Die meisten Autoren und Leser unterscheiden zwischen Er/Sie- und Ich-Erzählern. Dabei fällt oft unter den Tisch, dass eigentlich jeder Erzähler ein „Ich“ ist. Laut Gérard Genette ist die Verwendung der ersten oder dritten Person in Bezug auf die Hauptfigur eine „mechanische Konsequenz“ einer Entscheidung für einen heterodiegetischen oder homodiegetischen Erzähler. Der letztere Typ hat sogar eine Sonderform, nämlich den autodiegetischen Erzähler. In diesem Artikel schauen wir uns diese Erzähltypen genau an.
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In Sachen Erzählperspektive machen Autoren und Leser oft viel Tamtam um Personalpronomina: Man habe die Wahl zwischen dem „Ich-Erzähler“ und dem „Er/Sie-Erzähler“.
Schaut man jedoch genauer hin, ist die Wahl der ersten oder dritten Person an sich eher grammatisch und rhetorisch. Die grammatische Person, die der Erzähler verwendet, ist nach Gérard Genette nur die „mechanische Konsequenz“ der eigentlichen Wahl zwischen zwei narrativen Einstellungen:
- Der Autor kann die Geschichte von einer Figur erzählen lassen oder
- von einem Erzähler, der in der Geschichte nicht vorkommt.
Der Haken ist hier: In beiden Fällen kann der Erzähler „Ich“ sagen. Formulierungen wie „Erzählung in der ersten Person“ und „Ich-Erzähler“ sind daher unpräzise.
In seiner Erzähltheorie schlägt Genette ein wesentlich durchdachteres Modell vor. Und genau das ist es, was ich in diesem Artikel präsentiere.
Genettes Erzähltheorie und die Kategorie der Person
Wie in den vergangenen Teilen der Reihe bereits erläutert, unterteilt Genette die Erzählperspektive in Modus und Stimme. Über den Modus und die beiden ersten Kategorien der Stimme, nämlich Zeit und Ebene, haben wir bereits in den ersten drei Teilen der Reihe gesprochen. Die Begriffe heterodiegetischer Erzähler und homodiegetischer Erzähler gehören zur Kategorie der Person und werden in diesem Artikel erläutert.
Jeder Erzähler ist ein „Ich“
Jede Erzählung hat einen Erzähler, der sie wiedergibt. Eine Erzählung entsteht schließlich nicht von selbst. Und grundsätzlich steht es auch jedem Erzähler frei, ob er das Wörtchen „ich“ verwendet oder nicht. Deswegen findet jede Erzählung virtuell in der ersten Person statt. (Zu der im Übrigen auch der akademische Plural zählt, d.h. wenn der Erzähler „wir“ sagt statt „ich“.)
Um es an einem Beispiel zu demonstrieren:
Ich denke, wir können uns alle einig sein, dass Der Herr der Ringe von J. R. R. Tolkien in der dritten Person verfasst ist. Nichtsdestotrotz ist der Erzähler ein „Ich“ – auch, wenn man das nur an einer einzigen Stelle sieht:
„Selbst in den alten Zeiten empfanden sie in der Regel Scheu vor dem „Großen Volk“, wie sie uns nennen, und heute meiden sie uns voll Schrecken und sind nur noch schwer zu finden.“
J. R. R. Tolkien: Der Herr der Ringe, Die Gefährten, Einführung: Über Hobbits.
Wichtig ist hier das Wörtchen „uns“, mit dem der Erzähler sich selbst und die Leserschaft meint. Damit ist der Erzähler klar ein „Ich“, obwohl er dieses Wort nie benutzt, um sich selbst zu bezeichnen.
Das alles bedeutet nun:
Die Frage ist nicht, ob der Autor für seine Erzählung die erste oder die dritte Person wählt.
Sondern sie lautet:
„Kann der Erzähler die erste Person verwenden, um eine seiner Figuren zu bezeichnen oder kann er es nicht?“
Gérard Genette: Die Erzählung, 3. Auflage, Paderborn 2010, S. 159.
Hetero- und homodiegetischer Erzähler
Diese Kernfrage impliziert zwei Erzähltypen:
- Der Erzähler kommt in seiner Geschichte als Figur vor. Wenn er also „ich“ sagt, meint er (meistens) diese Figur.
Genette nennt diesen Erzähler homodiegetisch. Denn als Figur ist er Teil der Diegese, d.h. der erzählten Welt. - Der Erzähler kommt in seiner Geschichte nicht vor. Wenn er also „ich“ sagt, meint er die Erzählinstanz.
Genette nennt diesen Erzähler heterodiegetisch. Denn er ist nicht Teil der Diegese.
Abstufungen des homodiegetischen Erzählers
Während ein heterodiegetischer Erzähler aber nun eindeutig heterodiegetisch ist, kann ein homodiegetischer Erzähler in einem höheren oder niedrigeren Maß homodiegetisch sein als ein anderer homodiegetischer Erzähler.
Zum Beispiel:
In Die Schatzinsel von Robert Louis Stevenson erzählt Jim Hawkins von seinen eigenen Abenteuern. Ja, der Roman ist voller Nebenfiguren, aber Jim ist eindeutig die Hauptfigur des Romans. Er ist der „Star“, der Held der Geschichte.
In den Geschichten über Sherlock Holmes von Arthur Conan Doyle ist der Detektiv Sherlock Holmes der „Star“ – und das „Ich“ ist Dr. Watson, der als Zuschauer über die Abenteuer von Sherlock Holmes berichtet.
Damit ist der Erzähler in der Schatzinsel homodiegetischer als der Erzähler in den Sherlock Holmes-Büchern. Diesen höchsten Grad des Homodiegetisch-Seins, d.h. wenn das „Ich“ zugleich der Held der Geschichte ist, nennt Genette autodiegetisch.
Homodiegetischer Erzähler: „Ich“ vs. „Ich“
An dieser Stelle ist aber auch auf eine weitere Unterscheidung hinzuweisen. Denn dem aufmerksamen Beobachter wird aufgefallen sein, dass es beim homodiegetischen Erzähler in Wirklichkeit zwei „Ichs“ gibt, nämlich:
- Das erzählende Ich, d.h. das „Erzähler-Ich“, und
- das erzählte Ich, d.h. das „Figur-Ich“.
Zwischen den beiden kann eine klare Grenze verlaufen, aber sie können auch (scheinbar) verschmelzen:
Beispielsweise berichtet Jim Hawkins von vergangenen Ereignissen. Damit haben wir eine klare Grenze zwischen dem erzählenden Ich in der Gegenwart und dem erzählten Ich in der Vergangenheit:
„Da unser Gutsherr Trelawney, Dr. Livesey und die übrigen Herren mich gebeten haben, alles bis in die geringsten Einzelheiten über die Schatzinsel niederzuschreiben, […]
Ich erinnere mich an ihn, als wäre es gestern, wie er schwerfällig zu der Tür der Schenke schritt […]“
Robert Louis Stevenson: Die Schatzinsel, Erster Teil, Erstes Kapitel.
Paul Bäumer in Im Westen nichts Neues hingegen erzählt, was gerade passiert. Damit ist die Grenze zwischen dem erzählenden und erzählten Ich praktisch unsichtbar:
„Wir liegen neun Kilometer hinter der Front. Gestern wurden wir abgelöst; jetzt haben wir den Magen voll weißer Bohnen mit Rindfleisch und sind satt und zufrieden.“
Erich Maria Remarque: Im Westen nichts Neues, Kapitel 1.
Zu diesem Thema habe ich übrigens einen separaten Artikel.
Hetero‑, homo- und autodiegetischer Erzähler: Effekt
So viel zur Theorie. Aber warum wählt man nun den hetero‑, homo- oder gar autodiegetischen Erzähler?
Über die Wirkung dieser Typen ist schwierig zu sprechen, weil sie im Zusammenspiel mit den anderen Faktoren der Erzählperspektive einen völlig unterschiedlichen Effekt haben können.
- Beispielsweise kann sich der heterodiegetische Erzähler deutlich sichtbar machen und seine Meinung zum Geschehen beisteuern; aber er kann auch so tun, als wäre er nicht da und das Geschehen durch das Prisma einer Reflektorfigur präsentieren; oder er kann sich als neutrale Kamera ausgeben. Die Möglichkeiten sind äußerst vielfältig.
- Im Gegensatz zum heterodiegetischen Erzähler ist der homodiegetische Erzähler immer sichtbar, weil er ja eine Figur in der Geschichte ist und immer explizit „ich“ sagt. Deswegen ist beim homodiegetischen Erzähler auch immer klar erkennbar, dass seine Wahrnehmung subjektiv eingefärbt ist. Ironischerweise kann aber gerade der homodiegetische Erzähler sehr glaubwürdig wirken, weil wir jemanden vor uns haben, der behauptet, das Erzählte tatsächlich gesehen oder sogar selbst erlebt zu haben.
- Der autodiegetische Erzähler ist natürlich der subjektivste Typ. Damit ist er einerseits der unzuverlässigste, weil wir die Geschichte und den Helden wirklich nur durch die Augen des Helden selbst sehen; aber andererseits erfahren wir seine Gedanken und Gefühle quasi aus erster Hand.
Aber, wie gesagt, es hängt stark von den anderen Faktoren der Erzählperspektive ab, welche Wirkung ein hetero‑, homo- oder autodiegetischer Erzähler hat. So kann ein heterodiegetischer Erzähler, der auf eine einzige Figur intern fokalisiert ist, eine ähnliche Wirkung haben wie ein autodiegetischer Erzähler. Allerdings ist ein noch so intern fokalisierter heterodiegetischer Erzähler grundsätzlich flexibler, weil er nun mal nicht Teil der erzählten Welt ist und Spielereien mit der Erzählperspektive hier deswegen weniger aufstoßen, während ein autodiegetischer Erzähler in der Regel buchstäblich nicht aus seiner Haut kann.
Doch „in der Regel“ bedeutet natürlich nicht, dass solche Dinge gar nicht vorkommen …
Wechsel des Erzähltyps
Der Wechsel des Erzähltyps ist etwas, das meistens ziemlich stark auffällt, den Leser möglicherweise aus dem Lesefluss reißt und aus diesem Grund denkbar selten vorkommt. Solche Verstöße passieren in der Literatur aber trotzdem.
Hierzu zählen beispielsweise homodiegetische Beobachter-Erzähler die mit der Zeit in der Erzählung gar nicht mehr vorkommen, also klammheimlich (manchmal aber auch ganz explizit) zu heterodiegetischen Erzählern mutieren.
Nun ist bei solchen Beobachter-Erzählern der Held aber immer noch ein „Er“ bzw. eine „Sie“, während das „Ich“ sich aus dem Staub macht. Noch krasser ist es daher, wenn die erste und die dritte Person ein und dieselbe Figur bezeichnen. – Und ja, sogar solche Fälle gibt es.
Ein Beispiel dafür ist die Erzählung Die Narbe von Jorge Luis Borges. Hier trifft der homodiegetische Erzähler der Rahmenerzählung einen Mann, der von allen nur „der Engländer“ genannt wird. Dieser „Engländer“, der in Wirklichkeit ein Ire ist, hat eine ziemlich markante Narbe im Gesicht. In einer Binnenerzählung erzählt der „Engländer“ dem extradiegetisch-homodiegetischen Erzähler die Geschichte hinter dieser Narbe:
„In 1922, in one of the cities of Connaught, I was one of the many young men who were conspiring to win Ireland’s independence. […]“
Es scheint sich also um einen gewöhnlichen intradiegetisch-autodiegetischen Erzähler zu handeln. Der „Engländer“ berichtet davon, wie er einem Kameraden namens John Vincent Moon das Leben rettet und wie dieser Kamerad sich als Feigling herausstellt und ihn später verrät. Daraufhin jagt er Moon durch das Haus, in dem sie sich verstecken:
„Once or twice I lost him, but I managed to corner him before the soldiers arrested me. From one of the general’s suits of armor, I seized a scimitar, and with that steel crescent left a flourish on his face forever — a half-moon of blood. To you alone, Borges — you who are a stranger — I have made this confession.“
Mit anderen Worten: Die Figur, die der „Engländer“ als „ich“ bezeichnet, ist der Mann, den er verraten hat. Mit „Vincent Moon“ oder „er“ bezeichnet er sich selbst. Damit schlüpft hier der autodiegetische Erzähler sehr wohl aus seiner Haut und streift sich die Haut einer anderen Figur über. Und am Ende kehrt er in seine Haut wieder zurück:
„I have told you the story this way so that you would hear it out. It was I who betrayed the man who saved me and gave me shelter — it is I who am Vincent Moon. Now, despise me.“
Abschließende Worte
Wie es also aussieht, lässt auch diese eher einfache Kategorie der Stimme ziemlich viel Raum für Spielereien. Auch wenn Genette nur zwischen zwei Typen unterscheidet, bieten diese Typen eine breite Palette an Möglichkeiten. Ich denke, wir sollten von ihnen bewusst Gebrauch machen.
Vielen tausend Dank für diese sehr verständliche Erklärung!!! 😀
Es freut mich, dass die Erklärung verständlich geworden ist. Ich habe sie gerne gemacht. 🙂
Liebe Schreibtechnikerin, danke für diesen hilfreichen Artikel!!
Für meine Bachelorarbeit möchte ich gerne daraus zitieren. Wie kann ich dich in der Quelle angeben? und in welchem Jahr hast du diesen Artikel geschrieben?
Wäre es nicht besser, direkt die Quelle, Die Erzählung von Gérard Genette, zu zitieren? Ich fasse ja eigentlich nur zusammen und außerdem sind Internetquellen in Bachelorarbeiten meistens nicht gerne gesehen.
Wenn Du dennoch aus diesem Artikel zitieren möchtest, hier eine hilfreiche Erklärung: https://www.scribbr.de/richtig-zitieren/internetquellen-zitieren/. Veröffentlicht habe ich den Text am 22.03.2019.
Vielen Dank! Sehr einleuchtend!
Vielen Dank fürs Lob! 😊
Vielen Dank für den interessanten Beitrag. Ich bin jedoch ein wenig verwirrt bezüglich des homo- und heterodiegetischen Erzählers. Wenn also eine Geschichte in der 3. Person geschrieben wurde, ist die Erzählung automatisch heterdiegetisch? Bzw. ist eine Erzählung nur dann homodiegetisch, wenn sie in der 1. Person geschrieben wurde?
Danke fürs Kompliment!
Die erste oder dritte Person ist nicht direkt an die Kategorien hetero- und homodiegetisch gekoppelt. Meistens – ja, der heterodiegetische Erzähler sagt „er/sie/es“, der homodiegetische „ich“. Die Sache ist jedoch: Jeder Erzähler ist eigentlich ein Ich. Die Frage ist nur, wo er sich befindet: Innerhalb der erzählen Welt oder außerhalb? Der Erzähler im Herrn der Ringe ist zum Beispiel durchaus ein Ich, weil er im Vorwort von „uns“, dem „großen Volk“, spricht – und ein „wir“ beinhaltet eben auch ein „ich“. Dennoch ist die Erzählung heterodiegetisch, weil der Erzähler, der sich als Herausgeber alter Schriften inszeniert, nicht Teil der erzählten Welt ist.
Vielen Dank für den Beitrag! Und ich habe Fragen zu dem Teil „Homodiegetischer Erzähler: ‚Ich‘ vs. ‚Ich‘ “: Der Unterschied zwischen dem homo- und heterodiegetischen Erzähler besteht ja darin, ob sich der Erzähler in der Diegese bzw. in der erzählten Welt befindet. Gehört der Ich-Erzähler also noch zu der erzählten Welt, wenn er aus seiner Erinnerung erzählt bzw. sich als auktorialer Ich-Erzähler verhält? Ist dieser Ich-Erzähler vielmehr ein heterodiegetischer Erzähler?
Und analog dazu: Ist der Er-Erzähler in einer Erzählung homodiegetisch, wenn er die personale Perspektive nimmt bzw. eine Figur in der erzählten Welt ist (z. B. K. in Kafkas „Prozess“)?
Kennst Du meinen Artikel über die Fokalisierung? Das einzige Kriterium für den hetero- oder homodiegetischen Charakter des Erzählers ist die Frage, ob er sich in der erzählten Welt befindet oder nicht. Ein Erzähler, der von seinen vergangenen Erlebnissen erzählt, kommt als Figur in der erzählten Welt vor, ist also homodiegetisch. Wenn er sich dabei aber „auktorial“ bzw. „allwissend“ verhält, dann handelt es sich um eine Nullfokalisierung. Das, was Du beschreibst, ist somit ein homodiegetischer, nullfokalisierter Erzähler. Analog dazu hat ein heterodiegetischer Erzähler wie in Kafkas Prozess eine interne Fokalisierung.
Hier der Link zum Artikel über die Fokalisierung: https://die-schreibtechnikerin.de/literaturwissenschaft-definitionen-modelle/erzaehltheorie/genettes-erzaehltheorie/fokalisierung-erklaerung-mit-beispielen/.
Alles klar, Vielen Dank!
Vielen Dank für diesen Artikel!
Wie allerdings ist der Icherzähler aus HOLZFÄLLEN von Thomas Bernhard zu sehen?
Man hat das Gefühl, all das sind Erlebnisse und Gedanken allein von Thomas Berhard.
Möchte man eine Strichfassung als Lesung anbieten, habe ich ein Problem damit, mich
frei beliebigen Emotionen hizugeben, gewisse Texte emotional zu untermalen.
Ich hätte damit kein Problem, wenn der Icherzähler eine vom Autor erfundene Figur ist.
Da ich aber das Gefühl habe, der Icherzähler ist Thomas Bernhard selber, er beschreibt seine Erlebnisse gepaart mit seinen Gedanken und Gefühen, habe ich bei durchaus gerechtfertigten emotionalen Ausbüchen das beklemmende Gefühl, ich würde mir anmaßen, Thomas Bernhard diese meine Emotionen zu unterstellen.
Aber eine Lesung „ohne Emotionen“ würde ich bleiben lassen.
Bei einer Lesung „mit Emotionen“ habe ich eben diese möglicherweise berechtigten
oben beschriebenen Anmaßungsgefühle, die mich an meiner „freien Emotion“ hindern.
Könne Sie mir bitte dazu einige hilfreiche Gedanken liefern?
Manchmal hilft es, die Sache aus einer anderen Perspektive oder sogar in einem anderen Kontext zu betrachten: Oft singen Sänger Lieder, die nicht sie selbst geschrieben haben. Irgendjemand anders hat die Lyrics gedichtet und irgendjemand anders hat die Musik geschrieben. Wenn der Sänger dieses Lied aber trotzdem singt, so maßt er sich nicht an, dem Dichter und dem Komponisten Emotionen zu unterstellen, sondern er fungiert als sog. Interpret – weil er eben interpretiert und das Lied so singt, wie er es versteht. Zweifellos gibt er dem Text und der Melodie durch seinen Gesang aber auch seine eigene, individuelle Note.
Ich denke, bei einer Lesung wäre das ähnlich: Es wäre Ihre Interpretation. Ob die im Text geschilderten Erlebnisse und Gefühle tatsächlich von Thomas Bernhard sind oder nicht, können Sie nicht wissen, sondern nur vermuten. Bzw. eben interpretieren. Also stehen Sie doch ruhig zu Ihrer Rolle als Interpret und lesen Sie den Text so, wie sie ihn eben interpretieren. Das ist schließlich auch eine Kunstform für sich.