Authentisch schreiben ohne persönliche Erfahrung

Authentisch schreiben ohne persönliche Erfahrung

Wir Autoren erschaf­fen ger­ne unbe­kann­te Wel­ten oder wagen uns ander­wei­tig an Din­ge, mit denen wir kei­ne Erfah­rung haben. Doch dann kommt die ernüch­tern­de Erkennt­nis, dass wir ziem­li­chen Unsinn fabri­ziert haben, der womög­lich sogar dis­kri­mi­nie­rend ist. Wie kön­nen wir den Man­gel an per­sön­li­cher Erfah­rung also umge­hen und eine sen­si­ble, authen­ti­sche Dar­stel­lung errei­chen? Hier eini­ge Anre­gun­gen dazu …

Die Foli­en für die­ses Video gibt es für Ste­ady-Abon­nen­ten und Kanal­mitglieder auf You­Tube als PDF zum Download.

Es ist immer wie­der ein Fall fürs Fremd­schä­men: wenn Män­ner über Frau­en und vor allem über deren Sexua­li­tät schrei­ben. Das heißt natür­lich nicht, dass alle Män­ner immer Pein­lich­kei­ten oder gar Sexis­mus pro­du­zie­ren, wenn sie über weib­li­che Figu­ren schrei­ben, aber die­ser Fall kommt dann doch lei­der etwas zu häu­fig vor.

Was wir dabei aller­dings nicht aus den Augen ver­lie­ren soll­ten, ist, dass auch weib­li­che Autoren beim Schrei­ben über männ­li­che Figu­ren oft spek­ta­ku­lär schei­tern und zum Bei­spiel rei­hen­wei­se kli­schee­haft femi­ni­ne Sen­si­bel­chen oder – umge­kehrt – ste­reo­ty­pe, „toxisch männ­li­che“ Möch­te­gern-Machos fabri­zie­ren. Und unab­hän­gig vom Geschlecht des Autors wird es häu­fig amü­sant, wenn Jung­frau­en Sex­sze­nen schrei­ben mit bom­bas­tisch über­trie­be­nen Orgas­men, Miss­ach­tung der mensch­li­chen Ana­to­mie und so weiter.

Um unfrei­wil­li­ge Komik oder eine Belei­di­gung bestimm­ter Grup­pen zu ver­mei­den, hört man oft den Rat­schlag: „Wri­te what you know.“ – „Schrei­be über das, was Du kennst.“ Doch sei­en wir ehrlich:

Wenn jeder nur über das schrei­ben wür­de, was er kennt, dann gäbe es deut­lich weni­ger Viel­falt und Krea­ti­vi­tät.

Außer­dem gehört es zum Schrei­ben ja oft dazu, dass man sich eben in eine frem­de Situa­ti­on, unge­wöhn­li­che Per­spek­ti­ven oder in kom­plett ande­re Wel­ten ver­setzt.

Als Autoren wol­len wir uns mit allem aus­ein­an­der­set­zen, was uns umgibt, und auch dar­über hin­aus. Wir wol­len ande­re Men­schen, ande­re Grup­pen oder sogar ande­re Lebens­for­men ver­ste­hen. Wir wol­len über Orte schrei­ben, an denen wir nie gewe­sen sind, oder auch kom­plett aus­ge­dach­te Set­tings rea­lis­tisch gestal­ten. Und nicht zuletzt wol­len auch Men­schen, die irgend­wie „anders“ sind, trotz­dem über eine „Norm“ schrei­ben kön­nen, mit der sich die Leser iden­ti­fi­zie­ren können:

Zum Bei­spiel wol­len blin­de Autoren ja nicht aus­schließ­lich über blin­de Figu­ren schrei­ben. Aber wer sein gan­zes Leben lang voll­stän­dig blind gewe­sen ist, weiß eben nicht aus eige­ner Erfah­rung, wie es ist, mit sei­nen Augen Far­ben wahrzunehmen.

Ich per­sön­lich fin­de daher:

An „Wri­te what you know“ ist zwar sehr viel dran, aber man soll­te es auch nicht übertreiben.

Inwie­fern „Wri­te what you know“ berech­tigt ist und wie wir trotz­dem über unse­ren eige­nen Tel­ler­rand hin­aus schrei­ben kön­nen, bespre­chen wir in die­sem Artikel.

Der Sinn von „Write what you know“

Im Vor­wort von Schrei­ben in Cafés schreibt die ame­ri­ka­ni­sche Schrift­stel­le­rin, Dich­te­rin und Schreib­leh­re­rin Nata­lie Goldberg:

„Schrei­ben zu üben heißt auch, sich mit sei­nem gan­zen Leben aus­ein­an­der zu setzen.“

Und sei­en wir ehr­lich: Ob wir es wol­len oder nicht, ob wir den Autor für tot erklä­ren oder nicht, – alles, was uns im Leben zustößt, was wir sehen und hören, am eige­nen Kör­per spü­ren, durch­ma­chen, – das alles hat einen Ein­fluss auf unser Schrei­ben. Wir Autoren kön­nen nicht anders, als bewusst oder unbe­wusst aus unse­rem Leben zu schöp­fen, unse­re Erfah­run­gen zu ver­ar­bei­ten, unse­ren Pro­ble­men gegenüberzutreten.

Somit ist das Schrei­ben auch immer eine Selbst­äu­ße­rung. Es ist ein Akt der Kom­mu­ni­ka­ti­on, in dem der Autor etwas von sich an den Leser wei­ter­gibt. Und je ehr­li­cher er dabei ist, des­to authen­ti­scher und somit ergrei­fen­der ist die Erzäh­lung. Auch wenn die Geschich­te in einer Fan­ta­sie­welt spielt, fühlt sich der Kern, das Emo­tio­na­le, Spi­ri­tu­el­le, echt an.

Und es sind vor allem sol­che ehr­li­chen – emo­tio­nal ehr­li­chen – Geschich­ten, die sich ins Gedächt­nis ein­prä­gen und dem Leser wirk­lich etwas fürs Leben mit­ge­ben.

Zum Bei­spiel spielt Der Herr der Rin­ge bekann­ter­ma­ßen in einer ande­ren Welt, aber auch dort machen die Figu­ren schwe­re Zei­ten durch und müs­sen selbst in den dun­kels­ten Stun­den Hoff­nung schöp­fen. Da der Autor Tol­ki­en im Ers­ten Welt­krieg mit­ge­kämpft hat­te, wuss­te er sehr genau, wor­über er da schrieb. Gleich­zei­tig sind die­se Erleb­nis­se im emo­tio­na­len Sinn uni­ver­sell, da jeder Mensch auf die ein oder ande­re Wei­se schwe­re Zei­ten und dunk­le Stun­den erlebt und die Herr-der-Rin­ge-Bücher somit zu einem empa­thi­schen Gesprächs­part­ner werden.

Somit kann grund­sätz­lich jeder Autor zumin­dest emo­tio­nal etwas aus eige­ner Erfah­rung bei­steu­ern, indem er zum Bei­spiel rea­le gesell­schaft­li­che Ängs­te anspricht, prak­ti­ka­ble Rat­schlä­ge für all­ge­mein­mensch­li­che Pro­ble­me anbie­tet oder ein­fach nur Trost spen­det für all­ge­mein­mensch­li­che Situa­tio­nen wie Lie­bes­kum­mer, Ver­lust oder Einsamkeit.

Unab­hän­gig davon, wo die Geschich­te spielt, wo der Autor und der Leser sich geo­gra­fisch befin­den und wie vie­le Jahr­hun­der­te zwi­schen ihnen lie­gen, fin­det durch die emo­tio­na­le Ehr­lich­keit des Autors ein tie­fer zwi­schen­mensch­li­cher Aus­tausch statt.

Ehrlichkeit ist eine Herausforderung

Gleich­zei­tig ist „Wri­te what you know“ auch eine Kunst für sich.

Zum Bei­spiel fällt auf, dass die Autoren Ernst Jün­ger und Erich Maria Remar­que zwar bei­de den Ers­ten Welt­krieg beschrei­ben – in ihren Büchern In Stahl­ge­wit­tern und Im Wes­ten nichts Neu­es –, Jün­gers Dar­stel­lung jedoch – obwohl sie auf sei­nen Tage­buch­auf­zeich­nun­gen beruht – außer­or­dent­lich sach­lich, nahe­zu ste­ril wirkt, wäh­rend Remar­ques fik­tio­na­ler Roman dage­gen sehr gefühl­voll ist und damit das Grau­en des Krie­ges bes­ser rüberbringt.

Ich selbst kann natür­lich nur spe­ku­lie­ren, wor­an das liegt, aber es gibt das Phä­no­men, dass Men­schen, die Schlim­mes erlebt haben, über ihre Trau­ma­ta oft kalt und nüch­tern spre­chen, als wären sie jemand ande­rem zuge­sto­ßen. Um die Psy­che des Trau­ma­ti­sier­ten zu schüt­zen, blockt das Unter­be­wusst­sein die schreck­li­chen Gefüh­le näm­lich ein­fach ab. Weil das aller­dings lang­fris­tig das Ver­ar­bei­ten des Trau­mas behin­dert, kann die­se Schutz­re­ak­ti­on ohne The­ra­pie spä­ter zu psy­chi­schen Pro­ble­men und/​oder psy­cho­so­ma­ti­schen Erkran­kun­gen füh­ren. Und offen­bar blo­ckiert sie auch emo­tio­na­le Ehr­lich­keit bei der Wei­ter­ga­be des Erleb­ten. – Zumin­dest ist es das, was ich per­sön­lich bei Ernst Jün­ger ver­mu­te, der auf mich ein wenig wie ein abge­brüh­ter, drauf­gän­ge­ri­scher Adre­na­lin­jun­kie wirkt, dem nicht bewusst ist, was da gera­de psy­chisch mit ihm pas­siert und dass bestimm­te Ver­hal­tens­wei­sen nicht mehr nor­mal sind.

Was Remar­que angeht, so hat­te er im Gegen­satz zu Jün­ger, der den Krieg fast kom­plett mit­er­lebt hat­te, nur eine klei­ne Kost­pro­be von eini­gen Wochen abbe­kom­men. – Sei­nem Werk nach zu urtei­len, hat­ten die­se paar Wochen blei­ben­de Ein­drü­cke hin­ter­las­sen, ohne ihn jedoch emo­tio­nal abzu­stump­fen. Des­we­gen mag es Remar­que leich­ter gefal­len sein, emo­tio­nal ehr­lich zu schreiben.

Eine ande­re Her­an­ge­hens­wei­se, um schwie­ri­ge Erfah­run­gen zu ver­ar­bei­ten, ist das Her­um­schrau­ben an Details. Abge­se­hen davon, dass man die Erleb­nis­se in eine voll­kom­men ande­re Welt über­tra­gen kann, klappt es manch­mal auch mit einer ein­fa­chen Ver­la­ge­rung des Schau­plat­zes und dem künst­le­ri­schen „Zurecht­stut­zen“ des Erleb­ten:

Der rus­si­sche Film­re­gis­seur Elem Kli­mow wur­de 1933 in Sta­lin­grad gebo­ren und hat dort den Zwei­ten Welt­krieg erlebt. 1985 erschien sein inter­na­tio­nal gefei­er­ter und preis­ge­krön­ter Film Komm und sieh: Hier schließt sich der jugend­li­che Prot­ago­nist im vom Nazi­deutsch­land besetz­ten Bela­rus den Par­ti­sa­nen an, erlebt die sadis­ti­schen Gräu­el­ta­ten der Deut­schen und übt zusam­men mit den Par­ti­sa­nen bru­ta­le Ver­gel­tung. Es ist der mit Abstand grau­sams­te Film, den ich je gese­hen habe, und ich habe eine unsäg­li­che Angst, ihn mir jemals wie­der kom­plett anzu­gu­cken, obwohl ich als lang­jäh­ri­ge Kriegs­film­lieb­ha­be­rin sonst eher abge­här­tet bin. Und das ist eine Reak­ti­on, die ich oft auch bei ande­ren höre und lese: Kli­mow schafft es ein­fach, dem Zuschau­er in 145 Minu­ten eine Art Kriegs­trau­ma im Taschen­for­mat zu ver­pas­sen. Als er über die Rol­le sei­ner Kind­heits­er­fah­run­gen beim Erschaf­fen des Films sprach, sag­te er:

„Когда я был маленьким мальчиком, я был в аду … Если бы я включил все, что знал, и показал всю правду, даже я не смог бы это посмотреть.“

„Als ich ein klei­ner Jun­ge war, war ich in der Höl­le … Wenn ich alles, was ich kann­te, ein­ge­bracht und die gan­ze Wahr­heit gezeigt hät­te, hät­te nicht ein­mal ich es mir anschau­en können.“

Die Wahr­heit – Ehr­lich­keit – tut eben weh. Aber sie ist auch heil­sam. Über sei­ne Ängs­te, Trau­ma­ta, Scham und ande­re Din­ge zu schrei­ben, hat oft eine the­ra­peu­ti­sche Wir­kung. Ich spre­che da auch aus eige­ner Erfah­rung: als Autor und als Leser.

Ohne persönliche Erfahrung schreiben

Nun ist das Schrei­ben über all­ge­mein­mensch­li­che Gefüh­le nicht an kon­kre­te Erleb­nis­se gekop­pelt. Gera­de dadurch kön­nen wir als Leser ja auch mit Figu­ren mit­füh­len, die in uns völ­lig frem­den Situa­tio­nen ste­cken. Beim Schrei­ben von sol­chen Situa­tio­nen ist es dage­gen etwas schwieriger:

Denn das Erle­ben von kon­kre­ten Din­gen ver­schafft uns eine Art Fach­kom­pe­tenz.

Wer sich zum Bei­spiel noch nie etwas gebro­chen hat, weiß nicht wirk­lich, wie sich ein Bruch anfühlt. Und wenn er es dann zu beschrei­ben ver­sucht, läuft er Gefahr, irgend­ei­nen Mist zusam­men­zu­fan­ta­sie­ren. Und nun stell Dir vor, es geht nicht um sol­che leicht kor­ri­gier­ba­ren Din­ge wie Kno­chen­brü­che, son­dern um Grup­pen, denen man selbst nicht ange­hört. Hier sind wir schnell bei den lächer­li­chen bis sexis­ti­schen Dar­stel­lun­gen des ande­ren Geschlechts, dis­kri­mi­nie­ren­den Dar­stel­lun­gen von Min­der­hei­ten, ras­sis­ti­schen Dar­stel­lun­gen von ande­ren Kul­tu­ren und so weiter …

Auf­grund von die­ser Gefahr raten vie­le und auch ich selbst dazu, sich beim Schrei­ben auf sei­ne Fach­be­rei­che zu stüt­zen und sich aus all­zu unbe­kann­ten Gebie­ten lie­ber her­aus­zu­hal­ten. Es gibt da aber auch völ­lig berech­tig­te Ein­wän­de, zum Bei­spiel von Chess­play­er 120:

Jetzt soll ich mich auch noch recht­fer­ti­gen, wes­halb ich mei­nen Roman selbst schrei­ben will? Dass die Ideen dafür mei­nem kran­ken Kopf ent­sprun­gen sind, soll­te doch als Begrün­dung genü­gen. Es gibt wohl kaum einen ande­ren, der mein Buch nach mei­nen Vor­stel­lun­gen schrei­ben kann.
Chess­play­er 120: https://​www​.you​tube​.com/​w​a​t​c​h​?​v​=​0​n​H​X​1​7​2​c​f​g​w​&​l​c​=​U​g​x​L​w​Q​1​L​I​I​X​0​Y​9​Z​D​d​H​5​4​A​a​A​BAg.

Manch­mal erfor­dern die Ideen in unse­ren „kran­ken Köp­fen“ ein­fach, dass wir uns in frem­de Gebie­te wagen. Und manch­mal wol­len wir die­se frem­den Gebie­te auch ein­fach ver­ste­hen und das Schrei­ben ist unser Mit­tel dazu.

Sol­len wir uns also von allem fern­hal­ten, was wir nicht aus eige­ner Erfah­rung ken­nen? Natür­lich nicht. Denn dann wür­den wir ja immer nur das­sel­be schrei­ben. Außer­dem haben wir ja unse­re all­ge­mein­mensch­li­chen Erfah­run­gen – wir alle ken­nen Lie­be, Hass, Trau­er, Freu­de, Ängs­te … – und bei der respekt­vol­len und authen­ti­schen Dar­stel­lung von „frem­den Gebie­ten“ geht es meis­tens eher um – sagen wir mal – fach­li­che Details: geschmack­li­che Noten von Lei­chen­ge­ruch, kon­kre­te Situa­tio­nen mit Men­schen, die gar nicht mer­ken, wie sie Dich bedrän­gen und ein­schüch­tern, kon­kre­te Gedan­ken ange­sichts einer schwe­ren Dia­gno­se, typi­sche klei­ne Mis­se­ta­ten von Haus­tie­ren, um Auf­merk­sam­keit zu bekom­men, die­ses Gefühl von einer gewis­sen Leich­tig­keit und gleich­zei­ti­gen Schwe­re, wenn man mit dem Flug­zeug vom Boden abhebt, das Erwa­chen des eige­nen inne­ren Raub­tiers, wenn man irgend­et­was jagt …

Es sind die­se fei­nen, klei­nen Details, die eine Erzäh­lung rea­lis­tisch und leben­dig machen.

Wie ler­nen wir sie also kennen?

Ähnliche eigene Erfahrungen

Zunächst kön­nen wir natür­lich schau­en, inwie­fern die­se frem­den Gebie­te tat­säch­lich fremd sind. Ich spre­che da einer­seits von den bereits erwähn­ten all­ge­mein­mensch­li­chen Gefüh­len: Ob man sich in unse­rer heu­ti­gen Welt, im Mit­tel­al­ter oder auf dem Pla­ne­ten Fur­ze­vick ver­liebt, Schmet­ter­lin­ge im Bauch blei­ben Schmet­ter­lin­ge im Bauch. Ande­rer­seits spre­che ich aber auch von sehr kon­kre­ten Din­gen, die man viel­leicht in abge­wan­del­ter Form kennt:

Ich zum Bei­spiel habe im Gegen­satz zu Cap­tain Mil­ler aus dem Film Der Sol­dat James Ryan kei­nen Welt­krieg erlebt, aber ein wenig Hän­de­zit­tern ken­ne ich trotz­dem – wenn sich die Fin­ger stress­be­dingt ver­selbst­stän­di­gen, die elek­tri­schen Impul­se der Ner­ven ver­rückt spie­len und es des­we­gen kon­stant kribbelt.

Kann ich wegen die­ser Erfah­rung über Krieg schrei­ben? Bestimmt nicht. Aber ich kann ja noch wei­te­re Erfah­run­gen hin­zu­neh­men: mein „Trau­ma im Taschen­for­mat“ durch Komm und sieh zum Bei­spiel. Man stel­le sich vor, ich müss­te die­sen Film, vor dem ich Angst habe, tag­täg­lich rund um die Uhr gucken, meh­re­re Jah­re hin­ter­ein­an­der, und dann müss­ten die Ein­drü­cke um das Hun­dert­fa­che mul­ti­pli­ziert wer­den, weil Fil­me ja immer noch schwä­cher wir­ken als die Rea­li­tät. – Und schon glau­be ich, zumin­dest ent­fernt nach­voll­zie­hen zu kön­nen, wie das emo­tio­na­le Abstump­fen bei lang­an­dau­ern­den trau­ma­ti­schen Erleb­nis­sen funktioniert.

Wenn Du also etwas Bestimm­tes beschrei­ben willst, scha­det es nicht, in die eige­ne Bio­gra­phie zu schau­en. Denn bestimmt hast Du schon mehr erlebt, als Du Dir zutraust. Ich zum Bei­spiel hat­te auch schon eine Gehör­gangs­ent­zün­dung und zwei Seh­nerv­ent­zün­dun­gen, habe also eine Ahnung, wie es ist, halb blind und halb taub zu sein. Ich hat­te außer­dem eine Pha­se in mei­nem Leben, in der ich ger­ne Pass­wör­ter umgan­gen und ver­steck­te Berei­che von Web­sites erkun­det habe, ken­ne also ein biss­chen den Ehr­geiz eines (Möchtegern-)Hackers. Das bereits kurz erwähn­te Erwa­chen des eige­nen inne­ren Raub­tiers habe ich bei Video­spie­len erlebt …

Aller­dings soll­te man sich hier auch nicht zu weit aus dem Fens­ter leh­nen. Denn dass man etwas auf einer rein emo­tio­na­len Ebe­ne „ent­fernt nach­voll­zie­hen“ kann, bedeu­tet nicht, dass man die fach­li­chen Details rich­tig hin­be­kommt. Man läuft sogar Gefahr, etwas von sei­ner eige­nen Situa­ti­on auf eine völ­lig ande­re zu pro­ji­zie­ren und dadurch jedes noch so klei­ne Poten­ti­al für Authen­ti­zi­tät im Keim zu ersti­cken: Denn wenn Du durch Dei­ne eige­nen Erfah­run­gen das Gefühl von Schmet­ter­lin­gen im Bauch beschrei­ben kannst, kannst Du ledig­lich nur das Gefühl von Schmet­ter­lin­gen im Bauch beschrei­ben – das Drum­her­um, zum Bei­spiel die völ­lig ande­re Welt- und Men­schen­wahr­neh­mung im 18. Jahr­hun­dert, ist und bleibt eine frem­de Welt für Dich.

Empathie

Beim Schrei­ben geht es häu­fig eben nicht nur dar­um, die eige­nen Erfah­run­gen irgend­wie zu ver­ar­bei­ten, son­dern sich auch in ande­re Men­schen hin­ein­zu­ver­set­zen. Es geht also um Empa­thie. Und das ist viel schwie­ri­ger, als man sich oft vor­stellt.

Zum Bei­spiel haben die bei­den For­sche­rin­nen Belén López-Pérez und Ellie L. Wil­son in einer Stu­die her­aus­ge­fun­den bzw. frü­he­re Beob­ach­tun­gen bestä­tigt, dass Eltern das Wohl­be­fin­den ihrer Kin­der oft falsch ein­schät­zen: Bei 10- bis 11-jäh­ri­gen Kin­dern über­schätz­ten die Eltern das Wohl­be­fin­den, bei 15- bis ‑16-jäh­ri­gen unter­schätz­ten sie es. Dem liegt ver­mut­lich ein ego­zen­tri­scher bzw. Attri­bu­ti­ons­feh­ler zugrun­de, denn die Stu­die fand auch her­aus, dass die elter­li­che Ein­schät­zung des Wohl­be­fin­dens der Kin­der eher ihr eige­nes Wohl­be­fin­den spie­gel­te. Somit schei­nen Eltern, die doch glau­ben, ihre Kin­der genau zu ken­nen, ihren eige­nen Gefühls­zu­stand auf ihre Spröss­lin­ge zu pro­ji­zie­ren. Und wenn schon Eltern ihre Kin­der nicht so gut ken­nen, wie sie glau­ben, – was soll man da von der mensch­li­chen Fähig­keit, sich in völ­lig frem­de Men­schen hin­ein­zu­ver­set­zen, sagen?

Das The­ma Empa­thie habe ich bereits in einem Schreib­v­log ange­spro­chen und kann nur wie­der­ho­len, was ich dort schon aus­führ­li­cher durch­ge­kaut habe:

Um jemand ande­ren zu ver­ste­hen, muss man ein wenig in sei­nen Schu­hen lau­fen. Und um die Schu­he von jemand ande­rem anzu­zie­hen, muss man vor­her sei­ne eige­nen auszie­hen.

Und das bedeu­tet unter Umstän­den, sich vor­über­ge­hend von sei­ner Welt­wahr­neh­mung, sei­nen Begrif­fen und sei­nen Moral­vor­stel­lun­gen zu ver­ab­schie­den. Das tut natür­lich weh und die Bereit­schaft dazu ist oft wenig aus­ge­prägt. Es hat schon einen Grund, wie­so wir mit Ange­hö­ri­gen unse­rer eige­nen Grup­pe in der Regel deut­lich mehr Empa­thie haben als mit Ange­hö­ri­gen ande­rer Grup­pen: Bei Men­schen, die ähn­li­che Schu­he tra­gen wie wir, müs­sen wir uns nicht all­zu sehr umstellen.

Der ers­te Schritt zu rich­ti­ger Empa­thie wäre somit die Ein­sicht, dass man eine ahnungs­lo­se Dumpf­ba­cke ist. Dass nichts, was man in sei­nem Leben je gelernt hat, wirk­lich wahr ist. Dass man in sei­ner eige­nen, klei­nen Welt lebt. Und dass die schlimms­ten Mis­se­tä­ter auch in ihrer Welt leben und ihr schein­bar noch so absur­des und amo­ra­li­sches Ver­hal­ten dar­in sehr viel Sinn macht und ratio­nal und human ist. Wäh­rend Du mit all Dei­ner schein­ba­ren Moral aus ihrer Per­spek­ti­ve eine tief­schwar­ze Aus­ge­burt des Bösen bist.

Hör also auf zu urtei­len. Das rigi­de Fest­hal­ten an eige­nen Moral­vor­stel­lun­gen behin­dert Empathie.

(„Rich­tet nicht, auf daß ihr nicht gerich­tet wer­det“, soll ein gewis­ser Jeschua ben Josef mal gesagt haben.)

Was Empa­thie hin­ge­gen för­dert, ist das Beob­ach­ten, Zuhö­ren und Ernst­neh­men. Wenn Du Dei­nen Gegen­über bzw. jeman­den aus einer ande­ren Grup­pe ver­ste­hen willst, musst Du sei­ne Welt ken­nen­ler­nen. Sie­he dazu übri­gens auch mei­nen Vlog über inter­kul­tu­rel­le Kom­mu­ni­ka­ti­on, weil die Sta­di­en der Annä­he­rung zwi­schen Kul­tu­ren im Grun­de die­sel­ben sind wie die der Annä­he­rung bei jeder ande­ren Art von ein­an­der wider­spre­chen­den Grup­pen. Spe­zi­ell zum Zuhö­ren bzw. Recher­chie­ren und Aus­wer­ten von Pri­mär­quel­len geht es aber hier weiter …

Primärquellen: Erfahrungen und Diskussionen

Die heu­ti­ge Welt ist voll von Erzäh­lun­gen aus ers­ter Hand. Auch wenn Du selbst viel­leicht nie­man­den kennst, auf den die Sache, über die Du schrei­ben willst, zutrifft, so kannst Du trotz­dem auf ein brei­tes Spek­trum von Quel­len zugrei­fen: ange­fan­gen mit auto­bio­gra­fi­scher Sach­li­te­ra­tur bis hin zu Dis­kus­sio­nen in Inter­net­fo­ren und in den sozia­len Medi­en.

Natür­lich ist dabei aber nicht zu ver­ges­sen, dass Men­schen in der Regel nur eine Frosch­per­spek­ti­ve haben und manch­mal sogar lügen. Des­we­gen ist es wich­tig, dass Du vie­le Quel­len kon­su­mierst und mit­ein­an­der ver­gleichst. Und dazu am bes­ten auch wis­sen­schaft­li­che Erkennt­nis­se recher­chierst. Doch dazu kom­men wir ein biss­chen später.

Bei allem Hin­ter­fra­gen soll­test Du aber nicht aus den Augen ver­lie­ren, dass es bei die­sem Schritt nicht dar­um geht, eine „objek­ti­ve Wahr­heit“ her­aus­zu­fin­den, son­dern eben die zahl­rei­chen Frosch­per­spek­ti­ven ken­nen­zu­ler­nen. Die Welt­wahr­neh­mung die­ser Men­schen und deren Zustan­de­kom­men zu ver­ste­hen. Und das geht nur durch das Hal­ten der eige­nen Klap­pe und Zuhö­ren bzw. Lesen.

Zum Bei­spiel wur­de ich bei all den Anfra­gen zu die­sem The­ma beson­ders oft um Tipps für das Schrei­ben über Frau­en bzw. Mäd­chen oder auch ganz all­ge­mein über das jeweils ande­re Geschlecht gebe­ten. Und das ist bei den gesell­schaft­li­chen Dis­kus­sio­nen der letz­ten Jah­re auch nicht ver­wun­der­lich. Ich kann da natür­lich kei­ne Schritt-für-Schritt-Anlei­tung liefern:

Alle Men­schen sind unter­schied­lich und Bio­gra­fien sind individuell.

Aber als zumin­dest ers­ten Schritt für die spe­zi­ell weib­li­che Per­spek­ti­ve kann ich zum Bei­spiel ein Video von The Authen­tic Obser­ver emp­feh­len, in dem sie auf Grund­la­ge ihrer eige­nen Erfah­run­gen erklärt, wie Femi­nis­mus es Mäd­chen erschwert, Gren­zen zu set­zen. Als zwei­ten Schritt könn­test Du ähn­li­che und wider­spre­chen­de Erleb­nis­be­rich­te von Frau­en recher­chie­ren, um die ver­schie­de­nen Wahr­neh­mun­gen, aber auch ihre Gemein­sam­kei­ten bes­ser ken­nen­zu­ler­nen. Anschlie­ßend machst Du das­sel­be mit Hard­core-Femi­nis­tin­nen und Ver­tre­tern von Män­ner­be­we­gun­gen wie Red Pill, Incels und so wei­ter, um aus der „Bubble“ etwas aus­zu­bre­chen. Du musst dabei kei­ner die­ser Par­tei­en zustim­men (Um Him­mels wil­len!), aber Du soll­test sie ken­nen­ler­nen, um nach­zu­voll­zie­hen, mit wel­chen Welt­bil­dern man als Frau oder Mäd­chen kon­fron­tiert wird.

Was die­se Recher­chen Dir aller­dings nur bedingt bie­ten kön­nen, ist das Nach­füh­len. Denn die Erleb­nis­se gehö­ren ja immer noch ande­ren. Da kön­nen tat­säch­lich künst­le­ri­sche Dar­stel­lun­gen hel­fen, denn sie sind ja gera­de dar­auf aus­ge­rich­tet, beim Rezi­pi­en­ten Gefüh­le zu wecken. Was Frau­en und Mäd­chen zum Bei­spiel angeht, so habe ich bereits in mei­nem Vlog über Empa­thie den Film Pro­mi­sing Young Woman emp­foh­len: Zwar ist der Plot an sich kei­ne typi­sche All­tags­ge­schich­te, aber er bringt so eini­ge All­tags­ge­füh­le von Frau­en sehr gut rüber.

Gleich­zei­tig ist bei fik­tio­na­len Quel­len aber auch beson­de­re Vor­sicht gebo­ten – gera­de weil sie emo­tio­nal so stark wir­ken. Ach­te des­we­gen dar­auf, wer der Künst­ler ist und ob er das Dar­ge­stell­te tat­säch­lich aus eige­ner Erfah­rung kennt. Ach­te auf das Ziel­pu­bli­kum. Ach­te auf die Rück­mel­dun­gen der Rezi­pi­en­ten: Wer lobt und kri­ti­siert was und war­um? Mit ande­ren Wor­ten: Prü­fe, inwie­fern die künst­le­ri­sche Dar­stel­lung rea­lis­tisch ist. Und das sogar bei Bana­li­tä­ten. Denn jemand, der das Beschrie­be­ne tat­säch­lich schon mal erlebt hat, wird die Feh­ler defi­ni­tiv bemer­ken. So zum Bei­spiel Ernst Jün­ger in sei­nen Stahl­ge­wit­tern:

„Die Land­schaft strahlt in der Nacht eine eigen­tüm­li­che Käl­te aus; die­se Käl­te ist von geis­ti­ger Art. So beginnt man zu frös­teln, wenn man einen der unbe­setz­ten Abschnit­te des Gra­bens durch­quert, die nur durch Strei­fen beschrit­ten wer­den; und die­ses Frös­teln stei­gert sich, wenn man jen­seits des Draht­ver­hau­es das Nie­mands­land betritt, zu einem leich­ten, zäh­ne­klap­pern­den Unwohl­sein. Die Art, in der die Roman­schrei­ber das Zäh­ne­klap­pern ver­wen­den, ist meist ver­fehlt; es hat nichts Gewalt­sa­mes, son­dern gleicht viel­mehr einem schwa­chen elek­tri­schen Strom. Oft merkt man es eben­so­we­nig, wie man merkt, daß man im Schla­fe spricht. Übri­gens hört es sofort auf, wenn wirk­lich etwas passiert.“
Ernst Jün­ger: In Stahl­ge­wit­tern, Kapi­tel: Douchy und Monchy.

Sekundärquellen für Gefühle

Doch so wich­tig das emo­tio­na­le Ken­nen­ler­nen der zu beschrei­ben­den Grup­pe auch ist – ich wie­der­ho­le: Pri­mär­quel­len sind und blei­ben sub­jek­ti­ve Frosch­per­spek­ti­ven und die Betei­lig­ten wis­sen auch selbst nicht immer, was da mit ihnen pas­siert. Wie bereits fest­ge­stellt, ist Remar­ques Im Wes­ten nichts Neu­es in emo­tio­na­ler Hin­sicht eine deut­lich bes­se­re Quel­le als Jün­gers In Stahl­ge­wit­tern, obwohl Letz­te­rer deut­lich mehr Zeit an der Front ver­bracht hat.

Wie hat Remar­que es also geschafft, trotz gerin­ger eige­ner Erfah­rung so authen­tisch über den Krieg zu schrei­ben? – Nun, abge­se­hen von sei­ner zwar spär­li­chen, aber doch Erfah­rung hat er sehr viel mit ande­ren und wesent­lich erfah­re­ne­ren Kriegs­teil­neh­mern gespro­chen. So gese­hen hat Remar­que für alle, die wis­sen wol­len, wie sich Krieg „anfühlt“, mas­si­ve Vor­ar­beit geleis­tet: Er hat Erzäh­lun­gen gesam­melt und auf ihrer Grund­la­ge eine fik­tio­na­le, aber trotz­dem authen­ti­sche Dar­stel­lung kon­stru­iert. Wenn wir also „Gefüh­le recher­chie­ren“, ist Remar­que durch­aus eine wert­vol­le Sekundärquelle.

Bei die­sem Stich­wort den­ken wir meis­tens jedoch eher an wis­sen­schaft­li­che Fach­li­te­ra­tur – und ja, auch sie soll­te recher­chiert wer­den. Wis­sen­schaft­li­che Tex­te sind zuge­ge­be­ner­ma­ßen oft schwer zu ver­ste­hen und set­zen eini­ges an Vor­wis­sen vor­aus. Aber wenn Du über eine bestimm­te Grup­pe schrei­ben willst, dann gehe ich davon aus, dass das The­ma Dich inter­es­siert. Und die­ses Inter­es­se kann Dir durch­aus hel­fen, Dich durch sper­ri­ges Fach­chi­ne­sisch zu kämp­fen: Also Augen zu und durch!

Aller­dings ist natür­lich auch bei wis­sen­schaft­li­cher Lite­ra­tur Vor­sicht gebo­ten: Denn Wis­sen­schaft ist in stän­di­gem Wan­del und was heu­te als all­ge­mei­ner Kon­sens gilt, könn­te schon mor­gen wider­legt sein. Ach­te also dar­auf, dass Du auf dem aktu­el­len For­schungs­stand bist, und ver­mei­de es, wis­sen­schaft­li­che Erkennt­nis­se als in Stein gemei­ßelt zu betrach­ten. Es kann immer noch pas­sie­ren, dass schon mor­gen glaub­haft nach­ge­wie­sen wird, dass wir in einer Matrix leben, die erst ges­tern von Ali­ens erschaf­fen wurde.

Außer­dem las­sen sich der Wis­sen­schaft oft auch eine gewis­se Empa­thie­lo­sig­keit und Hoch­nä­sig­keit attes­tie­ren, die wie­der­um den Erkennt­nis­ge­winn behindern:

So wird heut­zu­ta­ge zum Bei­spiel zu Recht der lei­der immer noch ver­brei­te­te Ansatz kri­ti­siert, dass For­scher über Autis­ten spre­chen statt mit Autis­ten. Dabei sind vie­le von ihnen nach wie vor der Mei­nung, Autis­ten hät­ten kei­ne Empa­thie. Dass das Unter­stel­len von Empa­thie­lo­sig­keit gegen­über jeman­dem, in des­sen Innen­le­ben man kei­nen Ein­blick hat, eher von der eige­nen Empa­thie­lo­sig­keit spricht, scheint ihnen nicht auf­zu­fal­len. Krei­se, die mit Autis­ten arbei­ten, kom­men hin­ge­gen zu dem Schluss, dass Autis­ten durch­aus Empa­thie emp­fin­den und das Pro­blem eher im Schei­tern der Kom­mu­ni­ka­ti­on zwi­schen Autis­ten und Nichtau­tis­ten liegt: Autis­ten ver­hal­ten sich oft schein­bar unem­pa­thisch, weil sie den emo­tio­na­len Zustand ihres Gegen­über ein­fach kogni­tiv nicht erken­nen. Wenn man ihnen die­sen Zustand auf eine ihnen ver­ständ­li­che Wei­se erklärt, füh­len sie aber inten­siv mit, laut eini­gen Stim­men sogar inten­si­ver als Nichtau­tis­ten. Und gleich­zei­tig besteht das Pro­blem auch umge­kehrt: Nichtau­tis­ten sind meis­tens kogni­tiv nicht in der Lage, den emo­tio­na­len Zustand von Autis­ten zu erken­nen. Wer hat es also schwe­rer: neu­ro­ty­pi­sche Men­schen, die mit einem schein­bar unem­pa­thi­schen Autis­ten zu tun haben, oder ein Autist, der sein Leben lang fast aus­schließ­lich oder zumin­dest über­wie­gend von Men­schen umge­ben ist, die ihm kei­ne Empa­thie entgegenbringen?

Aus die­sem Grund hal­te ich es für wich­tig, wis­sen­schaft­li­che Quel­len nur als Ergän­zung zu sehen. Denn spe­zi­ell beim The­ma Autis­mus emp­fin­de ich den You­Tube-Kanal Galoxee’s Asper­ger TV als deut­lich bes­se­re Sekun­där­quel­le: Die Mache­rin selbst, Doro, ist zwar neu­ro­ty­pisch, aber ihr Mann und ihre bei­den Kin­der sind Asper­ger-Autis­ten, sie hat mit ihnen tag­täg­lich zu tun und kennt daher bei­de Wel­ten her­vor­ra­gend. Dadurch kann sie auf ver­ständ­li­che Wei­se Nichtau­tis­ten über Autis­mus auf­klä­ren und Autis­ten über Nichtautisten.

Das ist aber natür­lich auch bei ande­ren The­men zu beach­ten. Wis­sen­schaft kann zum Bei­spiel höchs­tens psy­cho­lo­gi­sche Grund­prin­zi­pi­en erklä­ren, beleuch­tet aber nicht „von innen her­aus“, was wirk­lich in depres­si­ven oder gar sui­zid­ge­fähr­de­ten Men­schen vor­geht. Men­schen, die regel­mä­ßig mit Betrof­fe­nen arbei­ten, wis­sen da eher Bescheid und haben einen indi­vi­du­el­le­ren Zugang. Zwar ana­ly­siert die Wis­sen­schaft Fäl­le aus der Pra­xis, aber sie ver­sucht auch, zu ver­all­ge­mei­nern und Ten­den­zen zu erken­nen, um sie dann in nüch­ter­nen, emo­ti­ons­lo­sen Wör­tern zusam­men­zu­fas­sen. Die Leu­te „vor Ort“ arbei­ten eher mit kon­kre­ten Men­schen und kon­kre­ten Geschich­ten. Und wenn man genug kon­kre­te Geschich­ten ken­nen­lernt, bekommt man irgend­wann durch­aus auch selbst ein Fin­ger­spit­zen­ge­fühl dafür, was rea­lis­tisch ist und was nicht. Man trai­niert es sich qua­si an.

Sekundärquellen für Fakten

Natür­lich soll­te aber nicht nur bei Gefüh­len recher­chiert wer­den. Im Gegen­teil: Meis­tens denkt man bei Recher­chen eher an Fak­ten, Sach­in­for­ma­tio­nen. Und da ste­hen Dir – je nach Art der gesuch­ten Infor­ma­tio­nen – unend­lich vie­le Mög­lich­kei­ten offen:

  • Allem vor­an wären da natür­lich Goog­le und ande­re Such­ma­schi­nen (auch für Recher­chen zu emo­tio­na­len The­men geeig­net). Wenn Du da beson­ders raf­fi­niert bist, kannst Du auch soge­nann­te Ope­ra­to­ren nut­zen, um Dei­ne Such­ergeb­nis­se zu prä­zi­sie­ren. Eine Lis­te die­ser Befeh­le fin­dest Du hier.
  • Bei Orten, an denen Du selbst noch nie gewe­sen bist, kannst Du neben Rei­se­be­rich­ten und Rei­se­füh­rern auch auf Tools wie Goog­le Earth zurück­grei­fen: Hier fin­dest Du zum Bei­spiel exak­te Stra­ßen­ver­läu­fe, Fotos und teil­wei­se sogar drei­di­men­sio­na­le Dar­stel­lun­gen der Gebäude.
  • Bei his­to­ri­schen Fra­gen gibt es neben Fach­li­te­ra­tur auch die Mög­lich­keit von Muse­en. Ich zum Bei­spiel bin eine begeis­ter­te Muse­ums­gän­ge­rin und weiß mitt­ler­wei­le aus Erfah­rung, dass ein noch so bedroh­lich insze­nier­ter Pan­zer auf der Lein­wand nichts ist im Ver­gleich zu einem ech­ten Pan­zer, der sich bewegt, rie­si­ge Wol­ken stin­ken­der Abga­se pro­du­ziert und sei­ne Kano­ne auf Dich rich­tet. Auch wenn Du weißt, dass es nur noch ein harm­lo­ses Expo­nat ist, eine Art gro­ßes Spiel­zeug, nichts wei­ter, spürst Du kör­per­lich, dass Du, wenn Du so einem Viech in der „frei­en Wild­bahn“ begeg­nen wür­dest, ratz­fatz die Hosen voll hät­test. Buchstäblich.
  • Spe­zi­ell bei his­to­ri­schen Set­tings bie­tet sich auch die zeit­ge­nös­si­sche Lite­ra­tur der jewei­li­gen Epo­che an: Hier kannst Du sehen, wie die Men­schen ihre Welt und ihre Zeit wahr­ge­nom­men haben, wel­che Wer­te sie hat­ten, wie sie gespro­chen haben, wie ihr All­tag aus­sah und wie sie mit­ein­an­der inter­agiert haben. Kom­bi­nie­re das am bes­ten aber mit his­to­rio­gra­phi­scher Fach­li­te­ra­tur, damit Du defi­ni­tiv ver­stehst, was Du da liest.
  • Bei Fan­ta­sy- und Sci­ence-Fic­tion-Set­tings kommt es natür­lich dar­auf an, wo Du Dei­ne Inspi­ra­ti­on her­nimmst. Denn meis­tens leh­nen wir Aus­ge­dach­tes dann doch an die Rea­li­tät an. Recher­chie­re also die The­men­ge­bie­te, die Dich inspi­rie­ren! Sei gleich­zei­tig aber auch gene­rell offen gegen­über neu­en Infor­ma­tio­nen und eig­ne Dir eine gute All­ge­mein­bil­dung an: Denn wenn Du rea­lis­ti­sche Wel­ten erschaf­fen willst – also Wel­ten, die sich echt anfüh­len –, soll­test Du eine Vor­stel­lung davon haben, wie die rea­le Welt funk­tio­niert und wie alles zusam­men­hängt. In der Regel sind fik­ti­ve Wel­ten näm­lich nur Spiel­ar­ten der rea­len Welt, bloß mit magi­schen, tech­no­lo­gi­schen oder ander­wei­ti­gen Modi­fi­ka­tio­nen. Du soll­test die rea­le Welt gut genug ken­nen, um ein­schät­zen zu kön­nen, wie die rea­le Welt mit die­sen Modi­fi­ka­tio­nen funk­tio­nie­ren wür­de. Denn sonst wird Dei­ne fik­ti­ve Welt schnell unglaub­wür­dig. Wobei aber genau das auch Dei­ne Absicht sein könn­te, wie zum Bei­spiel im Fall von Ali­ce im Wun­der­land. Wenn es also das ist, was Du willst, dann lass Dei­ner Fan­ta­sie frei­en Lauf!

Literarische Bearbeitung ist immer eine Verfälschung!

Bei aller Fak­ten­re­cher­che soll­ten wir jedoch nicht ein­mal den Gedan­ken zulas­sen, wir könn­ten die Rea­li­tät exakt abbil­den. Mehr noch, ich hal­te eine exak­te Abbil­dung nicht ein­mal für sinn­voll. Denn erin­nern wir uns dar­an, was die grund­le­gen­de Natur des Erzäh­lens ausmacht:

Erzäh­len ist immer ein Fil­ter­vor­gang und damit immer eine Ver­fäl­schung der „Rea­li­tät“.

Das wird auch dann wich­tig, wenn man tat­säch­lich über eige­ne Erfah­run­gen schreibt. So wur­de ich zum Bei­spiel gefragt, wie man über die Emo­tio­nen eines Kin­des schrei­ben soll, das noch kei­ne Wor­te dafür hat. Und ich glau­be, man kann die­se Fra­ge beant­wor­ten, wenn man sich noch schwie­ri­ge­re Per­spek­ti­ven anschaut, näm­lich Erzäh­lun­gen aus der Sicht von Tie­ren oder sogar Gegen­stän­den: Sie haben nicht nur über­haupt kei­ne Wor­te, son­dern auch eine völ­lig ande­re Wahr­neh­mung bzw. über­haupt kei­ne Wahr­neh­mung. Die Art und Wei­se, wie eine Kat­ze die Welt wahr­nimmt, ist zwar sehr inter­es­sant und es ist span­nend, sich das vor­zu­stel­len, aber es ist kei­ne Per­spek­ti­ve, der man als Mensch über einen län­ge­ren Zeit­raum fol­gen kann, ohne sich auf einem kom­plett frem­den, unver­ständ­li­chen Pla­ne­ten zu füh­len. Denn es ist eine Wahr­neh­mung und eine Per­spek­ti­ve, die kom­plett ande­ren Prin­zi­pi­en folgt. Der Rezi­pi­ent einer Erzäh­lung braucht aber in der Regel etwas, an dem er sich „fest­hal­ten“ kann, um sich in der Geschich­te zurecht­zu­fin­den: einen Anker, etwas Ver­trau­tes, etwas, das für sein mensch­li­ches Hirn Sinn ergibt. Aus die­sem guten Grund wer­den Per­spek­ti­ven von Tie­ren und Gegen­stän­den meis­tens ver­mensch­licht. Es wird zwar durch spe­zi­fi­sche Details ein gewis­ser Flair erzeugt, indem die Reflek­tor­fi­gur schnurrt, sich mit der Zun­ge putzt und ihren Men­schen als über­gro­ße Wär­me­fla­sche wert­schätzt, aber die­se Details sind in der Regel äußer­lich und wer­den auf emo­tio­na­ler und gedank­li­cher Ebe­ne in ein dem mensch­li­chen Ziel­pu­bli­kum ver­ständ­li­ches Para­dig­ma eingeordnet.

Über­tra­gen auf die Pro­ble­ma­tik der kind­li­chen Per­spek­ti­ve bedeu­tet das, dass man sich fra­gen soll­te, wor­auf es einem selbst eigent­lich ankommt. Man kann natür­lich ver­su­chen, die Erzäh­lung eins zu eins so zu ver­fas­sen, wie ein Kind es for­mu­lie­ren wür­de. Aber ers­tens ist das sehr schwie­rig, weil wir da mas­siv Gedächt­nis­akro­ba­tik betrei­ben müs­sen, und zwei­tens geht es doch eher dar­um, bei den Rezi­pi­en­ten eine bestimm­te emo­tio­na­le Reak­ti­on zu erzeu­gen, und dazu möch­te man auch auf raf­fi­nier­te­re Tech­ni­ken, zum Bei­spiel auf bestimm­te Stil­mit­tel, zugrei­fen. Des­we­gen wird – ähn­lich wie beim Bei­spiel mit der Kat­ze – meis­tens ein Mit­tel­weg beschrit­ten: Man benutzt durch­aus Spra­che und rhe­to­ri­sche Knif­fe, die man eher spä­ter im Leben lernt, aber man tarnt das Gan­ze hin­ter einer kind­li­chen Sti­li­sie­rung: spe­zi­fi­sche kind­li­che Wör­ter und Aus­drucks­wei­sen, spe­zi­fi­sche kind­li­che Inter­pre­ta­tio­nen und Gedan­ken­gän­ge und so weiter.

Die­se emo­tio­na­le und rhe­to­ri­sche Sti­li­sie­rung ist es mei­ner Mei­nung nach auch, was Remar­ques Dar­stel­lung des Ers­ten Welt­krie­ges ergrei­fen­der macht als die Jün­gers. Zwar habe ich vor­hin ver­mu­tet, dass es an Remar­ques bes­se­rem Zugang zu sei­nen eige­nen Gefüh­len liegt, aber das ist nur die Sub­stanz. Denn wenn man die­se Sub­stanz, die ent­spre­chen­den Gefüh­le, genau ver­steht und es ertra­gen kann, sie wie­der zu füh­len, dann fin­det man auch am ehes­ten die pas­sen­den ver­ba­len Aus­drü­cke dafür. Und die­se Aus­drü­cke sind es, die die Gefüh­le beim Leser aus­lö­sen, auch wenn sie in der Rea­li­tät nicht pas­sen: Ein Sol­dat, der sich unter Artil­le­rie­be­schuss an die Erde drückt, denkt in der Rea­li­tät zum Bei­spiel eher ans Über­le­ben (wenn er denn über­haupt denkt und nicht sei­nem Instinkt folgt). Bei Remar­que hin­ge­gen gibt es einen emo­tio­nal und rhe­to­risch auf­ge­la­de­nen Abschnitt dar­über, was die Erde für einen Sol­da­ten bedeu­tet. Es ist also eine Ver­fäl­schung der Rea­li­tät, die die rea­len Gefüh­le aber deut­li­cher rüber­bringt. Eben­so wie Poe­sie beim Rezi­pi­en­ten Gefüh­le aus­löst, obwohl die Gedicht­form im All­tag eher unna­tür­lich ist.

Schlusswort

Nun hast Du also ein paar Tipps, wie Du an feh­len­der per­sön­li­cher Erfah­rung vor­bei­schlei­chen kannst. Zum Schluss möch­te ich noch beto­nen, was ich zwi­schen­durch immer mal wie­der ange­deu­tet habe:

Alle Ansät­ze ergän­zen ein­an­der und gehö­ren des­we­gen kom­bi­niert.

Wenn Du zum Bei­spiel über eine Stadt schreibst, in der Du noch nie gewe­sen bist, kannst Du Dich zusätz­lich zu den Rei­se­füh­rern und Rei­se­be­rich­ten auch auf Dei­ne eige­nen Erfah­run­gen in einer ähn­li­chen Stadt stüt­zen. Dazu soll­test Du idea­ler­wei­se natür­lich über­prü­fen bzw. nach­re­cher­chie­ren, ob die Städ­te tat­säch­lich ver­gleich­bar sind.

Ansons­ten möch­te ich ganz beson­ders bei die­sem The­ma mein stän­di­ges Man­tra von Test­le­sern wie­der­ho­len: Beson­ders im Fall von sen­si­blen The­men soll­test Du unter ande­rem nach Test­le­sern suchen, die von der jewei­li­gen Sache betrof­fen sind. Denn wer kann Unstim­mig­kei­ten bes­ser aus­fin­dig machen als sie?

Und was schließ­lich das Hand­werk­li­che angeht, also das kon­kre­te Beschrei­ben mit Wor­ten und Stil­mit­teln, so ver­wei­se ich auf mei­ne bereits erschie­ne­nen Arti­kel über das Beschrei­ben all­ge­mein und das Beschrei­ben von Emo­tio­nen und Gefüh­len.

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