Autor-Leser-Kommunikation: Das Modell der Kommunikationsebenen von Wolf Schmid

Autor-Leser-Kommunikation: Das Modell der Kommunikationsebenen von Wolf Schmid

Erzäh­len ist eine Form von Kom­mu­ni­ka­ti­on. Auch wenn der Autor nicht direkt zu sei­nen Lesern spricht, nimmt er sie den­noch emo­tio­nal mit und regt sie zum Nach­den­ken an. Wie funk­tio­niert das also? Durch wel­che Instan­zen geht die­se Art der Kom­mu­ni­ka­ti­on? Und was bedeu­tet es für das Erzäh­len und Rezi­pie­ren von Geschich­ten? – In die­sem Arti­kel suchen wir in Wolf Schmids Modell der Kom­mu­ni­ka­ti­ons­ebe­nen nach Antworten.

Die Foli­en für die­ses Video gibt es für Ste­ady-Abon­nen­ten und Kanal­mitglieder auf You­Tube als PDF zum Download.

Was ist, wenn ich Dir sage, dass Du mit Toten kom­mu­ni­zie­ren kannst? Und es viel­leicht sogar regel­mä­ßig tust? Was ist, wenn ich sage, dass drei Men­schen, die lan­ge vor mei­ner Geburt gestor­ben sind, mein Leben maß­geb­lich beein­flusst haben? Was ist, wenn ich sage, dass die Unsterb­lich­keit von gro­ßen Autoren nicht nur meta­pho­risch ist?

Ich den­ke, wir alle kön­nen uns dar­auf eini­gen, dass Lite­ra­tur Unglaub­li­ches leistet.

Sie ist nun mal eine Form von Kom­mu­ni­ka­ti­on und daher in der Lage, uns mit Men­schen, die längst nicht mehr leben, und Zivi­li­sa­tio­nen, die längst unter­ge­gan­gen sind, zu verbinden.

Und das alles nicht irgend­wie meta­phy­sisch, son­dern äußerst erklär­bar. Und ein Ansatz, die Kom­mu­ni­ka­ti­on zwi­schen Autor und Leser zu beschrei­ben und zu erklä­ren, ist das Modell der Kom­mu­ni­ka­ti­ons­ebe­nen von Wolf Schmid. Das möch­te ich in die­sem Arti­kel vorstellen.

Denn wer weiß, wie die Kom­mu­ni­ka­ti­on zwi­schen Autor und Leser funk­tio­niert, kann nicht nur die Magie der Lite­ra­tur bewun­dern, son­dern sie auch gezielt nut­zen, um beim Leser bestimm­te Effek­te zu errei­chen.

Die Kommunikationsebenen

Fik­tio­na­le Tex­te erzäh­len nicht selbst. Viel­mehr stel­len sie dar, wie etwas erzählt wird.

Denn wenn ich Dir etwas über rosa Dra­chen erzäh­le und so tue, als wären sie real, dann bin ich ent­we­der ver­rückt oder ich habe das Erzäh­len in zwei Ebe­nen auf­ge­spal­ten: die Autor­kom­mu­ni­ka­ti­on und die Erzähl­kom­mu­ni­ka­ti­on. Was ich als Autor – als rea­ler Mensch – kom­mu­ni­zie­re, ist nun mal eine ande­re Ebe­ne als die, wo ich so tue, als wür­de ich in einer Welt leben, in der es rosa Dra­chen gibt.

Das sind die bei­den soge­nann­ten kon­sti­tu­ti­ven Ebe­nen. Hin­zu­kom­men kann auch noch eine drit­te Ebe­ne, näm­lich die der Figu­ren­kom­mu­ni­ka­ti­on. Das ist, wie der Name bereits andeu­tet, wenn die Figu­ren inner­halb der Erzäh­lung ihrer­seits etwas erzäh­len, was vom Erzäh­ler dann direkt oder indi­rekt zitiert wird. Also wenn ein rosa Dra­che einem ande­ren rosa Dra­chen sei­ne Lebens­ge­schich­te schil­dert. Und wenn Du mei­ne Zusam­men­fas­sung von Genet­tes Erzähl­theo­rie gele­sen hast und jetzt gera­de an die meta­die­ge­ti­sche Ebe­ne den­ken musst, dann hast Du schon sehr viel ver­stan­den. An die­ser Stel­le aber zurück zum eigent­li­chen Thema:

Sender und Empfänger

Wie es sich für ein Kom­mu­ni­ka­ti­ons­mo­dell gehört, gibt es einen Sen­der und einen Emp­fän­ger. Auf jeder die­ser Ebe­nen. Und im End­ef­fekt sieht das Modell der Kom­mu­ni­ka­ti­ons­ebe­nen so aus:

Autor-Leser-Kommunikation: Das Modell der Kommunikationsebenen von Wolf Schmid
Modell von Wolf Schmid: Ele­men­te der Nar­ra­to­lo­gie, 2., ver­bes­ser­te Auf­la­ge, II. Die Instan­zen des Erzähl­werks, 1. Modell der Kommunikationsebenen.

Außerhalb des Werks: Konkreter Autor und konkreter Leser

Auf der äußers­ten Kom­mu­ni­ka­ti­ons­ebe­ne haben wir es mit rea­len Men­schen zu tun:

  • Der Sen­der ist der kon­kre­te Autor, also die tat­säch­li­che rea­le Per­son, die das Werk ver­fasst hat. Die­ses kon­kre­te mensch­li­che Indi­vi­du­um exis­tiert jen­seits des lite­ra­ri­schen Werks, da ein Autor als Mensch auch dann exis­tie­ren wür­de, wenn er das Werk nie ver­fasst hät­te. Die Exis­tenz des Wer­kes ist von sei­ner Exis­tenz abhän­gig, aber nicht umgekehrt.
  • Der Emp­fän­ger ist der kon­kre­te Leser. Also Du. Bzw. jede rea­le Per­son, die das Werk je gele­sen hat, gera­de liest oder noch lesen wird. Auch der kon­kre­te Leser exis­tiert jen­seits des lite­ra­ri­schen Werks, weil sei­ne Exis­tenz ja nicht an die Exis­tenz des Werks gebun­den ist. Ob Du ein Buch liest oder nicht, ändert ja nichts dar­an, dass es Dich gibt.

Literarisches Werk: Abstrakter Autor

Kom­pli­zier­ter wird es, wenn der kon­kre­te Autor und der kon­kre­te Leser auf das lite­ra­ri­sche Werk „abfär­ben“. Denn Kom­mu­ni­ka­ti­on ist nicht nur das kon­kret Gesag­te, son­dern alles, was dar­in mitschwingt.

Somit ent­hält auch jede Äuße­rung in einem Text ein impli­zi­tes Bild des Urhe­bers und des Adres­sa­ten.

Bewe­gen wir uns kurz weg von lite­ra­ri­schen Wer­ken und betrach­ten die­ses Prin­zip am Bei­spiel die­ser Website:

Du bist mir nie begeg­net, aber Du hast eine Vor­stel­lung von mir, basie­rend auf mei­nen Artikeln/​Videos. Die­se Vor­stel­lung ent­spricht aber nicht unbe­dingt der Rea­li­tät, ich las­se sie nicht absicht­lich ent­ste­hen und ich habe nur bedingt Ein­fluss dar­auf, wie die­se Vor­stel­lung in Dei­nem Kopf letzt­end­lich aus­sieht. Ich wäh­le ein­fach bestimm­te The­men, weil ich mei­ne, dass sie mein Publi­kum inter­es­sie­ren wür­den, und/​oder weil ich selbst dar­über reden möch­te. Ich prä­sen­tie­re die The­men, wie ich es am sinn­volls­ten erach­te. Und ich polie­re die Ton­auf­nah­men, damit sie mög­lichst genieß­bar sind. Doch anhand von all dem machst Du – meis­tens sogar unbe­wusst – Rück­schlüs­se auf mei­ne Persönlichkeit.

Und genau das­sel­be fin­det beim Lesen eines lite­ra­ri­schen Werks statt:

Anhand des Tex­tes kon­stru­iert Dein Hirn ein bestimm­tes Bild vom Autor.

Die­ses Bild ist der abs­trak­te Autor. Er ist nicht der Autor selbst, aber den­noch ein durch­aus rea­les Kon­strukt in Dei­nem Kopf. Trotz­dem ist er nicht Teil­neh­mer der Kom­mu­ni­ka­ti­on, weil er eben nur in Dei­nem Kopf exis­tiert und kei­ne eige­ne Stim­me besitzt. Auch ist sei­ne Exis­tenz nicht nur an das Werk gebun­den, auf des­sen Grund­la­ge er ja ent­steht, son­dern auch an jeden ein­zel­nen Lese­akt, denn bei der ers­ten und bei jeder nach­fol­gen­den Lek­tü­re kann Dein Hirn unter­schied­li­che Bil­der des­sel­ben Autors pro­du­zie­ren. Und ein ande­rer Leser fabri­ziert bei der Lek­tü­re des­sel­ben Werks ein wie­der­um ande­res Bild.

Somit hat ein Werk so vie­le abs­trak­te Autoren wie Lese­durch­läu­fe durch alle Leser der Ver­gan­gen­heit, Gegen­wart und Zukunft.

Zwar kann es mit der Zeit zur Bil­dung von Ste­reo­ty­pen kom­men und wir sagen dann Din­ge wie: „Das ist typisch Ste­phen King.“ Doch auch wenn wir den Quer­schnitt aller abs­trak­ten Ste­phen Kings neh­men, ist das immer noch kein Abbild, kei­ne Spie­ge­lung und kein Sprach­rohr der kon­kre­ten rea­len Per­son. Nie­mand kennt den kon­kre­ten Ste­phen King außer den Men­schen, die ihn wirk­lich per­sön­lich kennen.

Wich­tig ist die Unter­schei­dung zwi­schen kon­kre­tem und abs­trak­tem Autor vor allem des­we­gen, weil wir Leser nie­mals ver­ges­sen soll­ten, dass unse­re Vor­stel­lung vom Autor nicht mehr ist als genau das: unse­re per­sön­li­che, sub­jek­ti­ve Vor­stel­lung vom Autor. Es ist nun mal falsch, vom Werk auf den Autor zu schlie­ßen:

Denn Autoren pro­bie­ren in ihren Wer­ken ger­ne ideo­lo­gi­sche Spie­le­rei­en aus, expe­ri­men­tie­ren mit Welt­an­schau­un­gen und geben ihren Figu­ren oder sogar dem Erzäh­ler Über­zeu­gun­gen, die sie selbst nicht tei­len. Somit kann der abs­trak­te Autor in sei­nen Ansich­ten radi­ka­ler oder fle­xi­bler als der kon­kre­te Autor sein oder eben eine völ­lig ande­re Mei­nung vertreten.

Und hier beginnt auch schon die Dis­kus­si­on um den „Tod des Autors“ – also der Theo­rie, dass man strickt zwi­schen Werk und Autor tren­nen soll­te. Aber dar­über kön­nen wir ger­ne ein ander­mal reden.

Literarisches Werk: Abstrakter Leser

Das Gegen­stück zum abs­trak­ten Autor ist der abs­trak­te Leser. Und wenn der abs­trak­te Autor das Bild vom Autor im Kopf des Lesers ist, dann ist der abs­trak­te Leser das Bild vom Leser im Kopf des Autors, wäh­rend er das Werk schreibt.

Betrach­ten wir auch die­ses Prin­zip am Bei­spiel die­ser Website:

Eben­so wie Du Dir anhand von allen mög­li­chen Details in mei­nen Artikeln/​Videos ein Bild von mir zusam­men­baust, kannst Du anhand von allen mög­li­chen Details beob­ach­ten, was ich für ein Bild von Dir habe. Die­ses Bild bezieht sich dabei nicht auf kon­kre­te Per­so­nen, son­dern begann mit einer abs­trak­ten Vor­stel­lung und wur­de mitt­ler­wei­le durch mei­ne Beob­ach­tun­gen im Kom­men­tar­be­reich und in mei­nen Sta­tis­ti­ken ergänzt. Trotz­dem ist und bleibt es eine abs­trak­te Vor­stel­lung, bis ich alle, die mit mei­nen Artikeln/​Videos bis­her in Berüh­rung gekom­men sind bzw. es noch tun wer­den, per­sön­lich ken­nen­ge­lernt habe. Und obwohl es nur eine abs­trak­te Vor­stel­lung ist, bestimmt sie, wel­che The­men ich für mei­ne Artikel/​Videos aus­wäh­le, wie ich sie kon­zi­pie­re, wie ich die Skrip­te vor­le­se, wie ich das Gan­ze visu­ell prä­sen­tie­re und wie ich es schneide.

Bei lite­ra­ri­schen Wer­ken läuft es genauso:

Wäh­rend der Autor schreibt, hat er irgend­ein Hirn­ge­spinst in sei­nem Kopf, wer das Gan­ze spä­ter lesen könn­te, und die­ses Hirn­ge­spinst wie­der­um „färbt“ auf die Spra­che, den Plot, das Pacing, die The­men, die Figu­ren und alles ande­re ab.

Aller­dings macht Wolf Schmid auch eine wich­ti­ge Unterscheidung:

Er spal­tet den abs­trak­ten Leser in den unter­stell­ten Adres­sa­ten und den idea­len Rezi­pi­en­ten auf.

  • Der unter­stell­te Adres­sat ist dabei das Hirn­ge­spinst, an das das Werk gerich­tet ist: Der Autor unter­stellt dem zukünf­ti­gen Leser, eine bestimm­te Spra­che zu beherr­schen und min­des­tens auch die Fähig­keit, einen Roman zu lesen. Weil der Inhalt des Werks sich in der Regel auf bestimm­te rea­le Din­ge bezieht, unter­stellt der Autor dem Leser auch einen bestimm­ten Bil­dungs­grad, um das Werk wirk­lich ver­ste­hen zu kön­nen. Er unter­stellt ihm außer­dem die Fähig­keit, Din­ge wie Meta­phern als sol­che zu erken­nen, zwi­schen den Zei­len zu lesen, bestimm­te ideo­lo­gi­sche Nor­men zu tei­len und die ästhe­ti­schen Knif­fe im Werk zu erken­nen und zu schätzen.
  • Der idea­le Rezi­pi­ent ist hin­ge­gen die abs­trak­te Krea­tur, die das Werk opti­mal lesen und ver­ste­hen wür­de. Er nimmt die erfor­der­li­che Rezep­ti­ons­hal­tung ein, er hat den not­wen­di­gen Bil­dungs­grad oder je nach Werk auch das not­wen­di­ge Aus­maß an Dumm­heit, er teilt die Ideo­lo­gie, die das Werk prägt, etc.

Im Gegen­satz zum unter­stell­ten Adres­sa­ten ent­springt der idea­le Rezi­pi­ent nicht dem Hirn des Autors, son­dern geht aus dem Werk selbst her­vor. Die­ser Unter­schied wird beson­ders sicht­bar, wenn der unter­stell­te Adres­sat im Kopf des Autors nicht mit der Rea­li­tät über­ein­stimmt. So kann ein Autor, des­sen unter­stell­ter Adres­sat ein Kind ist, die Spra­che des Werks irr­tüm­lich viel zu kom­pli­ziert machen, sodass der idea­le Rezi­pi­ent kein Kind mehr ist, son­dern ein Teen­ager oder viel­leicht sogar Erwach­se­ner, der auf Kin­der­ge­schich­ten steht.

Die Wich­tig­keit die­ser Unter­schei­dung wird mei­ner Mei­nung nach auch bei der gegen­wär­ti­gen Mary-Sue-Pla­ge in der Film­bran­che sichtbar:

Die Film­kon­zer­ne, die all die­se Mary-Sue-Geschich­ten aus­spu­cken, hören offen­bar die For­de­run­gen nach star­ken Frau­en. Dass das rea­le, kon­kre­te Publi­kum aber vor allem star­ke weib­li­che Per­sön­lich­kei­ten mit einer inspi­rie­ren­den Cha­rak­ter­ent­wick­lung will, ver­ste­hen sie anschei­nend nicht. Der unter­stell­te Adres­sat hat daher nicht viel mit den kon­kre­ten Zuschau­ern zu tun, an die die­se Krea­tio­nen ver­mark­tet wer­den. Den­noch gibt es eini­ge Zuschau­er, die dem idea­len Rezi­pi­en­ten nahe­kom­men und unter einer star­ken Frau offen­bar ein per­sön­lich­keits­lo­ses Bün­del von Per­fek­ti­on ver­ste­hen und sich von so etwas inspi­riert füh­len bzw. irgend­wie eine nen­nens­wer­te Tie­fe in die­sen Mary-Sue-Figu­ren erkennen.

Bedenkt man, dass das Gan­ze hier ein Kom­mu­ni­ka­ti­ons­mo­dell ist, könn­te man die Mary-Sue-Pro­ble­ma­tik unse­rer Zeit als Fehl­kom­mu­ni­ka­ti­on betrach­ten. Die Film­kon­zer­ne unter­stel­len ihren Zuschau­ern Wün­sche und Ansich­ten, die die Zuschau­er aber gar nicht haben. Das ist, wie wenn Du auf einen unbe­kann­ten Men­schen zugehst und ihn auf Deutsch zutex­test und nicht merkst oder igno­rierst, dass er kein Deutsch kann. Wenn Dein Gegen­über Dich daher nicht ver­steht, ist es somit Dei­ne Schuld. Eben­so wie es die Schuld der Film­kon­zer­ne ist, wenn sie ihren abs­trak­ten Zuschau­er nicht an die Rea­li­tät anpas­sen, sich also nicht aus­rei­chend mit ihrem Ziel­pu­bli­kum aus­ein­an­der­set­zen. Eben­so wie auch Du selbst schuld bist, wenn Du Dein Buch für eine Fan­ta­sie­vor­stel­lung geschrie­ben hast, die es in der Rea­li­tät gar nicht gibt, sodass sich kein Mensch von Dei­nem Werk ange­spro­chen fühlt.

Damit die Kom­mu­ni­ka­ti­on zwi­schen Autor und Leser gelingt, muss man eben sei­ne Ziel­grup­pe ken­nen.

Doch dar­über haben wir bereits in einem ande­ren Arti­kel gesprochen.

Dargestellte Welt: Fiktiver Erzähler und fiktiver Leser

Deut­lich ein­fa­cher ver­hält es sich auf der Ebe­ne des fik­ti­ven Erzäh­lers und des fik­ti­ven Lesers. Denn die­se bei­den Enti­tä­ten sind von den kon­kre­ten Per­so­nen um das Werk her­um viel ein­deu­ti­ger abgegrenzt:

  • Jede Erzäh­lung hat einen Erzäh­ler und die­ser ist bei einem fik­tio­na­len Werk fik­tiv. Des­we­gen wird er auch als fik­ti­ver Erzäh­ler bezeich­net. Er kann sowohl expli­zit zuta­ge tre­ten und bei­spiels­wei­se „ich“ sagen und das Gesche­hen kom­men­tie­ren als auch nur impli­zit, unsicht­bar, im Werk ent­hal­ten sein, sodass man ihn nur indi­rekt an Din­gen wie der Aus­wahl der beschrie­be­nen Momen­te und Details und an der Anord­nung der Sze­nen erkennt. Kurz­um: Einen Erzäh­ler erkennt man an der Erzähl­per­spek­ti­ve. Und von die­ser Erzähl­per­spek­ti­ve her kann man Schlüs­se zie­hen, was für eine sozia­le Her­kunft er hat, über wel­chen Bil­dungs­grad er ver­fügt, wel­che Ansich­ten er ver­tritt, in wel­cher Bezie­hung er zur erzähl­ten Welt und den Figu­ren steht etc. Wobei ein Erzäh­ler, der sich expli­zit zeigt, die­se Infor­ma­tio­nen dem Leser ger­ne auch von sich aus gibt. Dass er dabei weder der Autor noch des­sen Bild oder Abbild ist, liegt auf der Hand – vor allem, wenn der Erzäh­ler ein Kind ist und einen Teil von dem, was er beschreibt, viel­leicht nicht ver­steht oder eine sehr eige­ne Sicht­wei­se dar­auf hat, oder auch ein Tier oder ein Gegen­stand ist oder ein ande­res Geschlecht hat als der Autor, eine ande­re Her­kunft … Und selbst wenn der Erzäh­ler dem Autor zu ähneln scheint, ist er immer noch nicht der Autor.
  • Der Adres­sat des fik­ti­ven Erzäh­lers ist der fik­ti­ve Leser. Denn eben­so wie jede Erzäh­lung von jeman­dem erzählt wird, spricht kein Erzäh­ler ein­fach so ins Blaue hin­ein, son­dern setzt vor­aus, dass die Erzäh­lung jeman­den inter­es­sie­ren wird. Somit hat jede Erzäh­lung auch einen fik­ti­ven Leser, im Prin­zip ein Bild des unter­stell­ten Adres­sa­ten, der in einem Werk – eben­so wie der fik­ti­ve Erzäh­ler – sowohl expli­zit als auch impli­zit ent­hal­ten sein kann. Sei­ne impli­zi­te Prä­senz merkt man aller­min­des­tens dar­an, dass der Erzäh­ler die Erzäh­lung ja nach sei­nem Adres­sa­ten aus­rich­tet: Er ord­net die Sze­nen auf eine bestimm­te Wei­se an, wählt eine bestimm­te Spra­che etc. Sei­ne expli­zi­te Prä­senz ist erst recht nicht zu über­se­hen, wenn der Erzäh­ler sich bei­spiels­wei­se direkt an ihn wen­det, ihm offen irgend­wel­che Ansich­ten oder Cha­rak­ter­merk­ma­le unter­stellt, ihn begrüßt oder sich ver­ab­schie­det. Und natür­lich hat der fik­ti­ve Leser herz­lich wenig mit dem kon­kre­ten Leser zu tun, denn wenn der Erzäh­ler sich bei­spiels­wei­se an einen Leser wen­det, der gemüt­lich im Ses­sel sitzt, kann ich als kon­kre­te Lese­rin auch im Zug sit­zen und dem Autor kann beim Schrei­ben auch durch­aus bewusst gewe­sen sein, dass sein unter­stell­ter Adres­sat sein Buch nicht nur im Ses­sel lesen würde.

Brüche der vierten Wand

So viel zu mei­ner auf das Wesent­li­che redu­zier­ten Zusam­men­fas­sung des Modells. Es gibt, wie gesagt, noch die optio­na­le Ebe­ne der Figu­ren­kom­mu­ni­ka­ti­on, aller­dings ist sie die sim­pels­te von allen, weil die erzähl­te Welt, in der die Geschich­te statt­fin­det, in der Regel ja sehr strikt von der rea­len Welt abge­trennt ist: Selbst wenn in einem fik­tio­na­len Werk rea­le Din­ge, Ereig­nis­se oder Per­so­nen vor­kom­men, sind sie immer noch fik­tiv bzw. qua­si-real. Dar­über haben wir ja bereits in einem frü­he­ren Arti­kel gesprochen.

Den­noch kann es zu einer Art Ver­mi­schung der Ebe­nen, zu soge­nann­ten Meta­lep­sen, kom­men, bei­spiels­wei­se durch den Bruch der vier­ten Wand. Die­ses Phä­no­men haben wir bereits im Zusam­men­hang mit dem Modell von Gérard Genet­te behan­delt und es ist bei Schmid eigent­lich kein The­ma, aber über­tra­gen wir es trotz­dem mal auf das Modell der Kommunikationsebenen:

  • Um ein Bei­spiel aus dem Arti­kel über Genet­tes Modell auf­zu­grei­fen, wen­den wir uns Dead­pool zu, der regel­mä­ßig mit den Film­zu­schau­ern quas­selt. – Aber mit wem quas­selt er denn wirk­lich? Mit dem kon­kre­ten Zuschau­er jeden­falls nicht. Denn wenn er den Zuschau­er expli­zit vor einem Spoi­ler zum Film 127 Hours warnt, dann wen­det er sich an das Publi­kum unse­rer Jah­re. Denn Spoi­ler-Alerts sind ein Phä­no­men unse­res Social-Media-Zeit­al­ters und wer­den in der Zukunft viel­leicht an Rele­vanz ver­lie­ren. Dead­pools Witz wird also altern, weil der unter­stell­te Adres­sat der Schöp­fer des Films und mit ihm der fik­ti­ve Zuschau­er, der von Dead­pool in Wirk­lich­keit ange­quas­selt wird, offen­bar ein jun­ger Erwach­se­ner des frü­hen 21. Jahr­hun­derts mit rei­cher Social-Media-Erfah­rung ist und sich mit der zeit­ge­nös­si­schen Pop­kul­tur aus­kennt. Der Bruch der vier­ten Wand gelingt nur, wenn die­se Beschrei­bung auch auf den kon­kre­ten Zuschau­er zutrifft, sodass er sich mit dem ange­quas­sel­ten fik­ti­ven Zuschau­er iden­ti­fi­zie­ren kann.
  • Ein inter­es­san­tes Mit­tel, die vier­te Wand auf sub­ti­le Wei­se zu durch­bre­chen, ist, fik­ti­ve Figu­ren, den fik­ti­ven Leser bzw. Zuschau­er und den kon­kre­ten Leser bzw. Zuschau­er in die­sel­be Situa­ti­on zu brin­gen. Und weil der Schöp­fer einer Erzäh­lung vom kon­kre­ten Rezi­pi­en­ten in der Regel nicht mehr weiß als dass er das Werk rezi­piert, haben sol­che Brü­che ger­ne etwas mit dem Rezi­pie­ren selbst zu tun. Denn was haben bei­spiels­wei­se der ers­te Hun­ger Games-Film und Gla­dia­tor gemein­sam? – Rich­tig, es geht um Gewalt­ex­zes­se als Spek­ta­kel. Die Bot­schaf­ten der bei­den Fil­me ein­mal bei­sei­te – irgend­wie, irgend­wo schaut man sie sich an, weil man sich an den blu­ti­gen Action-Sze­nen erfreut. Eben­so wie die Men­schen im Kapi­tol und die Zuschau­er im Kolos­se­um vor allem durch eine blu­ti­ge Show unter­hal­ten wer­den wol­len. Ja, ich weiß, du fie­berst mit den noblen Hel­den mit, aber in Wirk­lich­keit bist Du doch eher einer von den unzäh­li­gen blut­gei­len Zuschau­ern, die sich von den Gewalt­ex­zes­sen unter­hal­ten lassen.
  • Auf rich­tig außer­ge­wöhn­li­che Wei­se wer­den die Kom­mu­ni­ka­ti­ons­ebe­nen in der Bad­fic My Immor­tal von Tara Giles­bie auf­ge­sprengt. Wie das genau funk­tio­niert, habe ich bereits in mei­ner Erzähl­ana­ly­se die­ses Mach­werks dar­ge­legt. Doch kurz zusam­men­ge­fasst: Eine wich­ti­ge Rol­le spielt hier Social Media. In sei­nem Kom­mu­ni­ka­ti­ons­mo­dell spricht Wolf Schmid nicht dar­über, dass man mit einem Autor heut­zu­ta­ge nicht nur über sei­ne Wer­ke oder Inter­views oder ande­re ein­sei­ti­ge Kom­mu­ni­ka­ti­ons­we­ge kom­mu­ni­ziert, son­dern im Zeit­al­ter von Social Media auch direk­ten Kon­takt zum Urhe­ber eines Werks auf­bau­en kann, was sich wie­der­um auf sei­ne Wer­ke aus­wir­ken kann. Denn ja, durch mei­ne Artikel/​Videos ent­steht in Dei­nem Kopf eine Vor­stel­lung von mir, aber wenn ich auf Dei­ne Kom­men­ta­re oder Dei­ne E‑Mails ant­wor­te, dann tut das nicht eine abs­trak­te Fea­el Sil­ma­ri­en in Dei­ner Vor­stel­lung, son­dern ich als kon­kre­te Per­son. Natür­lich lernst Du mich auch durch mei­ne Ant­wor­ten nicht wirk­lich ken­nen und kor­ri­gierst nur Dei­ne Vor­stel­lung von mir, aber an die­ser Stel­le rut­schen wir bereits in eine phi­lo­so­phi­sche Dis­kus­si­on dar­über, inwie­fern wir über­haupt fähig sind, mit ande­ren Men­schen direkt zu kom­mu­ni­zie­ren. Ob wir nicht eigent­lich immer nur mit Vor­stel­lun­gen von­ein­an­der reden, auch wenn wir uns schon seit Jah­ren per­sön­lich ken­nen. Doch die­se Dis­kus­si­on sprengt das The­ma die­ses Arti­kels und der Web­site ins­ge­samt, daher über­las­se ich Dich an die­ser Stel­le Dei­nen Grübeleien.

Schlusswort

Das Kom­mu­ni­ka­ti­ons­mo­dell von Wolf Schmid ist nütz­lich, wenn Du lite­ra­ri­sche Wer­ke bes­ser ver­ste­hen, inter­pre­tie­ren und über sie kom­pe­ten­ter dis­ku­tie­ren möch­test. Doch auch Autoren kön­nen davon pro­fi­tie­ren: Denn es zeigt nicht nur die Wich­tig­keit einer genau defi­nier­ten Ziel­grup­pe, son­dern auch die expe­ri­men­tel­len Mög­lich­kei­ten, die eine Abspal­tung des fik­ti­ven Erzäh­lers und der Figu­ren vom kon­kre­ten Autor mit sich bringt. Und natür­lich kannst Du durch Spie­le­rei­en mit Figu­ren und dem abs­trak­ten Leser die vier­te Wand auf­bre­chen und den kon­kre­ten Leser aus den Socken hauen.

Vor allem aber bleibt die Kom­mu­ni­ka­ti­on zwi­schen Dir und Dei­nen Lesern so lan­ge bestehen, wie Dein Werk gele­sen wird. So haben, wie gesagt, drei Men­schen, die lan­ge vor mei­ner Geburt gestor­ben sind, näm­lich Tol­ki­en, Dos­to­jew­ski und Remar­que, mein Leben mas­siv und zum Posi­ti­ven beein­flusst und ohne sie gäbe es die­se Web­site ver­mut­lich auch gar nicht. Und ja, es sind „nur“ die abs­trak­ten Autoren, die in den Wer­ken wei­ter­le­ben. Nichts­des­to­trotz ent­ste­hen die­se abs­trak­ten Autoren aber auf Grund­la­ge des­sen, was die kon­kre­ten Autoren geschaf­fen haben.

So abs­trakt ein abs­trak­ter Autor also auch sein mag, ein Fun­ke des kon­kre­ten Autors steckt in ihm dann doch drin. In irgend­ei­ner Form lebt die See­le des Autors in sei­nem Werk wei­ter wie in einem Hor­krux. Der abs­trak­te Autor ist eben immer noch real und vor allem unsterblich.

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