Die Wahl der richtigen Fokalisierung ist einer der Kernpunkte einer gelungenen Erzählung. Dieser Begriff stammt aus der Erzähltheorie von Gérard Genette und gehört zum Grundwissen der Literaturwissenschaft. Doch natürlich ist ein gutes Verständnis der Fokalisierung auch für Autoren nützlich. Deswegen erläutere ich sie in diesem Artikel unter Einbeziehung von Beispielen.
(In der Video-Version dieses Artikels ist mir leider ein kleiner Fehler unterlaufen: Es heißt natürlich nicht „Alternationen“, sondern „Alterationen“.)
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Jeder erfahrene Leser und Autor weiß:
Der Standpunkt, von dem aus der Erzähler das Geschehen beobachtet, beeinflusst maßgeblich die Erzählperspektive – und damit die Erzählung insgesamt.
Der französische Literaturwissenschaftler Gérard Genette trennt in seiner Erzähltheorie (meiner Meinung nach) völlig zu Recht die Wahrnehmung des Geschehens von der Wiedergabe. Die Wahrnehmung nennt er „Fokalisierung“. Und das ist es, worüber wir heute reden.
Erklärung mit Beispielen
Eins der ersten und erfolgreichsten Videos auf meinem YouTube-Kanal ist meine Zusammenfassung der Erzähltheore von Gérard Genette. Der Haken ist: In einem etwa zehnminütigen Video konnte ich nicht allzu sehr ins Detail gehen und keine Beispiele anbringen. (Und auch der dazugehörige Artikel auf dieser Webseite wäre mit allzu vielen Details und Beispielen viel zu lang geraten.)
Dieser Umstand verfolgt mich seit das Video existiert. Deswegen habe ich beschlossen, Modus und Stimme in einer Serie etwas genauer zu erläutern.
Kommen wir also zur versprochenen Fokalisierung.
Fokalisierung: Definition
Wie Stammleser dieser Seite bereits wissen, unterscheidet Genette bei der Erzählperspektive zwischen Modus und Stimme.
- Modus beantwortet die Frage: „Wer nimmt das Geschehen wahr?“
- Und die Stimme beantwortet die Frage: „Wer gibt das Geschehen wieder?“
Beim Modus wird dabei zwischen drei Fokalisierungstypen unterschieden:
- Nullfokalisierung: Der Erzähler weiß mehr als die Figur(en).
- interne Fokalisierung: Der Erzähler weiß exakt so viel wie die Figur(en).
- externe Fokalisierung: Der Erzähler weiß weniger als die Figur(en).
Aber was bedeutet das nun konkret?
Fokus und „Zoom“
Stellen wir uns vor, das Geschehen in einer Geschichte findet in einer Landschaft statt. Und irgendwo auf einem Berg sitzt der Erzähler und beobachtet dieses Geschehen durch ein Fernglas. Dieses Fernglas hat eine magische Zoom-Funktion, mit der man den Fokus unendlich weit und nah einstellen kann.
Mit diesem Fernglas kann der Erzähler nun drei Dinge tun:
- Erstens: Er kann die Möglichkeiten des Fernglases voll ausschöpfen.
Das bedeutet, dass er mal näher und mal weiter weg zoomt. Mal zoomt er in einzelne Figuren hinein und beobachtet ihr Innenleben – mal zoomt er aus dem Geschehen heraus und beobachtet es aus Vogelperspektive. Er sieht alles, was ihn gerade interessiert und was ihm im Moment als wichtig erscheint. Deswegen hat er einen guten Überblick über das Geschehen und kann dem Leser einen umfassenden Bericht liefern.
Das ist die Nullfokalisierung. - Zweitens: Der Erzähler wählt ein „Beobachtungsopfer“ (d.h. eine Reflektorfigur), zoomt in dessen Inneres hinein und behält diesen Fokus bei.
Das bedeutet: Der Erzähler beobachtet im Detail, was im Inneren der Reflektorfigur stattfindet. Er nimmt nur das wahr, was die Reflektorfigur wahrnimmt. Dabei hat er allerdings die Wahl, ob er sich im Hintergrund hält, die Gedanken und Wertungen der Reflektorfigur stehen lässt oder seinen eigenen „Senf“ hinzugibt und sich dadurch für den Leser sichtbar macht. Ausschlaggebend ist, dass das Geschehen nur durch die Froschperspektive einer oder mehrerer Reflektorfiguren wahrgenommen wird.
Denn das ist es, was die interne Fokalisierung ausmacht. - Drittens: Der Erzähler verzichtet komplett auf näheren Zoom.
Das heißt: Der Erzähler blickt nicht in die Figuren hinein, sondern beobachtet nur ihre äußeren Handlungen. Er spielt zwar durchaus ein wenig mit dem Zoom: Mal schaut er von etwas weiter weg, mal konzentriert er sich auf die unruhigen Finger einer Figur. Aber er schaut nie, nie, nie in die Figuren hinein.
Das ist die externe Fokalisierung.
Für alle drei Fokalisierungstypen gelten drei Punkte:
- Der Erzähler ist immer ein Subjekt. Er ist nie neutral und er setzt immer subjektive Schwerpunkte bei der Auswahl der Geschehnisse, die er in der Erzählung erwähnt. Mehr dazu in meinem Artikel über den neutralen und den unzuverlässigen Erzähler.
- Weil jeder Erzähler ein Subjekt ist, ist jeder Erzähler auch ein „Ich“. Unabhängig davon, ob er in der Erzählung explizit „Ich“ sagt oder nicht. Somit kann der Ich-Erzähler bei jedem Fokalisierungstyp vorkommen.
- Die Fokalisierung kann sich im Verlauf einer Geschichte ändern. Das nennt man variable Fokalisierung.
- Handelt es sich dabei um einzelne, isolierte Verstöße, spricht man von Alterationen.
- Wenn es keinen herrschenden Code gibt und die Fokalisierungen bunt durcheinandertanzen, nennt man es Polymodalität.
So viel zur Theorie. Schauen wir uns nun konkrete Beispiele an.
Nullfokalisierung: Beispiel
Ein klassischer Fall eines nullfokalisierten Erzählers findet sich in Der Herr der Ringe. Hier zeigt sich der Erzähler äußerst willkürlich, wovon er erzählt und wovon nicht. Einige Dinge kürzt er explizit aus der Erzählung heraus, andere Dinge beschreibt und erklärt er, obwohl die Figuren nie davon erfahren. Der Erzähler wechselt auch oft zwischen Innen- und Außensicht, zum Beispiel hier:
„Aber jetzt merkte er, daß seine Knie zitterten, und er wagte nicht, nah genug zu dem Zauberer hinzugehen, um das Bündel zu erreichen.
[…]
Pippin hatte die Knie angezogen und hielt den Ball zwischen ihnen. Er beugte sich tief darüber und sah aus wie ein naschhaftes Kind, das sich in einem Winkel fern von den anderen über eine Schüssel mit Essen hermacht.“
J. R. R. Tolkien: Der Herr der Ringe: Die zwei Türme, 3. Buch, 11. Kapitel: Der Palantír.
Hier bekommen wir einerseits einen Einblick in Pippins Gedanken- und Gefühlswelt, gleichzeitig erfahren wir aber auch, wie er dabei von außen aussieht.
Eine detailliertere Analyse der Erzählperspektive im Herrn der Ringe ist in meinem entsprechenden Artikel zu finden. An dieser Stelle machen wir weiter mit der Frage, was eine Nullfokalisierung ganz allgemein bewirkt.
Nullfokalisierung: Effekt
Wenn der Erzähler mehr weiß als die Figuren, dann macht er sich sichtbar. Das heißt:
Der Leser merkt, dass da jemand ist, der die Geschichte erzählt.
Das hat zur Folge, dass man beim Lesen das Gefühl hat, gewissermaßen über den Figuren zu schweben. Man spürt oft eine Distanz zu ihnen. Zwar driften nullfokalisierte Erzählungen manchmal auch in Richtung interne Fokalisierung, zum Beispiel, um die Spannung zu steigern; aber man wird aus der Identifikation mit den Figuren immer wieder herausgerissen, wenn der Erzähler mal wieder etwas preisgibt, das die Figuren nicht wissen können.
Damit eignet sich der nullfokalisierte Erzähler hervorragend, um ein größeres, komplexes Geschehen quasi aus Vogelperspektive zu beleuchten. Im Herrn der Ringe zum Beispiel wird unter anderem dadurch massives World-Building ermöglicht.
Was der nullfokalisierte Erzähler jedoch nur eingeschränkt kann, ist, eine besondere Nähe zu bestimmten Figuren herzustellen. In unserem Beispiel Herr der Ringe haben wir zwar einzelne Figuren, denen die Erzählung folgt und mit denen wir mitfühlen können, aber als Leser haben wir nichtsdestotrotz einen größeren Überblick über das Geschehen. Unsere Wahrnehmung ist nicht mit der Wahrnehmung der Figuren identisch.
Damit eignet sich die Nullfokalisierung in der Regel weniger gut, um sehr persönliche, emotionale Geschichten zu erzählen.
Interne Fokalisierung: Beispiel
Ein anderes großes Fantasy-Epos stellt ein gutes Beispiel für die interne Fokalisierung dar: Harry Potter. Während der Schwerpunkt der Erzählung im Herrn der Ringe mehr auf der Welt selbst liegt, ist Harry Potter der Dreh- und Angelpunkt der nach ihm benannten Buchreihe:
Als Leser lernen wir die Welt der Zauberer durch seine Augen kennen, wir fühlen mit ihm mit, wir bangen um ihn und seine Freunde und lösen mit ihm zusammen die zahlreichen Rätsel.
Wir haben kein objektives Bild vom Geschehen, weil unsere Wahrnehmung durch Harrys subjektive Sicht verzerrt ist. Wenn Harry sich irrt, irren wir uns mit ihm. Wenn Harry ein Rätsel löst, freuen wir uns mit ihm. Und wenn Harry jemanden nicht leiden kann, tun wir Leser es meistens auch. Denn wir wissen nicht mehr und nicht weniger als Harry. Seine Augen sind unser einziges Fenster in die Welt der Zauberer. Die ganze Geschichte dreht sich um seine Erlebnisse, Gedanken und Gefühle.
Interne Fokalisierung: Effekt
Was die interne Fokalisierung bewirkt, liegt damit klar auf der Hand:
Beim Lesen verschmilzt man quasi mit einer Figur und erlebt eine ganz persönliche Geschichte.
Dabei muss der Erzähler allerdings nicht zwangsläufig die Ansichten der Figur teilen. Er kann durchaus die Handlungen der Reflektorfigur hinterfragen, die Wahrnehmung der Figur anders interpretieren oder sich über die Figur offen lustig machen. Aber die Figur ist und bleibt unser einziges Fenster in die erzählte Welt und damit etwas Besonderes für uns.
Damit kann ein intern fokalisierter Erzähler sowohl sichtbar als auch unsichtbar sein.
Meistens wählen Autoren allerdings einen unsichtbaren intern fokalisierten Erzähler, weil sie, wie Joanne K. Rowling in Harry Potter, eine ganz persönliche Geschichte einer bestimmten Figur erzählen wollen.
Was der intern fokalisierte Erzähler nicht kann, ist logischerweise, ein Geschehen umfassend zu beleuchten. Denn das Wissen dieses Erzählers ist auf die Froschperspektive einer einzigen oder einiger weniger Reflektorfiguren beschränkt.
Man kann zwar mit dem Lied von Eis und Feuer von George R. R. Martin argumentieren und sagen, man könne ein Geschehen ja auch durch sehr viele verschiedene Perspektiven beleuchten. Doch an dieser Stelle verweise ich auf meine Erzählanalyse des ersten Bandes der Reihe und fasse kurz zusammen, dass die Erzählperspektive bei Martin auf das Verschweigen von Informationen ausgelegt ist. Durch die vielen Perspektiven hat man als Leser zwar das Gefühl, viel zu wissen, aber dieses „Wissen“ beruht nach wie vor nur auf höchst subjektiven und nicht immer zuverlässigen Froschperspektiven. Und das trägt massiv zur Spannung im Roman bei.
Externe Fokalisierung: Beispiel
Wenn der Erzähler weniger weiß als die Figuren und das Geschehen nur von außen beobachtet, blicken wir quasi wie durch eine Kamera. Der extremste Fall wären hier dementsprechend Drehbücher und Theaterstücke: eine auf Handlungsbeschreibungen und Dialoge reduzierte Erzählung.
Ich habe mich sehr schwer damit getan, ein Beispiel aus der Epik zufinden, aber hier ist eins, das einer rein externen Fokalisierung sehr nahe kommt:
„A squat grey building of only thirty-four stories. Over the main entrance the words, CENTRAL LONDON HATCHERY AND CONDITIONING CENTRE, and, in a shield, the World State’s motto, COMMUNITY, IDENTITY, STABILITY.
The enormous room on the ground floor faced towards the north. […] Wintriness responded to wintriness. The overalls of the workers were white, their hands gloved with a pale corpse-coloured rubber. The light was frozen, dead, a ghost. Only from the yellow barrels of the microscopes did it borrow a certain rich and living substance, lying along the polished tubes like butter, streak after luscious streak in long recession down the work tables.
„And this,“ said the Director opening the door, „is the Fertilizing Room.““
Aldous Huxley: Brave New World, Kapitel 1.
In den ersten paar Kapiteln von Schöne neue Welt von Aldous Huxley begleitet man den Direktor und eine Gruppe Studenten bei einer Führung durch das Londoner Brut- und Aufzuchtszentrum durch die Augen eines unsichtbaren Beobachters. Die Beschreibungen dieses Beobachters sind subjektiv eingefärbt und er gibt ein paar Hintergrundinformationen. Er scheint die fiktive Welt zwar zu kennen, aber er beobachtet das Geschehen von außen, weiß nichts über das Innenleben der Figuren und die wenigen Hintergrundinformationen, die er selbst gibt, sind so allgemein, dass der Erzähler offenbar tatsächlich weniger weiß als die Figuren. Fast alles, was der Leser über die fiktive Welt zu wissen braucht, erfährt er durch Dialoge, äußere Beschreibungen und Handlungen der Figuren.
Später wird jedoch deutlich, dass der Erzähler tatsächlich eher nullfokalisiert ist. Denn mit der Zeit kristallisieren sich Figuren heraus, in deren Inneres wir dann doch einen recht tiefen Einblick bekommen. Bereits im ersten Kapitel fängt es langsam an:
„He was going to say „future World controllers,“ but correcting himself, said „future Directors of Hatcheries,“ instead.“
Hier erfahren wir, was eine Figur sagen wollte, aber nicht gesagt hat. Nichtsdestotrotz sind solche Stellen zu Beginn des Romans rar gesät. Dadurch haben wir eine Nullfokalisierung, die aber einen recht starken externen Einschlag hat.
Externe Fokalisierung: Effekt
Die Möglichkeiten des extern fokalisierten Erzählers, eine fiktive Welt umfassend zu beleuchten, sind stark eingeschränkt. Dasselbe gilt für die Darstellung der Innenwelt der Figuren.
Damit sind wir als Leser beim Kennenlernen der erzählten Welt darauf angewiesen, uns selbst ein Bild zu machen und unsere eigenen Schlüsse zu ziehen. Dabei fühlt man sich als Leser mit keiner Figur verbunden.
Das bedeutet jedoch nicht, dass die Erzählung nicht subjektiv eingefärbt ist. Wenn selbst eine richtige Kamera niemals objektiv und neutral ist, ist ein Erzähler es erst recht nicht. Im ersten Kapitel von Schöne neue Welt sind die Vergleiche, Metaphern und Adjektive äußerst subjektiv und bauen eine bestimmte Atmosphäre auf.
Damit kann der Erzähler auch hier sowohl sichtbar als auch unsichtbar sein.
Es hängt unter anderem stark mit der Wortwahl zusammen. Ich würde allerdings behaupten, dass ein extern fokalisierter Erzähler tendenziell weniger sichtbar ist als ein nullfokalisierter Erzähler, weil der Letztere ja auch noch Wissen weitergibt, das man als Leser anderweitig nicht bekommen würde.
Zusammengefasst lässt sich festhalten, dass ein extern fokalisierter Erzähler weder zur fiktiven Welt noch zu den einzelnen Figuren eine besondere Nähe aufbaut. Der Leser wird hier besonders stark zum Mitdenken und Interpretieren angeregt.
Das bedeutet aber gleichzeitig:
Damit man die Welt und die Figuren im Fall einer externen Fokalisierung spannend findet, müssen die Welt, die Handlungen und Dialoge so interessant und gefühlsgeladen sein, dass man als Leser die Distanz, die durch die Erzählperspektive erzeugt wird, überwinden kann. Hier ist meisterhaftes „Show, don’t tell“ gefragt.
Alternativ könnte auch die Erzählerstimme selbst höchst interessant sein durch besonderen Humor und/oder virtuose Sprache. Hier muss der Erzählstil an sich aber so meisterhaft sein, dass die Aufmerksamkeit des Lesers alleine dadurch gehalten wird.
Variable Fokalisierung: Beispiele
Zuletzt möchte ich noch gesondert auf die variable Fokalisierung zu sprechen kommen. Denn damit lassen sich viele interessante Effekte erzielen. Hier zwei Beispiele:
Einige Anfangskapitel in Harry Potter
In Harry Potter wird die eigentliche Geschichte zwar durch Harry Potters Prisma erzählt, doch einige Bücher beginnen mit Kapiteln, die andere Figuren beleuchten.
Harry Potter und der Feuerkelch beginnt zum Beispiel mit einem nullfokalisierten Erzähler, der vom geheimnisvollen Mord an der Riddle-Familie berichtet, und zwischenzeitlich kurz auf den alten Gärtner der Riddles intern fokalisiert ist. Das lässt einerseits die sonst nur durch Harrys Augen wahrgenommene fiktive Welt größer wirken; andererseits schafft es auch Spannung, weil durch die Informationen, von denen Harry nichts weiß, Fragen aufgeworfen werden.
Das Ende von Im Westen nichts Neues (SPOILER!)
Mein zweites Beispiel ist Im Westen nichts Neues von Erich Maria Remarque und enthält einen ziemlich großen Spoiler! Wer also nicht wissen will, die der Roman endet, sollte den folgenden Abschnitt besser überspringen.
In diesem Roman erlebt man das Geschehen durch einen äußert intern fokalisierten „Ich-Erzähler“ (gemeint ist: autodiegetischer Erzähler). Als Leser schlüpfen wir in die Schuhe von Paul Bäumer und erleben mit ihm die Hölle des ersten Weltkrieges. Durch die interne Fokalisierung werden seine Erlebnisse zu unseren Erlebnissen und seine Kameraden zu unseren Kameraden. Wir begleiten ihn durch Schützengräben und Trichterlöcher, auf dem Heimaturlaub und im Hospital und seine Gedanken und Gefühle erleben wir quasi aus erster Hand. Wir verschmelzen mit ihm.
Im letzten Kapitel hofft Paul auf den Frieden. Und dann kommt das Ende:
„Er fiel im Oktober 1918, an einem Tage, der so ruhig und still war an der ganzen Front, daß der Heeresbericht sich nur auf den Satz beschränkte, im Westen sei nichts Neues zu melden.
Er war vornüber gesunken und lag wie schlafend an der Erde. Als man ihn umdrehte, sah man, daß er sich nicht lange gequält haben konnte – sein Gesicht hatte einen so gefaßten Ausdruck, als wäre er beinahe zufrieden damit, daß es so gekommen war.“
Erich Maria Remarque: Im Westen nichts Neues, Kapitel 12.
Als Leser wird man hier urplötzlich aus der internen Fokalisierung herausgeschleudert und betrachtet die Szenerie plötzlich aus Vogelperspektive. Ich persönlich habe mich dabei gefühlt wie eine Seele, die eben brutalst aus ihrem Körper geschmettert wurde. Gerade war ich noch eins mit Paul – und plötzlich war ich es nicht mehr. Das hinterließ bei mir einen massiven Eindruck. Bei keinem Buch habe ich bisher so sehr geheult wie am Ende von Im Westen nichts Neues.
Schlusswort
So viel zur Fokalisierung. Ich hoffe, ich konnte zeigen, dass die Wahl der richtigen Fokalisierung und der bewusste Einsatz von Fokalisierungswechseln eine äußerst mächtige Sache sind.
Natürlich ist nicht zu vergessen, dass die Fokalisierung stets im Kontext der anderen Bestandteile von Genettes Erzähltheorie zu betrachten ist. Wie gesagt: Ich habe bereits einen Artikel zur Gesamtübersicht des Modells gemacht und lade interessierte Leser herzlich ein, sich dort einen Überblick zu verschaffen.
Genettes Theorie wende ich auch regelmäßig bei meinen Erzählanalysen an. Wer es also „in Aktion“ sehen möchte, kann dort vorbeischauen.
Liebe Katha,
ein sehr interessanter Artikel, der mir für die MA deutlich geholfen hat, einen ersten Eindruck über die Erzähltheorie zu bekommen. Mir ist nur ein kleiner Fehler aufgefallen, wenn ich das hier so schreiben darf: In seinem Buch spricht Genette auf S. 125 (Ausgabe 2010) von Alteration und nicht Alternation.
Liebe Grüße und danke für die hilfreichen Artikel!
O mein Gott, vielen Dank! Ein klassischer Fall von: sich vor vielen Jahren irgendwo in den Mitschriften vertan und den Fehler seitdem mit sich herumgeschleppt. Gut, dass Du mich darauf hinweist! Ich mag mir nicht ausmalen, wie lange es anderweitig noch gedauert hätte, bis der Fehler aufgefallen wäre. 🙏
Ich bin so froh über diese Seite gestolpert zu sein – endlich verstehe ich worum es geht! In der Uni haben wir Genette mit der „Einführung in die Erzähltheorie“ von Martínez und Scheffel behandelt und verstanden habe ich nichts. Leider finde ich dass das Buch so umständlich geschrieben ist und auch die Beispiele teilweise sehr verworren und durcheinander einher kommen, dass einem so gar nicht richtig klar wird, was der Inhalt ist. Vielen lieben Dank für deine Arbeit, das ist mir für meine Bachelor Arbeit eine große Hilfe!
Ich bin froh, wenn ich helfen kann. Und Du hast recht, erzähltheoretische Texte sind oft nur schwer zu verstehen.