Geschichten haben eine kraftvolle Wirkung auf unser Denken und Fühlen. Und sind damit ein perfektes Mittel für Propaganda. Schlimmer noch, manchmal propagiert ein Autor auch bestimmte Ansichten, ohne es selbst zu merken. Werfen wir also einen Blick auf das Zusammenspiel von Propaganda und Storytelling und überlegen uns, wie wir als Autoren damit umgehen können.
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Geschichten tragen zur Formung von Meinungen bei. Und dabei ist es egal, ob sie fiktional sind oder auf realen Ereignissen beruhen. Denn sie vermitteln Ideen und Werte, sie prägen unsere Weltwahrnehmung und fällen Urteile. Und wenn das Vermittelte destruktiv ist … Na ja, hier ein Zitat von Victor Klemperer:
„Worte können wie winzige Arsendosen sein: Sie werden unbemerkt verschluckt; sie scheinen keine Wirkung zu tun – und nach einiger Zeit ist die Giftwirkung doch da.“
– Victor Klemperer
Manche Geschichten werden bewusst für Propagandazwecke instrumentalisiert. Doch auch indirekt frisst sich Propaganda durch Geschichten in unsere Köpfe, nämlich wenn der Erzähler bzw. Autor eine bestimmte Denkweise verinnerlicht hat und sie unbewusst weitergibt.
Deswegen befassen wir uns heute mit dem Zusammenspiel von Propaganda und dem Geschichtenerzählen. Und nebenbei erkläre ich auch, warum ich die deutsche Vergangenheitsbewältigung für einen schlechten Witz halte.
Vorwort
Das Thema geht mir in vielerlei Hinsicht sehr nahe und es ist wohl der persönlichste Artikel, den ich bisher geschrieben habe. Und gerade weil er so persönlich ist, warne ich jetzt schon mal vor:
Er hat einen sehr subjektiven Charakter. Anders kann ich über das Thema leider nicht reden.
Erwarte daher bitte keine wissenschaftliche Abhandlung. Vieles von dem, was ich erzähle, hat seinen Ursprungskern in meinem Leben, meinen Beobachtungen und meinem Versuch, die Dinge zu deuten, manchmal mit Hilfe von Forschern und Autoren, die klüger sind als ich. Außerdem sind die Darstellungen der in diesem Artikel angeschnittenen Sachverhalte stark zusammengekürzt und vereinfacht. Dennoch findest Du unter am Ende des Artikels eine Liste mit Linktipps, die vor allem als erste Anregungen gemeint sind, wenn Du besser nachvollziehen möchtest, wo ich ideologisch herkomme.
Ich bin mir auch dessen bewusst, dass Teile dieses Artikels (oder der komplette Artikel) nicht jedem Leser schmecken werden. Wenn Du mir nicht zustimmst, darfst Du mir gerne in den Kommentaren widersprechen, solange Du es höflich und konstruktiv tust.
Beleidigungen einzelner Personen oder Gruppen werden gelöscht.
Erwarte im Übrigen auch bei einem höflichen Kommentar bitte nicht, dass ich diskutiere. Erstens ist das aus Zeitgründen schwierig und zweitens wurde noch nie jemand durch eine Internet-Diskussion überzeugt. Ich lese mir Deinen Kommentar einfach durch, denke nach und entscheide dann für mich selbst, ob ich zustimme oder nicht.
Ansonsten bedanke ich mich bei der KreativCrew für die Anregungen und das ein oder andere gute Stichwort. Und warne außerdem vor: Es wird um einige heftige Themen wie Genozid und Kriegsverbrechen gehen und ich werde meine Ausführungen im Video zu diesem Artikel an einigen Stellen auch mit verstörenden Bildern untermalen. Von daher:
Lesen (und anschauen) auf eigene Gefahr!
Wenn Du Dir also sicher bist, dass Du den Artikel handhaben kannst, dann kommen wir endlich zum Thema:
Definitionen
Klären wir zunächst ein paar Begriffe, damit wir sie später bedenkenlos verwenden können.
Propaganda
Unter „Propaganda“ versteht man laut dem Duden eine
„systematische Verbreitung politischer, weltanschaulicher o. ä. Ideen und Meinungen mit dem Ziel, das allgemeine Bewusstsein in bestimmter Weise zu beeinflussen“.
Im allgemeinen Sprachgebrauch gibt es aber noch eine weitere, „inoffizielle“ Bedeutung:
Propaganda ist alles, was nicht mit der eigenen Meinung bzw. Wahrnehmung übereinstimmt. Und jeder, der anders denkt als man selbst, ist dumm, hirnverwaschen etc.
Meinen Beobachtungen nach wird der Propagandabegriff heutzutage meistens in der zweiten, subjektiven Bedeutung gebraucht. Vor allem online. Besonders gerne, wenn die Politik und die sogenannten „Mainstream-Medien“ bzw. auf der anderen Seite sogenannte „Verschwörungstheoretiker“ und „Wutbürger“ kritisiert werden sollen.
Die Schwierigkeit ist, dass jeder von uns eine bestimmte Meinung hat. Und wenn einem ein Thema sehr am Herzen liegt, dann versucht man, andere Menschen zu beeinflussen. Und betreibt somit Propaganda.
Wenn man nun aber anderen Propaganda vorwirft, schwingt in der Regel die Annahme mit, dass es eine einzige Wahrheit gäbe und das Gegenüber lügen würde. Das Gegenüber wiederum versteht den Propaganda-Vorwurf nicht, weil es ja von der Wahrheit der eigenen Ansichten überzeugt ist. Und so entsteht ein endloses Gekabbel, in dem sich beide Seiten gegenseitig Propaganda vorwerfen, einander nicht zuhören und ein konstruktiver Dialog somit unmöglich wird.
Die Folge ist, dass die Parteien immer stärker auseinanderdriften und es für beide nur noch Schwarz und Weiß gibt. Und die Menschen zwischen den Fronten werden früher oder später zu einer Entscheidung gedrängt, weil es keinen Mittelweg zu geben scheint. Viele entscheiden sich dann auch. Wer beispielsweise auf Missstände in der Berichterstattung der Leitmedien aufmerksam wird, beginnt ihnen zu misstrauen und wird anfällig für Verschwörungstheorien. Dieses Prinzip hat Rezo vor Kurzem ja in seiner Zerstörung der Presse vorbildlich erläutert.
Dass Propaganda in der Regel ein sehr negatives Schlagwort und ein heftiger Vorwurf ist, liegt daran, dass vor allem totalitäre Regime ihre Ideologien gerne durch staatlich gelenkte Propaganda vermitteln, um die Menschenmassen für eigene Zwecke auszunutzen und sie damit ins Verderben zu stürzen.
Ich möchte allerdings betonen, dass das Beeinflussen der Meinung anderer Menschen an sich erst mal neutral ist. Denn wir alle tun das. Die ganze Werbeindustrie ist im Prinzip Propaganda. Und nur in den seltensten Fällen hat das Auswirkungen wie im Dritten Reich oder in Nordkorea.
Weitere Begriffe
Der Bestätigungsfehler, auf Englisch confirmation bias genannt, ist die Tendenz, Informationen so auszuwählen und zu interpretieren, dass sie die eigenen Ansichten und/oder Erwartungen bestätigen. Das geht zum Beispiel damit einher, dass man „passende“ Informationen höher bewertet und besser in Erinnerung behält als „unpassende“. Es kann sogar passieren, dass man Informationen, die den eigenen Erwartungen widersprechen, gar nicht erst wahrnimmt oder sogar gezielt vermeidet.
Verwandt damit ist die sogenannte Filter- oder Informationsblase. Darunter versteht man Algorithmen im Internet, die die Interessen eines Nutzers analysieren und ihm überwiegend Informationen anbieten, die ihm gefallen müssten. Soll heißen: Wenn Du beispielsweise durch den Besuch einer Website oder das Anschauen eines Videos Interesse an einer Verschwörungstheorie gezeigt hast, werden die Algorithmen Dir verstärkt ähnliches Material vorsetzen. Bei manchen Menschen führt das dazu, dass sie von der Verschwörungstheorie immer mehr überzeugt werden.
In eine ähnliche Richtung geht auch der von Timothy Leary geprägte Begriff des Realitätstunnels (reality tunnel): Laut dieser Theorie hat jeder von uns unterbewusste Filter von Überzeugungen und Erfahrungen im Kopf, die unsere Wahrnehmung subjektiv einfärben. Das heißt aber nicht, dass es keine objektive Wahrheit gäbe. Vielmehr sind wir durch unsere Sinne, Erfahrungen, Erziehung, Glaubenssätze und andere Faktoren einfach nicht in der Lage, sie wahrzunehmen. Somit lebt jeder von uns in seinem eigenen Realitätstunnel. (Und das gilt im Übrigen auch für Gruppen. Wenn man zum Beispiel von der Berliner Blase spricht, dann meint man, dass die Politiker und die Eliten generell in ihrer eigenen Welt, in ihrem eigenen Realitätstunnel, leben und die Realität der Bevölkerung deswegen gar nicht wahrnehmen.)
Schließlich wollen wir auch noch den Dunning-Kruger-Effekt erwähnen, nämlich die Beobachtung, dass unwissende oder zumindest schlecht informierte Menschen oft sehr überzeugt von ihren Annahmen sind und dementsprechend sehr selbstsicher auftreten. Ein Gefühl von 100-prozentiger Sicherheit ist nämlich nur bei sehr oberflächlichen Kenntnissen möglich. Denn kennt man sich etwas besser aus, dann weiß man, dass man vieles nicht weiß, und sich dementsprechend auch leicht irren kann. Selbst Experten sind sich idealerweise nie komplett sicher. Wobei auch sie dem Dunning-Kruger-Effekt zum Opfer fallen können, denn sie sind oft Fachidioten und durch ihre langjährige Erfahrung mit ihrem Thema manchmal auch viel zu sehr von sich selbst überzeugt. Vorsicht also, wenn ein „Experte“ nicht über sein unmittelbares Fachgebiet spricht, und hinterfrage seine Ansichten ruhig, wenn er die Argumente seines Gegenüber zum Beispiel nur deswegen abtut, weil derjenige etwas jünger und/oder weniger erfahren ist.
Propaganda: Notwendigkeit und Übel
Jetzt, wo wir die Begriffe geklärt haben, geht’s endlich ans Eingemachte. Und zwar mit einer provokanten Behauptung:
Propaganda ist an sich nicht nur nicht schlecht, sondern sogar notwendig.
Warum?
Mit größter Wahrscheinlichkeit bist Du zufrieden, wenn nicht sogar froh, in einer Demokratie zu leben. Und Du gehst zu den Wahlen, weil Du das für eine wichtige Säule einer funktionierenden Demokratie hältst. Doch ausgehend von Alter und Herkunft des durchschnittlichen Besuchers dieser Website muss ich annehmen, dass Deine Meinung zum Thema Demokratie wahrscheinlich gar nicht Deine Meinung ist. Denn Du hast – ausgehend von meiner Statistik – wahrscheinlich noch nie oder nicht ausreichend lange in einer Diktatur gelebt, um vergleichen zu können. Viel eher wurde Dir Deine Meinung über die Demokratie während Deiner Kindheit systematisch verabreicht: Sei es in der Schule, in den Medien oder durch die Kommunikation mit anderen Menschen. Du wurdest von Deinem Umfeld zielgerichtet geformt, um ein funktionierender Bürger der Bundesrepublik Deutschland, der Republik Österreich oder der Schweizerischen Eidgenossenschaft zu sein. Denn wenn Du und Millionen anderer Menschen in Deinem Land nicht entsprechend indoktriniert worden wären, würden sie vielleicht nicht an die Demokratie glauben und nicht zu den Wahlen gehen und die Demokratie würde nicht funktionieren. Durch die Vermittlung bestimmter Werte erhält sich die Demokratie also selbst aufrecht. – Und das im Prinzip auf ganz ähnliche Weise wie jedes andere System auch: In einer Diktatur wird man erzogen, die Ideologie und den Diktator anzuhimmeln, in einer Monarchie lernt man den König oder Kaiser zu verehren etc.
Also kurz zusammengefasst:
Jedes System „lebt“ von bestimmten Werten und muss sie daher auch propagieren, um sich selbst zu erhalten.
Propaganda für eine bessere Welt?
Und natürlich sind Systeme und ihre Werte auch ständig im Wandel und die neuen Werte müssen eben auch propagiert werden. Wenn wir eine gerechtere Gesellschaft erschaffen wollen, dann müssen wir als Gesellschaft eine einheitliche Einstellung zu Dingen wie beispielsweise Rassismus, Sexismus und Mobbing herausarbeiten. Dabei ist es auch wichtig zu definieren, was unter diesen Begriffen zu verstehen ist und woran man diese Phänomene erkennt: Nicht nur zur „Erziehung“ der Täter und der stillen Zuschauer, sondern auch für die Betroffenen selbst, damit sie erkennen, was da gerade mit ihnen passiert und dass sie sich wehren dürfen. Und gerade Letzteres finde ich persönlich am wichtigsten, weil man oft eben tatsächlich zu spät merkt, was einem überhaupt zugestoßen ist:
Ich als Russlanddeutsche zum Beispiel habe erst vor ein paar Jahren begriffen, dass viele Erfahrungen, die Russlanddeutsche und andere Menschen aus den ehemaligen Ostblock-Staaten in Deutschland machen, tatsächlich unter die weitere Definition von Rassismus fallen. D. h. nicht unter das veraltete Konzept von Menschenrassen (denn die Russlanddeutschen sind ja genetische Deutsche und die anderen Migranten aus dem Ostblock sind häufig auch „Weiße“), sondern unter den Ansatz eines Rassismus ohne Rassen, der sich eher auf die vermeintliche Minderwertigkeit einer Ethnie oder Kultur bezieht.
Was ich also sagen will, ist:
Die Grenze zwischen Propaganda und Aufklärungsarbeit scheint sehr fließend zu sein.
Wenn Menschen mit konservativer Einstellung also von „links-grüner Propaganda“ schreien, ist das an sich eigentlich gar nicht falsch, wenn damit Aufklärung und die Vermittlung von Werten und Ideen mit linker und/oder „grüner“ Färbung gemeint sind.
Propaganda in der Demokratie
Ich hoffe, es ist rübergekommen, dass Propaganda und Demokratie sich nicht gegenseitig ausschließen. Tatsächlich könnte man sogar sagen, dass Propaganda in den „westlichen“ Demokratien nahezu gedeiht. Man nennt sie nur nicht „Propaganda“, sondern „Public Relations“. Und das meine ich nicht rhetorisch, sondern buchstäblich: Ein Neffe von Sigmund Freud namens Edward Bernays nutzte die Forschung seines Onkels, um – zusammen mit anderen – die moderne Propaganda-Theorie zu begründen. Und der euphemistische Begriff „Public Relations“ wurde ganz bewusst gewählt, weil der Begriff „Propaganda“ nach dem Zweiten Weltkrieg sehr negativ belastet war. Das deutsche Wort dafür wäre „Öffentlichkeitsarbeit“, aber ich würde es nicht als exakte Übersetzung betrachten.
Und wie Du bestimmt mitbekommen hast, ist Public Relations mehr oder weniger omnipräsent. Die Wirtschaft nutzt Public Relations für Werbekampagnen und die Politik nutzt Public Relations, um die Massen zu manipulieren, Wahlen zu beeinflussen und die Menschen durch das Propagieren einer Konsum-Kultur von politischem Engagement abzuhalten, sowie für die sogenannte psychologische Kriegsführung. – Und nein, das ist keine Verschwörungstheorie. Ich empfehle an dieser Stelle die Dokumentation The Century of the Self.
Natürlich ist aber nicht alles, was Du siehst und hörst, bewusste Propaganda, und ich zumindest kann es durchaus verstehen, wenn Journalisten durch Propaganda-Vorwürfe und Wörter wie „Lügenpresse“ irritiert sind. Dass unsere heutige Berichterstattung, d. h. die Geschichten, die uns tagtäglich über unsere reale Welt verabreicht werden, gerne mal lückenhaft, fehlerbehaftet und politisch tendenziös ist, halte ich dabei aber für eine Tatsache: In die Linkliste packe ich Dir ein paar leicht verdauliche und teils unterhaltsame Anregungen für eine vertiefende Recherche.
Doch obwohl ich die Defizite in unserer Medienlandschaft sehe und auch für bedenklich halte, finde ich es nicht angebracht, den Journalisten pauschal eine böse Absicht zu unterstellen, gegen sie zu hetzen und ein Feindbild zu kreieren.
- Denn erstens macht die schnelle, gehetzte Natur unserer heutigen Medienlandschaft eine sorgfältige Recherche und Präsentation von Fakten äußerst schwer: Neue Nachrichten müssen gerade im Zeitalter von Internet und Social Media blitzschnell rausgehauen werden, sodass für Sorgfalt weniger Zeit bleibt als noch vor einigen Jahren. Zumindest meines Wissens.
- Zweitens sind Journalisten Menschen wie Du und ich mit ihrer eigenen Filterblase, ihrem eigenen Realitätstunnel, einer Anfälligkeit für Bestätigungsfehler und den Dunning-Kruger-Effekt sowie einer bestimmten politischen, sozialen und kulturellen Prägung, die durch Public-Realations-Aktionen beeinflusst ist und unter anderem auch durch Geschichten vermittelt wird.
Natürlich erfolgt tendenziöse Berichterstattung manchmal bewusst (im Vorwort von Creating Russophobia beschreibt Guy Mettan einige Vorfälle aus seiner Vergangenheit), oft aber eben auch unbewusst und unabsichtlich. Schleichend. Nach Mettan ist das im Fall der negativen Wahrnehmung von Russland hier im „Westen“ sogar das Ergebnis einer jahrhundertelangen Tradierung von negativ besetzten Stereotypen, Klischees und Vorurteilen. Und unabhängig davon, ob man seinen Thesen zur Russophobie im „Westen“ zustimmt oder nicht, muss man doch zugeben, dass das Grundprinzip dahinter durchaus einleuchtend ist:
Menschen mit einer bestimmten Grundeinstellung geben diese Einstellung durch Geschichten an andere weiter. Und oft merken sie es nicht einmal.
Propaganda reproduziert sich also gewissermaßen von alleine. Wie eine Seuche: Ein Infizierter steckt andere an.
Und wir Autoren, Geschichtenerfinder und ‑erzähler, sind da mittendrin. Denn auch wir sind sozusagen „Opfer“ von Propaganda und verbreiten unsere Ansichten in unseren Werken weiter.
Und weil wir in der Regel mit sehr künstlerischen, emotionalen Geschichten hantieren, haben unsere Worte eine besonders starke Wirkung …
Manipulative Geschichten
Geschichten sind in erster Linie emotional und wenn sie gut sind, erleben die Rezipienten eine Katharsis. Sie identifizieren sich mit den oft durchweg positiven fiktiven oder quasi-realen Figuren, fühlen sich durch sie motiviert und neigen teilweise auch dazu, narrative Strukturen wie die Heldenreise auf ihr eigenes Leben zu übertragen. Es entsteht eine sehr persönliche Beziehung zur Geschichte und selbst bei rein fiktionalen Werken glaubt man, irgendeine Art von Wahrheit für sich mitzunehmen.
Und deswegen sind Geschichten bestens geeignet, um bestimmte Werte und Ideologien in die Köpfe der Rezipienten einzupflanzen.
Denn auch wenn die Rezipienten theoretisch wissen, dass ein fiktionales Werk fiktional und ein auf realen Ereignissen basierendes Werk immer noch eine starke fiktionale Komponente hat, prägen sich die einzelnen Bilder, Figuren und Szenen in der Praxis ein und überschatten eventuell sogar das theoretische Wissen.
Wahrnehmung und Erzählung
In einem früheren Artikel habe ich bereits erläutert, warum schon faktuale Erzählungen eine fiktionale Komponente haben. Ganz kurz zusammengefasst: Der Autor einer faktualen Erzählung hat eine bestimmte Weltsicht und diese wiederum beeinflusst, welche Fakten er für seine Darstellung realer Ereignisse auswählt und wie er sie miteinander verknüpft. Oder wie in einem anderen Artikel erläutert:
Das Erzählen ist automatisch eine Verfälschung der objektiven Ereignisse.
Für diesen Artikel bedeutet das:
Ein Historiker kann sich noch so sehr um die Wahrheit bemühen, ein Journalist kann noch so ehrlich und unvoreingenommen recherchieren und ein Autor von fiktionalen Werken kann sich noch so sehr um komplexes World-Building bemühen: Das Ergebnis wird immer eine bestimmte Weltsicht propagieren. Es liegt einfach in der Natur des Erzählens.
Es liegt aber auch in der Natur der Wahrnehmung. In einem äußerst spannenden TED-Talk erklärt Bobby Duffy, wie wir unsere eigenen „Fake News“ erschaffen:
- So erwecken emotional aufwühlende Geschichten Aufmerksamkeit und prägen sich ein. Im Kopf der Bürger sind sie daher präsenter als objektive, statistisch nachweisbare Tatsachen. Daher können Menschen felsenfest davon überzeugt sein, dass Gewalt oder Schwangerschaften bei Teenagern zunehmen würden, obwohl sie in Wirklichkeit abnehmen.
- Auch sollte man bedenken, dass gerade Negatives sich stärker in unseren Hirnen einnistet und wir unsere Gegenwart daher als bedrohlicher wahrnehmen, als sie ist, während Erinnerungen die Vergangenheit ins Positive verzerren und wir vergangene Ereignisse dementsprechend positiver in Erinnerung haben als sie tatsächlich waren.
Soll also heißen:
Traue weder Deiner eigenen Wahrnehmung noch der Wahrnehmung anderer Leute. Denn jede Wahrnehmung ist verfälscht. (Und die Erzählung des Wahrgenommenen erst recht.)
Topoi und Erzählmuster
Eine weitere spannende Beobachtung zu dem Thema machen die Autoren von „Opa war kein Nazi“: Hier werden intergenerationelle Familiengespräche über die NS-Zeit in deutschen Familien wissenschaftlich untersucht. Und beobachtet werden unter anderem folgende für das heutige Thema relevante Dinge:
- Filme spielen eine große Rolle bei der Rezeption, aber auch bei der Produktion von Zeitzeugen-Erzählungen. Soll heißen: Erzählungen von Zeitzeugen sind oft so schwammig und widersprüchlich, dass man nicht einmal weiß, wo oder wann das Erzählte stattgefunden hat und wer was getan hat. Die so entstandenen Lücken füllen die Zuhörer oft durch Bilder aus, die sie aus Dokumentationen und vor allem aus Spielfilmen kennen, die oft ja das Gefühl vermitteln, die Geschehnisse selbst erlebt zu haben. Sogar die Zeitzeugen verweisen teilweise auf diese Bilder. Mehr noch, oft werden diese Bilder auch für ganz andere Kontexte verwendet: So werden Bilder vom Holocaust von den „arischen“ Vollblutdeutschen beispielsweise für die eigenen tragischen Erfahrungen am Ende des Krieges beschworen.
- Oft findet auch eine Viktimisierung und/oder Heroisierung der eigenen Angehörigen statt, speziell bei der Kinder- und Enkelgeneration: Die „Nazis“ waren immer die anderen und die Angehörigen der eigenen Familie waren einfach nur Opfer der Umstände, die nur aus finanziellen oder Karriere-Gründen in die NSDAP eintraten, ein Gestapo-Mann hat „in Wirklichkeit“ Juden bei der Flucht aus Deutschland geholfen und die Oma, die eben noch erzählt hat, welche Lügen sie sich hat einfallen lassen, um bei Kriegsende keine befreiten Häftlinge des nahegelegenen KZs Bergen-Belsen bei sich einquartieren zu müssen, weil sie ja so „widerlich“ waren, mutiert im Kopf ihrer Enkelin über Umwege zu einer Heldin, die während der Nazi-Herrschaft Juden versteckt hat. Es ist ein ganz banaler Bestätigungsfehler: Die eigenen Angehörigen können keine schlechten Menschen sein, deswegen wird jeder noch so kleine positive Aspekt maximal hervorgehoben und selbst die empörendsten Erzählungen, in denen unmissverständlich von Kriegsverbrechen die Rede ist, werden einfach überhört.
- Geschichten sind in der Regel an bestimmte Erwartungen gekoppelt. Gemeint sind Motive und Muster, die von allen Gesprächsteilnehmern als selbstverständlich akzeptiert werden. Das fängt damit an, dass man automatisch annimmt, dass der Held der Geschichte, nämlich der Zeitgenosse, der sich erinnert, ein in jeder Hinsicht guter Mensch ist. Und das reicht dann bis hin zu rassistischen Stereotypen, die weder den Zeitgenossen noch ihren Zuhörern bewusst sind. So beobachteten die Forscher unter anderem stereotype Bilder wie den „bösen Russen“, den „guten Amerikaner“ oder den „reichen Juden“. Wenn ein Russe in einer Erzählung beispielsweise als Antagonist auftritt, wird das vom Publikum nickend akzeptiert und niemand denkt daran, dass auch Amerikaner Kriegsverbrechen begangen haben, die Briten durch ihre Luftangriffe massenhaft Zivilisten auf dem Gewissen haben und die Russen erstens keine homogene Gruppe sind, weil die Bevölkerung der Sowjetunion sich aus über 100 Ethnien zusammensetzte, und zweitens nach dem rassistischen Vernichtungskrieg gegen sie durchaus Grund zur Rache hatten. Wenn ein Russe aber doch eine positive Rolle in einer Erzählung einnimmt, so ist das plötzlich erklärungsbedürftig, weil der eine „gute“ Russe in den Köpfen der Gesprächsteilnehmer anscheinend eine Abweichung von der Regel darstellt. Soll heißen: Es wird mit schwarz-weißen Klischees operiert, obwohl in der Realität jeder Dreck am Stecken hatte. Es werden vereinfachende Prinzipien, die man unter anderem wohl auch aus fiktionalen Geschichten kennt, über die Realität gestülpt. – Und ach ja, die „reichen Juden“ sind in den Familienerzählungen immer nach Amerika ausgewandert. Von Konzentrationslagern hat ja niemand etwas gewusst …
Und? Schon das kalte Kotzen gekriegt? – Dann wird es Zeit für einen Exkurs …
Exkurs: Vergangenheitsbewältigung und das Suhlen in der Opferrolle
Wie bereits erwähnt, halte ich die deutsche Vergangenheitsbewältigung für einen schlechten Witz. Das liegt vor allem daran, dass sie lückenhaft faktenorientiert ist, dabei aber keine nennenswerten Konsequenzen gezogen werden:
- Die sechs Millionen ermordeten Juden sind zwar ein bekannter Fakt, aber man spricht eher selten darüber, inwiefern der „arische“ Durchschnittsdeutsche vom Holocaust profitiert hat. Ich meine: Wenn Du zufällig autochthon (d. h. eingeboren) deutsch bist, weißt Du, ob Deine Vorfahren beispielsweise neue Eigentümer von konfisziertem jüdischem Besitz geworden sind? Weißt Du, ob und wie sie im Dritten Reich Karriere gemacht haben, weil sie das Glück hatten, als „arisch“ eingestuft worden zu sein? Weißt Du, inwiefern ihr Status als „Arier“ dazu beigetragen hat, dass sie nicht verfolgt wurden und sich fortpflanzen und Dir die Existenz ermöglichen konnten?
- Weil ich noch in der Sowjetunion geboren wurde, stößt mir persönlich immer wieder auf, wie unwissend die Deutschen über das Ausmaß ihrer rassistischen Verbrechen sind, besonders in Bezug auf den Vernichtungskrieg im Osten. Es stimmt zwar, dass Verbrechen auf allen Seiten begangen wurden, aber dennoch muss man betonen, dass die deutschen Verbrechen durch ihren rassistischen Charakter besonders hervorstechen. Im Sinne von: Die Verbrechen wurden nicht nur von durchgedrehten Individuen verübt, sondern von vornherein von ganz oben angeordnet. Ich spreche da zum Beispiel vom Kommissarbefehl, einer Anordnung, Politkommissare der Roten Armee sofort zu erschießen und sie dementsprechend nicht als Kriegsgefangene zu behandeln. Ich spreche da von sowjetischen Kriegsgefangenen, die als Untermenschen in Konzentrationslagern gehalten wurden. Ich spreche von der Leningrader Blockade, als die Wehrmacht Leningrad, das heutige St. Petersburg, aushungerte und bombardierte, um die Zivilbevölkerung später, wenn man das Gebiet besetzte, nicht versorgen zu müssen. Ich spreche da von der Schaffung von „Lebensraum“ in den besetzten Gebieten, wo man die Zivilbevölkerung ermordete. Und ich spreche nicht zuletzt auch von Weißrussland, das im Zuge des Krieges ein Viertel seiner Bevölkerung verloren hat. Und während Holocaustleugnung Gott sei Dank in Deutschland heute unter Strafe gestellt wird, hört man in Bezug auf den Vernichtungskrieg im Osten immer wieder Stimmen, die die Schuld der Sowjetunion selbst in die Schuhe schieben. Diese war zwar alles andere als ein Unschuldslamm, doch die überwältigende Mehrheit der schweren Verluste geht auf die Deutschen und ihre Helfer zurück. Auch gibt es bis an den heutigen Tag den Mythos, die Wehrmacht habe im Osten „ehrenhaft“ gekämpft, und die beiden Ausstellungen, die in den 90er und frühen 2000er Jahren über die Verbrechen der Wehrmacht aufklären sollten, ernteten in einigen Kreisen, u. a. seitens der CSU, einen Backlash.
Wenn es um die deutsche Vergangenheitsbewältigung geht, hatte ich schon als Kind ein flaues Gefühl im Magen. Ich hab’s den autochthonen Deutschen einfach nicht abgekauft. Lange Zeit konnte ich aber nicht genau sagen, warum. Wahrscheinlich lag es aber daran, dass bei all dem zwar lückenhaft, aber dennoch penetrant vermittelten Faktenwissen kein persönlicher, emotionaler Bezug hergestellt wurde. Wenn man über „Nazis“ spricht, fühlt sich niemand angesprochen, und die jüngeren Generationen fragen sich: „Was hat das mit mir zu tun?“
- Nun, es hat, sofern Du autochthon deutsch bist, ziemlich viel mit Dir zu tun, weil Deine als „arisch“ eingestuften Vorfahren zumindest insofern privilegiert waren, als dass sie nicht verfolgt oder gar ermordet wurden: Du existierst.
- Es hat auch insofern mit Dir zu tun, als dass Du statistisch betrachtet und vor dem Hintergrund der Beobachtungen in „Opa war kein Nazi“ wahrscheinlich ein viel zu gutes Bild von Deinen Großeltern bzw. Urgroßeltern hast. Durch die orale Tradition von Erinnerungen durch Familiengespräche werden Tatsachen, wie bereits erwähnt, gerne ins Gegenteil gekehrt und aus Tätern und Mitläufern werden Opfer und Helden oder wenigstens Bürger mit Zivilcourage. Und wie wir alle mittlerweile wissen sollten, war die Anzahl der Menschen, die tatsächlich etwas gegen das Regime unternommen oder Unschuldige beschützt haben, in Wirklichkeit verschwindend gering. Soll heißen: Deine Angehörigen sind nicht automatisch bessere Menschen, nur weil sie Deine Angehörigen sind.
- Es hat nicht zuletzt insofern mit Dir zu tun, als dass Du kein besserer Mensch bist als die Mitläufer und Täter des Nazi-Regimes. Und ich bin auch kein besserer Mensch. Die meisten von uns haben doch Angst, den Mund aufzumachen, wenn wir es eigentlich sollten. Die meisten von uns schauen hilflos zu, während jemand gemobbt wird. Und einige Sachbearbeiter in Jobcentern haben Beziehern von Hartz IV ganz unempathisch und unhinterfragt sämtliche Leistungen gestrichen, weil das ihr Job war und 100-prozentige Sanktionen erst 2019 als verfassungswidrig eingestuft wurden. Soll heißen: Die Prinzipien, die Verhaltensweisen, die zu Opportunismus führen, sind bis an den heutigen Tag am Werk und werden teilweise auch noch belohnt. Die Vergangenheitsbewältigung findet auf der Ebene von Fakten statt, aber von einem richtigen Umdenken sind wir noch meilenweit entfernt.
- Und ein letzter Punkt stammt aus der Feder des jüdischen Autors Charles Lewinsky. Als Nicht-Jüdin habe ich hier keine Autorität und fasse deswegen nur zusammen: In seinem Kammerspiel Ein ganz gewöhnlicher Jude kritisiert er unter anderem den hypersensiblen Umgang der heutigen nicht-jüdischen Deutschen mit jüdischen Deutschen, die aber gerne endlich nicht mehr als eine sonderliche Spezies, sondern als gewöhnliche Mitdeutsche gesehen werden möchten. Es fällt sogar eine verstörende und leider wohl auch treffende Aussage: nämlich dass die Deutschen den Juden Auschwitz nie verzeihen werden.
Doch so sehr die Propaganda-Aktion namens „deutsche Vergangenheitsbewältigung“ auch ein schlechter Witz sein mag … Hier kommt die Pointe: Hier in Deutschland gibt es diesen „Witz“ wenigstens. Das kann – zumindest meiner Beobachtung nach – von den meisten anderen Nationen nicht behauptet werden:
- So hat man Deutschlands besten Nazi-Kumpel Japan vor allem im Zusammenhang mit den Atomangriffen auf Hiroshima und Nagasaki und auch mit Pearl Harbor in Erinnerung. Dagegen hört man wenig über das Massaker von Nanking, ein Verbrechen der japanischen Besatzer an der chinesischen Bevölkerung. In einem Zeitraum von etwa sechs bis sieben Wochen wurden über 200.000 und möglicherweise sogar über 300.000 Menschen auf teilweise sehr perfide Weise gefoltert und abgeschlachtet: So gab es beispielsweise Wettbewerbe, wer 100 Menschen schneller geköpft bekommt, und Väter wurden gezwungen, ihre eigenen Töchter zu vergewaltigen. Noch heute gibt es in Japan Politiker und andere Personen des öffentlichen Lebens, die dieses Massaker verleugnen. Die (kulturelle) Aufarbeitung leisten meines Wissens hauptsächlich die Chinesen, teilweise mit Unterstützung des „Westens“. Was die japanische Aufarbeitung angeht, so sind mir nur zwei Filme bekannt, von denen einer die Kriegsverbrecher als Märtyrer darstellt.
- Ein anderes Beispiel, das ich sehr kompliziert finde und das auch mir persönlich nahegeht, ist die Aufarbeitung in der ehemaligen Sowjetunion. Dieses Land musste ja, wie bereits ausgeführt, in einem rassistisch motivierten Vernichtungskrieg um sein Recht auf Existenz kämpfen und hat dabei 27 Millionen Menschen, darunter 15,2 Millionen Zivilisten, verloren. Dass sich hier im Prinzip ein eigenständiges Genre von Kulturgut über den Zweiten Weltkrieg und seine Opfer, Märtyrer und Helden herausgebildet hat, ist mehr als verständlich. Und dass die Deutschen darin meistens die „Bösen“ sind, ist auch nachvollziehbar. Deswegen finde ich es ebenfalls nachvollziehbar, dass die Plünderungen und Vergewaltigungen beim Einmarsch in Deutschland kein Thema waren und es auch immer noch nicht sind. Dennoch haben sie stattgefunden, sind aber nicht in Köpfen der Menschen präsent.
Was auch wenig Beachtung findet, sind die Kollektivstrafen gegen ganze Ethnien. Der Vorwurf war, dass sie mehrheitlich mit den Deutschen kollaboriert haben sollen. Teilweise stimmte das und teilweise eben nicht. Und selbst wenn bei einem Volk die Mehrheit kollaboriert hat, haben es ja nicht alle getan. Deswegen haben unter den Deportationen auch sehr viele Unschuldige gelitten und ich finde, es wird recht wenig kulturell aufgearbeitet. Nur hier und da werden Fakten erwähnt. Und das, obwohl es durchaus eine Aufarbeitung anderer stalinistischer Repressionen gibt.
Regelrecht gefährlich finde ich allerdings die historische Aufarbeitung in ehemaligen Sowjetrepubliken, in denen Nazi-Kollaborateure heute teilweise als Helden gefeiert werden: So wurden während des Zweiten Weltkrieges beispielsweise lettische SS-Verbände gebildet, doch heute werden diese als „Legionäre“ betitelten SS-Leute von Teilen der lettischen Bevölkerung als Freiheitskämpfer verehrt. Und der Kriegsverbrecher und Nazi-Kollaborateur Stepan Bandera wird in der Westukraine von vielen als Nationalheld gesehen. Natürlich kann man sich dabei fragen, warum sich manche überhaupt erst gegen die Sowjetunion gewandt hatten bzw. Leute feiern, die – aus welchen persönlichen Gründen auch immer – gegen die Sowjetunion gekämpft haben, und man wird eine dreckige Vorgeschichte entdecken. Gleichzeitig aber frage ich mich zumindest, inwiefern es gerechtfertigt ist, sich einem anderen verbrecherischen Regime anzuschließen, dessen Taten nochmal ein ganz neues Level erreichen. - Und ein letztes Beispiel schließlich betrifft meine eigene Minderheit, nämlich die Russlanddeutschen. Wenn über uns seriös berichtet wird, dann sind wir meistens unschuldige Opfer des Sowjetregimes, und auch in den russlanddeutschen Familien selbst herrscht dieses Narrativ. – Zumindest, soweit ich aus meiner eigenen Erfahrung und Gesprächen mit anderen Russlanddeutschen berichten kann. Und auch ich habe das lange Zeit so gesehen, bis ich von der Geschichte der deutschen Schriftstellerin Herta Müller erfuhr. Ihre Familie gehörte zu einer deutschen Minderheit in Rumänien und wurde vom kommunistischen Regime repressiert. Der Grund dafür: Ein großer Teil der Rumäniendeutschen und alle Männer ihres Heimatdorfes, darunter ihr Vater, waren reihenweise freiwillig in die SS eingetreten. Wenn ich an Stalins Stelle so etwas sehen würde und wüsste, dass es in meinem eigenen Land auch deutsche Minderheiten gibt, und dann die Deutschen bei mir einmarschieren: Natürlich lasse ich sie deportieren. Grausam, ja, und ungerecht, aber alles andere wäre schlicht und ergreifend verantwortungslos. Und Stalin war ja alles Mögliche, aber nicht dumm. Zumal das offenbar auch international in die Kategorie „gängige Paxis“ fällt: So wurden in den USA nach dem Angriff auf Pearl Harbor 110.000 japanischstämmige Männer, Frauen und Kinder, mehr als die Hälfte von ihnen US-Bürger, zwangsumgesiedelt und in Lagern interniert. Willkommen im totalen Krieg. (Für Leute, die keine Ironie verstehen: Der totale Krieg ist sch****. Krieg ist sch**** generell.)
Weil der Großteil der Russlanddeutschen nun aber gar nicht erst dazu gekommen ist, mit den einmarschierten „Deutschlanddeutschen“ zu kollaborieren, werden wir nie erfahren, ob diese Befürchtung gerechtfertigt war oder nicht. Aber ich persönlich empfinde den Blick nach Rumänien als „creepy“ und bin trotz der Traumata, die in meiner Familie von Generation zu Generation vererbt werden, irgendwie froh, dass zumindest eine Hälfte meiner deutschen Vorfahren gar nicht erst die Gelegenheit bekommen hat, sich nachweislich zu „beschmutzen“. Im Gegensatz zu Gestalten wie meinem Volksgenossen Samuel Kunz, der anderthalb Jahre als Wachmann in einem Vernichtungslager tätig war. (Bei der anderen Hälfte meiner deutschen Vorfahren weiß ich allerdings nicht. Es heißt zwar, sie hätten nichts verzapft, aber so nach der Lektüre von „Opa war kein Nazi“ weiß ich gar nichts mehr.) Jedenfalls frage ich mich durchaus nach dem „Was wäre, wenn …“, und finde es schade, dass diese Frage sonst nie gestellt wird.
Ich hoffe, verdeutlicht zu haben, dass Geschichte vor allem dreckig ist und es unter den Kriegsparteien vermutlich keine Unschuldslämmer gibt. (Abgesehen von den Juden, Sinti und Roma, Homosexuellen und anderen Verfolgten, die aber nun mal keine Kriegsparteien bildeten.) Doch die Geschichte wirkt insofern nach, als dass wir bis an den heutigen Tag nach Schuldigen suchen und uns gegenseitig den Schwarzen Peter zuschieben. Mir fällt wirklich keine Nation, keine Ethnie, keine Minderheit ein, die ihre Vergangenheit wirklich nüchtern aufarbeitet.
Jeder suhlt sich in der Opferrolle, statt Verantwortung zu übernehmen.
(Selbst die Deutschen, die in Sachen Vergangenheitsbewältigung wohl am meisten leisten.)
Gedenkveranstaltungen werden zu politischen Streitpunkten und Heuchelei-Konzerten, die Propaganda des Friedens versagt kläglich. Die schwarz-weiß-malerischen Geschichten, die wir uns über die Vergangenheit erzählen, all die Bücher und Filme über strahlende Helden und böse, böse Orks, lehren nicht etwa Vergebung und Empathie füreinander, sondern uns gegenseitig anzuklagen und zu hassen.
Kritisch hinterfragen tut weh
Das wird sich wohl auch nicht allzu bald ändern. Denn uns stehen die Loyalitätsbeziehungen zu unserer Familie, unser stark subjektives Schwarz-Weiß-Denken sowie ein religiös und kulturell tradierter Glaube an gute und böse Menschen im Weg:
- Wir selbst sind ja gute Menschen. Niemand wacht morgens auf und denkt: „Hey, heute begehe ich etwas ganz Schlimmes!“ Nur einige wenige Psychopathen tun das. Und die meisten Verbrecher sind eben normal denkende Menschen wie Du und ich. Aber wir sind gute Menschen, nicht? Wir wünschen ja niemandem etwas Böses.
Oder wie die der verfolgte Jude Josef in Remarques Roman Zeit zu leben und Zeit zu sterben es so schön formuliert:
„Es gibt KZ-Kommandanten mit Humor, SS-Wachen, die untereinander gutmütig und kameradschaftlich sind. Und es gibt Mitläufer, die sich nur an das sogenannte Gute klammern und das Grauenvolle übersehen oder es als vorübergehend und harte Notwendigkeit erklären. Das sind die Leute mit dem elastischen Gewissen.“
E. M. Remarque: Zeit zu leben und Zeit zu sterben, Kapitel XXI.
Ich fürchte, die meisten von uns, mich selbst eingenommen, haben ein „elastisches Gewissen“.
- Wir wollen unsere eigene Familie nicht hinterfragen. Nicht die liebe Oma oder den lieben Opa. Nicht Mama oder Papa. Denn das sind gute Menschen, denn sie tun uns Gutes, und wir wollen von der Familie ja auch nicht verstoßen werden. Vor allem wollen wir nicht als Angehörige einer Familie von „schlechten“ Menschen gebrandmarkt und von der Gesellschaft verstoßen werden.
Und unsere eigenen Kinder sind sowieso Engel. Hier noch ein anderes, sehr treffendes Zitat:
„Aber jetzt begreife ich, weshalb ich für diese schmale verhärmte Frau anders bin als alle Soldaten der Welt: ich bin ihr Kind.
Ich bin es immer für sie geblieben, auch als Soldat. Sie hat im Kriege nur einen Knäuel gefährlicher Bestien gesehen, die ihrem bedrohten Kinde nach dem Leben trachteten. Aber ihr ist nie der Gedanke gekommen, daß dieses bedrohte Kind eine ebenso gefährliche Bestie für die Kinder anderer Mütter war.“
E. M. Remarque: Der Weg zurück, Dritter Teil, II.
An seinem Bild der eigenen Nation, Familie oder anderweitigen Gruppe zu kratzen bedeutet, sein Selbstbild infrage zu stellen. Und wir sind es gewohnt, uns mit den „Guten“ zu identifizieren. Das ist wohl das klassischste Erzählmuster überhaupt: Wir sind die Guten und die anderen sind die Bösen. Wir nehmen diese Erzählmuster dankbar an. Sei es, wenn wir über die Vergangenheit reden oder wenn man uns durch die Medien von der Notwendigkeit eines Kriegs überzeugen will.
An dieser Stelle ein passendes Zitat, das zu denken geben sollte:
„Moralische Empörung ist der Heiligenschein der Scheinheiligen.“
– Helmut Qualtinger
Vielleicht habe ich aber auch einfach gut reden. Ich mit meiner „bunten“ Familiengeschichte. In Wahrheit bin ich nur eine halbe Russlanddeutsche, die andere Hälfte ist genetisch komi-syrjanisch, aber schon seit vielen Generationen friedlich und schleichend russifiziert. Einer meiner Urgroßväter wurde mit der Unterschrift eines SS-Sturmbannführers ins Deutsche Reich eingebürgert und diente in der Wehrmacht. Sein Bruder, mein Urgroßonkel, landete bei der SS. Ein anderer Urgroßvater war ein ordenbehängter Offizier der Roten Armee. Die beiden letzten Urgroßväter, ein deutscher und ein russischer, starben in sowjetischen Lagern. Ich selbst habe erst im Alter von sieben Jahren erfahren, dass ich halbe Deutsche bin, und bin mit dem sowjetisch-russischen Narrativ vom Zweiten Weltkrieg aufgewachsen, hier in Deutschland aber Empathie für die „Täternation“ entwickelt. Ich bin gewissermaßen privilegiert, das Ganze aus unterschiedlichen Perspektiven betrachten zu können.
Vor allem aber: Durch den Verlauf des Zweiten Weltkrieges – inklusive aller Verbrechen – ist es in meiner Familie zu Umsiedlungen gekommen, durch die meine deutschen Großeltern sich überhaupt erst kennenlernen und heiraten konnten. Ich gehöre zu denen, die dem Zweiten Weltkrieg wohl am meisten ihre Existenz „verdanken“. Ich muss mich damit auseinandersetzen. Und das ist im Übrigen auch noch ein letzter Punkt, warum die deutsche Vergangenheit Dich persönlich betrifft, und zwar ganz unabhängig davon, ob Du autochthon deutsch bist oder nicht: Ohne den Zweiten Weltkrieg, das NS-Regime und seiner Verbrechen würde es diesen Kanal nicht geben und Du würdest diesen Artikel jetzt, in diesem Moment, nicht lesen.
Künstlerische Werke: Absichtliche und unabsichtliche Propaganda?
Nun magst Du Dich aber fragen, was das alles, worüber ich eben geredet habe, mit Propaganda zu tun hat. Ging es doch eher um verzerrte Wahrnehmungen und den Einfluss von Geschichten darauf.
Nun, bewusste, zielgerichtete Propaganda verabreicht uns Geschichten, die sich in unser Bewusstsein und unsere Erzählungen fressen und uns somit zu unwissenden Trägern von Propaganda machen.
Einer der Gründe, warum Erzählungen vom „bösen Russen“ in den Familiengesprächen über die NS-Zeit so unhinterfragt angenommen wurden, dürfte zum Beispiel sein, dass die Zuhörer, die Kinder- und Enkelgeneration, von der russophoben Propaganda des Kalten Krieges beeinflusst waren.
Ich finde daher, dass man persönliche Wahrnehmungen, Erinnerungen und Erzählungen nicht strikt von bewusster Propaganda trennen kann. Sie sind zu eng miteinander verschlungen. – Vorausgesetzt natürlich, die bewussten Propaganda-Bemühungen passen zu den persönlichen Wahrnehmungen und Narrativen:
Denn was durch die Interviews in „Opa war kein Nazi“ nämlich auch deutlich geworden ist, ist die Diskrepanz zwischen Familienerinnerungen und der Staatspropaganda in der DDR. Die Erzählungen des Staates passten nicht zu den persönlichen Erzählungen in der Familie, weswegen das DDR-Narrativ von der NS-Zeit in den Köpfen nicht dauerhaft Wurzeln geschlagen hat.
Propagandistische Werke?
Übertragen lässt sich das Ganze aber natürlich auch auf Kulturgut:
- Es gibt Geschichten, die bewusst zu Propagandazwecken produziert werden.
So wurde die Verfilmung von George Orwells Animal Farm aus dem Jahre 1954 von der CIA finanziert. Die propagandistische Absicht liegt hier klar auf der Hand.
- Es gibt Geschichten, die vielleicht nicht bewusst zu Propagandazwecken erschaffen wurden, aber dennoch die zu ihrer Zeit propagierten Werte spiegeln.
Nu pogodi! ist ein sowjetischer Kinderserien-Klassiker. Die Geschichte spielt in einer ähnlichen Welt wie Zoomania, in der Tiere in einer zivilisierten Gesellschaft leben, und es geht um einen Wolf, der einen Hasen verfolgt, weil er ihn fressen will, dabei aber immer wieder auf amüsante Art scheitert. Insgesamt erinnert der Plot an Tom und Jerry, aber es gibt einen gravierenden Unterschied: Der Hase schlägt nicht zurück. Denn er ist die Personifikation aller sozialistischen Tugenden: Er ist jung und athletisch, klug und wissenschaftlich interessiert und hat ein gutes Herz voller Mitgefühl, das er sogar dem Wolf entgegenbringt. Der Wolf hingegen personifiziert Laster: Er ist kriminell, ein Kettenraucher, verstößt gegen Regeln und achtet nicht auf die Gefühle anderer. Und das ist auch sein Verderben, denn sein Scheitern ist immer selbstverschuldet. In einigen Folgen bringt er sich sogar in so große Schwierigkeiten, dass er vom Hasen gerettet werden muss.
Mit der sowjetischen Ideologie deckt sich das insofern, als dass Nu pogodi! das Für-einander-Daseins predigt. Der „Kriminelle“ war zumindest offiziell nicht etwas „Böses“, das vernichtet gehört, sondern musste umerzogen werden. Viele frühe naiv-ideologische sowjetische Filme aus der Schwarz-Weiß-Ära haben genau diesen Plot und die stalinistischen Arbeitslager waren eine ziemlich perverse Ausprägung dieser Ideologie.
Allerdings muss man aber sagen, dass der ideologische Aspekt in Nu pogodi! extrem subtil ist. Ich denke daher nicht, dass hier bewusst Propaganda betrieben werden sollte, zumal die Serie auch nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion im gleichen Sinne fortgesetzt wurde. Vielmehr spiegelt der Zeichentrick einfach die Werte, die man damals gemeinhin als wichtig einstufte: Sei freundlich, mach Sport, bilde Dich weiter, kümmere Dich um Deine Mitmenschen und strecke sogar Leuten, die Dir Böses wünschen, eine helfende Hand aus.
- Es gibt Geschichten, die die Realität für das Zielpublikum bewusst oder unbewusst „zurechtbiegen“.
So denke ich nicht, dass ich noch allzu groß erklären muss, warum die Geschichte des „weißen Mannes“ verbrecherisch ist. Stichpunkt Kolonialismus, Imperialismus, zahlreiche Genozide etc. Wie erzählt man also Geschichten über diese Verbrechen, ohne dass das „weiße“ Zielpublikum sich schlecht fühlen muss? – Ganz einfach, man benutzt den Topos des White Savior, eines weißen Protagonisten, der sich auf die Seite von Farbigen stellt und sie beschützt, weil diese offenbar hilflos sind wie kleine Kinder und nicht für sich selbst eintreten können. So kann sich das „weiße“ Publikum mit einer positiven „weißen“ Heldenfigur identifizieren und die gezeigten Missstände trotzdem kritisch sehen. Die „bösen“ Weißen sind dabei, wie auch die „Nazis“, immer die anderen.
- Und es gibt auch viele Geschichten, bei denen man – oder ich zumindest – nicht einschätzen kann, inwiefern sie bewusst oder unbewusst propagandistisch sind, die aber durchaus Folgen für unsere Wahrnehmung haben.
Die HBO-Serie Chernobyl zum Beispiel erweckt leicht den Eindruck einer authentischen Darstellung der Nuklearkatastrophe von 1986, arbeitet aber mit künstlerischen Übertreibungen. Somit werden die an sich bereits schlimmen Folgen und auch das Sowjetregime selbst ins Negative verzerrt, ohne dass der durchschnittliche Zuschauer das bemerkt. Es prägen sich also Bilder und Fakten ins Bewusstsein ein, die so gar nicht oder nur teilweise stimmen. Das wiederum führt zu einer noch stärkeren Ablehnung der Kernenergie in der Gesellschaft. – Und das in einer Zeit, in der wir immer mehr Energie verbrauchen und dafür durch fossile Brennstoffe unsere Umwelt verschmutzen, weil erneuerbare Energien erstens noch nicht so weit sind, um unseren Bedarf komplett zu decken, und zweitens auch ihre Schattenseiten haben, über die man erstaunlich wenig redet. Natürlich will ich nicht sagen, dass Atomkraft die Lösung aller Probleme ist, und finde, dass hoffnungslos veraltete Kraftwerke wie die von Tschernobyl und Fukushima lahmgelegt gehören. Allerdings halte ich eine weltweite Atomkatastrophe für weniger wahrscheinlich als die katastrophalen Folgen eines unaufhaltsamen Klimawandels und befürchte, dass die Angstmacherei durch die übertriebene Darstellung in der Serie Chernobyl eher Leuten nützt, die von fossilen Brennstoffen profitieren und sich nicht um die langfristigen Folgen fürs Klima kümmern.
Wenn eine Geschichte nicht zur (vermeintlichen) Wahrheit passt
Wie aber bereits angedeutet, können Propaganda oder unterbewusstere Formen der Beeinflussung ihre Wirkung nur entfalten, wenn ihre Botschaft zu dem passt, was in den Köpfen bereits vorhanden ist:
- Vielleicht reagiere ich über, aber ich persönlich habe den Eindruck, dass amerikanische Filme über den Zweiten Weltkrieg, in denen die Amerikaner als heldenhafte Befreier dastehen, hierzulande akzeptierter sind als russische Filme, in denen die Menschen der Sowjetunion heldenhaft ihr Land verteidigen. Das heißt, wenn die Deutschen russische Produktionen überhaupt erst wahrnehmen … Und diese fehlende Wahrnehmung hat Folgen: So zeigt eine Studie, dass die USA von vielen als Hauptverantwortliche für den Sieg über Nazi-Deutschland gesehen werden, während der Beitrag der Sowjetunion gerne unterschätzt wird. Die Forscher vermuten, dass die verzerrte Wahrnehmung durch die von Hollywood dominierte Populärkultur entstanden ist.
- Etwas bedenklich finde ich auch die Akzeptanz gegenüber Filmen wie Duell – Enemy at the Gates, eine amerikanisch-westeuropäische Produktion über ein Scharfschützenduell bei Stalingrad, in dem grausam überzogene Mythen über Stalins Befehl Nr. 227 bestätigt und weiterverbreitet werden: In Wirklichkeit war die Sowjetunion keineswegs so bekloppt, ihre eigenen Soldaten zu erschießen, wenn sie vor dem Feind flohen. Solche Mythen sind u. a. deswegen so gefährlich, weil sie die schreckliche These nähren, die Sowjetunion sei für ihre schweren Verluste im Zweiten Weltkrieg selbst verantwortlich. (Und wenn mir jetzt jemand mit der Mitschuld der Sowjetunion am Ausbruch des Zweiten Weltkrieges kommen will: Eine Mitschuld am Ausbruch des Krieges ist eine Sache – aber die Wahl eines rassistisch motivierten Vernichtungscharakters des Krieges eine völlig andere.)
Alles in allem kommt es bei der künstlerischen Darstellung von Fakten nicht nur darauf an, ob die Fakten im Werk selbst stimmen, sondern vor allem auch darauf, ob sie ins Weltbild des Publikums passen. Oder wie Henry Kissinger es formulierte:
„It is not a matter of what is true that counts, but a matter of what is perceived to be true.“
– Henry Kissinger
Dieser Punkt dürfte eine große Hürde für „gute“ Propaganda bzw. Aufklärung darstellen. Wenn Du also diesen Weg beschreiten möchtest, solltest Du Dir wohl sehr gute Argumente zurechtlegen.
Was können wir als Geschichtenerzähler tun?
Was bleibt schließlich zu sagen?
Ob Du es wahrhaben willst oder nicht, Du als Geschichtenerzähler bist Träger und Vermittler bestimmter Werte und Ideologien.
Kannst Du Dich dem entziehen? Ich fürchte, nein. Aber Du kannst kritisch hinterfragen, recherchieren und vermeintliche Selbstverständlichkeiten genauer unter die Lupe nehmen.
Bedenke aber, dass das, was Du zusammenrecherchierst, auch nicht unbedingt die Wahrheit wiederspiegelt. Deswegen: Glaub niemandem. Glaub Dir selbst nicht, glaub anderen nicht und glaub mir nicht. Selbst noch so sehr um Objektivität bemühte Wissenschaftler unterliegen ideologischen Einflüssen.
Wenn es also einen Weg gibt, der zu einer reifen Meinung führt, dann ist das, denke ich, Demut:
Weniger reden, mehr zuhören.
Du bist nun mal von bewusster und unbewusster Propaganda umgeben. Hör also zu, was die verschiedenen Parteien zu sagen haben. Lerne ihre Perspektiven kennen. Wo liegen die Widersprüche und wo überschneiden sie sich? Wie nehmen sie sich gegenseitig wahr und gibt es vielleicht Missverständnisse? Warum denken die Leute so, wie sie denken? Welche Interessen haben sie? Wie wurden sie erzogen? Das sind nur einige wenige Fragen, die Du Dir beim Hinterfragen einer Darstellung stellen kannst.
Ich finde außerdem, dass wir aufhören sollten, Menschen, die wir als Täter wahrnehmen, mit einer Keule zu verurteilen, und uns stattdessen um Empathie bemühen. Denn Du bist kein besserer Mensch. Und die Menschen im NS-Deutschland beispielsweise waren keine schlechteren Menschen. – Das ist doch die eigentliche Tragik des Ganzen! Die menschliche Natur, die menschliche Gleichgültigkeit, die menschliche Angst, die die Tragödie des Holocaust überhaupt erst möglich gemacht haben! – Und sie sind immer noch da: In Dir. Sich auf das hohe moralische Ross zu schwingen und auf andere mit dem Finger zu zeigen finde ich da sehr vermessen.
Das ist im Übrigen keine rein intellektuelle Überlegung von mir, sondern etwas, das, wie ich finde, für mich selbst gut funktioniert hat:
Durch meine Kindheit in Russland entwickelte ich ein Bild, laut dem die deutschen „Faschisten“ eine Art Orks waren. Interessant ist, dass dieses Bild in Russland sich nur auf Hitlerdeutschland bezieht und die Sicht auf das heutige Deutschland deutlich positiver ist als die Sicht im heutigen Deutschland auf das heutige Russland. Daher fand ich Deutschland nach unserem Umzug hierher auch ganz cool. Nur als ich etwas älter wurde, fragte ich mich, wo denn die Verbindung zwischen den heutigen Deutschen und den „Orks“ der NS-Zeit ist. Die „Ork-Bevölkerung“ wurde ja nicht einfach durch normale Menschen ersetzt.
Die Antwort auf diese Frage erhielt ich, als ich in der Schule das Buch Nelly wartet auf den Frieden lesen musste: Nelly ist ein ideologieverwaschenes Nazi-Mädchen und ein Mensch zugleich. Sie wurde in die Zeit hineingeboren, in die sie hineingeboren wurde, sie ist jung und hat keinen Grund zum Hinterfragen. Ebenso wie auch die erwachsenen Menschen dieser Zeit einfach ihr Leben gelebt haben, auf sich selbst und ihre eigenen persönlichen Interessen fixiert. Wie die Menschen überall. Ich vergaß den Vernichtungskrieg nicht, aber ich entwickelte auch Empathie für Nelly und ihre Familie, Freunde und Bekannten. Auch sie haben in dieser Zeit gelitten. Und so wurde mir erstmals klar, dass der Zweite Weltkrieg eben nicht schwarz-weiß war. Auf allen Seiten waren Menschen, die sich gegenseitig schlimme Dinge angetan und gelitten haben. Und ich finde es tragisch, dass bis an den heutigen Tag zwischen den verschiedenen Nationen kein richtiger großflächiger Austausch über die erlittenen Erfahrungen stattfindet. Stattdessen viel gegenseitige Verteufelung.
Ich meine, mach ruhig Propaganda für Deine Herzensangelegenheiten. Etwas anderes kannst Du durch und durch beeinflussbares und beeinflusstes Individuum ja auch nicht tun. Auch dieser Artikel hier ist schließlich Propaganda. Zumindest ein bewusster Versuch. Aber ich würde Dich bitten, Andersdenkende zumindest mit Respekt zu behandeln. Denn sie sind, wie gesagt, keine Orks, sondern Menschen wie Du und ich. Hetzpropaganda ist schon vom Prinzip her sch****.
Mir persönlich wäre es aber am liebsten, wenn es mehr Geschichten gäbe, die Verständnis füreinander propagieren. Egal, ob sie in der realen oder in einer fiktiven Welt spielen. Denn Geschichten sind, wie hoffentlich rübergekommen ist, mächtiger als Fakten: Museen und Ausstellungen werden Otto Normalverbraucher von nichts überzeugen. Aber eine emotionale, ergreifende Geschichte kann das.
Als Positivbeispiel empfehle ich Remarques Zeit zu Leben und Zeit zu sterben, einen Roman über den Heimaturlaub eines Wehrmachtssoldaten. Es ist eine ergreifende Liebesgeschichte, die an die Frage der persönlichen Mitschuld des Einzelnen gekoppelt ist. Empfehlen tue ich aber nur die aktuellste Ausgabe, die Remarques ursprünglichem Manuskript folgt. Die Erstausgabe von 1954 wurde nämlich für das zarte deutsche Nachkriegsgemüt zurechtzensiert.
Linktipps
Rezo ja lol ey: Die Zerstörung der Presse
https://youtu.be/hkncijUZGKA
Katharina Dietrich: Junge Spätaussiedler/innen im Spannungsfeld zwischen Rassismuserfahrungen und eigenen Rassismen. Empirisch untersucht in qualitativen Interviews mit jungen Menschen aus Russland und Kasachstan
https://www.idaev.de/fileadmin/user_upload/pdf/download/Dietrich_AussiedlerInnen_Rassismus.pdf
ME!j!N: Niemals angekommen (sehr anklagender Rap über russlanddeutsche Aussiedler)
https://www.youtube.com/watch?v=46UZ8HlQGWM
(In der Kommentarsektion wimmelt es übrigens von Leuten, die sich damit absolut identifizieren können.)
Adam Curtis: The Century of the Self
https://www.youtube.com/watch?v=eJ3RzGoQC4s
Fernsehkritik-TV: Ukraine-Konflikt: 4 Manipulationen bei ARD + ZDF
https://www.youtube.com/watch?v=Z1vX2mjDPZM
heise online: Ukraine-Konflikt: ARD-Programmbeirat bestätigt Publikumskritik
https://www.heise.de/tp/features/Ukraine-Konflikt-ARD-Programmbeirat-bestaetigt-Publikumskritik-3367400.html
Die Anstalt vom 23. September 2014
https://www.claus-von-wagner.de/tv/anstalt/20140923-erster-weltkrieg
Guy Mettan: Creating Russophobia: From the Great Religious Schism to Anti-Putin Hysteria
https://amzn.to/2OSj3w5
Bobby Duffy: How We Create Our Own Fake News
https://youtu.be/4ZSXuPZq7nw
Harald Welzer, Sabine Moller, Karoline Tschuggnall: »Opa war kein Nazi«: Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis
https://amzn.to/2CPJ2Sk
Felix Römer: Der Kommissarbefehl: Wehrmacht und NS-Verbrechen an der Ostfront 1941/42
https://amzn.to/2PfTwgl
Verstörende Erinnerungen und Tagebucheinträge der Opfer der Leningrader Blockade
https://www.heise.de/tp/features/Hitler-In-die-russischen-Staedte-gehen-wir-nicht-hinein-sie-muessen-vollstaendig-ersterben-4288622.html?seite=2
Irene Altenmüller: Wie eine Ausstellung die Deutschen spaltete
https://www.ndr.de/geschichte/chronologie/Wehrmachtsausstellung-loest-1995-Proteste-aus,wehrmachtsausstellung100.html
Oliver Hirschbiegel: Ein ganz gewöhnlicher Jude (Verfilmung von Charles Lewinskys Kammerspiel)
https://amzn.to/30XdylA
Auf Klo: So fühle ich mich als Jüdin in Deutschland
https://youtu.be/mHBOf-P2wbo
Lettische Waffen-SS
https://de.wikipedia.org/wiki/Lettische_SS-Verb%C3%A4nde
Stepan Bandera
https://de.wikipedia.org/wiki/Stepan_Bandera
Samuel Kunz, mutmaßlicher russlanddeutscher NS-Verbrecher
https://de.wikipedia.org/wiki/Samuel_Kunz
John Halas, Joy Batchelor: Aufstand der Tiere (Nach Animal Farm / Farm der Tiere von George Orwell)
https://amzn.to/3gcll5m
Sojusmultfilm: Hase und Wolf (Nu pogodi!)
https://de.wikipedia.org/wiki/Hase_und_Wolf
The Cynical Historian: Chernobyl | Based on a True Story
https://www.youtube.com/watch?v=vqmOfbe1YbA
Lukas Wieselberg: Eigener Beitrag wird überschätzt (Zusammenfassung der Studie: Competing national memories of World War II)
https://science.orf.at/v2/stories/2990653/
Michael Shellenberger: Why renewables can’t save the planet
https://youtu.be/N‑yALPEpV4w
TIK: The Myth and Reality of Joseph Stalin’s Order No. 227 „Not a Step Back!“
https://www.youtube.com/watch?v=JOKAIDpOY80
Erich Maria Remarque: Zeit zu leben und Zeit zu sterben
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Douglas Sirk: Zeit zu leben und Zeit zu sterben (Verfilmung)
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