Fokalisierung: Erklärung mit Beispielen

Fokalisierung: Erklärung mit Beispielen

Die Wahl der richti­gen Fokalisierung ist ein­er der Kern­punk­te ein­er gelun­genen Erzäh­lung. Dieser Begriff stammt aus der Erzählthe­o­rie von Gérard Genette und gehört zum Grund­wis­sen der Lit­er­atur­wis­senschaft. Doch natür­lich ist ein gutes Ver­ständ­nis der Fokalisierung auch für Autoren nüt­zlich. Deswe­gen erläutere ich sie in diesem Artikel unter Ein­beziehung von Beispie­len.

(In der Video-Ver­sion dieses Artikels ist mir lei­der ein klein­er Fehler unter­laufen: Es heißt natür­lich nicht “Alter­na­tio­nen”, son­dern “Alter­atio­nen”.)

Die Folien für dieses Video gibt es für Steady-Abon­nen­ten und Kanal­mitglieder auf YouTube als PDF zum Down­load.

Jed­er erfahrene Leser und Autor weiß:

Der Stand­punkt, von dem aus der Erzäh­ler das Geschehen beobachtet, bee­in­flusst maßge­blich die Erzählper­spek­tive — und damit die Erzäh­lung ins­ge­samt.

Der franzö­sis­che Lit­er­atur­wis­senschaftler Gérard Genette tren­nt in sein­er Erzählthe­o­rie (mein­er Mei­n­ung nach) völ­lig zu Recht die Wahrnehmung des Geschehens von der Wieder­gabe. Die Wahrnehmung nen­nt er “Fokalisierung”. Und das ist es, worüber wir heute reden.

Erklärung mit Beispielen

Eins der ersten und erfol­gre­ich­sten Videos auf meinem YouTube-Kanal ist meine Zusam­men­fas­sung der Erzählthe­o­re von Gérard Genette. Der Hak­en ist: In einem etwa zehn­minüti­gen Video kon­nte ich nicht allzu sehr ins Detail gehen und keine Beispiele anbrin­gen. (Und auch der dazuge­hörige Artikel auf dieser Web­seite wäre mit allzu vie­len Details und Beispie­len viel zu lang ger­at­en.)

Dieser Umstand ver­fol­gt mich seit das Video existiert. Deswe­gen habe ich beschlossen, Modus und Stimme in ein­er Serie etwas genauer zu erläutern.

Kom­men wir also zur ver­sproch­enen Fokalisierung.

Fokalisierung: Definition

Wie Stamm­leser dieser Seite bere­its wis­sen, unter­schei­det Genette bei der Erzählper­spek­tive zwis­chen Modus und Stimme.

  • Modus beant­wortet die Frage: “Wer nimmt das Geschehen wahr?”
  • Und die Stimme beant­wortet die Frage: “Wer gibt das Geschehen wieder?”

Beim Modus wird dabei zwis­chen drei Fokalisierungstypen unter­schieden:

  • Null­fokalisierung: Der Erzäh­ler weiß mehr als die Figur(en).
  • interne Fokalisierung: Der Erzäh­ler weiß exakt so viel wie die Figur(en).
  • externe Fokalisierung: Der Erzäh­ler weiß weniger als die Figur(en).

Aber was bedeutet das nun konkret?

Fokus und “Zoom”

Stellen wir uns vor, das Geschehen in ein­er Geschichte find­et in ein­er Land­schaft statt. Und irgend­wo auf einem Berg sitzt der Erzäh­ler und beobachtet dieses Geschehen durch ein Fer­n­glas. Dieses Fer­n­glas hat eine magis­che Zoom-Funk­tion, mit der man den Fokus unendlich weit und nah ein­stellen kann.

Mit diesem Fer­n­glas kann der Erzäh­ler nun drei Dinge tun:

  • Erstens: Er kann die Möglichkeit­en des Fer­n­glases voll auss­chöpfen.
    Das bedeutet, dass er mal näher und mal weit­er weg zoomt. Mal zoomt er in einzelne Fig­uren hinein und beobachtet ihr Innen­leben — mal zoomt er aus dem Geschehen her­aus und beobachtet es aus Vogelper­spek­tive. Er sieht alles, was ihn ger­ade inter­essiert und was ihm im Moment als wichtig erscheint. Deswe­gen hat er einen guten Überblick über das Geschehen und kann dem Leser einen umfassenden Bericht liefern.
    Das ist die Null­fokalisierung.
  • Zweit­ens: Der Erzäh­ler wählt ein “Beobach­tung­sopfer” (d.h. eine Reflek­tor­fig­ur), zoomt in dessen Inneres hinein und behält diesen Fokus bei.
    Das bedeutet: Der Erzäh­ler beobachtet im Detail, was im Inneren der Reflek­tor­fig­ur stat­tfind­et. Er nimmt nur das wahr, was die Reflek­tor­fig­ur wahrn­immt. Dabei hat er allerd­ings die Wahl, ob er sich im Hin­ter­grund hält, die Gedanken und Wer­tun­gen der Reflek­tor­fig­ur ste­hen lässt oder seinen eige­nen “Senf” hinzugibt und sich dadurch für den Leser sicht­bar macht. Auss­chlaggebend ist, dass das Geschehen nur durch die Frosch­per­spek­tive ein­er oder mehrerer Reflek­tor­fig­uren wahrgenom­men wird.
    Denn das ist es, was die interne Fokalisierung aus­macht.
  • Drit­tens: Der Erzäh­ler verzichtet kom­plett auf näheren Zoom.
    Das heißt: Der Erzäh­ler blickt nicht in die Fig­uren hinein, son­dern beobachtet nur ihre äußeren Hand­lun­gen. Er spielt zwar dur­chaus ein wenig mit dem Zoom: Mal schaut er von etwas weit­er weg, mal konzen­tri­ert er sich auf die unruhi­gen Fin­ger ein­er Fig­ur. Aber er schaut nie, nie, nie in die Fig­uren hinein.
    Das ist die externe Fokalisierung.

Für alle drei Fokalisierungstypen gel­ten drei Punk­te:

  • Der Erzäh­ler ist immer ein Sub­jekt. Er ist nie neu­tral und er set­zt immer sub­jek­tive Schw­er­punk­te bei der Auswahl der Geschehnisse, die er in der Erzäh­lung erwäh­nt. Mehr dazu in meinem Artikel über den neu­tralen und den unzu­ver­läs­si­gen Erzäh­ler.
  • Weil jed­er Erzäh­ler ein Sub­jekt ist, ist jed­er Erzäh­ler auch ein “Ich”. Unab­hängig davon, ob er in der Erzäh­lung expliz­it “Ich” sagt oder nicht. Somit kann der Ich-Erzäh­ler bei jedem Fokalisierungstyp vorkom­men.
  • Die Fokalisierung kann sich im Ver­lauf ein­er Geschichte ändern. Das nen­nt man vari­able Fokalisierung.
    • Han­delt es sich dabei um einzelne, isolierte Ver­stöße, spricht man von Alter­atio­nen.
    • Wenn es keinen herrschen­den Code gibt und die Fokalisierun­gen bunt durcheinan­der­tanzen, nen­nt man es Poly­modal­ität.

So viel zur The­o­rie. Schauen wir uns nun konkrete Beispiele an.

Nullfokalisierung: Beispiel

Ein klas­sis­ch­er Fall eines null­fokalisierten Erzäh­lers find­et sich in Der Herr der Ringe. Hier zeigt sich der Erzäh­ler äußerst willkür­lich, wovon er erzählt und wovon nicht. Einige Dinge kürzt er expliz­it aus der Erzäh­lung her­aus, andere Dinge beschreibt und erk­lärt er, obwohl die Fig­uren nie davon erfahren. Der Erzäh­ler wech­selt auch oft zwis­chen Innen- und Außen­sicht, zum Beispiel hier:

“Aber jet­zt merk­te er, daß seine Knie zit­terten, und er wagte nicht, nah genug zu dem Zauber­er hinzuge­hen, um das Bün­del zu erre­ichen.
[…]
Pip­pin hat­te die Knie ange­zo­gen und hielt den Ball zwis­chen ihnen. Er beugte sich tief darüber und sah aus wie ein naschhaftes Kind, das sich in einem Winkel fern von den anderen über eine Schüs­sel mit Essen her­ma­cht.”
J. R. R. Tolkien: Der Herr der Ringe: Die zwei Türme, 3. Buch, 11. Kapi­tel: Der Palan­tír.

Hier bekom­men wir ein­er­seits einen Ein­blick in Pip­pins Gedanken- und Gefühlswelt, gle­ichzeit­ig erfahren wir aber auch, wie er dabei von außen aussieht.

Eine detail­liert­ere Analyse der Erzählper­spek­tive im Her­rn der Ringe ist in meinem entsprechen­den Artikel zu find­en. An dieser Stelle machen wir weit­er mit der Frage, was eine Null­fokalisierung ganz all­ge­mein bewirkt.

Nullfokalisierung: Effekt

Wenn der Erzäh­ler mehr weiß als die Fig­uren, dann macht er sich sicht­bar. Das heißt:

Der Leser merkt, dass da jemand ist, der die Geschichte erzählt.

Das hat zur Folge, dass man beim Lesen das Gefühl hat, gewis­ser­maßen über den Fig­uren zu schweben. Man spürt oft eine Dis­tanz zu ihnen. Zwar driften null­fokalisierte Erzäh­lun­gen manch­mal auch in Rich­tung interne Fokalisierung, zum Beispiel, um die Span­nung zu steigern; aber man wird aus der Iden­ti­fika­tion mit den Fig­uren immer wieder her­aus­geris­sen, wenn der Erzäh­ler mal wieder etwas preis­gibt, das die Fig­uren nicht wis­sen kön­nen.

Damit eignet sich der null­fokalisierte Erzäh­ler her­vor­ra­gend, um ein größeres, kom­plex­es Geschehen qua­si aus Vogelper­spek­tive zu beleucht­en. Im Her­rn der Ringe zum Beispiel wird unter anderem dadurch mas­sives World-Build­ing ermöglicht.

Was der null­fokalisierte Erzäh­ler jedoch nur eingeschränkt kann, ist, eine beson­dere Nähe zu bes­timmten Fig­uren herzustellen. In unserem Beispiel Herr der Ringe haben wir zwar einzelne Fig­uren, denen die Erzäh­lung fol­gt und mit denen wir mit­fühlen kön­nen, aber als Leser haben wir nichts­destotrotz einen größeren Überblick über das Geschehen. Unsere Wahrnehmung ist nicht mit der Wahrnehmung der Fig­uren iden­tisch.

Damit eignet sich die Null­fokalisierung in der Regel weniger gut, um sehr per­sön­liche, emo­tionale Geschicht­en zu erzählen.

Interne Fokalisierung: Beispiel

Ein anderes großes Fan­ta­sy-Epos stellt ein gutes Beispiel für die interne Fokalisierung dar: Har­ry Pot­ter. Während der Schw­er­punkt der Erzäh­lung im Her­rn der Ringe mehr auf der Welt selb­st liegt, ist Har­ry Pot­ter der Dreh- und Angelpunkt der nach ihm benan­nten Buchrei­he:

Als Leser ler­nen wir die Welt der Zauber­er durch seine Augen ken­nen, wir fühlen mit ihm mit, wir ban­gen um ihn und seine Fre­unde und lösen mit ihm zusam­men die zahlre­ichen Rät­sel.

Wir haben kein objek­tives Bild vom Geschehen, weil unsere Wahrnehmung durch Har­rys sub­jek­tive Sicht verz­er­rt ist. Wenn Har­ry sich irrt, irren wir uns mit ihm. Wenn Har­ry ein Rät­sel löst, freuen wir uns mit ihm. Und wenn Har­ry jeman­den nicht lei­den kann, tun wir Leser es meis­tens auch. Denn wir wis­sen nicht mehr und nicht weniger als Har­ry. Seine Augen sind unser einziges Fen­ster in die Welt der Zauber­er. Die ganze Geschichte dreht sich um seine Erleb­nisse, Gedanken und Gefüh­le.

Interne Fokalisierung: Effekt

Was die interne Fokalisierung bewirkt, liegt damit klar auf der Hand:

Beim Lesen ver­schmilzt man qua­si mit ein­er Fig­ur und erlebt eine ganz per­sön­liche Geschichte.

Dabei muss der Erzäh­ler allerd­ings nicht zwangsläu­fig die Ansicht­en der Fig­ur teilen. Er kann dur­chaus die Hand­lun­gen der Reflek­tor­fig­ur hin­ter­fra­gen, die Wahrnehmung der Fig­ur anders inter­pretieren oder sich über die Fig­ur offen lustig machen. Aber die Fig­ur ist und bleibt unser einziges Fen­ster in die erzählte Welt und damit etwas Beson­deres für uns.

Damit kann ein intern fokalisiert­er Erzäh­ler sowohl sicht­bar als auch unsicht­bar sein.

Meis­tens wählen Autoren allerd­ings einen unsicht­baren intern fokalisierten Erzäh­ler, weil sie, wie Joanne K. Rowl­ing in Har­ry Pot­ter, eine ganz per­sön­liche Geschichte ein­er bes­timmten Fig­ur erzählen wollen.

Was der intern fokalisierte Erzäh­ler nicht kann, ist logis­cher­weise, ein Geschehen umfassend zu beleucht­en. Denn das Wis­sen dieses Erzäh­lers ist auf die Frosch­per­spek­tive ein­er einzi­gen oder einiger weniger Reflek­tor­fig­uren beschränkt.

Man kann zwar mit dem Lied von Eis und Feuer von George R. R. Mar­tin argu­men­tieren und sagen, man könne ein Geschehen ja auch durch sehr viele ver­schiedene Per­spek­tiv­en beleucht­en. Doch an dieser Stelle ver­weise ich auf meine Erzäh­lanalyse des ersten Ban­des der Rei­he und fasse kurz zusam­men, dass die Erzählper­spek­tive bei Mar­tin auf das Ver­schweigen von Infor­ma­tio­nen aus­gelegt ist. Durch die vie­len Per­spek­tiv­en hat man als Leser zwar das Gefühl, viel zu wis­sen, aber dieses “Wis­sen” beruht nach wie vor nur auf höchst sub­jek­tiv­en und nicht immer zuver­läs­si­gen Frosch­per­spek­tiv­en. Und das trägt mas­siv zur Span­nung im Roman bei.

Externe Fokalisierung: Beispiel

Wenn der Erzäh­ler weniger weiß als die Fig­uren und das Geschehen nur von außen beobachtet, blick­en wir qua­si wie durch eine Kam­era. Der extrem­ste Fall wären hier dementsprechend Drehbüch­er und The­ater­stücke: eine auf Hand­lungs­beschrei­bun­gen und Dialoge reduzierte Erzäh­lung.

Ich habe mich sehr schw­er damit getan, ein Beispiel aus der Epik zufind­en, aber hier ist eins, das ein­er rein exter­nen Fokalisierung sehr nahe kommt:

“A squat grey build­ing of only thir­ty-four sto­ries. Over the main entrance the words, CENTRAL LONDON HATCHERY AND CONDITIONING CENTRE, and, in a shield, the World State’s mot­to, COMMUNITY, IDENTITY, STABILITY.
The enor­mous room on the ground floor faced towards the north. […] Win­tri­ness respond­ed to win­tri­ness. The over­alls of the work­ers were white, their hands gloved with a pale corpse-coloured rub­ber. The light was frozen, dead, a ghost. Only from the yel­low bar­rels of the micro­scopes did it bor­row a cer­tain rich and liv­ing sub­stance, lying along the pol­ished tubes like but­ter, streak after lus­cious streak in long reces­sion down the work tables.
“And this,” said the Direc­tor open­ing the door, “is the Fer­til­iz­ing Room.””
Aldous Hux­ley: Brave New World, Kapi­tel 1.

In den ersten paar Kapiteln von Schöne neue Welt von Aldous Hux­ley begleit­et man den Direk­tor und eine Gruppe Stu­den­ten bei ein­er Führung durch das Lon­don­er Brut- und Aufzucht­szen­trum durch die Augen eines unsicht­baren Beobachters. Die Beschrei­bun­gen dieses Beobachters sind sub­jek­tiv einge­färbt und er gibt ein paar Hin­ter­grund­in­for­ma­tio­nen. Er scheint die fik­tive Welt zwar zu ken­nen, aber er beobachtet das Geschehen von außen, weiß nichts über das Innen­leben der Fig­uren und die weni­gen Hin­ter­grund­in­for­ma­tio­nen, die er selb­st gibt, sind so all­ge­mein, dass der Erzäh­ler offen­bar tat­säch­lich weniger weiß als die Fig­uren. Fast alles, was der Leser über die fik­tive Welt zu wis­sen braucht, erfährt er durch Dialoge, äußere Beschrei­bun­gen und Hand­lun­gen der Fig­uren.

Später wird jedoch deut­lich, dass der Erzäh­ler tat­säch­lich eher null­fokalisiert ist. Denn mit der Zeit kristallisieren sich Fig­uren her­aus, in deren Inneres wir dann doch einen recht tiefen Ein­blick bekom­men. Bere­its im ersten Kapi­tel fängt es langsam an:

“He was going to say “future World con­trollers,” but cor­rect­ing him­self, said “future Direc­tors of Hatch­eries,” instead.”

Hier erfahren wir, was eine Fig­ur sagen wollte, aber nicht gesagt hat. Nichts­destotrotz sind solche Stellen zu Beginn des Romans rar gesät. Dadurch haben wir eine Null­fokalisierung, die aber einen recht starken exter­nen Ein­schlag hat.

Externe Fokalisierung: Effekt

Die Möglichkeit­en des extern fokalisierten Erzäh­lers, eine fik­tive Welt umfassend zu beleucht­en, sind stark eingeschränkt. Das­selbe gilt für die Darstel­lung der Innen­welt der Fig­uren.

Damit sind wir als Leser beim Ken­nen­ler­nen der erzählten Welt darauf angewiesen, uns selb­st ein Bild zu machen und unsere eige­nen Schlüsse zu ziehen. Dabei fühlt man sich als Leser mit kein­er Fig­ur ver­bun­den.

Das bedeutet jedoch nicht, dass die Erzäh­lung nicht sub­jek­tiv einge­färbt ist. Wenn selb­st eine richtige Kam­era niemals objek­tiv und neu­tral ist, ist ein Erzäh­ler es erst recht nicht. Im ersten Kapi­tel von Schöne neue Welt sind die Ver­gle­iche, Meta­phern und Adjek­tive äußerst sub­jek­tiv und bauen eine bes­timmte Atmo­sphäre auf.

Damit kann der Erzäh­ler auch hier sowohl sicht­bar als auch unsicht­bar sein.

Es hängt unter anderem stark mit der Wort­wahl zusam­men. Ich würde allerd­ings behaupten, dass ein extern fokalisiert­er Erzäh­ler ten­den­ziell weniger sicht­bar ist als ein null­fokalisiert­er Erzäh­ler, weil der Let­ztere ja auch noch Wis­sen weit­ergibt, das man als Leser ander­weit­ig nicht bekom­men würde.

Zusam­menge­fasst lässt sich fes­thal­ten, dass ein extern fokalisiert­er Erzäh­ler wed­er zur fik­tiv­en Welt noch zu den einzel­nen Fig­uren eine beson­dere Nähe auf­baut. Der Leser wird hier beson­ders stark zum Mit­denken und Inter­pretieren angeregt.

Das bedeutet aber gle­ichzeit­ig:

Damit man die Welt und die Fig­uren im Fall ein­er exter­nen Fokalisierung span­nend find­et, müssen die Welt, die Hand­lun­gen und Dialoge so inter­es­sant und gefühls­ge­laden sein, dass man als Leser die Dis­tanz, die durch die Erzählper­spek­tive erzeugt wird, über­winden kann. Hier ist meis­ter­haftes “Show, don’t tell” gefragt.

Alter­na­tiv kön­nte auch die Erzäh­ler­stimme selb­st höchst inter­es­sant sein durch beson­deren Humor und/oder vir­tu­ose Sprache. Hier muss der Erzählstil an sich aber so meis­ter­haft sein, dass die Aufmerk­samkeit des Lesers alleine dadurch gehal­ten wird.

Variable Fokalisierung: Beispiele

Zulet­zt möchte ich noch geson­dert auf die vari­able Fokalisierung zu sprechen kom­men. Denn damit lassen sich viele inter­es­sante Effek­te erzie­len. Hier zwei Beispiele:

Einige Anfangskapitel in Harry Potter

In Har­ry Pot­ter wird die eigentliche Geschichte zwar durch Har­ry Pot­ters Pris­ma erzählt, doch einige Büch­er begin­nen mit Kapiteln, die andere Fig­uren beleucht­en.

Har­ry Pot­ter und der Feuerkelch begin­nt zum Beispiel mit einem null­fokalisierten Erzäh­ler, der vom geheimnisvollen Mord an der Rid­dle-Fam­i­lie berichtet, und zwis­chen­zeitlich kurz auf den alten Gärt­ner der Rid­dles intern fokalisiert ist. Das lässt ein­er­seits die son­st nur durch Har­rys Augen wahrgenommene fik­tive Welt größer wirken; ander­er­seits schafft es auch Span­nung, weil durch die Infor­ma­tio­nen, von denen Har­ry nichts weiß, Fra­gen aufge­wor­fen wer­den.

Das Ende von Im Westen nichts Neues (SPOILER!)

Mein zweites Beispiel ist Im West­en nichts Neues von Erich Maria Remar­que und enthält einen ziem­lich großen Spoil­er! Wer also nicht wis­sen will, die der Roman endet, sollte den fol­gen­den Abschnitt bess­er über­sprin­gen.

In diesem Roman erlebt man das Geschehen durch einen äußert intern fokalisierten “Ich-Erzäh­ler” (gemeint ist: autodiegetis­ch­er Erzäh­ler). Als Leser schlüpfen wir in die Schuhe von Paul Bäumer und erleben mit ihm die Hölle des ersten Weltkrieges. Durch die interne Fokalisierung wer­den seine Erleb­nisse zu unseren Erleb­nis­sen und seine Kam­er­aden zu unseren Kam­er­aden. Wir begleit­en ihn durch Schützen­gräben und Trichter­löch­er, auf dem Heimaturlaub und im Hos­pi­tal und seine Gedanken und Gefüh­le erleben wir qua­si aus erster Hand. Wir ver­schmelzen mit ihm.

Im let­zten Kapi­tel hofft Paul auf den Frieden. Und dann kommt das Ende:

“Er fiel im Okto­ber 1918, an einem Tage, der so ruhig und still war an der ganzen Front, daß der Heeres­bericht sich nur auf den Satz beschränk­te, im West­en sei nichts Neues zu melden.
Er war vornüber gesunken und lag wie schlafend an der Erde. Als man ihn umdrehte, sah man, daß er sich nicht lange gequält haben kon­nte — sein Gesicht hat­te einen so gefaßten Aus­druck, als wäre er beina­he zufrieden damit, daß es so gekom­men war.”
Erich Maria Remar­que: Im West­en nichts Neues, Kapi­tel 12.

Als Leser wird man hier urplöt­zlich aus der inter­nen Fokalisierung her­aus­geschleud­ert und betra­chtet die Szener­ie plöt­zlich aus Vogelper­spek­tive. Ich per­sön­lich habe mich dabei gefühlt wie eine Seele, die eben bru­talst aus ihrem Kör­p­er geschmettert wurde. Ger­ade war ich noch eins mit Paul — und plöt­zlich war ich es nicht mehr. Das hin­ter­ließ bei mir einen mas­siv­en Ein­druck. Bei keinem Buch habe ich bish­er so sehr geheult wie am Ende von Im West­en nichts Neues.

Schlusswort

So viel zur Fokalisierung. Ich hoffe, ich kon­nte zeigen, dass die Wahl der richti­gen Fokalisierung und der bewusste Ein­satz von Fokalisierungswech­seln eine äußerst mächtige Sache sind.

Natür­lich ist nicht zu vergessen, dass die Fokalisierung stets im Kon­text der anderen Bestandteile von Genettes Erzählthe­o­rie zu betra­cht­en ist. Wie gesagt: Ich habe bere­its einen Artikel zur Gesamtüber­sicht des Mod­ells gemacht und lade inter­essierte Leser her­zlich ein, sich dort einen Überblick zu ver­schaf­fen.

Genettes The­o­rie wende ich auch regelmäßig bei meinen Erzäh­lanaly­sen an. Wer es also “in Aktion” sehen möchte, kann dort vor­beis­chauen.

4 Kommentare

  1. Liebe Katha,

    ein sehr inter­es­san­ter Artikel, der mir für die MA deut­lich geholfen hat, einen ersten Ein­druck über die Erzählthe­o­rie zu bekom­men. Mir ist nur ein klein­er Fehler aufge­fall­en, wenn ich das hier so schreiben darf: In seinem Buch spricht Genette auf S. 125 (Aus­gabe 2010) von Alter­ation und nicht Alter­na­tion.

    Liebe Grüße und danke für die hil­fre­ichen Artikel!

    Paulien
    1. O mein Gott, vie­len Dank! Ein klas­sis­ch­er Fall von: sich vor vie­len Jahren irgend­wo in den Mitschriften ver­tan und den Fehler seit­dem mit sich herumgeschleppt. Gut, dass Du mich darauf hin­weist! Ich mag mir nicht aus­malen, wie lange es ander­weit­ig noch gedauert hätte, bis der Fehler aufge­fall­en wäre. 🙏

  2. Ich bin so froh über diese Seite gestolpert zu sein – endlich ver­ste­he ich worum es geht! In der Uni haben wir Genette mit der “Ein­führung in die Erzählthe­o­rie” von Martínez und Schef­fel behan­delt und ver­standen habe ich nichts. Lei­der finde ich dass das Buch so umständlich geschrieben ist und auch die Beispiele teil­weise sehr ver­wor­ren und durcheinan­der ein­her kom­men, dass einem so gar nicht richtig klar wird, was der Inhalt ist. Vie­len lieben Dank für deine Arbeit, das ist mir für meine Bach­e­lor Arbeit eine große Hil­fe!

    Sophie

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