Interessante Charaktere (Figuren) sind das Herzstück einer jeden guten Geschichte. Die Leser schließen sie ins Herz und fiebern mit ihnen mit. Besonders interessant sind dabei Charaktere, die komplex sind. Die die Illusion erwecken, reale Menschen zu sein. Wie erschafft man also spannende, fesselnde Figuren?
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Als Autor hört man häufig den Tipp:
- Die Charaktere (Figuren) in der Geschichte sollen nicht schwarz oder weiß sein, sondern grau.
Ich persönlich halte diesen Ratschlag allerdings für Unsinn.
Denn meiner Meinung nach ist ein interessanter, komplexer Charakter nämlich eine kunterbunte Zwiebel …
Charaktere (Figuren): Das Herz der Erzählung
Charaktere (Figuren) sind der emotionale Anker einer Erzählung. Als Leser lernen wir sie kennen, fühlen mit ihnen mit und sie bleiben in unseren Herzen selbst dann, wenn die Geschichte zu Ende ist. Kein Wunder also, dass Autoren sich in der Regel sehr viele Gedanken über sie machen.
Deswegen stellen wir uns heute die Fragen:
- Was macht Figuren eigentlich wirklich interessant, komplex und tiefgründig?
- Wie erschaffen wir die Illusion, sie seien echte Menschen?
Figuren erschaffen: Schwarz, Weiß und Graustufen
Beginnen wir mit dem bereits angekündigten Thema: Schwarz, Weiß und Graustufen.
Dass zu 100 % schwarze (böse) und zu 100 % weiße (gute) Figuren langweilig sind, ist schon längst eine Art Konsens. Deswegen wird häufig empfohlen, Schwarz und Weiß in den Figuren zu vermischen: Es sollen Grautöne entstehen.
Demonstrieren lässt sich das zum Beispiel an Harry Potter …
Interessante Charaktere? Harry Potter vs. Draco Malfoy
Harry selbst ist mutig, hat ein gutes Herz, einen ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit … Er ist jederzeit bereit, sich für das Wohl anderer zu opfern …
Und damit ist er ein ziemlich typischer Märchen- oder Fantasyheld.
Geschichten über Figuren wie ihn haben wir schon 20.000 Mal gelesen und wir möchten gerne etwas Abwechslung und Komplexität.
Diese finden wir in der Figur Draco Malfoy: Er hat eine große Klappe, ist arrogant und hat sozusagen eine Art „Magie-Rassismus“ (weil er reinblütige Zauberer für etwas besseres hält als den Rest der Welt).
Beobachtet man ihn genauer, fällt einem auf, dass er vor allem ein Verlangen nach Selbstbestätigung hat. (Warum sollte er sonst andere Leute niedermachen?) Das wiederum zeugt von einer inneren Unsicherheit.
Außerdem muss man natürlich beachten, dass Draco die Mentalität seiner Eltern übernommen hat (Faktor Erziehung). Und nicht zuletzt ist Draco frustriert, weil Harry im ersten Band seine Freundschaft abgelehnt hat.
Wir sehen also: Draco ist nicht der angenehmste Mensch der Welt, aber wir haben Anhaltspunkte davon auszugehen, dass er Gründe hat, so zu sein wie er ist. Er ist jemand, der den Leser ständig in Spannung hält: Was steckt wirklich hinter dieser arroganten Fassade? – Denn immer wieder blitzt hindurch, dass er sich vor seinem Vater und Voldemort beweisen möchte: Als sein Vater bei Voldemort in Ungnade fällt, will Draco die Ehre seiner Familie wiederherstellen.
Wenn wir ihn genau anschauen, wissen wir also, dass er im Grunde kein schlechter Kerl ist. Er will zum Beispiel Dumbledore nicht töten (obwohl er diesbezüglich klare Anweisungen hat), er will Harry auch nicht an die Todesser verraten und schließt später sogar Frieden mit ihm.
Draco ist eine Figur, die nicht eindeutig gut, aber auch nicht eindeutig böse ist. Er ist definitiv nicht der angenehmste Zeitgenosse (Harry Potter ist als Mensch viel sympathischer), aber wenn man schaut, wer von beiden die interessantere Figur ist, dann fällt meine Wahl eindeutig auf Draco Malfoy.
Warum Graustufen nicht funktionieren
Ich habe ja bereits angedeutet, dass ich mit dem Graustufen-Ratschlag ein Problem habe. Dieses Problem ist:
Graustufen sind immer noch Teil des Schwarz-Weiß-Paradigmas.
Denn wer meint, man solle das Gute und das Böse in den Figuren vermischen, geht davon aus, dass es überhaupt Gut und Böse gibt. Ich wage jedoch zu behaupten, dass interessante, komplexe Figuren jenseits von Gut und Böse existieren.
Das liegt schlicht und ergreifend daran, dass es überhaupt kein Gut und Böse gibt …
Interessante Figuren jenseits von Gut und Böse
Kein Mensch der Welt ist eine Ansammlung von guten und schlechten Eigenschaften. Ein echter Mensch ist vor allem ein System, in dem alle Eigenschaften
- an sich völlig neutral und
- miteinander verknüpft sind
- und sich in unterschiedlichen Situationen und aus unterschiedlichen Perspektiven mal produktiv und mal kontraproduktiv äußern.
Ich demonstriere es mal an einem weniger bekannten Beispiel …
Beispiel für einen komplexen Charakter: Soji Okita
Hakuoki ist eine Serie von Videospielen, die auch als Anime und Film umgesetzt wurde. Darin taucht eine Figur namens Soji Okita auf und er basiert auf dem realen Soji Okita, dem Kapitän des ersten Korps der Shinsengumi (die Geschichte basiert nämlich lose auf realen Ereignissen im Japan des 19. Jahrhunderts).
In diesem Spiel schlüpfen wir in die Rolle der Protagonistin und lernen (unter anderem) Soji allmählich kennen. Und zwar fällt er zunächst als das absolute „Problemkind“ der Gruppe auf mit seiner Liebe fürs Töten, seinen ständigen Witzen über das Töten und nicht zuletzt auch seinen Morddrohungen der Protagonistin gegenüber.
Als wir ihn jedoch näher kennen lernen, sehen wir schon bald, dass er sehr loyal und tapfer ist. Er ist selbstlos, er ist fixiert auf Isami Kondo (den Anführer der Shinsengumi), er spielt mit den Kindern der Nachbarschaft und er macht sich gern einen Spaß draus, seine Kameraden zu necken.
Als wir ihn noch näher kennen lernen, erfahren wir, dass er an Tuberkulose leidet – und als meisterhafter Schwertkämpfer und Krieger wird er deswegen immer einsamer und verzweifelter (weil er ständig im Hauptquartier zurückgelassen wird). Außerdem merken wir, dass er sich offenbar für einen schlechten Menschen hält, denn wenn die Protagonistin ihm näherkommt, sagt er zu ihr mehrmals, dass er nicht gut für sie ist.
Im Prequel erfährt man schließlich, dass Soji aus einer verarmten Samurai-Familie stammt – und nachdem seine Eltern früh gestorben sind, konnte seine Schwester nicht für ihn sorgen und hat ihn an die Schwertkampfschule „abgegeben“. Sie meinte es natürlich nur gut, aber für ein kleines Kind wie ihn damals hat sich das ganz anders angefühlt. Und um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, wurde er in der Schwertkampfschule von den älteren Kindern gemobbt.
Das Ergebnis davon ist ein fehlendes Selbstwertgefühl, aufgestaute Aggression und die Unfähigkeit, seinen eigenen Weg zu gehen, weil Soji so sehr auf Isami Kondo fixiert ist. Kondo hat nämlich dem kleinen Soji beigestanden und deswegen betrachtet Soji ihn jetzt als eine Art großen Bruder. Soji bezeichnet sich selbst mehrmals als ein „Schwert“ und ist der festen Überzeugung, dass er für nichts zu gebrauchen ist außer fürs Töten. Deswegen kämpft er, um Kondos Ziele und Träume wahrzumachen.
Wenn wir jetzt also zum Beispiel seine „mörderische Seite“ herausgreifen, merken wir, dass sie an sich nicht per se böse ist:
- Er stellt seine Aggression in den Dienst von Menschen, die er liebt.
- Gleichzeitig ist sie aber auch Ausdruck seiner Traumata.
Seine Selbstlosigkeit hingegen, eine vermeintlich doch sehr gute Eigenschaft, wurzelt in seinem fehlenden Selbstwertgefühl:
- Wenn er für nichts zu gebrauchen ist außer fürs Töten, dann ist es ja kein schwerer Verlust, wenn er stirbt. Und eine solche Selbstwahrnehmung ist eigentlich eine große Tragödie.
Unterm Strich ist Soji also eine Figur, deren Eigenschaften weder eindeutig gut noch eindeutig schlecht sind. Während Draco Malfoy fehlgeleitet ist und sich sehr zum Positiven verändert, als er sein moralischen Irrtum einsieht, ist Soji sich eigentlich schon die ganze Zeit seiner dunklen Seite schmerzlich bewusst. Er fühlt sich ihr ausgeliefert und sieht sie als Teil seiner Persönlichkeit.
Wie die meisten echten Menschen ist er im Konflikt mit sich selbst.
Wie die meisten echten Menschen hat er prägende Kindheitserlebnisse, die ihn zu dem gemacht haben, was er ist.
Wie die meisten echten Menschen hat er viele verschiedene Gesichter.
Das Was und das Wie beim Erschaffen von Figuren
Nun haben wir also, was eine interessante Figur ausmacht, nämlich:
Eine interessante, komplexe Figur hat viele verschiedene Farben (Eigenschaften), die je nach Situation eine unterschiedliche Schattierung annehmen.
Allerdings ist das Was nicht der einzige wichtige Punkt hier. Denn eine Figur kann noch so schön herausgearbeitet sein – aber wenn in der Geschichte nichts davon vorkommt, dann ist es schlicht und ergreifend verschenktes Potential.
Wichtig ist also auch der Aspekt, wie die interessante, komplexe Figur dem Leser präsentiert wird …
Die Präsentation der interessanten, komplexen Figur in der Geschichte
Kommen wir noch mal zurück zu Soji: Ich hoffe, ich konnte in meiner Beschreibung rüberbringen, dass man ihn Schritt für Schritt kennenlernt. Das wiederum erinnert an Die Kunst des Liebens von Erich Fromm. Und zwar:
Wenn Fromm über das Verlieben spricht, dann beschreibt er es als:
„explosive[s] Erlebnis“ durch „plötzliche[s] Fallen der Schranken,
die bis zu diesem Augenblick zwischen zwei Fremden bestanden“
Erich Fromm: Die Kunst des Liebens, Kapitel: Die Theorie der Liebe, Objekte der Liebe, Erotische Liebe.
Erich Fromm sieht die Verliebtheit als kurzlebig, weil die Schranken nur einmal fallen und man seinen Gegenüber nicht wirklich kennenlernt:
„Wenn es mehr Tiefe in der Erfahrung eines anderen Menschen gäbe, wenn man die Unbegrenztheit seiner Persönlichkeit erleben könnte, würde einem der andere nie so vertraut – und das Wunder der Überwindung der Schranken könnte sich jeden Tag aufs Neue ereignen. Aber für die meisten ist die eigene Person genau wie die des anderen schnell ergründet und ausgeschöpft.“
Erich Fromm: Die Kunst des Liebens, Kapitel: Die Theorie der Liebe, Objekte der Liebe, Erotische Liebe.
Was das Verlieben mit der Präsentation von fiktiven Figuren zu tun hat? – Nun, die „Überwindung der Schranken“ lässt sich sehr wohl auf einer abstrakten Ebene anwenden:
Ebenso wie die Verliebtheit verfliegt, sobald man meint, jemanden zu 100 % kennengelernt zu haben, so verfliegt auch das Interesse an einer Figur, an der es nicht immer wieder etwas Neues zu entdecken gibt.
Deswegen halte ich es für sinnvoll, das Interesse des Lesers an der komplexen Figur zu erhalten, indem man dem Leser immer wieder eine „Überwindung der Schranken“ bietet:
Eine interessante Figur ist nämlich vor allem eine Figur, die man gerne „erforscht“. Die man Schicht um Schicht „schält“ wie eine Zwiebel.
Ein wichtiger dritter Punkt
Ich weiß, was manche sich jetzt vielleicht denken:
Sollten sich interessante, komplexe Figuren nicht auch noch entwickeln?
Ich finde: Ja, auf jeden Fall! Aber dieser dritte Punkt liefert mehr als genug Material für einen eigenständigen Artikel. Deswegen belasse ich es heute bei einer bloßen Erwähnung.
Abschließende Tipps
Das Verknüpfen von Charaktereigenschaften kann manchmal doch relativ tricky sein. Deswegen würde ich empfehlen, viel Psychologie zu recherchieren. Zum Beispiel Modelle wie den Myers-Briggs-Typenindikator: Das ist ein Modell mit insgesamt 16 Persönlichkeitstypen. – Und auch wenn es nicht komplett unproblematisch ist, so kann man doch sehr viel über seine eigenen Figuren lernen, wenn man schaut: Welcher Persönlichkeitstyp passt zu meiner Figur?
Wer als esoterischer mag, ist auch herzlich eingeladen, sich mit Astrologie zu beschäftigen. Denn hier haben wir 12 Tierkreiszeichen, von denen jedes mit bestimmten Charaktereigenschaften verbunden ist, die sich in unterschiedlichen Lebenssituationen unterschiedlich äußern. Unabhängig davon, ob man selbst an Astrologie glaubt, kann man sich hier also relativ viel Inspiration holen.
Empfehlen kann ich auch, Persönlichkeitstests im Internet auszufüllen - und zwar nicht als man selbst, sondern als die Figur. Oft kommen da Fragen, an die man im Zusammenhang mit der Figur nie gedacht hätte, und daher geben solche Tests einem ein besseres Gefühl dafür, wie die Figur sich in hypothetischen Situationen verhalten würde. Man lernt sie also insgesamt besser kennen.
Außerdem – und für diesen Tipp werden mich viele sicherlich hassen – finde ich es durchaus nicht verkehrt, dem Leser am Anfang eine Einordnung der Figur in eine Schublade anzubieten. Denn das ist in vielerlei Hinsicht eine Abkürzung bei der Charakterisierung. Man muss nicht gleich zu Beginn die komplexe Hintergrundgeschichte einer Figur auf den Leser abladen (Info-Dump). Gerade am Anfang der Geschichte freut sich ein Leser durchaus, wenn er zumindest eine grobe Orientierung bekommt: Die Figur ist Anwalt, also hat sie wahrscheinlich die und die Eigenschaften; die Figur ist ein Soldat, also hat sie wahrscheinlich diese und jene Eigenschaften.
Aber das gilt, wie gesagt, nur für den Anfang. Denn wenn die Figur wichtiger ist (also nicht einfach nur einmal auftaucht und danach nie wieder), dann würde ich sehr empfehlen, die Figur im Verlauf der Geschichte aus der Schublade ausbrechen zu lassen. Denn Schubladen sind eigentlich langweilig und wenn die Figur irgendeine größere Bedeutung für die Geschichte hat, dann möchten wir sie näher kennenlernen.