Wo liegt die Grenze zwischen einem Protagonisten, einer Hauptfigur und einer Reflektorfigur? Ist das nicht alles dasselbe? Und ab wann ist eine Hauptfigur überhaupt eine Hauptfigur und eine Nebenfigur eine Nebenfigur?
Ich denke, es ist an der Zeit, dass wir ein paar Begriffe klären. Legen wir also los!
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Hauptfigur und Nebenfigur
Obwohl das Wort „Hauptfigur“ oft als Synonym für „Protagonist“ dasteht, gibt es einen entscheidenden Unterschied:
Es kann strenggenommen nur einen Protagonisten geben. Bei der Hauptfigur hingegen kennt man sowohl die Variante im Singular, nämlich „die Hauptfigur“, also im Sinne von „Protagonist“, als auch eine Variante im Plural, nämlich die Vorstellung, dass es mehrere Hauptfiguren geben kann.
Im Gegensatz zum Protagonisten ist bei der Hauptfigur also offenbar eine Abstufung möglich. Aber nach welchen Kriterien erfolgt sie?
Was die Hauptfigur – d. h. den Protagonisten – auszeichnet, ist ihre zentrale Rolle in der Gesamtgeschichte. Deswegen spricht man umgangssprachlich oft auch vom „Helden“ einer Geschichte, obwohl längst nicht jede Hauptfigur bzw. nicht jeder Protagonist wirklich heldenhaft ist.
Aber für die Hauptfigur ist es eben entscheidend, dass ihre Geschichte erzählt wird. Ihr persönlicher Konflikt ist der Hauptkonflikt der Geschichte. Sie steht im Zentrum des Geschehens, sie fällt die wichtigen Entscheidungen und sie treibt den Plot voran.
Nun wissen wir aber, dass auch weniger zentrale Figuren eine entscheidende Rolle für die Geschichte spielen können. Und damit kommen wir auch zur angekündigten Abstufung:
Ich denke, wir können uns alle darauf einigen, dass Ron und Hermine in den Harry Potter-Büchern wichtiger sind als Justin Finch-Fletchley. Während sie aber alle Nebenfiguren im Sinne von „Nicht-Protagonisten“ sind, könnte man von Ron und Hermine behaupten, dass sie als Harrys beste Freunde eine Art „Neben-Hauptfiguren“ sind. Auch muss man sagen, dass der Antagonist Lord Voldemort und Figuren wie Dumbledore und Snape am Vorantreiben des Plots maßgeblich beteiligt sind, teilweise sogar in einem größeren Ausmaß als Ron und Hermine. Trotzdem ist es etwas schwerer, sie als Hauptfiguren zu bezeichnen, weil sie weniger „Screentime“ haben als Ron und Hermine. Man kann zwar sagen, dass die Schauspieler hinter Voldemort, Dumbledore und Snape Neben-Hauptrollen spielen, aber sie als Neben-Hauptfiguren zu bezeichnen fühlt sich für mich zumindest einfach falsch an.
Was ich mit all dem sagen will, ist, dass ich keine angemessene Terminologie für all die Abstufungen von Haupt- und Nebenfiguren kenne. Wenn Du passende Begriffe kennst, dann gerne her damit. An dieser Stelle jedoch etwas mehr zum Thema „Neben-Hauptfiguren“ …
Der Protagonist und die „Neben-Hauptfiguren“
In dem themenanregenden Kommentar hat Story Picker auf eine sehr interessante Feinheit aufmerksam gemacht:
Bezüglich Avatar hätte ich tatsächlich eher gedacht, dass Katara, Sokka und Toph mehr Helden bzw Protagonisten sind als beispielsweise Ron und Hermione. Ron und Hermione haben ja weniger eigene Story bzw. stehen nicht so im Vordergrund wie Katara, Sokka und Toph… oder wie macht man das aus, ob eine Figur Nebenfigur oder Hauptfigur ist?
Story Picker: Kommentar, URL: https://www.youtube.com/watch?v=z0qYZLsoosU&lc=UgyWSrP5idwX9webbN14AaABAg.
Es ist wahr, dass Ron und Hermine im Prinzip nur als Harry Potters Anhängsel fungieren und eher nebenher ihre Entwicklung durchleben. Die Harry Potter-Serie ist eben sehr Harry-Potter-zentriert. In Avatar – Der Herr der Elemente hingegen machen alle Mitglieder des Heldenteams eine Entwicklung durch, die den Gesamtplot entscheidend beeinflusst, und in einzelnen Episoden treten sie sogar als Protagonisten auf, während der eigentliche Protagonist der Serie an den Rand rückt.
Eine ganz besondere Rolle spielt dabei Zuko, der vom Antagonisten zum Protagonisten seiner eigenen Parallelhandlung, des wichtigsten Subplots der Gesamtgeschichte, aufsteigt. Man könnte sogar sagen, dass er ab Staffel 2 als zweiter Protagonist der Serie fungiert: als sogenannter Deuteragonist. Die nächste Abstufung, also die drittwichtigste Figur einer Geschichte, wäre der Tritagonist. Aber dieser Begriff wird in meiner Erfahrung eher wenig gebraucht, womit wir auch wieder beim (vermutlichen) Fehlen einer angemessenen Terminologie wären.
Was wir an dieser Stelle aber festhalten können, ist,
dass die wichtigsten Nebenfiguren bzw. „Neben-Hauptfiguren“ je nach Geschichte in einem stärkeren oder schwächeren Ausmaß „Protagonistenqualitäten“ aufweisen können. Sie können Protagonisten eines Subplots sein und/oder als zweit- oder drittwichtigste Figuren des Gesamtplots fungieren.
Reflektorfigur
Nun kann die Geschichte aber noch so sehr die des Protagonisten sein – erzählt werden muss sie nicht unbedingt aus seiner Perspektive.
Eins der bekanntesten Beispiele überhaupt ist die Sherlock Holmes-Reihe: Präsentiert werden Geschichten rund um den Detektiv Sherlock Holmes, aber wir erleben sie durch die Augen seines Sidekicks Dr. Watson, einer Nebenfigur.
Die Nebenfigur, durch deren Prisma wir das Geschehen erleben, kann dabei sowohl ein „Ich“ sein als auch die Reflektorfigur eines personalen Erzählers. Der Begriff der Reflektorfigur – oder auch einfach des Reflektors – stammt von Franz Karl Stanzel, dem Schöpfer des typologischen Modells der Erzählsituationen. Eine entstellte Version dieses Modells ist das, was man im Deutschunterricht in der Schule verabreicht bekommt.
Der personale Erzähler ist hierbei eine unsichtbare Entität, die sich auf die Wahrnehmungen und das Innenleben einer Figur fokussiert, eben des Reflektors. Der Erzähler benutzt für den Reflektor die Personalpronomen „er“ oder „sie“, zieht also verbal eine Grenze zwischen sich und der Figur. Aber weil der Erzähler sonst nicht wahrnehmbar ist, entsteht der Eindruck, dass er mit der Reflektorfigur verschmilzt. Das geht sogar so weit, dass manche Menschen den Reflektor fälschlicherweise als Erzähler bezeichnen.
Wenn beispielsweise die Figur Sansa aus dem Lied von Eis und Feuer als „unreliable narrator“ gehandelt wird, ist das technisch gesehen falsch, weil Sansa ihre Geschichte nicht selbst erzählt. Sie ist nur die Reflektorfigur eines Erzählers, der ihre Geschichte in der dritten Person erzählt, dabei aber ihre Sichtweise so unhinterfragt wiedergibt, dass auch ihre Irrtümer dem Leser unkommentiert präsentiert werden.
Obwohl die Reflektorfigur bei Stanzel an den personalen Erzähler gekoppelt ist, benutze ich dieses Wort generell für Figuren, deren Perspektive vom Erzähler übernommen wird. Das heißt, auch wenn das erzählende Ich die Perspektive des erzählten Ich übernimmt, also Informationen, die dem erzählten ich gerade nicht vorliegen, dem Leser vorenthält.
Und wie gesagt, die Reflektorfigur kann der Protagonist selbst sein – wie zum Beispiel in den Harry Potter-Büchern –, aber auch als Nebenfigur auftreten wie in der Sherlock Holmes-Reihe.
Die Gründe, eine Geschichte aus einer anderen Perspektive zu erzählen als der des Protagonisten, können dabei vielfältig sein:
- So ist es beispielsweise faszinierender, sich von Sherlocks Gedankengängen überraschen zu lassen, statt sie „live“ in seinem Gehirn zu beobachten.
- Eine Außensicht auf den Protagonisten ermöglicht auch einen kritischeren Blick auf ihn, weil man sich beim Lesen statt mit ihm eher mit der Nebenfigur identifiziert, die gerade als Reflektor dient.
- Außerdem taugt generell nicht jeder Protagonist als Identifikationsfigur. Die Gründe dafür sind von Geschichte zu Geschichte aber sehr individuell, daher möchte es an dieser Stelle nicht weiter vertiefen.
Titelfigur
So viel also heute zu den Kategorien von Figuren. Als kleine Ergänzung möchte ich nur noch kurz über Titelfiguren reden: Denn Dir ist sicherlich aufgefallen, dass viele Geschichten den Namen oder die (Berufs-)Bezeichnung oder eine Umschreibung einer Figur als Titel tragen:
- So trägt die Harry Potter-Reihe den Namen ihres Protagonisten und der zentralen Reflektorfigur als Titel,
- der Film Der Soldat James Ryan wurde nach einer Nebenfigur benannt,
- der Titel von Hermann Hesses Der Steppenwolf verweist auf die nicht-bürgerliche Seite des Protagonisten,
- der Titel Die drei Musketiere benennt den Beruf der drei Neben-Hauptfiguren,
- und der Titel Der Herr der Ringe schließlich umschreibt den Antagonisten.
Obwohl es sich bei einer Titelfigur also oft um den Protagonisten und die Reflektorfigur handelt, sind die Möglichkeiten unbegrenzt. Von einem Splitteraspekt der Persönlichkeit des Protagonisten bis hin zu seinem Opponenten oder gar einer Figur, die nur gegen Ende der Geschichte auftaucht, ist alles erlaubt. Wichtig ist bei Titeln, dass sie generell die Essenz der Geschichte einfangen. Ob man dafür eine Titelfigur wählt und wenn ja, dann welche, ist Dir überlassen.