein­er Geschichte ansprichst, hast Du automa­tisch eine Anachronie.

Manche Anachronien fall­en natür­lich stärk­er auf als andere, doch sie find­en sich selb­st in den unschein­barsten Erzäh­lun­gen:

“Heute besuchte mich ein Fre­und, den ich vor zwei Jahren ken­nen­gel­ernt habe.”

- Bäm! Anachronie!

Die kunterbunte Welt der Anachronien

All die vie­len Anachronien gibt es natür­lich in allen möglichen For­men und Far­ben. Speziell schaut Genette vor allem auf die Reich­weite und den Umfang der Anachronie:

  • Reich­weite ist dabei die zeitliche Dis­tanz zur “eigentlichen” Geschichte:
    Ob ein Ereig­nis also fünf Minuten oder hun­dert Jahre vor oder nach dem “Jetzt”-Moment in der Geschichte liegt.
  • Umfang hinge­gen beze­ich­net die Dauer der Anachronie in der Geschichte:
    Ob dem früheren oder späteren Ereig­nis ein Halb­satz oder mehrere Kapi­tel gewid­met sind.

Und wo ich eben den “Jetzt”-Moment ange­sprochen habe:

Diese Zeit­ebene, auf der die eigentliche Geschichte stat­tfind­et, nen­nt Genette Basis­erzäh­lung. Zum Beispiel:

“Fritzchen war heute im Kino. Vorher hat er ein Eis gegessen und dachte an Lieschen. Nach dem Kino dachte er immer noch an Lieschen und beschloss, sie anzu­rufen.”

Das Eisessen ist hier klar die Anachronie. Der Kinobe­such und der Beschluss, Lieschen anzu­rufen, sind die Basis­erzäh­lung.

Natür­lich ist jede Anachronie gle­ichzeit­ig selb­st eine Erzäh­lung. Sie ist der Basis­erzäh­lung zwar unter­ge­ord­net, aber sie ist eine Erzäh­lung und sie kann als Basis­erzäh­lung für eine weit­ere Anachronie fungieren. So entste­hen zum Beispiel solche Ver­schachtelun­gen:

“Fritzchen war heute im Kino. Vorher hat er ein Eis gegessen und dachte an seinen gestri­gen Stre­it mit Lieschen. Nach dem Kino dachte er immer noch an Lieschen und beschloss, sie anzu­rufen.”

Vor allem aber unter­schei­det man bei Anachronien zwis­chen Analepsen und Pro­lepsen: ob die Anachronie zeitlich vor oder nach der Basis­erzäh­lung stat­tfind­et. Und weil wir es mit Genette zu tun haben, wird es hier erst recht kleinkari­ert …

Analepsen

Wenn die Anachronie zeitlich vor der Basis­erzäh­lung liegt, dann nen­nt man sie Analepse. In Fil­men und im Volksmund sagt man dazu auch “Flash­back”.

Genette unter­schei­det hier vor allem zwis­chen exter­nen und inter­nen Analepsen:

  • Die externe Analepse enthält Ereignisse, die kom­plett vor der Basis­erzäh­lung passiert sind:

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“Heute Mor­gen besuchte mich ein Fre­und, den ich vor zwei Jahren aus den Augen ver­loren habe. Wir haben uns bis zum Mit­tag unter­hal­ten.”

Mit­ten in dieser Erzäh­lung machen wir einen kurzen Abtech­er in die Zeit vor zwei Jahren und kehren dann wieder in die Gegen­wart zurück.

  • Die interne Analepse hinge­gen enthält Ereignisse, die während der Basis­erzäh­lung passiert sind:

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“Seit zwei Jahren lebe ich in Beispiel­stadt. Heute Mor­gen besuchte mich aber ein Fre­und aus Ander­estadt. Er erzählte mir von seinem eige­nen Umzug vor einem Jahr. Wir haben uns bis zum Mit­tag unter­hal­ten.”

Die Basis­erzäh­lung begin­nt mit dem Umzug nach Beispiel­stadt. Und während das “Ich” in Beispiel­stadt gelebt hat, ist der Fre­und eben­falls umge­zo­gen.

Grund­sät­zlich ist auch eine Mis­chung aus bei­den möglich. Genette nen­nt sie ganz sim­pel gemis­chte Analepse: Sie begin­nt vor der Basis­erzäh­lung und endet mit dem Anfang der Basis­erzäh­lung:

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“Heute Mor­gen besuchte mich ein Fre­und aus Ander­estadt. Nach meinem Umzug nach Beispiel­stadt vor zwei Jahren haben wir uns aus den Augen ver­loren und vor einem Jahr hat er die Suche nach mir aufgenom­men. Heute Mor­gen hat er mich endlich gefun­den und wir haben uns bis zum Mit­tag unter­hal­ten.”

Die Basis­erzäh­lung begin­nt mit dem Besuch des Fre­un­des. Dann fol­gt eine Analepse mit der Vorgeschichte, wie es zu diesem Besuch gekom­men ist. Diese Vorgeschichte wird kom­plett erzählt bis zum Moment des Besuchs selb­st.

Genette bemerkt aber auch, dass die gemis­chte Analepse eher sel­ten vorkommt.

Externe und interne Analepsen in der Praxis

Die externe Analepse hat den unschätzbaren Vorteil, dass sie sich nie mit der Basis­erzäh­lung über­schnei­det. Sie ergänzt sie nur.

Anders hinge­gen ver­hält es sich mit der inter­nen Analepse: Weil die Ereignisse in der inter­nen Analepse sich ja zeitlich mit der Basis­erzäh­lung über­schnei­den, beste­ht die Gefahr, dass sie über­flüs­sige Infor­ma­tio­nen enthal­ten oder — schlimm­sten­falls — der Basis­erzäh­lung wider­sprechen. Deswe­gen unter­schei­det Genette zwis­chen het­erodiegetis­chen inter­nen Analepsen und homodiegetis­chen inter­nen Analepsen:

  • Het­erodiegetis­che interne Analepsen ent­ge­hen der oben genan­nten Gefahr, indem sie ein­fach einen anderen Strang der Geschichte beschreiben als die Basis­erzäh­lung:
    Zum Beispiel geht es um die Vorgeschichte ein­er neuen Fig­ur oder um das Wieder­auf­tauchen ein­er alten Fig­ur, die man aus den Augen ver­loren hat und von der man nun erfährt, was ihr in der Zwis­chen­zeit alles zugestoßen ist:

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Einen anschaulichen Fall haben wir in Der Herr der Ringe von J. R. R. Tolkien:
Fro­do wird von Gan­dalf auf die berühmte Reise geschickt. In Bruch­tal begeg­net er ihm wieder und Gan­dalf erzählt von sein­er Gefan­gen­nahme durch Saru­man.

  • Homodiegetis­che interne Analepsen hinge­gen betr­e­f­fen den Hand­lungsstrang der Basis­erzäh­lung. Deswe­gen müssen Autoren hier beson­ders auf­passen, dass sie Infor­ma­tio­nen nicht dop­pelt-mop­peln oder den Infor­ma­tio­nen aus der Basis­erzäh­lung sog­ar wider­sprechen. Genette unter­schei­det hier zwis­chen zwei Unter­typen:

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    • Kom­ple­tive Analepsen füllen nachträglich eine Lücke in der Erzäh­lung.

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Ein solch­es Beispiel find­et sich in Stolz und Vorurteil von Jane Austen:
Wir beobacht­en das Geschehen weitest­ge­hend von Elis­a­beths Stand­punkt aus — und aus dieser lück­en­haften Per­spek­tive sieht Dar­cy sehr unvorteil­haft aus. Nach­dem Elis­a­beth Dar­cy ihre Mei­n­ung von ihm an den Kopf gewor­fen hat, stellt er ihr in einem Brief seine Per­spek­tive der­sel­ben Ereignisse dar und berichtet auch von Din­gen, von denen sie nichts wusste.

    • Repet­i­tive Analepsen Rück­griffe sind meis­tens eher kleine Anspielun­gen auf bere­its Erzähltes.

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Im drit­ten Band von Har­ry Pot­ter ret­tet Har­ry Wurm­schwanz das Leben. Im siebten Band erin­nert er ihn wieder daran:
“Du bringst mich um? […] Nach­dem ich dein Leben gerettet habe? Du schuldest mir, Wurm­schwanz!”
J. K. Rowl­ing: Har­ry Pot­ter und die Heiligtümer des Todes, Kapi­tel: Das Haus Mal­foy.

Partielle und komplette Analepsen

Sowohl externe als auch interne Analepsen kön­nen außer­dem par­tiell oder kom­plett sein.

  • Eine par­tielle Analepse beschreibt dabei nur einen Punkt in der Ver­gan­gen­heit und ist nicht an die Gegen­wart ange­bun­den. Oft han­delt es sich um eine einzelne Infor­ma­tion, die wichtig ist für das Ver­ständ­nis der Basis­erzäh­lung:

Ein bekan­ntes Beispiel befind­et sich im siebten Band von Har­ry Pot­ter:
Als Har­ry, Ron und Her­mine das Märchen über den Ursprung der Heiligtümer des Todes lesen, erfahren wir nur etwas über die Erschaf­fung der Heiligtümer und ihre magis­chen Kräfte. Wir erfahren aber nichts über der Werde­gang der Heiligtümer im Ver­lauf der Jahrhun­derte.

  • Eine kom­plette Analepse hinge­gen geht bis zur “Gegen­wart”, erzählt die kom­plette Vorgeschichte und ist in manchen Fällen ein wichtiger Teil oder sog­ar der Haupt­teil der Erzäh­lung.

In Remar­ques Roman Die Nacht von Liss­abon begeg­net der Ich-Erzäh­ler in Liss­abon einem Frem­den namens Josef Schwarz. Dieser Josef Schwarz erzählt ihm, wie und warum er von Deutsch­land nach Liss­abon gekom­men ist. Diese Erzäh­lung, die Vorgeschichte von Schwarz, macht den Haupt­teil des Romans aus.

Warnungen bei Analepsen

So viel zu den Analepsen. Wie aber auch Genette selb­st immer wieder anmerkt, gehen sie mit bes­timmten Gefahren ein­her. Daher an dieser Stelle einige all­ge­meine War­nun­gen:

  • Pass auf, dass Du in Deinen Analepsen nicht unnötig Infor­ma­tio­nen wieder­holst, die dem Leser bere­its vor­liegen:

Wenn Fritzchen und Lieschen in einem Kapi­tel ins The­ater gehen, dann soll­test Du den The­aterbe­such in einem späteren Kapi­tel nicht nacherzählen. — Es sei denn, Du ver­legst den Schw­er­punkt auf Aspek­te, die Du im ursprünglichen The­ater-Kapi­tel wegge­lassen hast. Anson­sten reicht die bloße Erwäh­nung des The­aterbe­suchs in den späteren Kapiteln völ­lig aus.

  • Pass auch auf, dass die Infor­ma­tio­nen in Deinen Analepsen zu dem passen, was in der Basis­erzäh­lung bere­its erzählt wurde:

Wenn Fritzchen zur Verabre­dung mit Lieschen zu spät gekom­men ist, soll­test Du in den späteren Kapiteln nicht schreiben, er sei pünk­tlich gewe­sen.

  • Da Analepsen sich außer­dem her­vor­ra­gend eignen, um die Hin­ter­gründe von Fig­uren und Ereignis­sen zu erläutern, soll­test Du auf­passen, dass diese Hin­ter­grun­derzäh­lun­gen nur so aus­führlich sind wie nötig. Wenn Du zu viele irrel­e­vante Details ein­bind­est, dann ist das Info-Dump. — Und den wollen die meis­ten nicht lesen.

Wenn Opa Fritzchen und Oma Lieschen sich an ihr erstes Date im The­ater erin­nern, dann soll­test Du nicht jedes kleine architek­tonis­che Detail des The­aters beschreiben. Konzen­triere Dich auf Aspek­te, die unmit­tel­bar ihre Beziehung betr­e­f­fen.

Doch natür­lich sind das nur Tipps und Du kannst gegen alles, was ich hier aufgezählt habe, ver­stoßen. Denn wenn Ver­stöße einen beson­deren Zweck erfüllen, dann sind das Kun­st­griffe. Ein sehr bekan­nter Kun­st­griff dieser Art find­et sich im Lied von Eis und Feuer von George R. R. Mar­tin:

Während der Schlacht am Schwarzwass­er begeg­net Sansa San­dor Cle­gane. Dieser zwingt sie, ihm ein Lied vorzusin­gen. Als Sansa sich später an diese Begeg­nung erin­nert, ist sie überzeugt, San­dor hätte sie geküsst. Warum dieser Wider­spuch da ist, wis­sen wir noch nicht, aber der Autor hat ver­sprochen, dass er im späteren Ver­lauf der Geschichte etwas bedeuten wird.

Prolepsen

Das viel sel­tenere Gegen­stück zur Analepse ist die Pro­lepse, d.h. der Blick in die Zukuft. Damit funk­tion­iert die Pro­lepse ähn­lich wie die Analepse, nur in umgekehrter Rich­tung.

So unter­schei­det Genette auch hier zwis­chen intern und extern:

Externe Pro­lepsen sind Ein­blicke in eine Zeit nach dem Ende der Basis­erzäh­lung: Hier erfahren wir, was mit den Fig­uren nach dem Ende der Haupthand­lung passiert. Das kann eine unbes­timmte, ferne Zukun­ft sein oder auch die Gegen­wart eines Erzäh­lers, der sich an ver­gan­gene Ereignisse erin­nert:

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In der Schatzin­sel von Robert L. Steven­son erzählt Jim Hawkins von Ereignis­sen, die weit in der Ver­gan­gen­heit zurück­liegen:

“Der Plan, den ich aus­führen wollte, war an und für sich nicht schlecht. Ich wollte die sandi­ge Landzunge, die den Anker­platz im Osten von der offe­nen See tren­nt, bis zu dem weißen Felsen hin­abge­hen, den ich gestern bemerkt hat­te, um festzustellen, on Ben Gunn wirk­lich sein Boot dort ver­steckt hat­te, und ich glaube auch jet­zt noch, daß das schon der Mühe wert war zu unter­suchen.”
Robert L. Steven­son: Die Schatzin­sel, 22. Kapi­tel: Wie mein See­aben­teuer begann.

Die Worte “und ich glaube auch jet­zt noch” beziehen sich auf den Moment, in dem Jim von der Schatz­suche erzählt. — Also auf eine Zeit, die lange nach den Aben­teuern in der Erzäh­lung liegt.

Interne Pro­lepsen zeigen, was während der Basis­erzäh­lung später noch passieren wird. Damit brin­gen sie diesel­ben Gefahren mit sich wie interne Analepsen.

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  • Het­erodiegetis­che interne Pro­lepsen beschreiben die zukün­ftige Entwick­lung eines anderen Strangs, der später nicht mehr aufge­grif­f­en wird:

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“Nach der Tren­nung von Lieschen begann eine dun­kle Phase im Leben von Fritzchen. Er ahnte nicht, dass auch Lieschen Jahre brauchen würde, um über die Tren­nung hin­wegzukom­men. Nach zwei depres­siv­en Jahren nahm Fritzchen sich aber wieder zusam­men und begann ein neues Leben.”

Lieschens Krise passiert zur gle­ichen Zeit wie die von Fritzchen, aber sie ist nicht mehr länger Teil von Fritzchens Geschichte. Damit sind het­erodiegetis­che Pro­lepsen vor unnöti­gen Dop­pelt-Mop­plun­gen von Infor­ma­tio­nen sich­er.

  • Homodiegetis­che interne Pro­lepsen lassen sich, eben­so wie die homodiegetis­chen inter­nen Analepsen, in zwei weit­ere Kat­e­gorien aufteilen:

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    • Kom­ple­tive Pro­lepsen füllen eine spätere Lücke aus. Zum Beispiel:

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In einem Kapi­tel plant Lieschen ihr Tren­nungs­ge­spräch mit Fritzchen. Im näch­sten Kapi­tel set­zt sie diesen Plan um, aber wir beobacht­en das Ganze aus Fritzchens Per­spek­tive. Durch Fritzchens Sub­jek­tiv­ität ist diese natür­lich lück­en­haft. Doch die Pro­lepse im Kapi­tel davor füllt diese Lücke aus. Deswe­gen stört es uns Leser auch nicht, von diesem Tren­nungs­ge­spräch zweimal zu lesen: Denn wir sehen unter­schiedliche Aspek­te dieses Ereigniss­es.

    • Repet­i­tive Pro­lepsen sind meis­tens eher kleine Andeu­tun­gen auf spätere Ereignisse, von denen in den nach­fol­gen­den Kapiteln genauer erzählt wird. Zum Beispiel:

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Am Anfang der Basis­erzäh­lung ler­nen sich Fritzchen und Lieschen ken­nen und der Erzäh­ler warnt: “Noch ahnte Fritzchen nicht, wie viel Schmerz diese Begeg­nung ihm brin­gen würde.” Im späteren Ver­lauf der Erzäh­lung wer­den Fritzchen und Lieschen ein Paar, haben eine Beziehungskrise und tren­nen sich wieder. Nun berichtet der Erzäh­ler aus­führlich von der Tren­nungsphase, die er bei der Begeg­nung von Fritzchen und Lieschen nur angedeutet hat.

Hier ist es natür­lich wichtig, bei der Pro­lepse nicht zu viele Details im Voraus preiszugeben, denn son­st braucht man die Geschichte ja nicht mehr zu lesen.

Rein the­o­retisch kön­nte man außer­dem noch zwis­chen kom­plet­ten und par­tiellen Pro­lepsen unter­schei­den. Allerd­ings find­et Genette kaum Beispiele für kom­plette Pro­lepsen, d.h. eine kom­plette Vor­weg­nahme der ganzen Geschichte bis zur Auflö­sung oder bis zum Zeit­punkt des Erzäh­lak­tes an sich. — Das ist aber auch ver­ständlich, denn bei ein­er solchen kom­plet­ten Pro­lepse braucht der Leser die Erzäh­lung ja nicht mehr zu lesen. Aus diesem Grund stellt Genette fest, dass es wohl nur par­tielle Pro­lepsen gibt, d.h. Pro­lepsen, die nur einen Auss­chnitt der Zukun­ft preis­ge­hen.

Vorgriffe und Vorhalte

Diese Andeu­tun­gen auf spätere Ereignisse kön­nen sowohl expliz­it als auch impliz­it sein.

  • Explizite Andeu­tun­gen nen­nt Genette Vor­griffe. Diese sind, wie das Wort “expliz­it” sagt, klar gekennze­ich­net. Das passiert oft durch For­mulierun­gen wie zum Beispiel:

“Wir wer­den später sehen, dass …”

Vor­griffe lösen beim Leser bes­timmte Erwartun­gen aus, indem sie konkret sagen, was der Leser erwarten soll. Das kann dur­chaus Fra­gen aufw­er­fen und somit Span­nung aus­lösen:

“Fritzchen, Lieschen, Max und Eri­ka fuhren im Som­mer gemein­sam in den Urlaub. Als sie nun entspan­nt auf dem Strand lagen, ahn­ten sie nicht, dass nur ein­er von ihnen lebendig heimkehren würde. […]”

  • Implizite Andeu­tun­gen bzw. Vorhalte zeigen die zukün­fti­gen Ereignisse eher indi­rekt und oft sind sie erst im Nach­hinein als solche erkennbar. Wir sehen das zum Beispiel im Lied von Eis und Feuer:

Am Anfang ent­deck­en Eddard Stark und sein Gefolge einen toten Schat­ten­wolf und die noch leben­den Welpen des Schat­ten­wolfes. Im späteren Ver­lauf der Geschichte kommt Eddard Stark, auf dessen Wap­pen ein Schat­ten­wolf abge­bildet ist, ums Leben. Eddard Starks Kinder, die die Welpen adop­tiert haben, bleiben zurück. Damit wurde mit dem toten Schat­ten­wolf die Zukun­ft der Fam­i­lie Stark angedeutet, aber als Leser hat man sich auf den ersten Blick nicht unbe­d­ingt etwas gedacht.

Manch­mal kann das Pub­likum solche Vorhalte aber dur­chaus iden­ti­fizieren, wenn es bes­timmtes Vor­wis­sen hat. Dieses Vor­wis­sen kann beispiel­sweise aus einem Pro­log stam­men oder vom Titel der Erzäh­lung her­rühren:

Die Bedeu­tung des toten Schat­ten­wolfes wäre am Anfang viel leichter zu erken­nen gewe­sen, wenn zumin­d­est der erste Band vom Lied von Eis und Feuer nicht A Game of Thrones heißen würde, son­dern Das Omen des Schat­ten­wolfes.

Allerd­ings kann der Autor solch­es Vor­wis­sen so streuen, dass die Leser auf eine falsche Fährte gelockt wer­den. Dass sie falsche Vorhalte sehen und richtige Vorhalte übersehen. Das find­et man zum Beispiel gerne in Krim­is.

Abschließendes zu Prolepsen

Wie wir bere­its gese­hen haben, kön­nen Pro­lepsen Span­nung auf­bauen. Außer­dem kön­nen sie die Wirkung eines Ereigniss­es unter­stre­ichen, indem man dem Leser dessen Nach­wirkun­gen vor Augen führt.

Allerd­ings sind ger­ade bei inter­nen Pro­lepsen, wie gesagt, all die Punk­te zu beacht­en, die für interne Analepsen gel­ten:

Ver­mei­de unnötige Infor­ma­tio­nen und achte darauf, dass die Infor­ma­tio­nen in der Pro­lepse zu denen in der Basis­erzäh­lung passen.

Achronie

Nach­dem wir nun also die ver­schiede­nen Arten von Pro­lepsen und Analepsen kleinkari­ert sortiert haben, brin­gen wir das Ganze nun wieder durcheinan­der. Denn es gibt auch solche span­nen­den Phänomene:

  • Pro­lepsen in Pro­lepsen, Analepsen in Pro­lepsen, Pro­lepsen in Analepsen etc.
  • Pro­lepsen, die von der Basis­erzäh­lung später wider­legt wer­den und sich als fehler­hafte Zukun­fts­fan­tasien ent­pup­pen
  • ein Erzäh­ler, der im Voraus berichtet, wie er später über ein aktuelles Ereig­nis erfuhr
  • Analepsen ohne genauen End­punkt
  • Pro­lepsen und Analepsen gle­ichzeit­ig:
    “Fritzchen geht auf die Par­ty und sucht Lieschen. Diese wird aber, wie wir bere­its gese­hen haben, später kom­men.”

Was soll man denn da sagen? — Viel Spaß beim “Entwirren”! 😛

Doch der absolute Extrem­fall ist, wenn es in der Erzäh­lung über­haupt keine Zei­tangaben oder auch nur indi­rek­te Hin­weise gibt und wir ein Ereig­nis gar nicht zeitlich einord­nen kön­nen. Diesen Fall nen­nt Genette Achronie. Und er ist so ver­wirrend, dass unsere Möglichkeit­en der Analyse hier an ihre Gren­zen zu stoßen scheinen.

8 Kommentare

  1. Hal­lo. Ich danke dir her­zlich für deine unter­schielichen Erk­lärun­gen. Aber ich hab prob­lem mit der Basis­erzäh­lun­gen. Wie kann ich die Basis­erzäh­lun­gen erken­nen? freue mich auf deine Erk­lärun­gen.

    salvador
    1. Die Basis­erzäh­lung ist qua­si die “Gegen­wart”. Pro­lepsen und Analepsen (Anachronien) sind in der Regel expliz­it oder impliz­it markiert, d.h.: Es gibt Sig­nale, die angeben, dass jet­zt von etwas Zukün­ftigem (z.B. “mor­gen”) oder Ver­gan­genem (z.B. “gestern”) erzählt wird. Fehlen diese Sig­nale oder zeigen sie die Gegen­wart an (“nun”, “jet­zt”, “heute” etc.), dann ist das meis­tens die Basis­erzäh­lung.

        1. Die Basis­erzäh­lung ist grund­sät­zlich die “Gegen­wart” der Fig­uren der Geschichte (also z.B. von Grenouille), unab­hängig davon, ob sie von uns aus (bzw. aus der Sicht der Erzäh­lin­stanz) in der Ver­gan­gen­heit, Gegen­wart oder Zukun­ft liegt.

  2. An einem Orte der Man­cha, an dessen Namen ich mich nicht erin­nern will, lebte vor nicht langer Zeit ein Junker, ein­er von jenen, die einen Speer im Lanzengestell, eine alte Tartsche, einen hagern Gaul und einen Wind­hund zum Jagen haben.

    Ist das eine Analepse?

    Michi
    1. Eine Analepse ist ein Abstech­er in die Zeit vor der Basis­erzäh­lung. In Deinem Beispiel bezieht sich “vor nicht langer Zeit” aber auf die Basis­erzäh­lung selb­st: Dem Leser wird ver­mit­telt, wo die Basis­erzäh­lung zeitlich einzuord­nen ist. Eine Analepse würde zum Beispiel so ausse­hen (kur­siv her­vorge­hoben):

      “An einem Orte der Man­cha, an dessen Namen ich mich nicht erin­nern will, lebte vor nicht langer Zeit ein Junker, ein­er von jenen, die einen Speer im Lanzengestell, eine alte Tartsche, einen hagern Gaul und einen Wind­hund zum Jagen haben. Sein Uru­rur­groß­vater war ein berühmter Rit­ter gewe­sen, aber nun war die Zeit der Rit­ter vorüber.”

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