Authentisch schreiben ohne persönliche Erfahrung

Authentisch schreiben ohne persönliche Erfahrung

Wir Autoren erschaf­fen gerne unbekan­nte Wel­ten oder wagen uns ander­weit­ig an Dinge, mit denen wir keine Erfahrung haben. Doch dann kommt die ernüchternde Erken­nt­nis, dass wir ziem­lichen Unsinn fab­riziert haben, der wom­öglich sog­ar diskri­m­inierend ist. Wie kön­nen wir den Man­gel an per­sön­lich­er Erfahrung also umge­hen und eine sen­si­ble, authen­tis­che Darstel­lung erre­ichen? Hier einige Anre­gun­gen dazu …

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Es ist immer wieder ein Fall fürs Fremd­schä­men: wenn Män­ner über Frauen und vor allem über deren Sex­u­al­ität schreiben. Das heißt natür­lich nicht, dass alle Män­ner immer Pein­lichkeit­en oder gar Sex­is­mus pro­duzieren, wenn sie über weib­liche Fig­uren schreiben, aber dieser Fall kommt dann doch lei­der etwas zu häu­fig vor.

Was wir dabei allerd­ings nicht aus den Augen ver­lieren soll­ten, ist, dass auch weib­liche Autoren beim Schreiben über männliche Fig­uren oft spek­takulär scheit­ern und zum Beispiel rei­hen­weise klis­chee­haft fem­i­nine Sen­si­belchen oder — umgekehrt — stereo­type, “tox­isch männliche” Möchte­gern-Machos fab­rizieren. Und unab­hängig vom Geschlecht des Autors wird es häu­fig amüsant, wenn Jungfrauen Sexszenen schreiben mit bom­bastisch über­triebe­nen Orgas­men, Mis­sach­tung der men­schlichen Anatomie und so weit­er.

Um unfrei­willige Komik oder eine Belei­di­gung bes­timmter Grup­pen zu ver­mei­den, hört man oft den Ratschlag: “Write what you know.” — “Schreibe über das, was Du kennst.” Doch seien wir ehrlich:

Wenn jed­er nur über das schreiben würde, was er ken­nt, dann gäbe es deut­lich weniger Vielfalt und Kreativ­ität.

Außer­dem gehört es zum Schreiben ja oft dazu, dass man sich eben in eine fremde Sit­u­a­tion, ungewöhn­liche Per­spek­tiv­en oder in kom­plett andere Wel­ten ver­set­zt.

Als Autoren wollen wir uns mit allem auseinan­der­set­zen, was uns umgibt, und auch darüber hin­aus. Wir wollen andere Men­schen, andere Grup­pen oder sog­ar andere Lebens­for­men ver­ste­hen. Wir wollen über Orte schreiben, an denen wir nie gewe­sen sind, oder auch kom­plett aus­gedachte Set­tings real­is­tisch gestal­ten. Und nicht zulet­zt wollen auch Men­schen, die irgend­wie “anders” sind, trotz­dem über eine “Norm” schreiben kön­nen, mit der sich die Leser iden­ti­fizieren kön­nen:

Zum Beispiel wollen blinde Autoren ja nicht auss­chließlich über blinde Fig­uren schreiben. Aber wer sein ganzes Leben lang voll­ständig blind gewe­sen ist, weiß eben nicht aus eigen­er Erfahrung, wie es ist, mit seinen Augen Far­ben wahrzunehmen.

Ich per­sön­lich finde daher:

An “Write what you know” ist zwar sehr viel dran, aber man sollte es auch nicht übertreiben.

Inwiefern “Write what you know” berechtigt ist und wie wir trotz­dem über unseren eige­nen Teller­rand hin­aus schreiben kön­nen, besprechen wir in diesem Artikel.

Der Sinn von “Write what you know”

Im Vor­wort von Schreiben in Cafés schreibt die amerikanis­che Schrift­stel­lerin, Dich­terin und Schreiblehrerin Natal­ie Gold­berg:

“Schreiben zu üben heißt auch, sich mit seinem ganzen Leben auseinan­der zu set­zen.”

Und seien wir ehrlich: Ob wir es wollen oder nicht, ob wir den Autor für tot erk­lären oder nicht, — alles, was uns im Leben zustößt, was wir sehen und hören, am eige­nen Kör­p­er spüren, durch­machen, — das alles hat einen Ein­fluss auf unser Schreiben. Wir Autoren kön­nen nicht anders, als bewusst oder unbe­wusst aus unserem Leben zu schöpfen, unsere Erfahrun­gen zu ver­ar­beit­en, unseren Prob­le­men gegenüberzutreten.

Somit ist das Schreiben auch immer eine Selb­stäußerung. Es ist ein Akt der Kom­mu­nika­tion, in dem der Autor etwas von sich an den Leser weit­ergibt. Und je ehrlich­er er dabei ist, desto authen­tis­ch­er und somit ergreifend­er ist die Erzäh­lung. Auch wenn die Geschichte in ein­er Fan­tasiewelt spielt, fühlt sich der Kern, das Emo­tionale, Spir­ituelle, echt an.

Und es sind vor allem solche ehrlichen — emo­tion­al ehrlichen — Geschicht­en, die sich ins Gedächt­nis ein­prä­gen und dem Leser wirk­lich etwas fürs Leben mit­geben.

Zum Beispiel spielt Der Herr der Ringe bekan­nter­maßen in ein­er anderen Welt, aber auch dort machen die Fig­uren schwere Zeit­en durch und müssen selb­st in den dunkel­sten Stun­den Hoff­nung schöpfen. Da der Autor Tolkien im Ersten Weltkrieg mit­gekämpft hat­te, wusste er sehr genau, worüber er da schrieb. Gle­ichzeit­ig sind diese Erleb­nisse im emo­tionalen Sinn uni­versell, da jed­er Men­sch auf die ein oder andere Weise schwere Zeit­en und dun­kle Stun­den erlebt und die Herr-der-Ringe-Büch­er somit zu einem empathis­chen Gesprächspart­ner wer­den.

Somit kann grund­sät­zlich jed­er Autor zumin­d­est emo­tion­al etwas aus eigen­er Erfahrung beis­teuern, indem er zum Beispiel reale gesellschaftliche Äng­ste anspricht, prak­tik­able Ratschläge für all­ge­mein­men­schliche Prob­leme anbi­etet oder ein­fach nur Trost spendet für all­ge­mein­men­schliche Sit­u­a­tio­nen wie Liebeskum­mer, Ver­lust oder Ein­samkeit.

Unab­hängig davon, wo die Geschichte spielt, wo der Autor und der Leser sich geografisch befind­en und wie viele Jahrhun­derte zwis­chen ihnen liegen, find­et durch die emo­tionale Ehrlichkeit des Autors ein tiefer zwis­chen­men­schlich­er Aus­tausch statt.

Ehrlichkeit ist eine Herausforderung

Gle­ichzeit­ig ist “Write what you know” auch eine Kun­st für sich.

Zum Beispiel fällt auf, dass die Autoren Ernst Jünger und Erich Maria Remar­que zwar bei­de den Ersten Weltkrieg beschreiben – in ihren Büch­ern In Stahlge­wit­tern und Im West­en nichts Neues –, Jüngers Darstel­lung jedoch – obwohl sie auf seinen Tage­buchaufze­ich­nun­gen beruht – außeror­dentlich sach­lich, nahezu ster­il wirkt, während Remar­ques fik­tionaler Roman dage­gen sehr gefüh­lvoll ist und damit das Grauen des Krieges bess­er rüber­bringt.

Ich selb­st kann natür­lich nur spekulieren, woran das liegt, aber es gibt das Phänomen, dass Men­schen, die Schlimmes erlebt haben, über ihre Trau­ma­ta oft kalt und nüchtern sprechen, als wären sie jemand anderem zugestoßen. Um die Psy­che des Trau­ma­tisierten zu schützen, blockt das Unter­be­wusst­sein die schreck­lichen Gefüh­le näm­lich ein­fach ab. Weil das allerd­ings langfristig das Ver­ar­beit­en des Trau­mas behin­dert, kann diese Schutzreak­tion ohne Ther­a­pie später zu psy­chis­chen Prob­le­men und/oder psy­cho­so­ma­tis­chen Erkrankun­gen führen. Und offen­bar block­iert sie auch emo­tionale Ehrlichkeit bei der Weit­er­gabe des Erlebten. — Zumin­d­est ist es das, was ich per­sön­lich bei Ernst Jünger ver­mute, der auf mich ein wenig wie ein abge­brühter, draufgän­gerisch­er Adren­a­l­in­junkie wirkt, dem nicht bewusst ist, was da ger­ade psy­chisch mit ihm passiert und dass bes­timmte Ver­hal­tensweisen nicht mehr nor­mal sind.

Was Remar­que ange­ht, so hat­te er im Gegen­satz zu Jünger, der den Krieg fast kom­plett miter­lebt hat­te, nur eine kleine Kost­probe von eini­gen Wochen abbekom­men. — Seinem Werk nach zu urteilen, hat­ten diese paar Wochen bleibende Ein­drücke hin­ter­lassen, ohne ihn jedoch emo­tion­al abzus­tumpfen. Deswe­gen mag es Remar­que leichter gefall­en sein, emo­tion­al ehrlich zu schreiben.

Eine andere Herange­hensweise, um schwierige Erfahrun­gen zu ver­ar­beit­en, ist das Herum­schrauben an Details. Abge­se­hen davon, dass man die Erleb­nisse in eine vol­lkom­men andere Welt über­tra­gen kann, klappt es manch­mal auch mit ein­er ein­fachen Ver­lagerung des Schau­platzes und dem kün­st­lerischen “Zurecht­stutzen” des Erlebten:

Der rus­sis­che Film­regis­seur Elem Klimow wurde 1933 in Stal­in­grad geboren und hat dort den Zweit­en Weltkrieg erlebt. 1985 erschien sein inter­na­tion­al gefeiert­er und preis­gekrön­ter Film Komm und sieh: Hier schließt sich der jugendliche Pro­tag­o­nist im vom Nazideutsch­land beset­zten Belarus den Par­ti­sa­nen an, erlebt die sadis­tis­chen Gräueltat­en der Deutschen und übt zusam­men mit den Par­ti­sa­nen bru­tale Vergel­tung. Es ist der mit Abstand grausam­ste Film, den ich je gese­hen habe, und ich habe eine unsägliche Angst, ihn mir jemals wieder kom­plett anzuguck­en, obwohl ich als langjährige Kriegs­film­lieb­haberin son­st eher abge­härtet bin. Und das ist eine Reak­tion, die ich oft auch bei anderen höre und lese: Klimow schafft es ein­fach, dem Zuschauer in 145 Minuten eine Art Kriegstrau­ma im Taschen­for­mat zu ver­passen. Als er über die Rolle sein­er Kind­heit­ser­fahrun­gen beim Erschaf­fen des Films sprach, sagte er:

“Когда я был маленьким мальчиком, я был в аду … Если бы я включил все, что знал, и показал всю правду, даже я не смог бы это посмотреть.”

“Als ich ein klein­er Junge war, war ich in der Hölle … Wenn ich alles, was ich kan­nte, einge­bracht und die ganze Wahrheit gezeigt hätte, hätte nicht ein­mal ich es mir anschauen kön­nen.”

Die Wahrheit — Ehrlichkeit — tut eben weh. Aber sie ist auch heil­sam. Über seine Äng­ste, Trau­ma­ta, Scham und andere Dinge zu schreiben, hat oft eine ther­a­peutis­che Wirkung. Ich spreche da auch aus eigen­er Erfahrung: als Autor und als Leser.

Ohne persönliche Erfahrung schreiben

Nun ist das Schreiben über all­ge­mein­men­schliche Gefüh­le nicht an konkrete Erleb­nisse gekop­pelt. Ger­ade dadurch kön­nen wir als Leser ja auch mit Fig­uren mit­fühlen, die in uns völ­lig frem­den Sit­u­a­tio­nen steck­en. Beim Schreiben von solchen Sit­u­a­tio­nen ist es dage­gen etwas schwieriger:

Denn das Erleben von konkreten Din­gen ver­schafft uns eine Art Fachkom­pe­tenz.

Wer sich zum Beispiel noch nie etwas gebrochen hat, weiß nicht wirk­lich, wie sich ein Bruch anfühlt. Und wenn er es dann zu beschreiben ver­sucht, läuft er Gefahr, irgen­deinen Mist zusam­men­z­u­fan­tasieren. Und nun stell Dir vor, es geht nicht um solche leicht kor­rigier­baren Dinge wie Knochen­brüche, son­dern um Grup­pen, denen man selb­st nicht ange­hört. Hier sind wir schnell bei den lächer­lichen bis sex­is­tis­chen Darstel­lun­gen des anderen Geschlechts, diskri­m­inieren­den Darstel­lun­gen von Min­der­heit­en, ras­sis­tis­chen Darstel­lun­gen von anderen Kul­turen und so weit­er …

Auf­grund von dieser Gefahr rat­en viele und auch ich selb­st dazu, sich beim Schreiben auf seine Fach­bere­iche zu stützen und sich aus allzu unbekan­nten Gebi­eten lieber her­auszuhal­ten. Es gibt da aber auch völ­lig berechtigte Ein­wände, zum Beispiel von Chess­play­er 120:

Jet­zt soll ich mich auch noch recht­fer­ti­gen, weshalb ich meinen Roman selb­st schreiben will? Dass die Ideen dafür meinem kranken Kopf entsprun­gen sind, sollte doch als Begrün­dung genü­gen. Es gibt wohl kaum einen anderen, der mein Buch nach meinen Vorstel­lun­gen schreiben kann.
Chess­play­er 120: https://www.youtube.com/watch?v=0nHX172cfgw&lc=UgxLwQ1LIIX0Y9ZDdH54AaABAg.

Manch­mal erfordern die Ideen in unseren “kranken Köpfen” ein­fach, dass wir uns in fremde Gebi­ete wagen. Und manch­mal wollen wir diese frem­den Gebi­ete auch ein­fach ver­ste­hen und das Schreiben ist unser Mit­tel dazu.

Sollen wir uns also von allem fern­hal­ten, was wir nicht aus eigen­er Erfahrung ken­nen? Natür­lich nicht. Denn dann wür­den wir ja immer nur das­selbe schreiben. Außer­dem haben wir ja unsere all­ge­mein­men­schlichen Erfahrun­gen — wir alle ken­nen Liebe, Hass, Trauer, Freude, Äng­ste … — und bei der respek­tvollen und authen­tis­chen Darstel­lung von “frem­den Gebi­eten” geht es meis­tens eher um — sagen wir mal — fach­liche Details: geschmack­liche Noten von Leichengeruch, konkrete Sit­u­a­tio­nen mit Men­schen, die gar nicht merken, wie sie Dich bedrän­gen und ein­schüchtern, konkrete Gedanken angesichts ein­er schw­eren Diag­nose, typ­is­che kleine Mis­se­tat­en von Haustieren, um Aufmerk­samkeit zu bekom­men, dieses Gefühl von ein­er gewis­sen Leichtigkeit und gle­ichzeit­i­gen Schwere, wenn man mit dem Flugzeug vom Boden abhebt, das Erwachen des eige­nen inneren Raubtiers, wenn man irgen­det­was jagt …

Es sind diese feinen, kleinen Details, die eine Erzäh­lung real­is­tisch und lebendig machen.

Wie ler­nen wir sie also ken­nen?

Ähnliche eigene Erfahrungen

Zunächst kön­nen wir natür­lich schauen, inwiefern diese frem­den Gebi­ete tat­säch­lich fremd sind. Ich spreche da ein­er­seits von den bere­its erwäh­n­ten all­ge­mein­men­schlichen Gefühlen: Ob man sich in unser­er heuti­gen Welt, im Mit­te­lal­ter oder auf dem Plan­eten Furze­vick ver­liebt, Schmetter­linge im Bauch bleiben Schmetter­linge im Bauch. Ander­er­seits spreche ich aber auch von sehr konkreten Din­gen, die man vielle­icht in abge­wan­del­ter Form ken­nt:

Ich zum Beispiel habe im Gegen­satz zu Cap­tain Miller aus dem Film Der Sol­dat James Ryan keinen Weltkrieg erlebt, aber ein wenig Hän­dezit­tern kenne ich trotz­dem — wenn sich die Fin­ger stress­be­d­ingt verselb­st­ständi­gen, die elek­trischen Impulse der Ner­ven ver­rückt spie­len und es deswe­gen kon­stant kribbelt.

Kann ich wegen dieser Erfahrung über Krieg schreiben? Bes­timmt nicht. Aber ich kann ja noch weit­ere Erfahrun­gen hinzunehmen: mein “Trau­ma im Taschen­for­mat” durch Komm und sieh zum Beispiel. Man stelle sich vor, ich müsste diesen Film, vor dem ich Angst habe, tagtäglich rund um die Uhr guck­en, mehrere Jahre hin­tere­inan­der, und dann müssten die Ein­drücke um das Hun­dert­fache mul­ti­pliziert wer­den, weil Filme ja immer noch schwäch­er wirken als die Real­ität. — Und schon glaube ich, zumin­d­est ent­fer­nt nachvol­lziehen zu kön­nen, wie das emo­tionale Abs­tumpfen bei lan­gan­dauern­den trau­ma­tis­chen Erleb­nis­sen funk­tion­iert.

Wenn Du also etwas Bes­timmtes beschreiben willst, schadet es nicht, in die eigene Biogra­phie zu schauen. Denn bes­timmt hast Du schon mehr erlebt, als Du Dir zutraust. Ich zum Beispiel hat­te auch schon eine Gehör­gangsentzün­dung und zwei Sehn­er­ventzün­dun­gen, habe also eine Ahnung, wie es ist, halb blind und halb taub zu sein. Ich hat­te außer­dem eine Phase in meinem Leben, in der ich gerne Pass­wörter umgan­gen und ver­steck­te Bere­iche von Web­sites erkun­det habe, kenne also ein biss­chen den Ehrgeiz eines (Möchtegern-)Hackers. Das bere­its kurz erwäh­nte Erwachen des eige­nen inneren Raubtiers habe ich bei Videospie­len erlebt …

Allerd­ings sollte man sich hier auch nicht zu weit aus dem Fen­ster lehnen. Denn dass man etwas auf ein­er rein emo­tionalen Ebene “ent­fer­nt nachvol­lziehen” kann, bedeutet nicht, dass man die fach­lichen Details richtig hin­bekommt. Man läuft sog­ar Gefahr, etwas von sein­er eige­nen Sit­u­a­tion auf eine völ­lig andere zu pro­jizieren und dadurch jedes noch so kleine Poten­tial für Authen­tiz­ität im Keim zu erstick­en: Denn wenn Du durch Deine eige­nen Erfahrun­gen das Gefühl von Schmetter­lin­gen im Bauch beschreiben kannst, kannst Du lediglich nur das Gefühl von Schmetter­lin­gen im Bauch beschreiben — das Drumherum, zum Beispiel die völ­lig andere Welt- und Men­schen­wahrnehmung im 18. Jahrhun­dert, ist und bleibt eine fremde Welt für Dich.

Empathie

Beim Schreiben geht es häu­fig eben nicht nur darum, die eige­nen Erfahrun­gen irgend­wie zu ver­ar­beit­en, son­dern sich auch in andere Men­schen hineinzu­ver­set­zen. Es geht also um Empathie. Und das ist viel schwieriger, als man sich oft vorstellt.

Zum Beispiel haben die bei­den Forscherin­nen Belén López-Pérez und Ellie L. Wil­son in ein­er Studie her­aus­ge­fun­den bzw. frühere Beobach­tun­gen bestätigt, dass Eltern das Wohlbefind­en ihrer Kinder oft falsch ein­schätzen: Bei 10- bis 11-jähri­gen Kindern über­schätzten die Eltern das Wohlbefind­en, bei 15- bis ‑16-jähri­gen unter­schätzten sie es. Dem liegt ver­mut­lich ein egozen­trisch­er bzw. Attri­bu­tions­fehler zugrunde, denn die Studie fand auch her­aus, dass die elter­liche Ein­schätzung des Wohlbefind­ens der Kinder eher ihr eigenes Wohlbefind­en spiegelte. Somit scheinen Eltern, die doch glauben, ihre Kinder genau zu ken­nen, ihren eige­nen Gefühlszu­s­tand auf ihre Sprösslinge zu pro­jizieren. Und wenn schon Eltern ihre Kinder nicht so gut ken­nen, wie sie glauben, — was soll man da von der men­schlichen Fähigkeit, sich in völ­lig fremde Men­schen hineinzu­ver­set­zen, sagen?

Das The­ma Empathie habe ich bere­its in einem Schreib­vlog ange­sprochen und kann nur wieder­holen, was ich dort schon aus­führlich­er durchgekaut habe:

Um jemand anderen zu ver­ste­hen, muss man ein wenig in seinen Schuhen laufen. Und um die Schuhe von jemand anderem anzuziehen, muss man vorher seine eige­nen ausziehen.

Und das bedeutet unter Umstän­den, sich vorüberge­hend von sein­er Welt­wahrnehmung, seinen Begrif­f­en und seinen Moralvorstel­lun­gen zu ver­ab­schieden. Das tut natür­lich weh und die Bere­itschaft dazu ist oft wenig aus­geprägt. Es hat schon einen Grund, wieso wir mit Ange­höri­gen unser­er eige­nen Gruppe in der Regel deut­lich mehr Empathie haben als mit Ange­höri­gen ander­er Grup­pen: Bei Men­schen, die ähn­liche Schuhe tra­gen wie wir, müssen wir uns nicht allzu sehr umstellen.

Der erste Schritt zu richtiger Empathie wäre somit die Ein­sicht, dass man eine ahnungslose Dumpf­backe ist. Dass nichts, was man in seinem Leben je gel­ernt hat, wirk­lich wahr ist. Dass man in sein­er eige­nen, kleinen Welt lebt. Und dass die schlimm­sten Mis­setäter auch in ihrer Welt leben und ihr schein­bar noch so absur­des und amoralis­ches Ver­hal­ten darin sehr viel Sinn macht und ratio­nal und human ist. Während Du mit all Dein­er schein­baren Moral aus ihrer Per­spek­tive eine tief­schwarze Aus­ge­burt des Bösen bist.

Hör also auf zu urteilen. Das rigide Fes­thal­ten an eige­nen Moralvorstel­lun­gen behin­dert Empathie.

(“Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet”, soll ein gewiss­er Jeschua ben Josef mal gesagt haben.)

Was Empathie hinge­gen fördert, ist das Beobacht­en, Zuhören und Ern­st­nehmen. Wenn Du Deinen Gegenüber bzw. jeman­den aus ein­er anderen Gruppe ver­ste­hen willst, musst Du seine Welt ken­nen­ler­nen. Siehe dazu übri­gens auch meinen Vlog über interkul­turelle Kom­mu­nika­tion, weil die Sta­di­en der Annäherung zwis­chen Kul­turen im Grunde diesel­ben sind wie die der Annäherung bei jed­er anderen Art von einan­der wider­sprechen­den Grup­pen. Speziell zum Zuhören bzw. Recher­chieren und Auswerten von Primärquellen geht es aber hier weit­er …

Primärquellen: Erfahrungen und Diskussionen

Die heutige Welt ist voll von Erzäh­lun­gen aus erster Hand. Auch wenn Du selb­st vielle­icht nie­man­den kennst, auf den die Sache, über die Du schreiben willst, zutrifft, so kannst Du trotz­dem auf ein bre­ites Spek­trum von Quellen zugreifen: ange­fan­gen mit auto­bi­ografis­ch­er Sach­lit­er­atur bis hin zu Diskus­sio­nen in Inter­net­foren und in den sozialen Medi­en.

Natür­lich ist dabei aber nicht zu vergessen, dass Men­schen in der Regel nur eine Frosch­per­spek­tive haben und manch­mal sog­ar lügen. Deswe­gen ist es wichtig, dass Du viele Quellen kon­sum­ierst und miteinan­der ver­gle­ichst. Und dazu am besten auch wis­senschaftliche Erken­nt­nisse recher­chierst. Doch dazu kom­men wir ein biss­chen später.

Bei allem Hin­ter­fra­gen soll­test Du aber nicht aus den Augen ver­lieren, dass es bei diesem Schritt nicht darum geht, eine “objek­tive Wahrheit” her­auszufind­en, son­dern eben die zahlre­ichen Frosch­per­spek­tiv­en ken­nen­zuler­nen. Die Welt­wahrnehmung dieser Men­schen und deren Zus­tandekom­men zu ver­ste­hen. Und das geht nur durch das Hal­ten der eige­nen Klappe und Zuhören bzw. Lesen.

Zum Beispiel wurde ich bei all den Anfra­gen zu diesem The­ma beson­ders oft um Tipps für das Schreiben über Frauen bzw. Mäd­chen oder auch ganz all­ge­mein über das jew­eils andere Geschlecht gebeten. Und das ist bei den gesellschaftlichen Diskus­sio­nen der let­zten Jahre auch nicht ver­wun­der­lich. Ich kann da natür­lich keine Schritt-für-Schritt-Anleitung liefern:

Alle Men­schen sind unter­schiedlich und Biografien sind indi­vidu­ell.

Aber als zumin­d­est ersten Schritt für die speziell weib­liche Per­spek­tive kann ich zum Beispiel ein Video von The Authen­tic Observ­er empfehlen, in dem sie auf Grund­lage ihrer eige­nen Erfahrun­gen erk­lärt, wie Fem­i­nis­mus es Mäd­chen erschw­ert, Gren­zen zu set­zen. Als zweit­en Schritt kön­ntest Du ähn­liche und wider­sprechende Erleb­nis­berichte von Frauen recher­chieren, um die ver­schiede­nen Wahrnehmungen, aber auch ihre Gemein­samkeit­en bess­er ken­nen­zuler­nen. Anschließend machst Du das­selbe mit Hard­core-Fem­i­nistin­nen und Vertretern von Män­ner­be­we­gun­gen wie Red Pill, Incels und so weit­er, um aus der “Bub­ble” etwas auszubrechen. Du musst dabei kein­er dieser Parteien zus­tim­men (Um Him­mels willen!), aber Du soll­test sie ken­nen­ler­nen, um nachzu­vol­lziehen, mit welchen Welt­bildern man als Frau oder Mäd­chen kon­fron­tiert wird.

Was diese Recherchen Dir allerd­ings nur bed­ingt bieten kön­nen, ist das Nach­fühlen. Denn die Erleb­nisse gehören ja immer noch anderen. Da kön­nen tat­säch­lich kün­st­lerische Darstel­lun­gen helfen, denn sie sind ja ger­ade darauf aus­gerichtet, beim Rezip­i­en­ten Gefüh­le zu weck­en. Was Frauen und Mäd­chen zum Beispiel ange­ht, so habe ich bere­its in meinem Vlog über Empathie den Film Promis­ing Young Woman emp­fohlen: Zwar ist der Plot an sich keine typ­is­che All­t­ags­geschichte, aber er bringt so einige All­t­ags­ge­füh­le von Frauen sehr gut rüber.

Gle­ichzeit­ig ist bei fik­tionalen Quellen aber auch beson­dere Vor­sicht geboten — ger­ade weil sie emo­tion­al so stark wirken. Achte deswe­gen darauf, wer der Kün­stler ist und ob er das Dargestellte tat­säch­lich aus eigen­er Erfahrung ken­nt. Achte auf das Zielpub­likum. Achte auf die Rück­mel­dun­gen der Rezip­i­en­ten: Wer lobt und kri­tisiert was und warum? Mit anderen Worten: Prüfe, inwiefern die kün­st­lerische Darstel­lung real­is­tisch ist. Und das sog­ar bei Banal­itäten. Denn jemand, der das Beschriebene tat­säch­lich schon mal erlebt hat, wird die Fehler defin­i­tiv bemerken. So zum Beispiel Ernst Jünger in seinen Stahlge­wit­tern:

“Die Land­schaft strahlt in der Nacht eine eigen­tüm­liche Kälte aus; diese Kälte ist von geistiger Art. So begin­nt man zu frösteln, wenn man einen der unbe­set­zten Abschnitte des Grabens durch­quert, die nur durch Streifen beschrit­ten wer­den; und dieses Frösteln steigert sich, wenn man jen­seits des Drahtver­haues das Nie­mand­s­land betritt, zu einem leicht­en, zäh­neklap­pern­den Unwohl­sein. Die Art, in der die Roman­schreiber das Zäh­neklap­pern ver­wen­den, ist meist ver­fehlt; es hat nichts Gewalt­sames, son­dern gle­icht vielmehr einem schwachen elek­trischen Strom. Oft merkt man es eben­sowenig, wie man merkt, daß man im Schlafe spricht. Übri­gens hört es sofort auf, wenn wirk­lich etwas passiert.”
Ernst Jünger: In Stahlge­wit­tern, Kapi­tel: Douchy und Monchy.

Sekundärquellen für Gefühle

Doch so wichtig das emo­tionale Ken­nen­ler­nen der zu beschreiben­den Gruppe auch ist — ich wieder­hole: Primärquellen sind und bleiben sub­jek­tive Frosch­per­spek­tiv­en und die Beteiligten wis­sen auch selb­st nicht immer, was da mit ihnen passiert. Wie bere­its fest­gestellt, ist Remar­ques Im West­en nichts Neues in emo­tionaler Hin­sicht eine deut­lich bessere Quelle als Jüngers In Stahlge­wit­tern, obwohl Let­zter­er deut­lich mehr Zeit an der Front ver­bracht hat.

Wie hat Remar­que es also geschafft, trotz geringer eigen­er Erfahrung so authen­tisch über den Krieg zu schreiben? — Nun, abge­se­hen von sein­er zwar spär­lichen, aber doch Erfahrung hat er sehr viel mit anderen und wesentlich erfahreneren Krieg­steil­nehmern gesprochen. So gese­hen hat Remar­que für alle, die wis­sen wollen, wie sich Krieg “anfühlt”, mas­sive Vorar­beit geleis­tet: Er hat Erzäh­lun­gen gesam­melt und auf ihrer Grund­lage eine fik­tionale, aber trotz­dem authen­tis­che Darstel­lung kon­stru­iert. Wenn wir also “Gefüh­le recher­chieren”, ist Remar­que dur­chaus eine wertvolle Sekundärquelle.

Bei diesem Stich­wort denken wir meis­tens jedoch eher an wis­senschaftliche Fach­lit­er­atur — und ja, auch sie sollte recher­chiert wer­den. Wis­senschaftliche Texte sind zugegeben­er­maßen oft schw­er zu ver­ste­hen und set­zen einiges an Vor­wis­sen voraus. Aber wenn Du über eine bes­timmte Gruppe schreiben willst, dann gehe ich davon aus, dass das The­ma Dich inter­essiert. Und dieses Inter­esse kann Dir dur­chaus helfen, Dich durch sper­riges Fachchi­ne­sisch zu kämpfen: Also Augen zu und durch!

Allerd­ings ist natür­lich auch bei wis­senschaftlich­er Lit­er­atur Vor­sicht geboten: Denn Wis­senschaft ist in ständi­gem Wan­del und was heute als all­ge­mein­er Kon­sens gilt, kön­nte schon mor­gen wider­legt sein. Achte also darauf, dass Du auf dem aktuellen Forschungs­stand bist, und ver­mei­de es, wis­senschaftliche Erken­nt­nisse als in Stein gemeißelt zu betra­cht­en. Es kann immer noch passieren, dass schon mor­gen glaub­haft nachgewiesen wird, dass wir in ein­er Matrix leben, die erst gestern von Aliens erschaf­fen wurde.

Außer­dem lassen sich der Wis­senschaft oft auch eine gewisse Empathielosigkeit und Hochnäsigkeit attestieren, die wiederum den Erken­nt­nis­gewinn behin­dern:

So wird heutzu­tage zum Beispiel zu Recht der lei­der immer noch ver­bre­it­ete Ansatz kri­tisiert, dass Forsch­er über Autis­ten sprechen statt mit Autis­ten. Dabei sind viele von ihnen nach wie vor der Mei­n­ung, Autis­ten hät­ten keine Empathie. Dass das Unter­stellen von Empathielosigkeit gegenüber jeman­dem, in dessen Innen­leben man keinen Ein­blick hat, eher von der eige­nen Empathielosigkeit spricht, scheint ihnen nicht aufz­u­fall­en. Kreise, die mit Autis­ten arbeit­en, kom­men hinge­gen zu dem Schluss, dass Autis­ten dur­chaus Empathie empfind­en und das Prob­lem eher im Scheit­ern der Kom­mu­nika­tion zwis­chen Autis­ten und Nich­tautis­ten liegt: Autis­ten ver­hal­ten sich oft schein­bar unem­pathisch, weil sie den emo­tionalen Zus­tand ihres Gegenüber ein­fach kog­ni­tiv nicht erken­nen. Wenn man ihnen diesen Zus­tand auf eine ihnen ver­ständliche Weise erk­lärt, fühlen sie aber inten­siv mit, laut eini­gen Stim­men sog­ar inten­siv­er als Nich­tautis­ten. Und gle­ichzeit­ig beste­ht das Prob­lem auch umgekehrt: Nich­tautis­ten sind meis­tens kog­ni­tiv nicht in der Lage, den emo­tionalen Zus­tand von Autis­ten zu erken­nen. Wer hat es also schw­er­er: neu­rotyp­is­che Men­schen, die mit einem schein­bar unem­pathis­chen Autis­ten zu tun haben, oder ein Autist, der sein Leben lang fast auss­chließlich oder zumin­d­est über­wiegend von Men­schen umgeben ist, die ihm keine Empathie ent­ge­gen­brin­gen?

Aus diesem Grund halte ich es für wichtig, wis­senschaftliche Quellen nur als Ergänzung zu sehen. Denn speziell beim The­ma Autismus empfinde ich den YouTube-Kanal Galoxee’s Asperg­er TV als deut­lich bessere Sekundärquelle: Die Macherin selb­st, Doro, ist zwar neu­rotyp­isch, aber ihr Mann und ihre bei­den Kinder sind Asperg­er-Autis­ten, sie hat mit ihnen tagtäglich zu tun und ken­nt daher bei­de Wel­ten her­vor­ra­gend. Dadurch kann sie auf ver­ständliche Weise Nich­tautis­ten über Autismus aufk­lären und Autis­ten über Nich­tautis­ten.

Das ist aber natür­lich auch bei anderen The­men zu beacht­en. Wis­senschaft kann zum Beispiel höch­stens psy­chol­o­gis­che Grund­prinzip­i­en erk­lären, beleuchtet aber nicht “von innen her­aus”, was wirk­lich in depres­siv­en oder gar suizidge­fährde­ten Men­schen vorge­ht. Men­schen, die regelmäßig mit Betrof­fe­nen arbeit­en, wis­sen da eher Bescheid und haben einen indi­vidu­elleren Zugang. Zwar analysiert die Wis­senschaft Fälle aus der Prax­is, aber sie ver­sucht auch, zu ver­all­ge­mein­ern und Ten­den­zen zu erken­nen, um sie dann in nüchter­nen, emo­tion­slosen Wörtern zusam­men­z­u­fassen. Die Leute “vor Ort” arbeit­en eher mit konkreten Men­schen und konkreten Geschicht­en. Und wenn man genug konkrete Geschicht­en ken­nen­lernt, bekommt man irgend­wann dur­chaus auch selb­st ein Fin­ger­spitzenge­fühl dafür, was real­is­tisch ist und was nicht. Man trainiert es sich qua­si an.

Sekundärquellen für Fakten

Natür­lich sollte aber nicht nur bei Gefühlen recher­chiert wer­den. Im Gegen­teil: Meis­tens denkt man bei Recherchen eher an Fak­ten, Sach­in­for­ma­tio­nen. Und da ste­hen Dir — je nach Art der gesucht­en Infor­ma­tio­nen — unendlich viele Möglichkeit­en offen:

  • Allem voran wären da natür­lich Google und andere Such­maschi­nen (auch für Recherchen zu emo­tionalen The­men geeignet). Wenn Du da beson­ders raf­finiert bist, kannst Du auch soge­nan­nte Oper­a­toren nutzen, um Deine Suchergeb­nisse zu präzisieren. Eine Liste dieser Befehle find­est Du hier.
  • Bei Orten, an denen Du selb­st noch nie gewe­sen bist, kannst Du neben Reise­bericht­en und Reise­führern auch auf Tools wie Google Earth zurück­greifen: Hier find­est Du zum Beispiel exak­te Straßen­ver­läufe, Fotos und teil­weise sog­ar drei­di­men­sion­ale Darstel­lun­gen der Gebäude.
  • Bei his­torischen Fra­gen gibt es neben Fach­lit­er­atur auch die Möglichkeit von Museen. Ich zum Beispiel bin eine begeis­terte Muse­ums­gän­gerin und weiß mit­tler­weile aus Erfahrung, dass ein noch so bedrohlich insze­niert­er Panz­er auf der Lein­wand nichts ist im Ver­gle­ich zu einem echt­en Panz­er, der sich bewegt, riesige Wolken stink­ender Abgase pro­duziert und seine Kanone auf Dich richtet. Auch wenn Du weißt, dass es nur noch ein harm­los­es Exponat ist, eine Art großes Spielzeug, nichts weit­er, spürst Du kör­per­lich, dass Du, wenn Du so einem Viech in der “freien Wild­bahn” begeg­nen würdest, ratz­fatz die Hosen voll hättest. Buch­stäblich.
  • Speziell bei his­torischen Set­tings bietet sich auch die zeit­genös­sis­che Lit­er­atur der jew­eili­gen Epoche an: Hier kannst Du sehen, wie die Men­schen ihre Welt und ihre Zeit wahrgenom­men haben, welche Werte sie hat­ten, wie sie gesprochen haben, wie ihr All­t­ag aus­sah und wie sie miteinan­der inter­agiert haben. Kom­biniere das am besten aber mit his­to­ri­ographis­ch­er Fach­lit­er­atur, damit Du defin­i­tiv ver­stehst, was Du da liest.
  • Bei Fan­ta­sy- und Sci­ence-Fic­tion-Set­tings kommt es natür­lich darauf an, wo Du Deine Inspi­ra­tion hern­immst. Denn meis­tens lehnen wir Aus­gedacht­es dann doch an die Real­ität an. Recher­chiere also die The­menge­bi­ete, die Dich inspiri­eren! Sei gle­ichzeit­ig aber auch generell offen gegenüber neuen Infor­ma­tio­nen und eigne Dir eine gute All­ge­mein­bil­dung an: Denn wenn Du real­is­tis­che Wel­ten erschaf­fen willst — also Wel­ten, die sich echt anfühlen –, soll­test Du eine Vorstel­lung davon haben, wie die reale Welt funk­tion­iert und wie alles zusam­men­hängt. In der Regel sind fik­tive Wel­ten näm­lich nur Spielarten der realen Welt, bloß mit magis­chen, tech­nol­o­gis­chen oder ander­weit­i­gen Mod­i­fika­tio­nen. Du soll­test die reale Welt gut genug ken­nen, um ein­schätzen zu kön­nen, wie die reale Welt mit diesen Mod­i­fika­tio­nen funk­tion­ieren würde. Denn son­st wird Deine fik­tive Welt schnell unglaub­würdig. Wobei aber genau das auch Deine Absicht sein kön­nte, wie zum Beispiel im Fall von Alice im Wun­der­land. Wenn es also das ist, was Du willst, dann lass Dein­er Fan­tasie freien Lauf!

Literarische Bearbeitung ist immer eine Verfälschung!

Bei aller Fak­ten­recherche soll­ten wir jedoch nicht ein­mal den Gedanken zulassen, wir kön­nten die Real­ität exakt abbilden. Mehr noch, ich halte eine exak­te Abbil­dung nicht ein­mal für sin­nvoll. Denn erin­nern wir uns daran, was die grundle­gende Natur des Erzäh­lens aus­macht:

Erzählen ist immer ein Fil­ter­vor­gang und damit immer eine Ver­fälschung der “Real­ität”.

Das wird auch dann wichtig, wenn man tat­säch­lich über eigene Erfahrun­gen schreibt. So wurde ich zum Beispiel gefragt, wie man über die Emo­tio­nen eines Kindes schreiben soll, das noch keine Worte dafür hat. Und ich glaube, man kann diese Frage beant­worten, wenn man sich noch schwierigere Per­spek­tiv­en anschaut, näm­lich Erzäh­lun­gen aus der Sicht von Tieren oder sog­ar Gegen­stän­den: Sie haben nicht nur über­haupt keine Worte, son­dern auch eine völ­lig andere Wahrnehmung bzw. über­haupt keine Wahrnehmung. Die Art und Weise, wie eine Katze die Welt wahrn­immt, ist zwar sehr inter­es­sant und es ist span­nend, sich das vorzustellen, aber es ist keine Per­spek­tive, der man als Men­sch über einen län­geren Zeitraum fol­gen kann, ohne sich auf einem kom­plett frem­den, unver­ständlichen Plan­eten zu fühlen. Denn es ist eine Wahrnehmung und eine Per­spek­tive, die kom­plett anderen Prinzip­i­en fol­gt. Der Rezip­i­ent ein­er Erzäh­lung braucht aber in der Regel etwas, an dem er sich “fes­thal­ten” kann, um sich in der Geschichte zurechtzufind­en: einen Anker, etwas Ver­trautes, etwas, das für sein men­schlich­es Hirn Sinn ergibt. Aus diesem guten Grund wer­den Per­spek­tiv­en von Tieren und Gegen­stän­den meis­tens ver­men­schlicht. Es wird zwar durch spez­i­fis­che Details ein gewiss­er Flair erzeugt, indem die Reflek­tor­fig­ur schnur­rt, sich mit der Zunge putzt und ihren Men­schen als über­große Wärme­flasche wertschätzt, aber diese Details sind in der Regel äußer­lich und wer­den auf emo­tionaler und gedanklich­er Ebene in ein dem men­schlichen Zielpub­likum ver­ständlich­es Par­a­dig­ma ein­ge­ord­net.

Über­tra­gen auf die Prob­lematik der kindlichen Per­spek­tive bedeutet das, dass man sich fra­gen sollte, worauf es einem selb­st eigentlich ankommt. Man kann natür­lich ver­suchen, die Erzäh­lung eins zu eins so zu ver­fassen, wie ein Kind es for­mulieren würde. Aber erstens ist das sehr schwierig, weil wir da mas­siv Gedächt­nisakro­batik betreiben müssen, und zweit­ens geht es doch eher darum, bei den Rezip­i­en­ten eine bes­timmte emo­tionale Reak­tion zu erzeu­gen, und dazu möchte man auch auf raf­finiert­ere Tech­niken, zum Beispiel auf bes­timmte Stilmit­tel, zugreifen. Deswe­gen wird — ähn­lich wie beim Beispiel mit der Katze — meis­tens ein Mit­tel­weg beschrit­ten: Man benutzt dur­chaus Sprache und rhetorische Kniffe, die man eher später im Leben lernt, aber man tarnt das Ganze hin­ter ein­er kindlichen Stil­isierung: spez­i­fis­che kindliche Wörter und Aus­druck­sweisen, spez­i­fis­che kindliche Inter­pre­ta­tio­nen und Gedankengänge und so weit­er.

Diese emo­tionale und rhetorische Stil­isierung ist es mein­er Mei­n­ung nach auch, was Remar­ques Darstel­lung des Ersten Weltkrieges ergreifend­er macht als die Jüngers. Zwar habe ich vorhin ver­mutet, dass es an Remar­ques besserem Zugang zu seinen eige­nen Gefühlen liegt, aber das ist nur die Sub­stanz. Denn wenn man diese Sub­stanz, die entsprechen­den Gefüh­le, genau ver­ste­ht und es ertra­gen kann, sie wieder zu fühlen, dann find­et man auch am ehesten die passenden ver­balen Aus­drücke dafür. Und diese Aus­drücke sind es, die die Gefüh­le beim Leser aus­lösen, auch wenn sie in der Real­ität nicht passen: Ein Sol­dat, der sich unter Artilleriebeschuss an die Erde drückt, denkt in der Real­ität zum Beispiel eher ans Über­leben (wenn er denn über­haupt denkt und nicht seinem Instinkt fol­gt). Bei Remar­que hinge­gen gibt es einen emo­tion­al und rhetorisch aufge­lade­nen Abschnitt darüber, was die Erde für einen Sol­dat­en bedeutet. Es ist also eine Ver­fälschung der Real­ität, die die realen Gefüh­le aber deut­lich­er rüber­bringt. Eben­so wie Poe­sie beim Rezip­i­en­ten Gefüh­le aus­löst, obwohl die Gedicht­form im All­t­ag eher unnatür­lich ist.

Schlusswort

Nun hast Du also ein paar Tipps, wie Du an fehlen­der per­sön­lich­er Erfahrung vor­beis­chle­ichen kannst. Zum Schluss möchte ich noch beto­nen, was ich zwis­chen­durch immer mal wieder angedeutet habe:

Alle Ansätze ergänzen einan­der und gehören deswe­gen kom­biniert.

Wenn Du zum Beispiel über eine Stadt schreib­st, in der Du noch nie gewe­sen bist, kannst Du Dich zusät­zlich zu den Reise­führern und Reise­bericht­en auch auf Deine eige­nen Erfahrun­gen in ein­er ähn­lichen Stadt stützen. Dazu soll­test Du ide­al­er­weise natür­lich über­prüfen bzw. nachrecher­chieren, ob die Städte tat­säch­lich ver­gle­ich­bar sind.

Anson­sten möchte ich ganz beson­ders bei diesem The­ma mein ständi­ges Mantra von Testle­sern wieder­holen: Beson­ders im Fall von sen­si­blen The­men soll­test Du unter anderem nach Testle­sern suchen, die von der jew­eili­gen Sache betrof­fen sind. Denn wer kann Unstim­migkeit­en bess­er aus­find­ig machen als sie?

Und was schließlich das Handw­erk­liche ange­ht, also das konkrete Beschreiben mit Worten und Stilmit­teln, so ver­weise ich auf meine bere­its erschiene­nen Artikel über das Beschreiben all­ge­mein und das Beschreiben von Emo­tio­nen und Gefühlen.

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