Inter­es­sante Cha­rak­tere (Figuren) erschaffen

Inter­es­sante Cha­rak­tere (Figuren) erschaffen

Inter­es­sante Cha­rak­tere (Figuren) sind das Herz­stück einer jeden guten Geschichte. Die Leser schließen sie ins Herz und fie­bern mit ihnen mit. Beson­ders inter­es­sant sind dabei Cha­rak­tere, die kom­plex sind. Die die Illu­sion erwe­cken, reale Men­schen zu sein. Wie erschafft man also span­nende, fes­selnde Figuren?

Die Folien für dieses Video gibt es für Steady-Abon­nenten und Kanal­mitglieder auf You­Tube als PDF zum Down­load.

Als Autor hört man häufig den Tipp:

  • Die Cha­rak­tere (Figuren) in der Geschichte sollen nicht schwarz oder weiß sein, son­dern grau.

Ich per­sön­lich halte diesen Rat­schlag aller­dings für Unsinn.

Denn meiner Mei­nung nach ist ein inter­es­santer, kom­plexer Cha­rakter näm­lich eine kun­ter­bunte Zwiebel

Cha­rak­tere (Figuren): Das Herz der Erzäh­lung

Cha­rak­tere (Figuren) sind der emo­tio­nale Anker einer Erzäh­lung. Als Leser lernen wir sie kennen, fühlen mit ihnen mit und sie bleiben in unseren Herzen selbst dann, wenn die Geschichte zu Ende ist. Kein Wunder also, dass Autoren sich in der Regel sehr viele Gedanken über sie machen.

Des­wegen stellen wir uns heute die Fragen:

  • Was macht Figuren eigent­lich wirk­lich inter­es­sant, kom­plex und tief­gründig?
  • Wie erschaffen wir die Illu­sion, sie seien echte Men­schen?

Figuren erschaffen: Schwarz, Weiß und Grau­stufen

Beginnen wir mit dem bereits ange­kün­digten Thema: Schwarz, Weiß und Grau­stufen.

Dass zu 100 % schwarze (böse) und zu 100 % weiße (gute) Figuren lang­weilig sind, ist schon längst eine Art Kon­sens. Des­wegen wird häufig emp­fohlen, Schwarz und Weiß in den Figuren zu ver­mi­schen: Es sollen Grau­töne ent­stehen.

Demons­trieren lässt sich das zum Bei­spiel an Harry Potter

Inter­es­sante Cha­rak­tere? Harry Potter vs. Draco Malfoy

Harry selbst ist mutig, hat ein gutes Herz, einen aus­ge­prägten Sinn für Gerech­tig­keit … Er ist jeder­zeit bereit, sich für das Wohl anderer zu opfern …

Und damit ist er ein ziem­lich typi­scher Mär­chen- oder Fan­ta­sy­held.

Geschichten über Figuren wie ihn haben wir schon 20.000 Mal gelesen und wir möchten gerne etwas Abwechs­lung und Kom­ple­xität.

Diese finden wir in der Figur Draco Malfoy: Er hat eine große Klappe, ist arro­gant und hat sozu­sagen eine Art „Magie-Ras­sismus“ (weil er rein­blü­tige Zau­berer für etwas bes­seres hält als den Rest der Welt).

Beob­achtet man ihn genauer, fällt einem auf, dass er vor allem ein Ver­langen nach Selbst­be­stä­ti­gung hat. (Warum sollte er sonst andere Leute nie­der­ma­chen?) Das wie­derum zeugt von einer inneren Unsi­cher­heit.

Außerdem muss man natür­lich beachten, dass Draco die Men­ta­lität seiner Eltern über­nommen hat (Faktor Erzie­hung). Und nicht zuletzt ist Draco frus­triert, weil Harry im ersten Band seine Freund­schaft abge­lehnt hat.

Wir sehen also: Draco ist nicht der ange­nehmste Mensch der Welt, aber wir haben Anhalts­punkte davon aus­zu­gehen, dass er Gründe hat, so zu sein wie er ist. Er ist jemand, der den Leser ständig in Span­nung hält: Was steckt wirk­lich hinter dieser arro­ganten Fas­sade? – Denn immer wieder blitzt hin­durch, dass er sich vor seinem Vater und Vol­de­mort beweisen möchte: Als sein Vater bei Vol­de­mort in Ungnade fällt, will Draco die Ehre seiner Familie wie­der­her­stellen.

Wenn wir ihn genau anschauen, wissen wir also, dass er im Grunde kein schlechter Kerl ist. Er will zum Bei­spiel Dum­ble­dore nicht töten (obwohl er dies­be­züg­lich klare Anwei­sungen hat), er will Harry auch nicht an die Todesser ver­raten und schließt später sogar Frieden mit ihm.

Draco ist eine Figur, die nicht ein­deutig gut, aber auch nicht ein­deutig böse ist. Er ist defi­nitiv nicht der ange­nehmste Zeit­ge­nosse (Harry Potter ist als Mensch viel sym­pa­thi­scher), aber wenn man schaut, wer von beiden die inter­es­san­tere Figur ist, dann fällt meine Wahl ein­deutig auf Draco Malfoy.

Warum Grau­stufen nicht funk­tio­nieren

Ich habe ja bereits ange­deutet, dass ich mit dem Grau­stufen-Rat­schlag ein Pro­blem habe. Dieses Pro­blem ist:

Grau­stufen sind immer noch Teil des Schwarz-Weiß-Para­digmas.

Denn wer meint, man solle das Gute und das Böse in den Figuren ver­mi­schen, geht davon aus, dass es über­haupt Gut und Böse gibt. Ich wage jedoch zu behaupten, dass inter­es­sante, kom­plexe Figuren jen­seits von Gut und Böse exis­tieren.

Das liegt schlicht und ergrei­fend daran, dass es über­haupt kein Gut und Böse gibt …

Inter­es­sante Figuren jen­seits von Gut und Böse

Kein Mensch der Welt ist eine Ansamm­lung von guten und schlechten Eigen­schaften. Ein echter Mensch ist vor allem ein System, in dem alle Eigen­schaften

  • an sich völlig neu­tral und
  • mit­ein­ander ver­knüpft sind
  • und sich in unter­schied­li­chen Situa­tionen und aus unter­schied­li­chen Per­spek­tiven mal pro­duktiv und mal kon­tra­pro­duktiv äußern.

Ich demons­triere es mal an einem weniger bekannten Bei­spiel …

Bei­spiel für einen kom­plexen Cha­rakter: Soji Okita

Hakuoki ist eine Serie von Video­spielen, die auch als Anime und Film umge­setzt wurde. Darin taucht eine Figur namens Soji Okita auf und er basiert auf dem realen Soji Okita, dem Kapitän des ersten Korps der Shin­sen­gumi (die Geschichte basiert näm­lich lose auf realen Ereig­nissen im Japan des 19. Jahr­hun­derts).

In diesem Spiel schlüpfen wir in die Rolle der Prot­ago­nistin und lernen (unter anderem) Soji all­mäh­lich kennen. Und zwar fällt er zunächst als das abso­lute „Pro­blem­kind“ der Gruppe auf mit seiner Liebe fürs Töten, seinen stän­digen Witzen über das Töten und nicht zuletzt auch seinen Mord­dro­hungen der Prot­ago­nistin gegen­über.

Als wir ihn jedoch näher kennen lernen, sehen wir schon bald, dass er sehr loyal und tapfer ist. Er ist selbstlos, er ist fixiert auf Isami Kondo (den Anführer der Shin­sen­gumi), er spielt mit den Kin­dern der Nach­bar­schaft und er macht sich gern einen Spaß draus, seine Kame­raden zu necken.

Als wir ihn noch näher kennen lernen, erfahren wir, dass er an Tuber­ku­lose leidet – und als meis­ter­hafter Schwert­kämpfer und Krieger wird er des­wegen immer ein­samer und ver­zwei­felter (weil er ständig im Haupt­quar­tier zurück­ge­lassen wird). Außerdem merken wir, dass er sich offenbar für einen schlechten Men­schen hält, denn wenn die Prot­ago­nistin ihm näher­kommt, sagt er zu ihr mehr­mals, dass er nicht gut für sie ist.

Im Pre­quel erfährt man schließ­lich, dass Soji aus einer ver­armten Samurai-Familie stammt – und nachdem seine Eltern früh gestorben sind, konnte seine Schwester nicht für ihn sorgen und hat ihn an die Schwert­kampf­schule „abge­geben“. Sie meinte es natür­lich nur gut, aber für ein kleines Kind wie ihn damals hat sich das ganz anders ange­fühlt. Und um dem Ganzen die Krone auf­zu­setzen, wurde er in der Schwert­kampf­schule von den älteren Kin­dern gemobbt.

Das Ergebnis davon ist ein feh­lendes Selbst­wert­ge­fühl, auf­ge­staute Aggres­sion und die Unfä­hig­keit, seinen eigenen Weg zu gehen, weil Soji so sehr auf Isami Kondo fixiert ist. Kondo hat näm­lich dem kleinen Soji bei­gestanden und des­wegen betrachtet Soji ihn jetzt als eine Art großen Bruder. Soji bezeichnet sich selbst mehr­mals als ein „Schwert“ und ist der festen Über­zeu­gung, dass er für nichts zu gebrau­chen ist außer fürs Töten. Des­wegen kämpft er, um Kondos Ziele und Träume wahr­zu­ma­chen.

Wenn wir jetzt also zum Bei­spiel seine „mör­de­ri­sche Seite“ her­aus­greifen, merken wir, dass sie an sich nicht per se böse ist:

  • Er stellt seine Aggres­sion in den Dienst von Men­schen, die er liebt.
  • Gleich­zeitig ist sie aber auch Aus­druck seiner Trau­mata.

Seine Selbst­lo­sig­keit hin­gegen, eine ver­meint­lich doch sehr gute Eigen­schaft, wur­zelt in seinem feh­lenden Selbst­wert­ge­fühl:

  • Wenn er für nichts zu gebrau­chen ist außer fürs Töten, dann ist es ja kein schwerer Ver­lust, wenn er stirbt. Und eine solche Selbst­wahr­neh­mung ist eigent­lich eine große Tra­gödie.

Unterm Strich ist Soji also eine Figur, deren Eigen­schaften weder ein­deutig gut noch ein­deutig schlecht sind. Wäh­rend Draco Malfoy fehl­ge­leitet ist und sich sehr zum Posi­tiven ver­än­dert, als er sein mora­li­schen Irrtum ein­sieht, ist Soji sich eigent­lich schon die ganze Zeit seiner dunklen Seite schmerz­lich bewusst. Er fühlt sich ihr aus­ge­lie­fert und sieht sie als Teil seiner Per­sön­lich­keit.

Wie die meisten echten Men­schen ist er im Kon­flikt mit sich selbst.

Wie die meisten echten Men­schen hat er prä­gende Kind­heits­er­leb­nisse, die ihn zu dem gemacht haben, was er ist.

Wie die meisten echten Men­schen hat er viele ver­schie­dene Gesichter.

Das Was und das Wie beim Erschaffen von Figuren

Nun haben wir also, was eine inter­es­sante Figur aus­macht, näm­lich:

Eine inter­es­sante, kom­plexe Figur hat viele ver­schie­dene Farben (Eigen­schaften), die je nach Situa­tion eine unter­schied­liche Schat­tie­rung annehmen.

Aller­dings ist das Was nicht der ein­zige wich­tige Punkt hier. Denn eine Figur kann noch so schön her­aus­ge­ar­beitet sein – aber wenn in der Geschichte nichts davon vor­kommt, dann ist es schlicht und ergrei­fend ver­schenktes Poten­tial.

Wichtig ist also auch der Aspekt, wie die inter­es­sante, kom­plexe Figur dem Leser prä­sen­tiert wird

Die Prä­sen­ta­tion der inter­es­santen, kom­plexen Figur in der Geschichte

Kommen wir noch mal zurück zu Soji: Ich hoffe, ich konnte in meiner Beschrei­bung rüber­bringen, dass man ihn Schritt für Schritt ken­nen­lernt. Das wie­derum erin­nert an Die Kunst des Lie­bens von Erich Fromm. Und zwar:

Wenn Fromm über das Ver­lieben spricht, dann beschreibt er es als:

„explosive[s] Erlebnis“ durch „plötzliche[s] Fallen der Schranken,
die bis zu diesem Augen­blick zwi­schen zwei Fremden bestanden“
Erich Fromm: Die Kunst des Lie­bens, Kapitel: Die Theorie der Liebe, Objekte der Liebe, Ero­ti­sche Liebe.

Erich Fromm sieht die Ver­liebt­heit als kurz­lebig, weil die Schranken nur einmal fallen und man seinen Gegen­über nicht wirk­lich ken­nen­lernt:

„Wenn es mehr Tiefe in der Erfah­rung eines anderen Men­schen gäbe, wenn man die Unbe­grenzt­heit seiner Per­sön­lich­keit erleben könnte, würde einem der andere nie so ver­traut – und das Wunder der Über­win­dung der Schranken könnte sich jeden Tag aufs Neue ereignen. Aber für die meisten ist die eigene Person genau wie die des anderen schnell ergründet und aus­ge­schöpft.“
Erich Fromm: Die Kunst des Lie­bens, Kapitel: Die Theorie der Liebe, Objekte der Liebe, Ero­ti­sche Liebe.

Was das Ver­lieben mit der Prä­sen­ta­tion von fik­tiven Figuren zu tun hat? – Nun, die „Über­win­dung der Schranken“ lässt sich sehr wohl auf einer abs­trakten Ebene anwenden:

Ebenso wie die Ver­liebt­heit ver­fliegt, sobald man meint, jemanden zu 100 % ken­nen­ge­lernt zu haben, so ver­fliegt auch das Inter­esse an einer Figur, an der es nicht immer wieder etwas Neues zu ent­de­cken gibt.

Des­wegen halte ich es für sinn­voll, das Inter­esse des Lesers an der kom­plexen Figur zu erhalten, indem man dem Leser immer wieder eine „Über­win­dung der Schranken“ bietet:

Eine inter­es­sante Figur ist näm­lich vor allem eine Figur, die man gerne „erforscht“. Die man Schicht um Schicht „schält“ wie eine Zwiebel.

Ein wich­tiger dritter Punkt

Ich weiß, was manche sich jetzt viel­leicht denken:

Sollten sich inter­es­sante, kom­plexe Figuren nicht auch noch ent­wi­ckeln?

Ich finde: Ja, auf jeden Fall! Aber dieser dritte Punkt lie­fert mehr als genug Mate­rial für einen eigen­stän­digen Artikel. Des­wegen belasse ich es heute bei einer bloßen Erwäh­nung.

Abschlie­ßende Tipps

Das Ver­knüpfen von Cha­rak­ter­ei­gen­schaften kann manchmal doch relativ tricky sein. Des­wegen würde ich emp­fehlen, viel Psy­cho­logie zu recher­chieren. Zum Bei­spiel Modelle wie den Myers-Briggs-Typen­in­di­kator: Das ist ein Modell mit ins­ge­samt 16 Per­sön­lich­keits­typen. – Und auch wenn es nicht kom­plett unpro­ble­ma­tisch ist, so kann man doch sehr viel über seine eigenen Figuren lernen, wenn man schaut: Wel­cher Per­sön­lich­keitstyp passt zu meiner Figur?

Wer als eso­te­ri­scher mag, ist auch herz­lich ein­ge­laden, sich mit Astro­logie zu beschäf­tigen. Denn hier haben wir 12 Tier­kreis­zei­chen, von denen jedes mit bestimmten Cha­rak­ter­ei­gen­schaften ver­bunden ist, die sich in unter­schied­li­chen Lebens­si­tua­tionen unter­schied­lich äußern. Unab­hängig davon, ob man selbst an Astro­logie glaubt, kann man sich hier also relativ viel Inspi­ra­tion holen.

Emp­fehlen kann ich auch, Per­sön­lich­keits­tests im Internet aus­zu­füllen - und zwar nicht als man selbst, son­dern als die Figur. Oft kommen da Fragen, an die man im Zusam­men­hang mit der Figur nie gedacht hätte, und daher geben solche Tests einem ein bes­seres Gefühl dafür, wie die Figur sich in hypo­the­ti­schen Situa­tionen ver­halten würde. Man lernt sie also ins­ge­samt besser kennen.

Außerdem – und für diesen Tipp werden mich viele sicher­lich hassen – finde ich es durchaus nicht ver­kehrt, dem Leser am Anfang eine Ein­ord­nung der Figur in eine Schub­lade anzu­bieten. Denn das ist in vie­lerlei Hin­sicht eine Abkür­zung bei der Cha­rak­te­ri­sie­rung. Man muss nicht gleich zu Beginn die kom­plexe Hin­ter­grund­ge­schichte einer Figur auf den Leser abladen (Info-Dump). Gerade am Anfang der Geschichte freut sich ein Leser durchaus, wenn er zumin­dest eine grobe Ori­en­tie­rung bekommt: Die Figur ist Anwalt, also hat sie wahr­schein­lich die und die Eigen­schaften; die Figur ist ein Soldat, also hat sie wahr­schein­lich diese und jene Eigen­schaften.

Aber das gilt, wie gesagt, nur für den Anfang. Denn wenn die Figur wich­tiger ist (also nicht ein­fach nur einmal auf­taucht und danach nie wieder), dann würde ich sehr emp­fehlen, die Figur im Ver­lauf der Geschichte aus der Schub­lade aus­bre­chen zu lassen. Denn Schub­laden sind eigent­lich lang­weilig und wenn die Figur irgend­eine grö­ßere Bedeu­tung für die Geschichte hat, dann möchten wir sie näher ken­nen­lernen.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert