Erzählen in der ersten und dritten Person: Hetero- und homodiegetischer Erzähler

Erzählen in der ersten und dritten Person: Hetero- und homodiegetischer Erzähler

Die meis­ten Autoren und Leser unter­schei­den zwis­chen Er/Sie- und Ich-Erzäh­lern. Dabei fällt oft unter den Tisch, dass eigentlich jed­er Erzäh­ler ein “Ich” ist. Laut Gérard Genette ist die Ver­wen­dung der ersten oder drit­ten Per­son in Bezug auf die Haupt­fig­ur eine “mech­a­nis­che Kon­se­quenz” ein­er Entschei­dung für einen het­erodiegetis­chen oder homodiegetis­chen Erzäh­ler. Der let­ztere Typ hat sog­ar eine Son­der­form, näm­lich den autodiegetis­chen Erzäh­ler. In diesem Artikel schauen wir uns diese Erzähltypen genau an.

Die Folien für dieses Video gibt es für Steady-Abon­nen­ten und Kanal­mitglieder auf YouTube als PDF zum Down­load.

In Sachen Erzählper­spek­tive machen Autoren und Leser oft viel Tam­tam um Per­son­al­pronom­i­na: Man habe die Wahl zwis­chen dem “Ich-Erzäh­ler” und dem “Er/Sie-Erzäh­ler”.

Schaut man jedoch genauer hin, ist die Wahl der ersten oder drit­ten Per­son an sich eher gram­ma­tisch und rhetorisch. Die gram­ma­tis­che Per­son, die der Erzäh­ler ver­wen­det, ist nach Gérard Genette nur die “mech­a­nis­che Kon­se­quenz” der eigentlichen Wahl zwis­chen zwei nar­ra­tiv­en Ein­stel­lun­gen:

  • Der Autor kann die Geschichte von ein­er Fig­ur erzählen lassen oder
  • von einem Erzäh­ler, der in der Geschichte nicht vorkommt.

Der Hak­en ist hier: In bei­den Fällen kann der Erzäh­ler “Ich” sagen. For­mulierun­gen wie “Erzäh­lung in der ersten Per­son” und “Ich-Erzäh­ler” sind daher unpräzise.

In sein­er Erzählthe­o­rie schlägt Genette ein wesentlich durch­dachteres Mod­ell vor. Und genau das ist es, was ich in diesem Artikel präsen­tiere.

Genettes Erzähltheorie und die Kategorie der Person

Wie in den ver­gan­genen Teilen der Rei­he bere­its erläutert, unterteilt Genette die Erzählper­spek­tive in Modus und Stimme. Über den Modus und die bei­den ersten Kat­e­gorien der Stimme, näm­lich Zeit und Ebene, haben wir bere­its in den ersten drei Teilen der Rei­he gesprochen. Die Begriffe het­erodiegetis­ch­er Erzäh­ler und homodiegetis­ch­er Erzäh­ler gehören zur Kat­e­gorie der Per­son und wer­den in diesem Artikel erläutert.

Jeder Erzähler ist ein “Ich”

Jede Erzäh­lung hat einen Erzäh­ler, der sie wiedergibt. Eine Erzäh­lung entste­ht schließlich nicht von selb­st. Und grund­sät­zlich ste­ht es auch jedem Erzäh­ler frei, ob er das Wörtchen “ich” ver­wen­det oder nicht. Deswe­gen find­et jede Erzäh­lung virtuell in der ersten Per­son statt. (Zu der im Übri­gen auch der akademis­che Plur­al zählt, d.h. wenn der Erzäh­ler “wir” sagt statt “ich”.)

Um es an einem Beispiel zu demon­stri­eren:

Ich denke, wir kön­nen uns alle einig sein, dass Der Herr der Ringe von J. R. R. Tolkien in der drit­ten Per­son ver­fasst ist. Nichts­destotrotz ist der Erzäh­ler ein “Ich” — auch, wenn man das nur an ein­er einzi­gen Stelle sieht:

“Selb­st in den alten Zeit­en emp­fan­den sie in der Regel Scheu vor dem “Großen Volk”, wie sie uns nen­nen, und heute mei­den sie uns voll Schreck­en und sind nur noch schw­er zu find­en.”
J. R. R. Tolkien: Der Herr der Ringe, Die Gefährten, Ein­führung: Über Hob­bits.

Wichtig ist hier das Wörtchen “uns”, mit dem der Erzäh­ler sich selb­st und die Leser­schaft meint. Damit ist der Erzäh­ler klar ein “Ich”, obwohl er dieses Wort nie benutzt, um sich selb­st zu beze­ich­nen.

Das alles bedeutet nun:

Die Frage ist nicht, ob der Autor für seine Erzäh­lung die erste oder die dritte Per­son wählt.

Son­dern sie lautet:

“Kann der Erzäh­ler die erste Per­son ver­wen­den, um eine sein­er Fig­uren zu beze­ich­nen oder kann er es nicht?”
Gérard Genette: Die Erzäh­lung, 3. Auflage, Pader­born 2010, S. 159.

Hetero- und homodiegetischer Erzähler

Diese Kern­frage impliziert zwei Erzähltypen:

  • Der Erzäh­ler kommt in sein­er Geschichte als Fig­ur vor. Wenn er also “ich” sagt, meint er (meis­tens) diese Fig­ur.
    Genette nen­nt diesen Erzäh­ler homodiegetisch. Denn als Fig­ur ist er Teil der Diegese, d.h. der erzählten Welt.
  • Der Erzäh­ler kommt in sein­er Geschichte nicht vor. Wenn er also “ich” sagt, meint er die Erzäh­lin­stanz.
    Genette nen­nt diesen Erzäh­ler het­erodiegetisch. Denn er ist nicht Teil der Diegese.

Abstufungen des homodiegetischen Erzählers

Während ein het­erodiegetis­ch­er Erzäh­ler aber nun ein­deutig het­erodiegetisch ist, kann ein homodiegetis­ch­er Erzäh­ler in einem höheren oder niedrigeren Maß homodiegetisch sein als ein ander­er homodiegetis­ch­er Erzäh­ler.

Zum Beispiel:

In Die Schatzin­sel von Robert Louis Steven­son erzählt Jim Hawkins von seinen eige­nen Aben­teuern. Ja, der Roman ist voller Neben­fig­uren, aber Jim ist ein­deutig die Haupt­fig­ur des Romans. Er ist der “Star”, der Held der Geschichte.

In den Geschicht­en über Sher­lock Holmes von Arthur Conan Doyle ist der Detek­tiv Sher­lock Holmes der “Star” — und das “Ich” ist Dr. Wat­son, der als Zuschauer über die Aben­teuer von Sher­lock Holmes berichtet.

Damit ist der Erzäh­ler in der Schatzin­sel homodiegetis­ch­er als der Erzäh­ler in den Sher­lock Holmes-Büch­ern. Diesen höch­sten Grad des Homodiegetisch-Seins, d.h. wenn das “Ich” zugle­ich der Held der Geschichte ist, nen­nt Genette autodiegetisch.

Homodiegetischer Erzähler: “Ich” vs. “Ich”

An dieser Stelle ist aber auch auf eine weit­ere Unter­schei­dung hinzuweisen. Denn dem aufmerk­samen Beobachter wird aufge­fall­en sein, dass es beim homodiegetis­chen Erzäh­ler in Wirk­lichkeit zwei “Ichs” gibt, näm­lich:

  • Das erzäh­lende Ich, d.h. das “Erzäh­ler-Ich”, und
  • das erzählte Ich, d.h. das “Fig­ur-Ich”.

Zwis­chen den bei­den kann eine klare Gren­ze ver­laufen, aber sie kön­nen auch (schein­bar) ver­schmelzen:

Beispiel­sweise berichtet Jim Hawkins von ver­gan­genen Ereignis­sen. Damit haben wir eine klare Gren­ze zwis­chen dem erzäh­len­den Ich in der Gegen­wart und dem erzählten Ich in der Ver­gan­gen­heit:

“Da unser Gut­sherr Trelawney, Dr. Livesey und die übri­gen Her­ren mich gebeten haben, alles bis in die ger­ing­sten Einzel­heit­en über die Schatzin­sel niederzuschreiben, […]
Ich erin­nere mich an ihn, als wäre es gestern, wie er schw­er­fäl­lig zu der Tür der Schenke schritt […]”
Robert Louis Steven­son: Die Schatzin­sel, Erster Teil, Erstes Kapi­tel.

Paul Bäumer in Im West­en nichts Neues hinge­gen erzählt, was ger­ade passiert. Damit ist die Gren­ze zwis­chen dem erzäh­len­den und erzählten Ich prak­tisch unsicht­bar:

“Wir liegen neun Kilo­me­ter hin­ter der Front. Gestern wur­den wir abgelöst; jet­zt haben wir den Magen voll weißer Bohnen mit Rind­fleisch und sind satt und zufrieden.”
Erich Maria Remar­que: Im West­en nichts Neues, Kapi­tel 1.

Zu diesem The­ma habe ich übri­gens einen sep­a­rat­en Artikel.

Hetero‑, homo- und autodiegetischer Erzähler: Effekt

So viel zur The­o­rie. Aber warum wählt man nun den hetero‑, homo- oder gar autodiegetis­chen Erzäh­ler?

Über die Wirkung dieser Typen ist schwierig zu sprechen, weil sie im Zusam­men­spiel mit den anderen Fak­toren der Erzählper­spek­tive einen völ­lig unter­schiedlichen Effekt haben kön­nen.

  • Beispiel­sweise kann sich der het­erodiegetis­che Erzäh­ler deut­lich sicht­bar machen und seine Mei­n­ung zum Geschehen beis­teuern; aber er kann auch so tun, als wäre er nicht da und das Geschehen durch das Pris­ma ein­er Reflek­tor­fig­ur präsen­tieren; oder er kann sich als neu­trale Kam­era aus­geben. Die Möglichkeit­en sind äußerst vielfältig.
  • Im Gegen­satz zum het­erodiegetis­chen Erzäh­ler ist der homodiegetis­che Erzäh­ler immer sicht­bar, weil er ja eine Fig­ur in der Geschichte ist und immer expliz­it “ich” sagt. Deswe­gen ist beim homodiegetis­chen Erzäh­ler auch immer klar erkennbar, dass seine Wahrnehmung sub­jek­tiv einge­färbt ist. Iro­nis­cher­weise kann aber ger­ade der homodiegetis­che Erzäh­ler sehr glaub­würdig wirken, weil wir jeman­den vor uns haben, der behauptet, das Erzählte tat­säch­lich gese­hen oder sog­ar selb­st erlebt zu haben.
  • Der autodiegetis­che Erzäh­ler ist natür­lich der sub­jek­tivste Typ. Damit ist er ein­er­seits der unzu­ver­läs­sig­ste, weil wir die Geschichte und den Helden wirk­lich nur durch die Augen des Helden selb­st sehen; aber ander­er­seits erfahren wir seine Gedanken und Gefüh­le qua­si aus erster Hand.

Aber, wie gesagt, es hängt stark von den anderen Fak­toren der Erzählper­spek­tive ab, welche Wirkung ein hetero‑, homo- oder autodiegetis­ch­er Erzäh­ler hat. So kann ein het­erodiegetis­ch­er Erzäh­ler, der auf eine einzige Fig­ur intern fokalisiert ist, eine ähn­liche Wirkung haben wie ein autodiegetis­ch­er Erzäh­ler. Allerd­ings ist ein noch so intern fokalisiert­er het­erodiegetis­ch­er Erzäh­ler grund­sät­zlich flex­i­bler, weil er nun mal nicht Teil der erzählten Welt ist und Spiel­ereien mit der Erzählper­spek­tive hier deswe­gen weniger auf­s­toßen, während ein autodiegetis­ch­er Erzäh­ler in der Regel buch­stäblich nicht aus sein­er Haut kann.

Doch “in der Regel” bedeutet natür­lich nicht, dass solche Dinge gar nicht vorkom­men …

Wechsel des Erzähltyps

Der Wech­sel des Erzähltyps ist etwas, das meis­tens ziem­lich stark auf­fällt, den Leser möglicher­weise aus dem Lese­fluss reißt und aus diesem Grund denkbar sel­ten vorkommt. Solche Ver­stöße passieren in der Lit­er­atur aber trotz­dem.

Hierzu zählen beispiel­sweise homodiegetis­che Beobachter-Erzäh­ler die mit der Zeit in der Erzäh­lung gar nicht mehr vorkom­men, also klammheim­lich (manch­mal aber auch ganz expliz­it) zu het­erodiegetis­chen Erzäh­lern mutieren.

Nun ist bei solchen Beobachter-Erzäh­lern der Held aber immer noch ein “Er” bzw. eine “Sie”, während das “Ich” sich aus dem Staub macht. Noch krass­er ist es daher, wenn die erste und die dritte Per­son ein und dieselbe Fig­ur beze­ich­nen. — Und ja, sog­ar solche Fälle gibt es.

Ein Beispiel dafür ist die Erzäh­lung Die Narbe von Jorge Luis Borges. Hier trifft der homodiegetis­che Erzäh­ler der Rahmen­erzäh­lung einen Mann, der von allen nur “der Englän­der” genan­nt wird. Dieser “Englän­der”, der in Wirk­lichkeit ein Ire ist, hat eine ziem­lich markante Narbe im Gesicht. In ein­er Binnen­erzäh­lung erzählt der “Englän­der” dem extradiegetisch-homodiegetis­chen Erzäh­ler die Geschichte hin­ter dieser Narbe:

“In 1922, in one of the cities of Con­naught, I was one of the many young men who were con­spir­ing to win Ireland’s inde­pen­dence. […]”

Es scheint sich also um einen gewöhn­lichen intradiegetisch-autodiegetis­chen Erzäh­ler zu han­deln. Der “Englän­der” berichtet davon, wie er einem Kam­er­aden namens John Vin­cent Moon das Leben ret­tet und wie dieser Kam­er­ad sich als Fei­gling her­ausstellt und ihn später ver­rät. Daraufhin jagt er Moon durch das Haus, in dem sie sich ver­steck­en:

“Once or twice I lost him, but I man­aged to cor­ner him before the sol­diers arrest­ed me. From one of the general’s suits of armor, I seized a scim­i­tar, and with that steel cres­cent left a flour­ish on his face for­ev­er — a half-moon of blood. To you alone, Borges — you who are a stranger — I have made this con­fes­sion.”

Mit anderen Worten: Die Fig­ur, die der “Englän­der” als “ich” beze­ich­net, ist der Mann, den er ver­rat­en hat. Mit “Vin­cent Moon” oder “er” beze­ich­net er sich selb­st. Damit schlüpft hier der autodiegetis­che Erzäh­ler sehr wohl aus sein­er Haut und streift sich die Haut ein­er anderen Fig­ur über. Und am Ende kehrt er in seine Haut wieder zurück:

“I have told you the sto­ry this way so that you would hear it out. It was I who betrayed the man who saved me and gave me shel­ter — it is I who am Vin­cent Moon. Now, despise me.”

Abschließende Worte

Wie es also aussieht, lässt auch diese eher ein­fache Kat­e­gorie der Stimme ziem­lich viel Raum für Spiel­ereien. Auch wenn Genette nur zwis­chen zwei Typen unter­schei­det, bieten diese Typen eine bre­ite Palette an Möglichkeit­en. Ich denke, wir soll­ten von ihnen bewusst Gebrauch machen.

15 Kommentare

  1. Liebe Schreibtech­nikerin, danke für diesen hil­fre­ichen Artikel!!
    Für meine Bach­e­lo­rar­beit möchte ich gerne daraus zitieren. Wie kann ich dich in der Quelle angeben? und in welchem Jahr hast du diesen Artikel geschrieben?

    Ladina
    1. Wäre es nicht bess­er, direkt die Quelle, Die Erzäh­lung von Gérard Genette, zu zitieren? Ich fasse ja eigentlich nur zusam­men und außer­dem sind Inter­netquellen in Bach­e­lo­rar­beit­en meis­tens nicht gerne gese­hen.

      Wenn Du den­noch aus diesem Artikel zitieren möcht­est, hier eine hil­fre­iche Erk­lärung: https://www.scribbr.de/richtig-zitieren/internetquellen-zitieren/. Veröf­fentlicht habe ich den Text am 22.03.2019.

  2. Vie­len Dank für den inter­es­san­ten Beitrag. Ich bin jedoch ein wenig ver­wirrt bezüglich des homo- und het­erodiegetis­chen Erzäh­lers. Wenn also eine Geschichte in der 3. Per­son geschrieben wurde, ist die Erzäh­lung automa­tisch het­er­diegetisch? Bzw. ist eine Erzäh­lung nur dann homodiegetisch, wenn sie in der 1. Per­son geschrieben wurde?

    Noah
    1. Danke fürs Kom­pli­ment!

      Die erste oder dritte Per­son ist nicht direkt an die Kat­e­gorien het­ero- und homodiegetisch gekop­pelt. Meis­tens — ja, der het­erodiegetis­che Erzäh­ler sagt “er/sie/es”, der homodiegetis­che “ich”. Die Sache ist jedoch: Jed­er Erzäh­ler ist eigentlich ein Ich. Die Frage ist nur, wo er sich befind­et: Inner­halb der erzählen Welt oder außer­halb? Der Erzäh­ler im Her­rn der Ringe ist zum Beispiel dur­chaus ein Ich, weil er im Vor­wort von “uns”, dem “großen Volk”, spricht — und ein “wir” bein­hal­tet eben auch ein “ich”. Den­noch ist die Erzäh­lung het­erodiegetisch, weil der Erzäh­ler, der sich als Her­aus­ge­ber alter Schriften insze­niert, nicht Teil der erzählten Welt ist.

  3. Vie­len Dank für den Beitrag! Und ich habe Fra­gen zu dem Teil “Homodiegetis­ch­er Erzäh­ler: ‘Ich’ vs. ‘Ich’ ”: Der Unter­schied zwis­chen dem homo- und het­erodiegetis­chen Erzäh­ler beste­ht ja darin, ob sich der Erzäh­ler in der Diegese bzw. in der erzählten Welt befind­et. Gehört der Ich-Erzäh­ler also noch zu der erzählten Welt, wenn er aus sein­er Erin­nerung erzählt bzw. sich als auk­to­ri­aler Ich-Erzäh­ler ver­hält? Ist dieser Ich-Erzäh­ler vielmehr ein het­erodiegetis­ch­er Erzäh­ler?

    Und ana­log dazu: Ist der Er-Erzäh­ler in ein­er Erzäh­lung homodiegetisch, wenn er die per­son­ale Per­spek­tive nimmt bzw. eine Fig­ur in der erzählten Welt ist (z. B. K. in Kafkas “Prozess”)?

    Ziyun Huang
    1. Kennst Du meinen Artikel über die Fokalisierung? Das einzige Kri­teri­um für den het­ero- oder homodiegetis­chen Charak­ter des Erzäh­lers ist die Frage, ob er sich in der erzählten Welt befind­et oder nicht. Ein Erzäh­ler, der von seinen ver­gan­genen Erleb­nis­sen erzählt, kommt als Fig­ur in der erzählten Welt vor, ist also homodiegetisch. Wenn er sich dabei aber “auk­to­r­i­al” bzw. “all­wis­send” ver­hält, dann han­delt es sich um eine Null­fokalisierung. Das, was Du beschreib­st, ist somit ein homodiegetis­ch­er, null­fokalisiert­er Erzäh­ler. Ana­log dazu hat ein het­erodiegetis­ch­er Erzäh­ler wie in Kafkas Prozess eine interne Fokalisierung.
      Hier der Link zum Artikel über die Fokalisierung: https://die-schreibtechnikerin.de/literaturwissenschaft-definitionen-modelle/erzaehltheorie/genettes-erzaehltheorie/fokalisierung-erklaerung-mit-beispielen/.

  4. Vie­len Dank für diesen Artikel!
    Wie allerd­ings ist der Icherzäh­ler aus HOLZFÄLLEN von Thomas Bern­hard zu sehen?
    Man hat das Gefühl, all das sind Erleb­nisse und Gedanken allein von Thomas Berhard.
    Möchte man eine Strich­fas­sung als Lesung anbi­eten, habe ich ein Prob­lem damit, mich
    frei beliebi­gen Emo­tio­nen hizugeben, gewisse Texte emo­tion­al zu unter­malen.
    Ich hätte damit kein Prob­lem, wenn der Icherzäh­ler eine vom Autor erfun­dene Fig­ur ist.
    Da ich aber das Gefühl habe, der Icherzäh­ler ist Thomas Bern­hard sel­ber, er beschreibt seine Erleb­nisse gepaart mit seinen Gedanken und Gefühen, habe ich bei dur­chaus gerecht­fer­tigten emo­tionalen Aus­büchen das bek­lem­mende Gefühl, ich würde mir anmaßen, Thomas Bern­hard diese meine Emo­tio­nen zu unter­stellen.
    Aber eine Lesung “ohne Emo­tio­nen” würde ich bleiben lassen.
    Bei ein­er Lesung “mit Emo­tio­nen” habe ich eben diese möglicher­weise berechtigten
    oben beschriebe­nen Anmaßungs­ge­füh­le, die mich an mein­er “freien Emo­tion” hin­dern.
    Könne Sie mir bitte dazu einige hil­fre­iche Gedanken liefern?

    Erich Thomas
    1. Manch­mal hil­ft es, die Sache aus ein­er anderen Per­spek­tive oder sog­ar in einem anderen Kon­text zu betra­cht­en: Oft sin­gen Sänger Lieder, die nicht sie selb­st geschrieben haben. Irgend­je­mand anders hat die Lyrics gedichtet und irgend­je­mand anders hat die Musik geschrieben. Wenn der Sänger dieses Lied aber trotz­dem singt, so maßt er sich nicht an, dem Dichter und dem Kom­pon­is­ten Emo­tio­nen zu unter­stellen, son­dern er fungiert als sog. Inter­pret – weil er eben inter­pretiert und das Lied so singt, wie er es ver­ste­ht. Zweifel­los gibt er dem Text und der Melodie durch seinen Gesang aber auch seine eigene, indi­vidu­elle Note.

      Ich denke, bei ein­er Lesung wäre das ähn­lich: Es wäre Ihre Inter­pre­ta­tion. Ob die im Text geschilderten Erleb­nisse und Gefüh­le tat­säch­lich von Thomas Bern­hard sind oder nicht, kön­nen Sie nicht wis­sen, son­dern nur ver­muten. Bzw. eben inter­pretieren. Also ste­hen Sie doch ruhig zu Ihrer Rolle als Inter­pret und lesen Sie den Text so, wie sie ihn eben inter­pretieren. Das ist schließlich auch eine Kun­st­form für sich.

  5. Ich habe zufäl­lig ein Buch gekauft: Ein­führung in das Werk Thomas Manns darin schreibt Frau Schöll über het­ero- homo- und autodi­genetis­che Erzäh­lungsweise. Die Worte musste ich erst googeln, aber das The­ma ist richtig span­nend! N. B. Ich bin Herzchirurg🥴

    Dr. Zeplin Harald

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert