Fokalisierung: Erklärung mit Beispielen

Fokalisierung: Erklärung mit Beispielen

Die Wahl der rich­ti­gen Foka­li­sie­rung ist einer der Kern­punk­te einer gelun­ge­nen Erzäh­lung. Die­ser Begriff stammt aus der Erzähl­theo­rie von Gérard Genet­te und gehört zum Grund­wis­sen der Lite­ra­tur­wis­sen­schaft. Doch natür­lich ist ein gutes Ver­ständ­nis der Foka­li­sie­rung auch für Autoren nütz­lich. Des­we­gen erläu­te­re ich sie in die­sem Arti­kel unter Ein­be­zie­hung von Beispielen.

(In der Video-Ver­si­on die­ses Arti­kels ist mir lei­der ein klei­ner Feh­ler unter­lau­fen: Es heißt natür­lich nicht „Alter­na­tio­nen“, son­dern „Altera­tio­nen“.)

Die Foli­en für die­ses Video gibt es für Ste­ady-Abon­nen­ten und Kanal­mitglieder auf You­Tube als PDF zum Download.

Jeder erfah­re­ne Leser und Autor weiß:

Der Stand­punkt, von dem aus der Erzäh­ler das Gesche­hen beob­ach­tet, beein­flusst maß­geb­lich die Erzähl­per­spek­ti­ve – und damit die Erzäh­lung insgesamt.

Der fran­zö­si­sche Lite­ra­tur­wis­sen­schaft­ler Gérard Genet­te trennt in sei­ner Erzähl­theo­rie (mei­ner Mei­nung nach) völ­lig zu Recht die Wahr­neh­mung des Gesche­hens von der Wie­der­ga­be. Die Wahr­neh­mung nennt er „Foka­li­sie­rung“. Und das ist es, wor­über wir heu­te reden.

Erklärung mit Beispielen

Eins der ers­ten und erfolg­reichs­ten Vide­os auf mei­nem You­Tube-Kanal ist mei­ne Zusam­men­fas­sung der Erzähl­theo­re von Gérard Genet­te. Der Haken ist: In einem etwa zehn­mi­nü­ti­gen Video konn­te ich nicht all­zu sehr ins Detail gehen und kei­ne Bei­spie­le anbrin­gen. (Und auch der dazu­ge­hö­ri­ge Arti­kel auf die­ser Web­sei­te wäre mit all­zu vie­len Details und Bei­spie­len viel zu lang geraten.)

Die­ser Umstand ver­folgt mich seit das Video exis­tiert. Des­we­gen habe ich beschlos­sen, Modus und Stim­me in einer Serie etwas genau­er zu erläutern.

Kom­men wir also zur ver­spro­che­nen Fokalisierung.

Fokalisierung: Definition

Wie Stamm­le­ser die­ser Sei­te bereits wis­sen, unter­schei­det Genet­te bei der Erzähl­per­spek­ti­ve zwi­schen Modus und Stimme.

  • Modus beant­wor­tet die Fra­ge: „Wer nimmt das Gesche­hen wahr?“
  • Und die Stim­me beant­wor­tet die Fra­ge: „Wer gibt das Gesche­hen wie­der?“

Beim Modus wird dabei zwi­schen drei Foka­li­sie­rungs­ty­pen unterschieden:

  • Null­fo­ka­li­sie­rung: Der Erzäh­ler weiß mehr als die Figur(en).
  • inter­ne Foka­li­sie­rung: Der Erzäh­ler weiß exakt so viel wie die Figur(en).
  • exter­ne Foka­li­sie­rung: Der Erzäh­ler weiß weni­ger als die Figur(en).

Aber was bedeu­tet das nun konkret?

Fokus und „Zoom“

Stel­len wir uns vor, das Gesche­hen in einer Geschich­te fin­det in einer Land­schaft statt. Und irgend­wo auf einem Berg sitzt der Erzäh­ler und beob­ach­tet die­ses Gesche­hen durch ein Fern­glas. Die­ses Fern­glas hat eine magi­sche Zoom-Funk­ti­on, mit der man den Fokus unend­lich weit und nah ein­stel­len kann.

Mit die­sem Fern­glas kann der Erzäh­ler nun drei Din­ge tun:

  • Ers­tens: Er kann die Mög­lich­kei­ten des Fern­gla­ses voll ausschöpfen.
    Das bedeu­tet, dass er mal näher und mal wei­ter weg zoomt. Mal zoomt er in ein­zel­ne Figu­ren hin­ein und beob­ach­tet ihr Innen­le­ben – mal zoomt er aus dem Gesche­hen her­aus und beob­ach­tet es aus Vogel­per­spek­ti­ve. Er sieht alles, was ihn gera­de inter­es­siert und was ihm im Moment als wich­tig erscheint. Des­we­gen hat er einen guten Über­blick über das Gesche­hen und kann dem Leser einen umfas­sen­den Bericht liefern.
    Das ist die Null­fo­ka­li­sie­rung.
  • Zwei­tens: Der Erzäh­ler wählt ein „Beob­ach­tungs­op­fer“ (d.h. eine Reflek­tor­fi­gur), zoomt in des­sen Inne­res hin­ein und behält die­sen Fokus bei.
    Das bedeu­tet: Der Erzäh­ler beob­ach­tet im Detail, was im Inne­ren der Reflek­tor­fi­gur statt­fin­det. Er nimmt nur das wahr, was die Reflek­tor­fi­gur wahr­nimmt. Dabei hat er aller­dings die Wahl, ob er sich im Hin­ter­grund hält, die Gedan­ken und Wer­tun­gen der Reflek­tor­fi­gur ste­hen lässt oder sei­nen eige­nen „Senf“ hin­zu­gibt und sich dadurch für den Leser sicht­bar macht. Aus­schlag­ge­bend ist, dass das Gesche­hen nur durch die Frosch­per­spek­ti­ve einer oder meh­re­rer Reflek­tor­fi­gu­ren wahr­ge­nom­men wird.
    Denn das ist es, was die inter­ne Foka­li­sie­rung aus­macht.
  • Drit­tens: Der Erzäh­ler ver­zich­tet kom­plett auf nähe­ren Zoom.
    Das heißt: Der Erzäh­ler blickt nicht in die Figu­ren hin­ein, son­dern beob­ach­tet nur ihre äuße­ren Hand­lun­gen. Er spielt zwar durch­aus ein wenig mit dem Zoom: Mal schaut er von etwas wei­ter weg, mal kon­zen­triert er sich auf die unru­hi­gen Fin­ger einer Figur. Aber er schaut nie, nie, nie in die Figu­ren hinein.
    Das ist die exter­ne Foka­li­sie­rung.

Für alle drei Foka­li­sie­rungs­ty­pen gel­ten drei Punkte:

  • Der Erzäh­ler ist immer ein Sub­jekt. Er ist nie neu­tral und er setzt immer sub­jek­ti­ve Schwer­punk­te bei der Aus­wahl der Gescheh­nis­se, die er in der Erzäh­lung erwähnt. Mehr dazu in mei­nem Arti­kel über den neu­tra­len und den unzu­ver­läs­si­gen Erzähler.
  • Weil jeder Erzäh­ler ein Sub­jekt ist, ist jeder Erzäh­ler auch ein „Ich“. Unab­hän­gig davon, ob er in der Erzäh­lung expli­zit „Ich“ sagt oder nicht. Somit kann der Ich-Erzäh­ler bei jedem Foka­li­sie­rungs­typ vorkommen.
  • Die Foka­li­sie­rung kann sich im Ver­lauf einer Geschich­te ändern. Das nennt man varia­ble Foka­li­sie­rung.
    • Han­delt es sich dabei um ein­zel­ne, iso­lier­te Ver­stö­ße, spricht man von Altera­tio­nen.
    • Wenn es kei­nen herr­schen­den Code gibt und die Foka­li­sie­run­gen bunt durch­ein­an­der­tan­zen, nennt man es Poly­mo­da­li­tät.

So viel zur Theo­rie. Schau­en wir uns nun kon­kre­te Bei­spie­le an.

Nullfokalisierung: Beispiel

Ein klas­si­scher Fall eines null­fo­ka­li­sier­ten Erzäh­lers fin­det sich in Der Herr der Rin­ge. Hier zeigt sich der Erzäh­ler äußerst will­kür­lich, wovon er erzählt und wovon nicht. Eini­ge Din­ge kürzt er expli­zit aus der Erzäh­lung her­aus, ande­re Din­ge beschreibt und erklärt er, obwohl die Figu­ren nie davon erfah­ren. Der Erzäh­ler wech­selt auch oft zwi­schen Innen- und Außen­sicht, zum Bei­spiel hier:

„Aber jetzt merk­te er, daß sei­ne Knie zit­ter­ten, und er wag­te nicht, nah genug zu dem Zau­be­rer hin­zu­ge­hen, um das Bün­del zu erreichen.
[…]
Pip­pin hat­te die Knie ange­zo­gen und hielt den Ball zwi­schen ihnen. Er beug­te sich tief dar­über und sah aus wie ein nasch­haf­tes Kind, das sich in einem Win­kel fern von den ande­ren über eine Schüs­sel mit Essen hermacht.“
J. R. R. Tol­ki­en: Der Herr der Rin­ge: Die zwei Tür­me, 3. Buch, 11. Kapi­tel: Der Palan­tír.

Hier bekom­men wir einer­seits einen Ein­blick in Pip­pins Gedan­ken- und Gefühls­welt, gleich­zei­tig erfah­ren wir aber auch, wie er dabei von außen aussieht.

Eine detail­lier­te­re Ana­ly­se der Erzähl­per­spek­ti­ve im Herrn der Rin­ge ist in mei­nem ent­spre­chen­den Arti­kel zu fin­den. An die­ser Stel­le machen wir wei­ter mit der Fra­ge, was eine Null­fo­ka­li­sie­rung ganz all­ge­mein bewirkt.

Nullfokalisierung: Effekt

Wenn der Erzäh­ler mehr weiß als die Figu­ren, dann macht er sich sicht­bar. Das heißt:

Der Leser merkt, dass da jemand ist, der die Geschich­te erzählt.

Das hat zur Fol­ge, dass man beim Lesen das Gefühl hat, gewis­ser­ma­ßen über den Figu­ren zu schwe­ben. Man spürt oft eine Distanz zu ihnen. Zwar drif­ten null­fo­ka­li­sier­te Erzäh­lun­gen manch­mal auch in Rich­tung inter­ne Foka­li­sie­rung, zum Bei­spiel, um die Span­nung zu stei­gern; aber man wird aus der Iden­ti­fi­ka­ti­on mit den Figu­ren immer wie­der her­aus­ge­ris­sen, wenn der Erzäh­ler mal wie­der etwas preis­gibt, das die Figu­ren nicht wis­sen können.

Damit eig­net sich der null­fo­ka­li­sier­te Erzäh­ler her­vor­ra­gend, um ein grö­ße­res, kom­ple­xes Gesche­hen qua­si aus Vogel­per­spek­ti­ve zu beleuch­ten. Im Herrn der Rin­ge zum Bei­spiel wird unter ande­rem dadurch mas­si­ves World-Buil­ding ermöglicht.

Was der null­fo­ka­li­sier­te Erzäh­ler jedoch nur ein­ge­schränkt kann, ist, eine beson­de­re Nähe zu bestimm­ten Figu­ren her­zu­stel­len. In unse­rem Bei­spiel Herr der Rin­ge haben wir zwar ein­zel­ne Figu­ren, denen die Erzäh­lung folgt und mit denen wir mit­füh­len kön­nen, aber als Leser haben wir nichts­des­to­trotz einen grö­ße­ren Über­blick über das Gesche­hen. Unse­re Wahr­neh­mung ist nicht mit der Wahr­neh­mung der Figu­ren identisch.

Damit eig­net sich die Null­fo­ka­li­sie­rung in der Regel weni­ger gut, um sehr per­sön­li­che, emo­tio­na­le Geschich­ten zu erzählen.

Interne Fokalisierung: Beispiel

Ein ande­res gro­ßes Fan­ta­sy-Epos stellt ein gutes Bei­spiel für die inter­ne Foka­li­sie­rung dar: Har­ry Pot­ter. Wäh­rend der Schwer­punkt der Erzäh­lung im Herrn der Rin­ge mehr auf der Welt selbst liegt, ist Har­ry Pot­ter der Dreh- und Angel­punkt der nach ihm benann­ten Buchreihe:

Als Leser ler­nen wir die Welt der Zau­be­rer durch sei­ne Augen ken­nen, wir füh­len mit ihm mit, wir ban­gen um ihn und sei­ne Freun­de und lösen mit ihm zusam­men die zahl­rei­chen Rätsel.

Wir haben kein objek­ti­ves Bild vom Gesche­hen, weil unse­re Wahr­neh­mung durch Har­rys sub­jek­ti­ve Sicht ver­zerrt ist. Wenn Har­ry sich irrt, irren wir uns mit ihm. Wenn Har­ry ein Rät­sel löst, freu­en wir uns mit ihm. Und wenn Har­ry jeman­den nicht lei­den kann, tun wir Leser es meis­tens auch. Denn wir wis­sen nicht mehr und nicht weni­ger als Har­ry. Sei­ne Augen sind unser ein­zi­ges Fens­ter in die Welt der Zau­be­rer. Die gan­ze Geschich­te dreht sich um sei­ne Erleb­nis­se, Gedan­ken und Gefühle.

Interne Fokalisierung: Effekt

Was die inter­ne Foka­li­sie­rung bewirkt, liegt damit klar auf der Hand:

Beim Lesen ver­schmilzt man qua­si mit einer Figur und erlebt eine ganz per­sön­li­che Geschich­te.

Dabei muss der Erzäh­ler aller­dings nicht zwangs­läu­fig die Ansich­ten der Figur tei­len. Er kann durch­aus die Hand­lun­gen der Reflek­tor­fi­gur hin­ter­fra­gen, die Wahr­neh­mung der Figur anders inter­pre­tie­ren oder sich über die Figur offen lus­tig machen. Aber die Figur ist und bleibt unser ein­zi­ges Fens­ter in die erzähl­te Welt und damit etwas Beson­de­res für uns.

Damit kann ein intern foka­li­sier­ter Erzäh­ler sowohl sicht­bar als auch unsicht­bar sein.

Meis­tens wäh­len Autoren aller­dings einen unsicht­ba­ren intern foka­li­sier­ten Erzäh­ler, weil sie, wie Joan­ne K. Row­ling in Har­ry Pot­ter, eine ganz per­sön­li­che Geschich­te einer bestimm­ten Figur erzäh­len wollen.

Was der intern foka­li­sier­te Erzäh­ler nicht kann, ist logi­scher­wei­se, ein Gesche­hen umfas­send zu beleuch­ten. Denn das Wis­sen die­ses Erzäh­lers ist auf die Frosch­per­spek­ti­ve einer ein­zi­gen oder eini­ger weni­ger Reflek­tor­fi­gu­ren beschränkt.

Man kann zwar mit dem Lied von Eis und Feu­er von Geor­ge R. R. Mar­tin argu­men­tie­ren und sagen, man kön­ne ein Gesche­hen ja auch durch sehr vie­le ver­schie­de­ne Per­spek­ti­ven beleuch­ten. Doch an die­ser Stel­le ver­wei­se ich auf mei­ne Erzähl­ana­ly­se des ers­ten Ban­des der Rei­he und fas­se kurz zusam­men, dass die Erzähl­per­spek­ti­ve bei Mar­tin auf das Ver­schwei­gen von Infor­ma­tio­nen aus­ge­legt ist. Durch die vie­len Per­spek­ti­ven hat man als Leser zwar das Gefühl, viel zu wis­sen, aber die­ses „Wis­sen“ beruht nach wie vor nur auf höchst sub­jek­ti­ven und nicht immer zuver­läs­si­gen Frosch­per­spek­ti­ven. Und das trägt mas­siv zur Span­nung im Roman bei.

Externe Fokalisierung: Beispiel

Wenn der Erzäh­ler weni­ger weiß als die Figu­ren und das Gesche­hen nur von außen beob­ach­tet, bli­cken wir qua­si wie durch eine Kame­ra. Der extrems­te Fall wären hier dem­entspre­chend Dreh­bü­cher und Thea­ter­stü­cke: eine auf Hand­lungs­be­schrei­bun­gen und Dia­lo­ge redu­zier­te Erzählung.

Ich habe mich sehr schwer damit getan, ein Bei­spiel aus der Epik zufin­den, aber hier ist eins, das einer rein exter­nen Foka­li­sie­rung sehr nahe kommt:

„A squat grey buil­ding of only thir­ty-four sto­ries. Over the main ent­rance the words, CENTRAL LONDON HATCHERY AND CONDITIONING CENTRE, and, in a shield, the World State’s mot­to, COMMUNITY, IDENTITY, STABILITY.
The enorm­ous room on the ground flo­or faced towards the north. […] Win­tri­ne­ss respon­ded to win­tri­ne­ss. The over­alls of the workers were white, their hands gloved with a pale corp­se-colou­red rub­ber. The light was fro­zen, dead, a ghost. Only from the yel­low bar­rels of the micro­sco­pes did it bor­row a cer­tain rich and living sub­s­tance, lying along the polished tubes like but­ter, streak after luscious streak in long reces­si­on down the work tables.
„And this,“ said the Direc­tor ope­ning the door, „is the Fer­ti­li­zing Room.““
Aldous Hux­ley: Bra­ve New World, Kapi­tel 1.

In den ers­ten paar Kapi­teln von Schö­ne neue Welt von Aldous Hux­ley beglei­tet man den Direk­tor und eine Grup­pe Stu­den­ten bei einer Füh­rung durch das Lon­do­ner Brut- und Auf­zuchtszen­trum durch die Augen eines unsicht­ba­ren Beob­ach­ters. Die Beschrei­bun­gen die­ses Beob­ach­ters sind sub­jek­tiv ein­ge­färbt und er gibt ein paar Hin­ter­grund­in­for­ma­tio­nen. Er scheint die fik­ti­ve Welt zwar zu ken­nen, aber er beob­ach­tet das Gesche­hen von außen, weiß nichts über das Innen­le­ben der Figu­ren und die weni­gen Hin­ter­grund­in­for­ma­tio­nen, die er selbst gibt, sind so all­ge­mein, dass der Erzäh­ler offen­bar tat­säch­lich weni­ger weiß als die Figu­ren. Fast alles, was der Leser über die fik­ti­ve Welt zu wis­sen braucht, erfährt er durch Dia­lo­ge, äuße­re Beschrei­bun­gen und Hand­lun­gen der Figuren.

Spä­ter wird jedoch deut­lich, dass der Erzäh­ler tat­säch­lich eher null­fo­ka­li­siert ist. Denn mit der Zeit kris­tal­li­sie­ren sich Figu­ren her­aus, in deren Inne­res wir dann doch einen recht tie­fen Ein­blick bekom­men. Bereits im ers­ten Kapi­tel fängt es lang­sam an:

„He was going to say „future World con­trol­lers,“ but cor­rec­ting hims­elf, said „future Direc­tors of Hat­che­ries,“ instead.“

Hier erfah­ren wir, was eine Figur sagen woll­te, aber nicht gesagt hat. Nichts­des­to­trotz sind sol­che Stel­len zu Beginn des Romans rar gesät. Dadurch haben wir eine Null­fo­ka­li­sie­rung, die aber einen recht star­ken exter­nen Ein­schlag hat.

Externe Fokalisierung: Effekt

Die Mög­lich­kei­ten des extern foka­li­sier­ten Erzäh­lers, eine fik­ti­ve Welt umfas­send zu beleuch­ten, sind stark ein­ge­schränkt. Das­sel­be gilt für die Dar­stel­lung der Innen­welt der Figuren.

Damit sind wir als Leser beim Ken­nen­ler­nen der erzähl­ten Welt dar­auf ange­wie­sen, uns selbst ein Bild zu machen und unse­re eige­nen Schlüs­se zu zie­hen. Dabei fühlt man sich als Leser mit kei­ner Figur verbunden.

Das bedeu­tet jedoch nicht, dass die Erzäh­lung nicht sub­jek­tiv ein­ge­färbt ist. Wenn selbst eine rich­ti­ge Kame­ra nie­mals objek­tiv und neu­tral ist, ist ein Erzäh­ler es erst recht nicht. Im ers­ten Kapi­tel von Schö­ne neue Welt sind die Ver­glei­che, Meta­phern und Adjek­ti­ve äußerst sub­jek­tiv und bau­en eine bestimm­te Atmo­sphä­re auf.

Damit kann der Erzäh­ler auch hier sowohl sicht­bar als auch unsicht­bar sein.

Es hängt unter ande­rem stark mit der Wort­wahl zusam­men. Ich wür­de aller­dings behaup­ten, dass ein extern foka­li­sier­ter Erzäh­ler ten­den­zi­ell weni­ger sicht­bar ist als ein null­fo­ka­li­sier­ter Erzäh­ler, weil der Letz­te­re ja auch noch Wis­sen wei­ter­gibt, das man als Leser ander­wei­tig nicht bekom­men würde.

Zusam­men­ge­fasst lässt sich fest­hal­ten, dass ein extern foka­li­sier­ter Erzäh­ler weder zur fik­ti­ven Welt noch zu den ein­zel­nen Figu­ren eine beson­de­re Nähe auf­baut. Der Leser wird hier beson­ders stark zum Mit­den­ken und Inter­pre­tie­ren angeregt.

Das bedeu­tet aber gleichzeitig:

Damit man die Welt und die Figu­ren im Fall einer exter­nen Foka­li­sie­rung span­nend fin­det, müs­sen die Welt, die Hand­lun­gen und Dia­lo­ge so inter­es­sant und gefühls­ge­la­den sein, dass man als Leser die Distanz, die durch die Erzähl­per­spek­ti­ve erzeugt wird, über­win­den kann. Hier ist meis­ter­haf­tes „Show, don’t tell“ gefragt.

Alter­na­tiv könn­te auch die Erzäh­ler­stim­me selbst höchst inter­es­sant sein durch beson­de­ren Humor und/​oder vir­tuo­se Spra­che. Hier muss der Erzähl­stil an sich aber so meis­ter­haft sein, dass die Auf­merk­sam­keit des Lesers allei­ne dadurch gehal­ten wird.

Variable Fokalisierung: Beispiele

Zuletzt möch­te ich noch geson­dert auf die varia­ble Foka­li­sie­rung zu spre­chen kom­men. Denn damit las­sen sich vie­le inter­es­san­te Effek­te erzie­len. Hier zwei Beispiele:

Einige Anfangskapitel in Harry Potter

In Har­ry Pot­ter wird die eigent­li­che Geschich­te zwar durch Har­ry Pot­ters Pris­ma erzählt, doch eini­ge Bücher begin­nen mit Kapi­teln, die ande­re Figu­ren beleuchten.

Har­ry Pot­ter und der Feu­er­kelch beginnt zum Bei­spiel mit einem null­fo­ka­li­sier­ten Erzäh­ler, der vom geheim­nis­vol­len Mord an der Ridd­le-Fami­lie berich­tet, und zwi­schen­zeit­lich kurz auf den alten Gärt­ner der Ridd­les intern foka­li­siert ist. Das lässt einer­seits die sonst nur durch Har­rys Augen wahr­ge­nom­me­ne fik­ti­ve Welt grö­ßer wir­ken; ande­rer­seits schafft es auch Span­nung, weil durch die Infor­ma­tio­nen, von denen Har­ry nichts weiß, Fra­gen auf­ge­wor­fen werden.

Das Ende von Im Westen nichts Neues (SPOILER!)

Mein zwei­tes Bei­spiel ist Im Wes­ten nichts Neu­es von Erich Maria Remar­que und ent­hält einen ziem­lich gro­ßen Spoi­ler! Wer also nicht wis­sen will, die der Roman endet, soll­te den fol­gen­den Abschnitt bes­ser überspringen.

In die­sem Roman erlebt man das Gesche­hen durch einen äußert intern foka­li­sier­ten „Ich-Erzäh­ler“ (gemeint ist: auto­die­ge­ti­scher Erzäh­ler). Als Leser schlüp­fen wir in die Schu­he von Paul Bäu­mer und erle­ben mit ihm die Höl­le des ers­ten Welt­krie­ges. Durch die inter­ne Foka­li­sie­rung wer­den sei­ne Erleb­nis­se zu unse­ren Erleb­nis­sen und sei­ne Kame­ra­den zu unse­ren Kame­ra­den. Wir beglei­ten ihn durch Schüt­zen­grä­ben und Trich­ter­lö­cher, auf dem Hei­mat­ur­laub und im Hos­pi­tal und sei­ne Gedan­ken und Gefüh­le erle­ben wir qua­si aus ers­ter Hand. Wir ver­schmel­zen mit ihm.

Im letz­ten Kapi­tel hofft Paul auf den Frie­den. Und dann kommt das Ende:

„Er fiel im Okto­ber 1918, an einem Tage, der so ruhig und still war an der gan­zen Front, daß der Hee­res­be­richt sich nur auf den Satz beschränk­te, im Wes­ten sei nichts Neu­es zu melden.
Er war vorn­über gesun­ken und lag wie schla­fend an der Erde. Als man ihn umdreh­te, sah man, daß er sich nicht lan­ge gequält haben konn­te – sein Gesicht hat­te einen so gefaß­ten Aus­druck, als wäre er bei­na­he zufrie­den damit, daß es so gekom­men war.“
Erich Maria Remar­que: Im Wes­ten nichts Neu­es, Kapi­tel 12.

Als Leser wird man hier urplötz­lich aus der inter­nen Foka­li­sie­rung her­aus­ge­schleu­dert und betrach­tet die Sze­ne­rie plötz­lich aus Vogel­per­spek­ti­ve. Ich per­sön­lich habe mich dabei gefühlt wie eine See­le, die eben bru­talst aus ihrem Kör­per geschmet­tert wur­de. Gera­de war ich noch eins mit Paul – und plötz­lich war ich es nicht mehr. Das hin­ter­ließ bei mir einen mas­si­ven Ein­druck. Bei kei­nem Buch habe ich bis­her so sehr geheult wie am Ende von Im Wes­ten nichts Neu­es.

Schlusswort

So viel zur Foka­li­sie­rung. Ich hof­fe, ich konn­te zei­gen, dass die Wahl der rich­ti­gen Foka­li­sie­rung und der bewuss­te Ein­satz von Foka­li­sie­rungs­wech­seln eine äußerst mäch­ti­ge Sache sind.

Natür­lich ist nicht zu ver­ges­sen, dass die Foka­li­sie­rung stets im Kon­text der ande­ren Bestand­tei­le von Genet­tes Erzähl­theo­rie zu betrach­ten ist. Wie gesagt: Ich habe bereits einen Arti­kel zur Gesamt­über­sicht des Modells gemacht und lade inter­es­sier­te Leser herz­lich ein, sich dort einen Über­blick zu verschaffen.

Genet­tes Theo­rie wen­de ich auch regel­mä­ßig bei mei­nen Erzähl­ana­ly­sen an. Wer es also „in Akti­on“ sehen möch­te, kann dort vorbeischauen.

4 Kommentare

  1. Lie­be Katha, 

    ein sehr inter­es­san­ter Arti­kel, der mir für die MA deut­lich gehol­fen hat, einen ers­ten Ein­druck über die Erzähl­theo­rie zu bekom­men. Mir ist nur ein klei­ner Feh­ler auf­ge­fal­len, wenn ich das hier so schrei­ben darf: In sei­nem Buch spricht Genet­te auf S. 125 (Aus­ga­be 2010) von Altera­ti­on und nicht Alternation.

    Lie­be Grü­ße und dan­ke für die hilf­rei­chen Artikel!

    Paulien
    1. O mein Gott, vie­len Dank! Ein klas­si­scher Fall von: sich vor vie­len Jah­ren irgend­wo in den Mit­schrif­ten ver­tan und den Feh­ler seit­dem mit sich her­um­ge­schleppt. Gut, dass Du mich dar­auf hin­weist! Ich mag mir nicht aus­ma­len, wie lan­ge es ander­wei­tig noch gedau­ert hät­te, bis der Feh­ler auf­ge­fal­len wäre. 🙏

  2. Ich bin so froh über die­se Sei­te gestol­pert zu sein – end­lich ver­ste­he ich wor­um es geht! In der Uni haben wir Genet­te mit der „Ein­füh­rung in die Erzähl­theo­rie“ von Mar­tí­nez und Schef­fel behan­delt und ver­stan­den habe ich nichts. Lei­der fin­de ich dass das Buch so umständ­lich geschrie­ben ist und auch die Bei­spie­le teil­wei­se sehr ver­wor­ren und durch­ein­an­der ein­her kom­men, dass einem so gar nicht rich­tig klar wird, was der Inhalt ist. Vie­len lie­ben Dank für dei­ne Arbeit, das ist mir für mei­ne Bache­lor Arbeit eine gro­ße Hilfe!

    Sophie

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