Erzählen in der ersten und dritten Person: Hetero- und homodiegetischer Erzähler

Erzählen in der ersten und dritten Person: Hetero- und homodiegetischer Erzähler

Die meis­ten Autoren und Leser unter­schei­den zwi­schen Er/­Sie- und Ich-Erzäh­lern. Dabei fällt oft unter den Tisch, dass eigent­lich jeder Erzäh­ler ein „Ich“ ist. Laut Gérard Genet­te ist die Ver­wen­dung der ers­ten oder drit­ten Per­son in Bezug auf die Haupt­fi­gur eine „mecha­ni­sche Kon­se­quenz“ einer Ent­schei­dung für einen hete­ro­die­ge­ti­schen oder homo­die­ge­ti­schen Erzäh­ler. Der letz­te­re Typ hat sogar eine Son­der­form, näm­lich den auto­die­ge­ti­schen Erzäh­ler. In die­sem Arti­kel schau­en wir uns die­se Erzähl­ty­pen genau an.

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In Sachen Erzähl­per­spek­ti­ve machen Autoren und Leser oft viel Tam­tam um Per­so­nal­pro­no­mi­na: Man habe die Wahl zwi­schen dem „Ich-Erzäh­ler“ und dem „Er/­Sie-Erzäh­ler“.

Schaut man jedoch genau­er hin, ist die Wahl der ers­ten oder drit­ten Per­son an sich eher gram­ma­tisch und rhe­to­risch. Die gram­ma­ti­sche Per­son, die der Erzäh­ler ver­wen­det, ist nach Gérard Genet­te nur die „mecha­ni­sche Kon­se­quenz“ der eigent­li­chen Wahl zwi­schen zwei nar­ra­ti­ven Einstellungen:

  • Der Autor kann die Geschich­te von einer Figur erzäh­len las­sen oder
  • von einem Erzäh­ler, der in der Geschich­te nicht vor­kommt.

Der Haken ist hier: In bei­den Fäl­len kann der Erzäh­ler „Ich“ sagen. For­mu­lie­run­gen wie „Erzäh­lung in der ers­ten Per­son“ und „Ich-Erzäh­ler“ sind daher unpräzise.

In sei­ner Erzähl­theo­rie schlägt Genet­te ein wesent­lich durch­dach­te­res Modell vor. Und genau das ist es, was ich in die­sem Arti­kel präsentiere.

Genettes Erzähltheorie und die Kategorie der Person

Wie in den ver­gan­ge­nen Tei­len der Rei­he bereits erläu­tert, unter­teilt Genet­te die Erzähl­per­spek­ti­ve in Modus und Stim­me. Über den Modus und die bei­den ers­ten Kate­go­rien der Stim­me, näm­lich Zeit und Ebe­ne, haben wir bereits in den ers­ten drei Tei­len der Rei­he gespro­chen. Die Begrif­fe hete­ro­die­ge­ti­scher Erzäh­ler und homo­die­ge­ti­scher Erzäh­ler gehö­ren zur Kate­go­rie der Per­son und wer­den in die­sem Arti­kel erläutert.

Jeder Erzähler ist ein „Ich“

Jede Erzäh­lung hat einen Erzäh­ler, der sie wie­der­gibt. Eine Erzäh­lung ent­steht schließ­lich nicht von selbst. Und grund­sätz­lich steht es auch jedem Erzäh­ler frei, ob er das Wört­chen „ich“ ver­wen­det oder nicht. Des­we­gen fin­det jede Erzäh­lung vir­tu­ell in der ers­ten Per­son statt. (Zu der im Übri­gen auch der aka­de­mi­sche Plu­ral zählt, d.h. wenn der Erzäh­ler „wir“ sagt statt „ich“.)

Um es an einem Bei­spiel zu demonstrieren:

Ich den­ke, wir kön­nen uns alle einig sein, dass Der Herr der Rin­ge von J. R. R. Tol­ki­en in der drit­ten Per­son ver­fasst ist. Nichts­des­to­trotz ist der Erzäh­ler ein „Ich“ – auch, wenn man das nur an einer ein­zi­gen Stel­le sieht:

„Selbst in den alten Zei­ten emp­fan­den sie in der Regel Scheu vor dem „Gro­ßen Volk“, wie sie uns nen­nen, und heu­te mei­den sie uns voll Schre­cken und sind nur noch schwer zu finden.“
J. R. R. Tol­ki­en: Der Herr der Rin­ge, Die Gefähr­ten, Ein­füh­rung: Über Hob­bits.

Wich­tig ist hier das Wört­chen „uns“, mit dem der Erzäh­ler sich selbst und die Leser­schaft meint. Damit ist der Erzäh­ler klar ein „Ich“, obwohl er die­ses Wort nie benutzt, um sich selbst zu bezeichnen.

Das alles bedeu­tet nun:

Die Fra­ge ist nicht, ob der Autor für sei­ne Erzäh­lung die ers­te oder die drit­te Per­son wählt.

Son­dern sie lautet:

„Kann der Erzäh­ler die ers­te Per­son ver­wen­den, um eine sei­ner Figu­ren zu bezeich­nen oder kann er es nicht?“
Gérard Genet­te: Die Erzäh­lung, 3. Auf­la­ge, Pader­born 2010, S. 159.

Hetero- und homodiegetischer Erzähler

Die­se Kern­fra­ge impli­ziert zwei Erzähltypen:

  • Der Erzäh­ler kommt in sei­ner Geschich­te als Figur vor. Wenn er also „ich“ sagt, meint er (meis­tens) die­se Figur.
    Genet­te nennt die­sen Erzäh­ler homo­die­ge­tisch. Denn als Figur ist er Teil der Die­ge­se, d.h. der erzähl­ten Welt.
  • Der Erzäh­ler kommt in sei­ner Geschich­te nicht vor. Wenn er also „ich“ sagt, meint er die Erzählinstanz.
    Genet­te nennt die­sen Erzäh­ler hete­ro­die­ge­tisch. Denn er ist nicht Teil der Diegese.

Abstufungen des homodiegetischen Erzählers

Wäh­rend ein hete­ro­die­ge­ti­scher Erzäh­ler aber nun ein­deu­tig hete­ro­die­ge­tisch ist, kann ein homo­die­ge­ti­scher Erzäh­ler in einem höhe­ren oder nied­ri­ge­ren Maß homo­die­ge­tisch sein als ein ande­rer homo­die­ge­ti­scher Erzähler.

Zum Bei­spiel:

In Die Schatz­in­sel von Robert Lou­is Ste­ven­son erzählt Jim Haw­kins von sei­nen eige­nen Aben­teu­ern. Ja, der Roman ist vol­ler Neben­fi­gu­ren, aber Jim ist ein­deu­tig die Haupt­fi­gur des Romans. Er ist der „Star“, der Held der Geschichte.

In den Geschich­ten über Sher­lock Hol­mes von Arthur Conan Doyle ist der Detek­tiv Sher­lock Hol­mes der „Star“ – und das „Ich“ ist Dr. Wat­son, der als Zuschau­er über die Aben­teu­er von Sher­lock Hol­mes berichtet.

Damit ist der Erzäh­ler in der Schatz­in­sel homo­die­ge­ti­scher als der Erzäh­ler in den Sher­lock Hol­mes-Büchern. Die­sen höchs­ten Grad des Homo­die­ge­tisch-Seins, d.h. wenn das „Ich“ zugleich der Held der Geschich­te ist, nennt Genet­te auto­die­ge­tisch.

Homodiegetischer Erzähler: „Ich“ vs. „Ich“

An die­ser Stel­le ist aber auch auf eine wei­te­re Unter­schei­dung hin­zu­wei­sen. Denn dem auf­merk­sa­men Beob­ach­ter wird auf­ge­fal­len sein, dass es beim homo­die­ge­ti­schen Erzäh­ler in Wirk­lich­keit zwei „Ichs“ gibt, näm­lich:

  • Das erzäh­len­de Ich, d.h. das „Erzäh­ler-Ich“, und
  • das erzähl­te Ich, d.h. das „Figur-Ich“.

Zwi­schen den bei­den kann eine kla­re Gren­ze ver­lau­fen, aber sie kön­nen auch (schein­bar) verschmelzen:

Bei­spiels­wei­se berich­tet Jim Haw­kins von ver­gan­ge­nen Ereig­nis­sen. Damit haben wir eine kla­re Gren­ze zwi­schen dem erzäh­len­den Ich in der Gegen­wart und dem erzähl­ten Ich in der Vergangenheit:

„Da unser Guts­herr Tre­law­ney, Dr. Live­sey und die übri­gen Her­ren mich gebe­ten haben, alles bis in die gerings­ten Ein­zel­hei­ten über die Schatz­in­sel niederzuschreiben, […]
Ich erin­ne­re mich an ihn, als wäre es ges­tern, wie er schwer­fäl­lig zu der Tür der Schen­ke schritt […]“
Robert Lou­is Ste­ven­son: Die Schatz­in­sel, Ers­ter Teil, Ers­tes Kapitel.

Paul Bäu­mer in Im Wes­ten nichts Neu­es hin­ge­gen erzählt, was gera­de pas­siert. Damit ist die Gren­ze zwi­schen dem erzäh­len­den und erzähl­ten Ich prak­tisch unsichtbar:

„Wir lie­gen neun Kilo­me­ter hin­ter der Front. Ges­tern wur­den wir abge­löst; jetzt haben wir den Magen voll wei­ßer Boh­nen mit Rind­fleisch und sind satt und zufrieden.“
Erich Maria Remar­que: Im Wes­ten nichts Neu­es, Kapi­tel 1.

Zu die­sem The­ma habe ich übri­gens einen sepa­ra­ten Arti­kel.

Hetero‑, homo- und autodiegetischer Erzähler: Effekt

So viel zur Theo­rie. Aber war­um wählt man nun den hetero‑, homo- oder gar auto­die­ge­ti­schen Erzähler?

Über die Wir­kung die­ser Typen ist schwie­rig zu spre­chen, weil sie im Zusam­men­spiel mit den ande­ren Fak­to­ren der Erzähl­per­spek­ti­ve einen völ­lig unter­schied­li­chen Effekt haben können.

  • Bei­spiels­wei­se kann sich der hete­ro­die­ge­ti­sche Erzäh­ler deut­lich sicht­bar machen und sei­ne Mei­nung zum Gesche­hen bei­steu­ern; aber er kann auch so tun, als wäre er nicht da und das Gesche­hen durch das Pris­ma einer Reflek­tor­fi­gur prä­sen­tie­ren; oder er kann sich als neu­tra­le Kame­ra aus­ge­ben. Die Mög­lich­kei­ten sind äußerst vielfältig.
  • Im Gegen­satz zum hete­ro­die­ge­ti­schen Erzäh­ler ist der homo­die­ge­ti­sche Erzäh­ler immer sicht­bar, weil er ja eine Figur in der Geschich­te ist und immer expli­zit „ich“ sagt. Des­we­gen ist beim homo­die­ge­ti­schen Erzäh­ler auch immer klar erkenn­bar, dass sei­ne Wahr­neh­mung sub­jek­tiv ein­ge­färbt ist. Iro­ni­scher­wei­se kann aber gera­de der homo­die­ge­ti­sche Erzäh­ler sehr glaub­wür­dig wir­ken, weil wir jeman­den vor uns haben, der behaup­tet, das Erzähl­te tat­säch­lich gese­hen oder sogar selbst erlebt zu haben.
  • Der auto­die­ge­ti­sche Erzäh­ler ist natür­lich der sub­jek­tivs­te Typ. Damit ist er einer­seits der unzu­ver­läs­sigs­te, weil wir die Geschich­te und den Hel­den wirk­lich nur durch die Augen des Hel­den selbst sehen; aber ande­rer­seits erfah­ren wir sei­ne Gedan­ken und Gefüh­le qua­si aus ers­ter Hand.

Aber, wie gesagt, es hängt stark von den ande­ren Fak­to­ren der Erzähl­per­spek­ti­ve ab, wel­che Wir­kung ein hetero‑, homo- oder auto­die­ge­ti­scher Erzäh­ler hat. So kann ein hete­ro­die­ge­ti­scher Erzäh­ler, der auf eine ein­zi­ge Figur intern foka­li­siert ist, eine ähn­li­che Wir­kung haben wie ein auto­die­ge­ti­scher Erzäh­ler. Aller­dings ist ein noch so intern foka­li­sier­ter hete­ro­die­ge­ti­scher Erzäh­ler grund­sätz­lich fle­xi­bler, weil er nun mal nicht Teil der erzähl­ten Welt ist und Spie­le­rei­en mit der Erzähl­per­spek­ti­ve hier des­we­gen weni­ger auf­sto­ßen, wäh­rend ein auto­die­ge­ti­scher Erzäh­ler in der Regel buch­stäb­lich nicht aus sei­ner Haut kann.

Doch „in der Regel“ bedeu­tet natür­lich nicht, dass sol­che Din­ge gar nicht vor­kom­men …

Wechsel des Erzähltyps

Der Wech­sel des Erzähl­typs ist etwas, das meis­tens ziem­lich stark auf­fällt, den Leser mög­li­cher­wei­se aus dem Lese­fluss reißt und aus die­sem Grund denk­bar sel­ten vor­kommt. Sol­che Ver­stö­ße pas­sie­ren in der Lite­ra­tur aber trotzdem.

Hier­zu zäh­len bei­spiels­wei­se homo­die­ge­ti­sche Beob­ach­ter-Erzäh­ler die mit der Zeit in der Erzäh­lung gar nicht mehr vor­kom­men, also klamm­heim­lich (manch­mal aber auch ganz expli­zit) zu hete­ro­die­ge­ti­schen Erzäh­lern mutieren.

Nun ist bei sol­chen Beob­ach­ter-Erzäh­lern der Held aber immer noch ein „Er“ bzw. eine „Sie“, wäh­rend das „Ich“ sich aus dem Staub macht. Noch kras­ser ist es daher, wenn die ers­te und die drit­te Per­son ein und die­sel­be Figur bezeich­nen. – Und ja, sogar sol­che Fäl­le gibt es.

Ein Bei­spiel dafür ist die Erzäh­lung Die Nar­be von Jor­ge Luis Bor­ges. Hier trifft der homo­die­ge­ti­sche Erzäh­ler der Rah­men­er­zäh­lung einen Mann, der von allen nur „der Eng­län­der“ genannt wird. Die­ser „Eng­län­der“, der in Wirk­lich­keit ein Ire ist, hat eine ziem­lich mar­kan­te Nar­be im Gesicht. In einer Bin­nen­er­zäh­lung erzählt der „Eng­län­der“ dem ext­ra­die­ge­tisch-homo­die­ge­ti­schen Erzäh­ler die Geschich­te hin­ter die­ser Narbe:

„In 1922, in one of the cities of Con­n­aught, I was one of the many young men who were con­spi­ring to win Ireland’s independence. […]“

Es scheint sich also um einen gewöhn­li­chen int­ra­die­ge­tisch-auto­die­ge­ti­schen Erzäh­ler zu han­deln. Der „Eng­län­der“ berich­tet davon, wie er einem Kame­ra­den namens John Vin­cent Moon das Leben ret­tet und wie die­ser Kame­rad sich als Feig­ling her­aus­stellt und ihn spä­ter ver­rät. Dar­auf­hin jagt er Moon durch das Haus, in dem sie sich verstecken:

„Once or twice I lost him, but I mana­ged to cor­ner him befo­re the sol­diers arres­ted me. From one of the general’s suits of armor, I sei­zed a sci­mitar, and with that steel cre­s­cent left a flou­rish on his face fore­ver — a half-moon of blood. To you alo­ne, Bor­ges — you who are a stran­ger — I have made this confession.“

Mit ande­ren Wor­ten: Die Figur, die der „Eng­län­der“ als „ich“ bezeich­net, ist der Mann, den er ver­ra­ten hat. Mit „Vin­cent Moon“ oder „er“ bezeich­net er sich selbst. Damit schlüpft hier der auto­die­ge­ti­sche Erzäh­ler sehr wohl aus sei­ner Haut und streift sich die Haut einer ande­ren Figur über. Und am Ende kehrt er in sei­ne Haut wie­der zurück:

„I have told you the sto­ry this way so that you would hear it out. It was I who betray­ed the man who saved me and gave me shel­ter — it is I who am Vin­cent Moon. Now, des­pi­se me.“

Abschließende Worte

Wie es also aus­sieht, lässt auch die­se eher ein­fa­che Kate­go­rie der Stim­me ziem­lich viel Raum für Spie­le­rei­en. Auch wenn Genet­te nur zwi­schen zwei Typen unter­schei­det, bie­ten die­se Typen eine brei­te Palet­te an Mög­lich­kei­ten. Ich den­ke, wir soll­ten von ihnen bewusst Gebrauch machen.

13 Kommentare

  1. Lie­be Schreib­tech­ni­ke­rin, dan­ke für die­sen hilf­rei­chen Artikel!!
    Für mei­ne Bache­lor­ar­beit möch­te ich ger­ne dar­aus zitie­ren. Wie kann ich dich in der Quel­le ange­ben? und in wel­chem Jahr hast du die­sen Arti­kel geschrieben?

    Ladina
    1. Wäre es nicht bes­ser, direkt die Quel­le, Die Erzäh­lung von Gérard Genet­te, zu zitie­ren? Ich fas­se ja eigent­lich nur zusam­men und außer­dem sind Inter­net­quel­len in Bache­lor­ar­bei­ten meis­tens nicht ger­ne gesehen.

      Wenn Du den­noch aus die­sem Arti­kel zitie­ren möch­test, hier eine hilf­rei­che Erklä­rung: https://​www​.scribbr​.de/​r​i​c​h​t​i​g​-​z​i​t​i​e​r​e​n​/​i​n​t​e​r​n​e​t​q​u​e​l​l​e​n​-​z​i​t​i​e​r​en/. Ver­öf­fent­licht habe ich den Text am 22.03.2019.

  2. Vie­len Dank für den inter­es­san­ten Bei­trag. Ich bin jedoch ein wenig ver­wirrt bezüg­lich des homo- und hete­ro­die­ge­ti­schen Erzäh­lers. Wenn also eine Geschich­te in der 3. Per­son geschrie­ben wur­de, ist die Erzäh­lung auto­ma­tisch hete­r­die­ge­tisch? Bzw. ist eine Erzäh­lung nur dann homo­die­ge­tisch, wenn sie in der 1. Per­son geschrie­ben wurde?

    Noah
    1. Dan­ke fürs Kompliment!

      Die ers­te oder drit­te Per­son ist nicht direkt an die Kate­go­rien hete­ro- und homo­die­ge­tisch gekop­pelt. Meis­tens – ja, der hete­ro­die­ge­ti­sche Erzäh­ler sagt „er/​sie/​es“, der homo­die­ge­ti­sche „ich“. Die Sache ist jedoch: Jeder Erzäh­ler ist eigent­lich ein Ich. Die Fra­ge ist nur, wo er sich befin­det: Inner­halb der erzäh­len Welt oder außer­halb? Der Erzäh­ler im Herrn der Rin­ge ist zum Bei­spiel durch­aus ein Ich, weil er im Vor­wort von „uns“, dem „gro­ßen Volk“, spricht – und ein „wir“ beinhal­tet eben auch ein „ich“. Den­noch ist die Erzäh­lung hete­ro­die­ge­tisch, weil der Erzäh­ler, der sich als Her­aus­ge­ber alter Schrif­ten insze­niert, nicht Teil der erzähl­ten Welt ist.

  3. Vie­len Dank für den Bei­trag! Und ich habe Fra­gen zu dem Teil „Homo­die­ge­ti­scher Erzäh­ler: ‚Ich‘ vs. ‚Ich‘ “: Der Unter­schied zwi­schen dem homo- und hete­ro­die­ge­ti­schen Erzäh­ler besteht ja dar­in, ob sich der Erzäh­ler in der Die­ge­se bzw. in der erzähl­ten Welt befin­det. Gehört der Ich-Erzäh­ler also noch zu der erzähl­ten Welt, wenn er aus sei­ner Erin­ne­rung erzählt bzw. sich als aukt­oria­ler Ich-Erzäh­ler ver­hält? Ist die­ser Ich-Erzäh­ler viel­mehr ein hete­ro­die­ge­ti­scher Erzähler?

    Und ana­log dazu: Ist der Er-Erzäh­ler in einer Erzäh­lung homo­die­ge­tisch, wenn er die per­so­na­le Per­spek­ti­ve nimmt bzw. eine Figur in der erzähl­ten Welt ist (z. B. K. in Kaf­kas „Pro­zess“)?

    Ziyun Huang
    1. Kennst Du mei­nen Arti­kel über die Foka­li­sie­rung? Das ein­zi­ge Kri­te­ri­um für den hete­ro- oder homo­die­ge­ti­schen Cha­rak­ter des Erzäh­lers ist die Fra­ge, ob er sich in der erzähl­ten Welt befin­det oder nicht. Ein Erzäh­ler, der von sei­nen ver­gan­ge­nen Erleb­nis­sen erzählt, kommt als Figur in der erzähl­ten Welt vor, ist also homo­die­ge­tisch. Wenn er sich dabei aber „aukt­ori­al“ bzw. „all­wis­send“ ver­hält, dann han­delt es sich um eine Null­fo­ka­li­sie­rung. Das, was Du beschreibst, ist somit ein homo­die­ge­ti­scher, null­fo­ka­li­sier­ter Erzäh­ler. Ana­log dazu hat ein hete­ro­die­ge­ti­scher Erzäh­ler wie in Kaf­kas Pro­zess eine inter­ne Fokalisierung.
      Hier der Link zum Arti­kel über die Foka­li­sie­rung: https://​die​-schreib​tech​ni​ke​rin​.de/​l​i​t​e​r​a​t​u​r​w​i​s​s​e​n​s​c​h​a​f​t​-​d​e​f​i​n​i​t​i​o​n​e​n​-​m​o​d​e​l​l​e​/​e​r​z​a​e​h​l​t​h​e​o​r​i​e​/​g​e​n​e​t​t​e​s​-​e​r​z​a​e​h​l​t​h​e​o​r​i​e​/​f​o​k​a​l​i​s​i​e​r​u​n​g​-​e​r​k​l​a​e​r​u​n​g​-​m​i​t​-​b​e​i​s​p​i​e​l​en/.

  4. Vie­len Dank für die­sen Artikel!
    Wie aller­dings ist der Ich­er­zäh­ler aus HOLZFÄLLEN von Tho­mas Bern­hard zu sehen?
    Man hat das Gefühl, all das sind Erleb­nis­se und Gedan­ken allein von Tho­mas Berhard.
    Möch­te man eine Strich­fas­sung als Lesung anbie­ten, habe ich ein Pro­blem damit, mich
    frei belie­bi­gen Emo­tio­nen hizu­ge­ben, gewis­se Tex­te emo­tio­nal zu untermalen.
    Ich hät­te damit kein Pro­blem, wenn der Ich­er­zäh­ler eine vom Autor erfun­de­ne Figur ist.
    Da ich aber das Gefühl habe, der Ich­er­zäh­ler ist Tho­mas Bern­hard sel­ber, er beschreibt sei­ne Erleb­nis­se gepaart mit sei­nen Gedan­ken und Gefü­hen, habe ich bei durch­aus gerecht­fer­tig­ten emo­tio­na­len Aus­bü­chen das beklem­men­de Gefühl, ich wür­de mir anma­ßen, Tho­mas Bern­hard die­se mei­ne Emo­tio­nen zu unterstellen.
    Aber eine Lesung „ohne Emo­tio­nen“ wür­de ich blei­ben lassen.
    Bei einer Lesung „mit Emo­tio­nen“ habe ich eben die­se mög­li­cher­wei­se berechtigten
    oben beschrie­be­nen Anma­ßungs­ge­füh­le, die mich an mei­ner „frei­en Emo­ti­on“ hindern.
    Kön­ne Sie mir bit­te dazu eini­ge hilf­rei­che Gedan­ken liefern?

    Erich Thomas
    1. Manch­mal hilft es, die Sache aus einer ande­ren Per­spek­ti­ve oder sogar in einem ande­ren Kon­text zu betrach­ten: Oft sin­gen Sän­ger Lie­der, die nicht sie selbst geschrie­ben haben. Irgend­je­mand anders hat die Lyrics gedich­tet und irgend­je­mand anders hat die Musik geschrie­ben. Wenn der Sän­ger die­ses Lied aber trotz­dem singt, so maßt er sich nicht an, dem Dich­ter und dem Kom­po­nis­ten Emo­tio­nen zu unter­stel­len, son­dern er fun­giert als sog. Inter­pret – weil er eben inter­pre­tiert und das Lied so singt, wie er es ver­steht. Zwei­fel­los gibt er dem Text und der Melo­die durch sei­nen Gesang aber auch sei­ne eige­ne, indi­vi­du­el­le Note.

      Ich den­ke, bei einer Lesung wäre das ähn­lich: Es wäre Ihre Inter­pre­ta­ti­on. Ob die im Text geschil­der­ten Erleb­nis­se und Gefüh­le tat­säch­lich von Tho­mas Bern­hard sind oder nicht, kön­nen Sie nicht wis­sen, son­dern nur ver­mu­ten. Bzw. eben inter­pre­tie­ren. Also ste­hen Sie doch ruhig zu Ihrer Rol­le als Inter­pret und lesen Sie den Text so, wie sie ihn eben inter­pre­tie­ren. Das ist schließ­lich auch eine Kunst­form für sich.

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