Autor-Leser-Kommunikation: Das Modell der Kommunikationsebenen von Wolf Schmid

Autor-Leser-Kommunikation: Das Modell der Kommunikationsebenen von Wolf Schmid

Erzählen ist eine Form von Kom­mu­nika­tion. Auch wenn der Autor nicht direkt zu seinen Lesern spricht, nimmt er sie den­noch emo­tion­al mit und regt sie zum Nach­denken an. Wie funk­tion­iert das also? Durch welche Instanzen geht diese Art der Kom­mu­nika­tion? Und was bedeutet es für das Erzählen und Rezip­ieren von Geschicht­en? — In diesem Artikel suchen wir in Wolf Schmids Mod­ell der Kom­mu­nika­tion­sebe­nen nach Antworten.

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Was ist, wenn ich Dir sage, dass Du mit Toten kom­mu­nizieren kannst? Und es vielle­icht sog­ar regelmäßig tust? Was ist, wenn ich sage, dass drei Men­schen, die lange vor mein­er Geburt gestor­ben sind, mein Leben maßge­blich bee­in­flusst haben? Was ist, wenn ich sage, dass die Unsterblichkeit von großen Autoren nicht nur metapho­risch ist?

Ich denke, wir alle kön­nen uns darauf eini­gen, dass Lit­er­atur Unglaublich­es leis­tet.

Sie ist nun mal eine Form von Kom­mu­nika­tion und daher in der Lage, uns mit Men­schen, die längst nicht mehr leben, und Zivil­i­sa­tio­nen, die längst unterge­gan­gen sind, zu verbinden.

Und das alles nicht irgend­wie meta­ph­ysisch, son­dern äußerst erk­lär­bar. Und ein Ansatz, die Kom­mu­nika­tion zwis­chen Autor und Leser zu beschreiben und zu erk­lären, ist das Mod­ell der Kom­mu­nika­tion­sebe­nen von Wolf Schmid. Das möchte ich in diesem Artikel vorstellen.

Denn wer weiß, wie die Kom­mu­nika­tion zwis­chen Autor und Leser funk­tion­iert, kann nicht nur die Magie der Lit­er­atur bewun­dern, son­dern sie auch gezielt nutzen, um beim Leser bes­timmte Effek­te zu erre­ichen.

Die Kommunikationsebenen

Fik­tionale Texte erzählen nicht selb­st. Vielmehr stellen sie dar, wie etwas erzählt wird.

Denn wenn ich Dir etwas über rosa Drachen erzäh­le und so tue, als wären sie real, dann bin ich entwed­er ver­rückt oder ich habe das Erzählen in zwei Ebe­nen aufges­pal­ten: die Autorkom­mu­nika­tion und die Erzäh­lkom­mu­nika­tion. Was ich als Autor — als real­er Men­sch — kom­mu­niziere, ist nun mal eine andere Ebene als die, wo ich so tue, als würde ich in ein­er Welt leben, in der es rosa Drachen gibt.

Das sind die bei­den soge­nan­nten kon­sti­tu­tiv­en Ebe­nen. Hinzukom­men kann auch noch eine dritte Ebene, näm­lich die der Fig­urenkom­mu­nika­tion. Das ist, wie der Name bere­its andeutet, wenn die Fig­uren inner­halb der Erzäh­lung ihrer­seits etwas erzählen, was vom Erzäh­ler dann direkt oder indi­rekt zitiert wird. Also wenn ein rosa Drache einem anderen rosa Drachen seine Lebens­geschichte schildert. Und wenn Du meine Zusam­men­fas­sung von Genettes Erzählthe­o­rie gele­sen hast und jet­zt ger­ade an die metadiegetis­che Ebene denken musst, dann hast Du schon sehr viel ver­standen. An dieser Stelle aber zurück zum eigentlichen The­ma:

Sender und Empfänger

Wie es sich für ein Kom­mu­nika­tion­s­mod­ell gehört, gibt es einen Sender und einen Empfänger. Auf jed­er dieser Ebe­nen. Und im End­ef­fekt sieht das Mod­ell der Kom­mu­nika­tion­sebe­nen so aus:

Autor-Leser-Kommunikation: Das Modell der Kommunikationsebenen von Wolf Schmid
Mod­ell von Wolf Schmid: Ele­mente der Nar­ra­tolo­gie, 2., verbesserte Auflage, II. Die Instanzen des Erzählw­erks, 1. Mod­ell der Kom­mu­nika­tion­sebe­nen.

Außerhalb des Werks: Konkreter Autor und konkreter Leser

Auf der äußer­sten Kom­mu­nika­tion­sebene haben wir es mit realen Men­schen zu tun:

  • Der Sender ist der konkrete Autor, also die tat­säch­liche reale Per­son, die das Werk ver­fasst hat. Dieses konkrete men­schliche Indi­vidu­um existiert jen­seits des lit­er­arischen Werks, da ein Autor als Men­sch auch dann existieren würde, wenn er das Werk nie ver­fasst hätte. Die Exis­tenz des Werkes ist von sein­er Exis­tenz abhängig, aber nicht umgekehrt.
  • Der Empfänger ist der konkrete Leser. Also Du. Bzw. jede reale Per­son, die das Werk je gele­sen hat, ger­ade liest oder noch lesen wird. Auch der konkrete Leser existiert jen­seits des lit­er­arischen Werks, weil seine Exis­tenz ja nicht an die Exis­tenz des Werks gebun­den ist. Ob Du ein Buch liest oder nicht, ändert ja nichts daran, dass es Dich gibt.

Literarisches Werk: Abstrakter Autor

Kom­pliziert­er wird es, wenn der konkrete Autor und der konkrete Leser auf das lit­er­arische Werk “abfär­ben”. Denn Kom­mu­nika­tion ist nicht nur das konkret Gesagte, son­dern alles, was darin mitschwingt.

Somit enthält auch jede Äußerung in einem Text ein implizites Bild des Urhe­bers und des Adres­sat­en.

Bewe­gen wir uns kurz weg von lit­er­arischen Werken und betra­cht­en dieses Prinzip am Beispiel dieser Web­site:

Du bist mir nie begeg­net, aber Du hast eine Vorstel­lung von mir, basierend auf meinen Artikeln/Videos. Diese Vorstel­lung entspricht aber nicht unbe­d­ingt der Real­ität, ich lasse sie nicht absichtlich entste­hen und ich habe nur bed­ingt Ein­fluss darauf, wie diese Vorstel­lung in Deinem Kopf let­z­tendlich aussieht. Ich wäh­le ein­fach bes­timmte The­men, weil ich meine, dass sie mein Pub­likum inter­essieren wür­den, und/oder weil ich selb­st darüber reden möchte. Ich präsen­tiere die The­men, wie ich es am sin­nvoll­sten erachte. Und ich poliere die Tonauf­nah­men, damit sie möglichst genießbar sind. Doch anhand von all dem machst Du — meis­tens sog­ar unbe­wusst — Rückschlüsse auf meine Per­sön­lichkeit.

Und genau das­selbe find­et beim Lesen eines lit­er­arischen Werks statt:

Anhand des Textes kon­stru­iert Dein Hirn ein bes­timmtes Bild vom Autor.

Dieses Bild ist der abstrak­te Autor. Er ist nicht der Autor selb­st, aber den­noch ein dur­chaus reales Kon­strukt in Deinem Kopf. Trotz­dem ist er nicht Teil­nehmer der Kom­mu­nika­tion, weil er eben nur in Deinem Kopf existiert und keine eigene Stimme besitzt. Auch ist seine Exis­tenz nicht nur an das Werk gebun­den, auf dessen Grund­lage er ja entste­ht, son­dern auch an jeden einzel­nen Leseakt, denn bei der ersten und bei jed­er nach­fol­gen­den Lek­türe kann Dein Hirn unter­schiedliche Bilder des­sel­ben Autors pro­duzieren. Und ein ander­er Leser fab­riziert bei der Lek­türe des­sel­ben Werks ein wiederum anderes Bild.

Somit hat ein Werk so viele abstrak­te Autoren wie Lese­durch­läufe durch alle Leser der Ver­gan­gen­heit, Gegen­wart und Zukun­ft.

Zwar kann es mit der Zeit zur Bil­dung von Stereo­typen kom­men und wir sagen dann Dinge wie: “Das ist typ­isch Stephen King.” Doch auch wenn wir den Quer­schnitt aller abstrak­ten Stephen Kings nehmen, ist das immer noch kein Abbild, keine Spiegelung und kein Sprachrohr der konkreten realen Per­son. Nie­mand ken­nt den konkreten Stephen King außer den Men­schen, die ihn wirk­lich per­sön­lich ken­nen.

Wichtig ist die Unter­schei­dung zwis­chen konkretem und abstrak­tem Autor vor allem deswe­gen, weil wir Leser niemals vergessen soll­ten, dass unsere Vorstel­lung vom Autor nicht mehr ist als genau das: unsere per­sön­liche, sub­jek­tive Vorstel­lung vom Autor. Es ist nun mal falsch, vom Werk auf den Autor zu schließen:

Denn Autoren pro­bieren in ihren Werken gerne ide­ol­o­gis­che Spiel­ereien aus, exper­i­men­tieren mit Weltan­schau­un­gen und geben ihren Fig­uren oder sog­ar dem Erzäh­ler Überzeu­gun­gen, die sie selb­st nicht teilen. Somit kann der abstrak­te Autor in seinen Ansicht­en radikaler oder flex­i­bler als der konkrete Autor sein oder eben eine völ­lig andere Mei­n­ung vertreten.

Und hier begin­nt auch schon die Diskus­sion um den “Tod des Autors” — also der The­o­rie, dass man strickt zwis­chen Werk und Autor tren­nen sollte. Aber darüber kön­nen wir gerne ein ander­mal reden.

Literarisches Werk: Abstrakter Leser

Das Gegen­stück zum abstrak­ten Autor ist der abstrak­te Leser. Und wenn der abstrak­te Autor das Bild vom Autor im Kopf des Lesers ist, dann ist der abstrak­te Leser das Bild vom Leser im Kopf des Autors, während er das Werk schreibt.

Betra­cht­en wir auch dieses Prinzip am Beispiel dieser Web­site:

Eben­so wie Du Dir anhand von allen möglichen Details in meinen Artikeln/Videos ein Bild von mir zusam­men­baust, kannst Du anhand von allen möglichen Details beobacht­en, was ich für ein Bild von Dir habe. Dieses Bild bezieht sich dabei nicht auf konkrete Per­so­n­en, son­dern begann mit ein­er abstrak­ten Vorstel­lung und wurde mit­tler­weile durch meine Beobach­tun­gen im Kom­men­tar­bere­ich und in meinen Sta­tis­tiken ergänzt. Trotz­dem ist und bleibt es eine abstrak­te Vorstel­lung, bis ich alle, die mit meinen Artikeln/Videos bish­er in Berührung gekom­men sind bzw. es noch tun wer­den, per­sön­lich ken­nen­gel­ernt habe. Und obwohl es nur eine abstrak­te Vorstel­lung ist, bes­timmt sie, welche The­men ich für meine Artikel/Videos auswäh­le, wie ich sie konzip­iere, wie ich die Skripte vor­lese, wie ich das Ganze visuell präsen­tiere und wie ich es schnei­de.

Bei lit­er­arischen Werken läuft es genau­so:

Während der Autor schreibt, hat er irgen­dein Hirnge­spinst in seinem Kopf, wer das Ganze später lesen kön­nte, und dieses Hirnge­spinst wiederum “färbt” auf die Sprache, den Plot, das Pac­ing, die The­men, die Fig­uren und alles andere ab.

Allerd­ings macht Wolf Schmid auch eine wichtige Unter­schei­dung:

Er spal­tet den abstrak­ten Leser in den unter­stell­ten Adres­sat­en und den ide­alen Rezip­i­en­ten auf.

  • Der unter­stellte Adres­sat ist dabei das Hirnge­spinst, an das das Werk gerichtet ist: Der Autor unter­stellt dem zukün­fti­gen Leser, eine bes­timmte Sprache zu beherrschen und min­destens auch die Fähigkeit, einen Roman zu lesen. Weil der Inhalt des Werks sich in der Regel auf bes­timmte reale Dinge bezieht, unter­stellt der Autor dem Leser auch einen bes­timmten Bil­dungs­grad, um das Werk wirk­lich ver­ste­hen zu kön­nen. Er unter­stellt ihm außer­dem die Fähigkeit, Dinge wie Meta­phern als solche zu erken­nen, zwis­chen den Zeilen zu lesen, bes­timmte ide­ol­o­gis­che Nor­men zu teilen und die ästhetis­chen Kniffe im Werk zu erken­nen und zu schätzen.
  • Der ide­ale Rezip­i­ent ist hinge­gen die abstrak­te Krea­tur, die das Werk opti­mal lesen und ver­ste­hen würde. Er nimmt die erforder­liche Rezep­tion­shal­tung ein, er hat den notwendi­gen Bil­dungs­grad oder je nach Werk auch das notwendi­ge Aus­maß an Dummheit, er teilt die Ide­olo­gie, die das Werk prägt, etc.

Im Gegen­satz zum unter­stell­ten Adres­sat­en entspringt der ide­ale Rezip­i­ent nicht dem Hirn des Autors, son­dern geht aus dem Werk selb­st her­vor. Dieser Unter­schied wird beson­ders sicht­bar, wenn der unter­stellte Adres­sat im Kopf des Autors nicht mit der Real­ität übere­in­stimmt. So kann ein Autor, dessen unter­stell­ter Adres­sat ein Kind ist, die Sprache des Werks irrtüm­lich viel zu kom­pliziert machen, sodass der ide­ale Rezip­i­ent kein Kind mehr ist, son­dern ein Teenag­er oder vielle­icht sog­ar Erwach­sen­er, der auf Kindergeschicht­en ste­ht.

Die Wichtigkeit dieser Unter­schei­dung wird mein­er Mei­n­ung nach auch bei der gegen­wär­ti­gen Mary-Sue-Plage in der Film­branche sicht­bar:

Die Filmkonz­erne, die all diese Mary-Sue-Geschicht­en ausspuck­en, hören offen­bar die Forderun­gen nach starken Frauen. Dass das reale, konkrete Pub­likum aber vor allem starke weib­liche Per­sön­lichkeit­en mit ein­er inspiri­eren­den Charak­ter­en­twick­lung will, ver­ste­hen sie anscheinend nicht. Der unter­stellte Adres­sat hat daher nicht viel mit den konkreten Zuschauern zu tun, an die diese Kreatio­nen ver­mark­tet wer­den. Den­noch gibt es einige Zuschauer, die dem ide­alen Rezip­i­en­ten nahekom­men und unter ein­er starken Frau offen­bar ein per­sön­lichkeit­slos­es Bün­del von Per­fek­tion ver­ste­hen und sich von so etwas inspiri­ert fühlen bzw. irgend­wie eine nen­nenswerte Tiefe in diesen Mary-Sue-Fig­uren erken­nen.

Bedenkt man, dass das Ganze hier ein Kom­mu­nika­tion­s­mod­ell ist, kön­nte man die Mary-Sue-Prob­lematik unser­er Zeit als Fehlkom­mu­nika­tion betra­cht­en. Die Filmkonz­erne unter­stellen ihren Zuschauern Wün­sche und Ansicht­en, die die Zuschauer aber gar nicht haben. Das ist, wie wenn Du auf einen unbekan­nten Men­schen zugehst und ihn auf Deutsch zutex­test und nicht merkst oder ignori­erst, dass er kein Deutsch kann. Wenn Dein Gegenüber Dich daher nicht ver­ste­ht, ist es somit Deine Schuld. Eben­so wie es die Schuld der Filmkonz­erne ist, wenn sie ihren abstrak­ten Zuschauer nicht an die Real­ität anpassen, sich also nicht aus­re­ichend mit ihrem Zielpub­likum auseinan­der­set­zen. Eben­so wie auch Du selb­st schuld bist, wenn Du Dein Buch für eine Fan­tasievorstel­lung geschrieben hast, die es in der Real­ität gar nicht gibt, sodass sich kein Men­sch von Deinem Werk ange­sprochen fühlt.

Damit die Kom­mu­nika­tion zwis­chen Autor und Leser gelingt, muss man eben seine Ziel­gruppe ken­nen.

Doch darüber haben wir bere­its in einem anderen Artikel gesprochen.

Dargestellte Welt: Fiktiver Erzähler und fiktiver Leser

Deut­lich ein­fach­er ver­hält es sich auf der Ebene des fik­tiv­en Erzäh­lers und des fik­tiv­en Lesers. Denn diese bei­den Entitäten sind von den konkreten Per­so­n­en um das Werk herum viel ein­deutiger abge­gren­zt:

  • Jede Erzäh­lung hat einen Erzäh­ler und dieser ist bei einem fik­tionalen Werk fik­tiv. Deswe­gen wird er auch als fik­tiv­er Erzäh­ler beze­ich­net. Er kann sowohl expliz­it zutage treten und beispiel­sweise “ich” sagen und das Geschehen kom­men­tieren als auch nur impliz­it, unsicht­bar, im Werk enthal­ten sein, sodass man ihn nur indi­rekt an Din­gen wie der Auswahl der beschriebe­nen Momente und Details und an der Anord­nung der Szenen erken­nt. Kurzum: Einen Erzäh­ler erken­nt man an der Erzählper­spek­tive. Und von dieser Erzählper­spek­tive her kann man Schlüsse ziehen, was für eine soziale Herkun­ft er hat, über welchen Bil­dungs­grad er ver­fügt, welche Ansicht­en er ver­tritt, in welch­er Beziehung er zur erzählten Welt und den Fig­uren ste­ht etc. Wobei ein Erzäh­ler, der sich expliz­it zeigt, diese Infor­ma­tio­nen dem Leser gerne auch von sich aus gibt. Dass er dabei wed­er der Autor noch dessen Bild oder Abbild ist, liegt auf der Hand — vor allem, wenn der Erzäh­ler ein Kind ist und einen Teil von dem, was er beschreibt, vielle­icht nicht ver­ste­ht oder eine sehr eigene Sichtweise darauf hat, oder auch ein Tier oder ein Gegen­stand ist oder ein anderes Geschlecht hat als der Autor, eine andere Herkun­ft … Und selb­st wenn der Erzäh­ler dem Autor zu ähneln scheint, ist er immer noch nicht der Autor.
  • Der Adres­sat des fik­tiv­en Erzäh­lers ist der fik­tive Leser. Denn eben­so wie jede Erzäh­lung von jeman­dem erzählt wird, spricht kein Erzäh­ler ein­fach so ins Blaue hinein, son­dern set­zt voraus, dass die Erzäh­lung jeman­den inter­essieren wird. Somit hat jede Erzäh­lung auch einen fik­tiv­en Leser, im Prinzip ein Bild des unter­stell­ten Adres­sat­en, der in einem Werk — eben­so wie der fik­tive Erzäh­ler — sowohl expliz­it als auch impliz­it enthal­ten sein kann. Seine implizite Präsenz merkt man aller­min­destens daran, dass der Erzäh­ler die Erzäh­lung ja nach seinem Adres­sat­en aus­richtet: Er ord­net die Szenen auf eine bes­timmte Weise an, wählt eine bes­timmte Sprache etc. Seine explizite Präsenz ist erst recht nicht zu überse­hen, wenn der Erzäh­ler sich beispiel­sweise direkt an ihn wen­det, ihm offen irgendwelche Ansicht­en oder Charak­ter­merk­male unter­stellt, ihn begrüßt oder sich ver­ab­schiedet. Und natür­lich hat der fik­tive Leser her­zlich wenig mit dem konkreten Leser zu tun, denn wenn der Erzäh­ler sich beispiel­sweise an einen Leser wen­det, der gemütlich im Ses­sel sitzt, kann ich als konkrete Leserin auch im Zug sitzen und dem Autor kann beim Schreiben auch dur­chaus bewusst gewe­sen sein, dass sein unter­stell­ter Adres­sat sein Buch nicht nur im Ses­sel lesen würde.

Brüche der vierten Wand

So viel zu mein­er auf das Wesentliche reduzierten Zusam­men­fas­sung des Mod­ells. Es gibt, wie gesagt, noch die optionale Ebene der Fig­urenkom­mu­nika­tion, allerd­ings ist sie die sim­pel­ste von allen, weil die erzählte Welt, in der die Geschichte stat­tfind­et, in der Regel ja sehr strikt von der realen Welt abge­tren­nt ist: Selb­st wenn in einem fik­tionalen Werk reale Dinge, Ereignisse oder Per­so­n­en vorkom­men, sind sie immer noch fik­tiv bzw. qua­si-real. Darüber haben wir ja bere­its in einem früheren Artikel gesprochen.

Den­noch kann es zu ein­er Art Ver­mis­chung der Ebe­nen, zu soge­nan­nten Met­alepsen, kom­men, beispiel­sweise durch den Bruch der vierten Wand. Dieses Phänomen haben wir bere­its im Zusam­men­hang mit dem Mod­ell von Gérard Genette behan­delt und es ist bei Schmid eigentlich kein The­ma, aber über­tra­gen wir es trotz­dem mal auf das Mod­ell der Kom­mu­nika­tion­sebe­nen:

  • Um ein Beispiel aus dem Artikel über Genettes Mod­ell aufzu­greifen, wen­den wir uns Dead­pool zu, der regelmäßig mit den Filmzuschauern quas­selt. — Aber mit wem quas­selt er denn wirk­lich? Mit dem konkreten Zuschauer jeden­falls nicht. Denn wenn er den Zuschauer expliz­it vor einem Spoil­er zum Film 127 Hours warnt, dann wen­det er sich an das Pub­likum unser­er Jahre. Denn Spoil­er-Alerts sind ein Phänomen unseres Social-Media-Zeital­ters und wer­den in der Zukun­ft vielle­icht an Rel­e­vanz ver­lieren. Dead­pools Witz wird also altern, weil der unter­stellte Adres­sat der Schöpfer des Films und mit ihm der fik­tive Zuschauer, der von Dead­pool in Wirk­lichkeit ange­quas­selt wird, offen­bar ein junger Erwach­sen­er des frühen 21. Jahrhun­derts mit reich­er Social-Media-Erfahrung ist und sich mit der zeit­genös­sis­chen Pop­kul­tur ausken­nt. Der Bruch der vierten Wand gelingt nur, wenn diese Beschrei­bung auch auf den konkreten Zuschauer zutrifft, sodass er sich mit dem ange­quas­sel­ten fik­tiv­en Zuschauer iden­ti­fizieren kann.
  • Ein inter­es­santes Mit­tel, die vierte Wand auf sub­tile Weise zu durch­brechen, ist, fik­tive Fig­uren, den fik­tiv­en Leser bzw. Zuschauer und den konkreten Leser bzw. Zuschauer in dieselbe Sit­u­a­tion zu brin­gen. Und weil der Schöpfer ein­er Erzäh­lung vom konkreten Rezip­i­en­ten in der Regel nicht mehr weiß als dass er das Werk rezip­iert, haben solche Brüche gerne etwas mit dem Rezip­ieren selb­st zu tun. Denn was haben beispiel­sweise der erste Hunger Games-Film und Glad­i­a­tor gemein­sam? — Richtig, es geht um Gewal­texzesse als Spek­takel. Die Botschaften der bei­den Filme ein­mal bei­seite — irgend­wie, irgend­wo schaut man sie sich an, weil man sich an den bluti­gen Action-Szenen erfreut. Eben­so wie die Men­schen im Kapi­tol und die Zuschauer im Kolos­se­um vor allem durch eine blutige Show unter­hal­ten wer­den wollen. Ja, ich weiß, du fieberst mit den noblen Helden mit, aber in Wirk­lichkeit bist Du doch eher ein­er von den unzäh­li­gen blut­geilen Zuschauern, die sich von den Gewal­texzessen unter­hal­ten lassen.
  • Auf richtig außergewöhn­liche Weise wer­den die Kom­mu­nika­tion­sebe­nen in der Badf­ic My Immor­tal von Tara Giles­bie aufge­sprengt. Wie das genau funk­tion­iert, habe ich bere­its in mein­er Erzäh­lanalyse dieses Mach­w­erks dargelegt. Doch kurz zusam­menge­fasst: Eine wichtige Rolle spielt hier Social Media. In seinem Kom­mu­nika­tion­s­mod­ell spricht Wolf Schmid nicht darüber, dass man mit einem Autor heutzu­tage nicht nur über seine Werke oder Inter­views oder andere ein­seit­ige Kom­mu­nika­tion­swege kom­mu­niziert, son­dern im Zeital­ter von Social Media auch direk­ten Kon­takt zum Urhe­ber eines Werks auf­bauen kann, was sich wiederum auf seine Werke auswirken kann. Denn ja, durch meine Artikel/Videos entste­ht in Deinem Kopf eine Vorstel­lung von mir, aber wenn ich auf Deine Kom­mentare oder Deine E‑Mails antworte, dann tut das nicht eine abstrak­te Feael Sil­marien in Dein­er Vorstel­lung, son­dern ich als konkrete Per­son. Natür­lich lernst Du mich auch durch meine Antworten nicht wirk­lich ken­nen und kor­rigierst nur Deine Vorstel­lung von mir, aber an dieser Stelle rutschen wir bere­its in eine philosophis­che Diskus­sion darüber, inwiefern wir über­haupt fähig sind, mit anderen Men­schen direkt zu kom­mu­nizieren. Ob wir nicht eigentlich immer nur mit Vorstel­lun­gen voneinan­der reden, auch wenn wir uns schon seit Jahren per­sön­lich ken­nen. Doch diese Diskus­sion sprengt das The­ma dieses Artikels und der Web­site ins­ge­samt, daher über­lasse ich Dich an dieser Stelle Deinen Grü­beleien.

Schlusswort

Das Kom­mu­nika­tion­s­mod­ell von Wolf Schmid ist nüt­zlich, wenn Du lit­er­arische Werke bess­er ver­ste­hen, inter­pretieren und über sie kom­pe­ten­ter disku­tieren möcht­est. Doch auch Autoren kön­nen davon prof­i­tieren: Denn es zeigt nicht nur die Wichtigkeit ein­er genau definierten Ziel­gruppe, son­dern auch die exper­i­mentellen Möglichkeit­en, die eine Abspal­tung des fik­tiv­en Erzäh­lers und der Fig­uren vom konkreten Autor mit sich bringt. Und natür­lich kannst Du durch Spiel­ereien mit Fig­uren und dem abstrak­ten Leser die vierte Wand auf­brechen und den konkreten Leser aus den Sock­en hauen.

Vor allem aber bleibt die Kom­mu­nika­tion zwis­chen Dir und Deinen Lesern so lange beste­hen, wie Dein Werk gele­sen wird. So haben, wie gesagt, drei Men­schen, die lange vor mein­er Geburt gestor­ben sind, näm­lich Tolkien, Dos­to­jew­s­ki und Remar­que, mein Leben mas­siv und zum Pos­i­tiv­en bee­in­flusst und ohne sie gäbe es diese Web­site ver­mut­lich auch gar nicht. Und ja, es sind “nur” die abstrak­ten Autoren, die in den Werken weit­er­leben. Nichts­destotrotz entste­hen diese abstrak­ten Autoren aber auf Grund­lage dessen, was die konkreten Autoren geschaf­fen haben.

So abstrakt ein abstrak­ter Autor also auch sein mag, ein Funke des konkreten Autors steckt in ihm dann doch drin. In irgen­dein­er Form lebt die Seele des Autors in seinem Werk weit­er wie in einem Horkrux. Der abstrak­te Autor ist eben immer noch real und vor allem unsterblich.

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