Selbst­bild, Welt­bild und sub­jek­tive Rea­li­täten (Wie geht selbst­stän­diges, kri­ti­sches Denken? – Teil 1)

Selbst­bild, Welt­bild und sub­jek­tive Rea­li­täten (Wie geht selbst­stän­diges, kri­ti­sches Denken? – Teil 1)

Kannst Du kri­tisch denken oder glaubst Du das nur? Gerade in unseren heu­tigen tur­bu­lenten Zeiten ist das Thema sehr wichtig, und des­wegen wagen wir uns an eine Artikel-Tri­logie dazu. In diesem ersten Teil geht es um unsere sub­jek­tiven Rea­li­täten: Denk­fehler, kogni­tive Blo­ckaden, Her­den­men­ta­lität, Auto­ri­täts­hö­rig­keit und warum unser Selbst- und Welt­bild das kri­ti­sche Denken behin­dert …

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Du wirst diese Serie hassen. Denn wir alle haben unsere Über­zeu­gungen und Nar­ra­tive, die in unserem Hirn absolut Sinn ergeben, und wir alle stehen gerne positiv da. Dabei kommt es sehr selten vor, dass wir unser eigenes Selbst­bild her­aus­for­dern und unser Denken hin­ter­fragen. Was ist also, wenn ich pro­vo­kant frage:

Kannst Du kri­tisch denken oder bist Du eine Dumpf­backe, die ein­fach nur fremde Mei­nungen nach­plap­pert und mit dem Strom schwimmt?

Eigent­lich sollten gerade wir Lite­raten doch vor allem eins wissen:

Erzählen ist immer eine Ver­fäl­schung der objek­tiven Ereig­nisse.

Und auf unsere Über­zeu­gungen und Nar­ra­tive über­tragen bedeutet das:

Unsere Ansichten sind nichts weiter als Geschichten, die wir uns selbst erzählen. Diese Geschichten mögen dabei noch so sehr auf Fakten beruhen: Es han­delt sich um Erzäh­lungen, und Erzäh­lungen sind, wie gesagt, immer eine Ver­fäl­schung der objek­tiven Ereig­nisse.

Somit sind unsere Ansichten und Mei­nungen, so sehr wir uns auch um Objek­ti­vität bemühen, immer eine ver­fälschte Sicht­weise auf die Rea­lität.

Aus­ge­hend von diesem Wissen aus unserem eigenen Fach­be­reich können wir also etwas fürs Leben lernen. Doch dazu müssen wir über unseren eigenen Schatten springen, vor allem, wenn wir in unseren Werken irgend­welche Bot­schaften, Werte und Welt­an­schau­ungen ver­mit­teln wollen: Denn in dieser Serie werde ich Dir dar­legen, dass Du – zumin­dest in den meisten Berei­chen – eine mit­läu­fe­ri­sche Dumpf­backe und sogar ein poten­ti­elles Arsch­loch bist. Heute begin­nend mit dem Thema:

Als nor­mal­sterb­li­cher homo sapiens bist Du natur­be­dingt zu doof, um die objek­tive Rea­lität auch nur wahr­zu­nehmen.

Gefangen in einer Welt von Illu­sionen

Warum das Erzählen immer auto­ma­tisch eine Ver­fäl­schung ist, haben wir bereits in einem frü­heren Artikel bespro­chen. Daher sei das Wesent­liche hier nur schnell auf­ge­frischt:

Erzählen bedeutet, unter den wahr­ge­nom­menen Vor­fällen eine Aus­wahl zu treffen, die aus­ge­wählten Vor­fälle auf eine bestimmte Weise anzu­ordnen und anschlie­ßend auf eine bestimmte Weise zu prä­sen­tieren.

Und um das Ganze noch etwas zu ver­tiefen:

Für die Aus­wahl, Anord­nung und Prä­sen­ta­tion der Vor­fälle nutzen wir immer irgend­welche Kri­te­rien, deren Aus­wahl wie­derum irgend­wel­chen Kri­te­rien unter­liegt, die wie­derum irgend­wel­chen Kri­te­rien unter­liegen, und nach einer schier end­losen Kette von Kri­te­rien landen wir irgend­wann bei quasi-reli­giösen Glau­bens­sätzen und Annahmen. (Und dann wollen manche Leute einem erzählen, sie wären nicht gläubig. 😜)

Falls Du noch nicht über­zeugt bist, hier ein sehr ein­fa­ches Bei­spiel …

Ehr­liche Unwahr­heit

Fritz­chen hat einen Auto­un­fall beob­achtet und wird nun von der Polizei befragt. Der Unfall­ver­ur­sa­cher hat Fah­rer­flucht begangen und die Poli­zistin möchte von Fritz­chen eine mög­lichst genaue Beschrei­bung des Autos.

Fritz­chen weiß, dass es am sinn­vollsten wäre, das Kenn­zei­chen zu nennen. Er weiß es nicht, weil er durch eigene Ana­lysen zu diesem Ergebnis gekommen ist, son­dern weil man es ihm so ein­ge­trich­tert hat. Somit ist das nicht Wissen, son­dern ein Glau­bens­satz – zumin­dest bis Fritz­chen selbst­ständig eine Sta­tistik dar­über zusam­men­stellt, wie oft das Wissen um das Auto­kenn­zei­chen des Täters der Polizei tat­säch­lich geholfen hat. Und selbst dann kann es noch pas­sieren, dass Fritz­chen beim Auf­stellen einer sol­chen Sta­tistik Fehler macht. Er müsste diese Sta­tistik des­wegen prüfen lassen und idea­ler­weise sollten auch andere unab­hängig von ihm solche Sta­tis­tiken zusam­men­stellen. Wenn also alle diese Stu­dien zum selben Ergebnis kommen und auch alle Kritik aus­halten, dann kann Fritz­chen erst davon aus­gehen, dass seine Annahme wahr­schein­lich kor­rekt ist. – Eben nur wahr­schein­lich, weil es immer noch sein kann, dass es einen Faktor gibt, den nie­mand beachtet hat.

Nun hat Fritz­chen aber keine solche Sta­tistik auf­ge­stellt, ver­lässt sich auf seinen Glauben und ver­sucht, sich an das Kenn­zei­chen zu erin­nern, zumal es mitten in seinem Blick­feld war. Doch obwohl Fritz­chen das Kenn­zei­chen durchaus passiv wahr­ge­nommen hat, hat er nicht gezielt darauf geachtet. Worauf er achtet, wird näm­lich maß­geb­lich vom Kri­te­rium „Inter­esse“ bestimmt, und Auto­kenn­zei­chen findet Fritz­chen eben nicht span­nend. Des­wegen über­legt er, was noch rele­vant sein könnte, sucht also nach wei­teren Kri­te­rien, nach denen er eine Aus­wahl der zu berich­tenden Fakten treffen kann. Dass das Auto vier Räder hatte, hält er zum Bei­spiel für irrele­vant, weil diese Infor­ma­tion auf jedes Auto zutreffen könnte. Des­wegen streicht er sie.

Rele­vanter sind in Fritz­chens sub­jek­tiver Wahr­neh­mung die Farbe und die Marke des Autos. Sub­jektiv ist diese Ansicht des­wegen, weil Fritz­chens Annahme, dass es bei Farben und Marken eine grö­ßere Viel­falt gibt, auf seinen sub­jek­tiven Erleb­nissen in den wenigen Städten, in denen er in seinem Leben gewesen ist, beruht. Fritz­chen kann eigent­lich nicht aus­schließen, dass es dort, wo er wohnt, zufällig eine grö­ßere Viel­falt gibt als anderswo. Und ein grauer VW zum Bei­spiel wäre in einem Gebiet, das von grauen VWs bevöl­kert ist, schwer zu finden. Die Polizei freut sich natür­lich über jedes Detail, das er lie­fern kann, aber um sich eini­ger­maßen sicher zu sein, dass die Infor­ma­tion wirk­lich wichtig sein wird, bräuchte Fritz­chen eigent­lich eben­falls eine Sta­tistik.

Nun war das Auto aber kein grauer VW, son­dern Fritz­chen ist sich ziem­lich sicher, einen Mer­cedes-Stern gesehen zu haben. Er sagt also, es sei ein Mer­cedes gewesen, weil er davon aus­geht, dass ein Auto mit einem Mer­cedes-Stern ein Mer­cedes ist. Die Fest­stel­lung der Auto­marke unter­liegt also dem Kri­te­rium von Fritz­chens Wis­sens- oder eher: Glau­benshori­zont. Details, die über diesen Hori­zont hin­aus­gehen, hält Fritz­chen nicht für erwäh­nens­wert. Dabei hatte das Auto, das Fritz­chen zu beschreiben ver­sucht, in Wirk­lich­keit einen zwei­ge­teilten, abge­run­deten Küh­ler­grill, und das ist ein cha­rak­te­ris­ti­sches Merkmal von BMWs, die soge­nannte BMW-Niere.

Was die Farbe angeht, so hat Fritz­chen von seinem Augen­arzt gesagt bekommen, dass er gute Augen hat. Er ver­lässt sich also auf sie, und weil er in seinem Leben – im Gegen­satz zu bei­spiels­weise Foto­grafen – nicht viel mit Licht arbeitet, denkt er auch nicht an solche Fak­toren wie opti­sche Täu­schungen. Er ist sich also sicher – oder eher: glaubt –, dass das Auto schwarz war. In Wirk­lich­keit aber hat es auf­grund der herr­schenden Licht­ver­hält­nisse von seinem Stand­punkt aus nur so aus­gehen. Eigent­lich war das Auto dun­kel­blau.

Obwohl Fritz­chen also ehr­lich und auf­richtig sein Bestes gibt, über­häuft er die Poli­zistin mit Falsch­an­gaben. Er sagt, das Auto sei ein schwarzer Mer­cedes gewesen, obwohl es ein dun­kel­blauer BMW war. Wenn die Poli­zistin seinen Bericht also für bare Münze nimmt, dann ist sie eine schlechte Poli­zistin und wird den Täter nicht finden.

Unsere Poli­zistin ist aber eine gute Poli­zistin und löchert Fritz­chen mit Fragen, die sich extra­doof anfühlen, bei Zeu­gen­be­fra­gungen und Ver­hören aber aus gutem Grund oft vor­kommen:

„Woher wissen Sie, dass es ein Mer­cedes war?“

„Da war ein Mer­cedes-Stern.“

„Wie sah er aus?“

„Wie ein Mer­cedes-Stern eben aus­sieht.“

„Wie sieht ein Mer­cedes-Stern aus? Wie viele Zacken hat er, zum Bei­spiel?“

„Na wie ein Stern halt! Fünf Zacken!“

Autsch! Nun weiß die Poli­zistin ziem­lich genau, dass Fritz­chen sich mit Auto­marken nicht aus­kennt und das Auto mög­li­cher­weise kein Mer­cedes war. Denn ein Mer­cedes-Stern hat drei Zacken, nicht fünf. Weil das Thema Küh­ler­grill nicht erwähnt wird und die Poli­zistin auch sonst keine wei­teren Angaben zur Marke aus dem Nicht-Auto­kenner Fritz­chen her­aus­be­kommt, kann sie dazu nichts notieren. Aber dafür hat sie eine andere wich­tige Infor­ma­tion, die Fritz­chen ihr unwis­sent­lich gegeben hat: Auf dem Auto ist aus irgend­einem Grund eine Deko­ra­tion in Form eines fünf­za­ckigen Sterns mon­tiert, was ein sehr unge­wöhn­li­ches und dadurch auf­fäl­liges Merkmal ist.

In Bezug auf die Farbe weiß unsere Poli­zistin sehr wohl um mög­liche Täu­schungen und befragt Fritz­chen aus­führ­lich zum Wetter und den Licht­ver­hält­nissen. Am Ende notiert sie sich, dass das Auto mög­li­cher­weise schwarz, aber mit größter Wahr­schein­lich­keit zumin­dest dunkel ist.

Was das Kenn­zei­chen angeht, so hält die Poli­zistin diese Infor­ma­tion auf Grund von per­sön­li­cher Erfah­rung, Aus­tausch mit Kol­legen und nicht zuletzt durch poli­zei­in­terne Sta­tis­tiken für durchaus sehr wichtig. Und wenn Fritz­chen nicht von sich aus gesagt hätte, dass er sich nicht erin­nern kann, hätte sie ihn danach gefragt. (Ebenso übri­gens, wie sie ihn auch nach der Marke und der Farbe gefragt hätte.) Dass sie kein Kenn­zei­chen notieren kann, ist zwar schade, aber sie quetscht ihn trotzdem weiter aus und bekommt wenigs­tens die Infor­ma­tion, dass da schwarze Buch­staben und Zahlen auf weißem Grund waren. Somit ist das Auto wahr­schein­lich in einem Land regis­triert, in dem weiße Pla­ketten benutzt werden, zum Bei­spiel eher Deutsch­land und nicht etwa Nie­der­lande. – Vor­aus­ge­setzt natür­lich, das Num­mern­schild ist echt.

Das End­ergebnis ist: Obwohl die Poli­zistin durchaus den Ein­druck hat, dass Fritz­chen, ein Augen­zeuge, nach bestem Wissen und Gewissen zu helfen ver­sucht, hin­ter­fragt sie jedes Detail seiner Angaben. Denn Fritz­chen mag den Unfall klar gesehen haben, aber wie sich her­aus­stellt, hat er nur sehr bedingt ver­standen, was er da gesehen hat. Und durch dieses Hin­ter­fragen findet die Poli­zistin schließ­lich die Wahr­heit heraus. So kann der Täter gefasst und bestraft werden, das Unfall­opfer ist nur leicht ver­letzt und schon bald wieder auf den Beinen, bekommt Scha­dens­er­satz und die Geschichte hat ein Happy End.

Denk­fehler & Co.: Ent­ste­hung und Auf­recht­erhal­tung sub­jek­tiver Rea­li­täten

Das war jetzt aber nur ein sehr ver­ein­fachtes, harm­loses Bei­spiel, mit dem ich zu demons­trieren ver­suche,

wie jede Wahr­neh­mung, jeder Gedanke, jede Infor­ma­tion, die Du zu wissen glaubst, eine indi­vi­du­elle, phan­tas­ti­sche Par­al­lel­welt kon­stru­ieren, die Du aber für die objek­tive Rea­lität hältst.

Und wenn jemand Dinge sagt, die nicht in Deine phan­tas­ti­sche Par­al­lel­welt passen, hältst Du, geblendet von Deinem Glauben an Deine Wahr­neh­mung, Deine sub­jek­tiven Erfah­rungen und Dein ver­meint­li­ches Wissen, diese Person für dumm oder ver­rückt. Schlimms­ten­falls wirst Du dieser Person gegen­über sogar aggressiv, weil Du glaubst (so viel Glauben hier!), dass ihre Ansichten gefähr­lich sind.

Dabei sind so viele kom­plexe psy­cho­lo­gi­sche und gesell­schaft­liche Pro­zesse am Werk, dass es schnell unüber­sicht­lich wird. Ver­su­chen wir den­noch, zumin­dest einige von ihnen auf­zu­zählen und in ein System zu bringen …

Die Wurzel des Übels: Ego und Selbst­bild

Beginnen wir dabei mit dem Grund­le­gendsten:

dem mensch­li­chen Bedürfnis, sich selbst als lebens- und lie­bens­wertes Geschöpf zu sehen.

Dabei ver­fallen Men­schen oft dem Irr­glauben, dass sie, sofern sie keine bösen Gedanken und Absichten haben, auch nichts Böses tun können. Das stimmt schon allein des­wegen nicht, weil wir in der Praxis ständig Inter­es­sen­kon­flikte beob­achten, für die nie­mand von den Betei­ligten etwas kann. Zum Bei­spiel:

Lies­chen ist talen­tiert und bekommt in der Schule, ohne sich groß zu bemühen, gute Noten. Ernas Talente liegen in anderen Berei­chen und sie tut sich in der Schule schwer. Ernas Eltern machen sich Sorgen um ihre Tochter und wollen sie zum Lernen moti­vieren, indem sie ihr Lies­chen als Vor­bild vor­halten. Dass solche Ver­gleiche ers­tens ein klas­si­scher Erzie­hungs­fehler sind und zwei­tens nicht funk­tio­nieren, wenn die Talente der Ver­gli­chenen völlig unter­schied­lich ver­teilt sind, kommt ihnen gar nicht in den Sinn, weil ihre eigenen Talente so gestrickt sind, dass sie sich nur bedingt für Psy­cho­logie inter­es­sieren. Sie wollen ein­fach nur das Beste für ihre Tochter und han­deln nach ihrem besten Wissen und Gewissen. Für Erna jedoch ist dieses stän­dige Vor­halten Lies­chens als Ideal frus­trie­rend, sie fühlt sich selbst ent­wertet und ent­wi­ckelt einen Hass auf Lies­chen, die wie­derum nicht ver­stehen kann, warum Erna so kalt zu ihr ist.

Da haben wir also den Salat: Lies­chen ist ein­fach durch ihre bloße Exis­tenz zu einem Pro­blem für Erna geworden, Ernas Eltern durch ihr mensch­li­ches Unwissen zu Aggres­soren, die gleich zwei Kin­dern das Leben schwer machen, und das zunächst unschul­dige Opfer Erna wird unab­sicht­lich zur Täterin. Wir haben einen Kon­flikt, in dem jeder sich mora­lisch im Recht sieht, weil er ja keine bösen Absichten hat. Und wenn man diesen Kon­flikt auf­lösen möchte, müssten alle Betei­ligten über ihren Schatten springen und vor allem sich selbst ein­ge­stehen, dass sie, wenn auch ohne es zu wollen, Schaden anrichten und jemandes Leben, zumin­dest in einem Aspekt, ohne sie ange­nehmer wäre. Und gerade Letz­teres ist ein Gedanke, den kaum ein Mensch zulassen möchte.

Das heißt natür­lich nicht, dass wir uns alle aus dem Weg gehen oder gegen­seitig umbringen müssten. Aber wir sollten ein­sehen, dass Inter­es­sen­kon­flikte das Natür­lichste der Welt sind. Ich meine, schaue Dir die Nah­rungs­kette an: Eine Katze will leben und muss des­wegen die Maus fressen und vorher mit ihr ihre sadis­ti­schen Spiel­chen treiben, um als Jägerin in Form zu bleiben; die Maus will aber auch leben und muss des­wegen schauen, wie sie ent­wi­schen kann. Um die Natür­lich­keit von Inter­es­sen­kon­flikten jedoch zu akzep­tieren, müssten wir, denke ich, tun, was so ziem­lich jeder Per­sön­lich­keits­coach der Welt pre­digt:

Hör auf, Deinen Selbst­wert an irgend­welche Kri­te­rien zu kop­peln!

Denn sobald Du glaubst – klin­ge­ling! –, dass Du nur dann etwas wert bist oder mehr wert bist, wenn Du mora­lisch, intel­li­gent, beliebt, erfolg­reich oder was auch immer bist, wirst Du sehr schnell Opfer von Mani­pu­la­tionen und endest womög­lich sogar als empa­thie­be­hin­dertes Arsch­loch und merkst es nicht mal. Hier ein paar Bei­spiele:

  • Bestimmt kennst Du die fast schon kli­schee­haften Mani­pu­la­ti­ons­ver­suche, mit denen fik­tive Figuren Böse­wichte oft von etwas zu über­zeugen ver­su­chen, indem sie auf deren ver­meint­liche posi­tive Eigen­schaften pochen. Nehmen wir zum Bei­spiel die zweite Folge der ersten Staffel des Brea­king-Bad-Able­gers Better Call Saul, in der der Anwalt Jimmy McGill, der spä­tere Saul Goodman, ver­sucht, den bru­talen Dro­gen­boss Tuco Sala­manca davon zu über­zeugen, ihn und seine zwei Kom­plizen, die nur ver­se­hent­lich in einen Kon­flikt mit Tuco geschlit­tert sind, am Leben zu lassen. Dabei benutzt er ein ganzes Feu­er­werk aus Mani­pu­la­ti­ons­tech­niken. Zum Bei­spiel bestä­tigt er Tucos Selbst­bild mit den Worten: „You’re tough, but you’re fair. You’re all about jus­tice.“ Natür­lich glaubt Tuco gerne, dass er gerecht ist, und somit muss Jimmy ihn „nur“ noch davon über­zeugen, dass Gerech­tig­keit darin besteht, ihn und seine Kom­plizen gehen zu lassen.
  • Auch aus der Wer­bung kennst Du dieses Prinzip. Zum Bei­spiel: „Die neuen Schuhe von XY – Die Schuhe für coole Kids!“ Wenn Kinder oder Teen­ager eine Wer­bung von diesem Typ sehen, dann wird ihnen der Gedanke ein­ge­pflanzt: „Wenn ich zu den coolen Kids gehören will, dann brauche ich die Schuhe von XY!“ – Und dann kommen sie alle uni­for­miert in XY-Schuhen zur Schule und kommen sich sehr indi­vi­duell vor.
  • Glaub aber ja nicht, dass nur sozio­pa­thi­sche Mafia­bosse und Kinder darauf her­ein­fallen! So hat zum Bei­spiel die Frank­furter All­ge­meine Zei­tung einen sehr mani­pu­la­tiven Wer­be­spruch: „Dahinter steckt immer ein kluger Kopf“. Da schwingt natür­lich mit: „Wenn Du die FAZ liest, bist Du klug.“ Die FAZ posi­tio­niert sich also als Zei­tung für Intel­lek­tu­elle und prä­sen­tiert sich auch mit ent­spre­chenden Attri­buten wie bei­spiels­weise einem anspruchs­vollen Schreib­stil. Das ist aber reine Kos­metik, Äußer­lich­keiten, und ob die FAZ in der Tat ihrem Anspruch gerecht wird, kann man nur fest­stellen, wenn man den Inhalt ihrer Artikel immer wieder über­prüft. Und mal ehr­lich: Wie viele FAZ-Leser kennst Du, die das tun? Es ist eher die Min­der­heit, aber sie alle genießen das Gefühl von intel­lek­tu­eller Über­le­gen­heit, das die Mar­ke­ting-Abtei­lung der FAZ auf­baut. Somit läuft ein allzu unkri­ti­scher FAZ-Leser Gefahr, in Wirk­lich­keit zu einem Papa­geien zu ver­kommen, der ein­fach nur nach­plap­pert, was andere ver­meint­lich kluge Leute sagen, damit er nicht selbst nach­denken muss, um klug zu wirken. Genau des­wegen sind Men­schen, die sich selbst für beson­ders intel­li­gent halten, ten­den­ziell beson­ders anfällig für Mani­pu­la­tionen. Es ist wie in Hans Chris­tian Ander­sens berühmtem Mär­chen Des Kai­sers neue Kleider: Eine Lüge kann sich äußerst hart­nä­ckig halten, wenn nie­mand sich traut, als dumm dazu­stehen. Und daher ist es wichtig, ganz beson­ders die soge­nannten Qua­li­täts­me­dien zu hin­ter­fragen und zu kri­ti­sieren: damit sie tat­säch­lich Qua­li­täts­me­dien bleiben. – Ab dem Moment, wo Kri­tiker von Qua­li­täts­me­dien ange­griffen und dif­fa­miert werden, kannst Du Dir so ziem­lich sicher sein, dass da etwas nicht stimmt.
  • Die Mani­pu­la­tionen können dabei nicht nur von außen kommen, son­dern auch aus Dir selbst heraus. Das zeigt zum Bei­spiel ein psy­cho­lo­gi­sches Expe­ri­ment an der Uni­ver­sity of Cali­fornia, Irvine. Die Teil­nehmer sollten Mono­poly spielen, aber mit absolut unfairen Start- und Spiel­be­din­gungen: Durch einen Münz­wurf wurde ent­schieden, wer ein grö­ßeres Start­ka­pital und mehr Züge hatte. Natür­lich gewannen die Spieler, die von vorn­herein im Vor­teil waren. Statt aber ein­zu­sehen, dass sie ein­fach nur Glück hatten, führten sie ihren Erfolg auf ihr Können zurück. Es fühlt sich nun mal sehr ange­nehm an, klug und geschickt zu sein, und es ist ein Betrug, den wir uns selbst gerne abkaufen. Und es macht uns weniger empa­thisch gegen­über Men­schen, die weniger Glück im Leben haben als wir: Denn wenn wir unsere eigenen Errun­gen­schaften auf unser Können zurück­führen, dann führen wir den Miss­erfolg anderer auf deren Nicht­können zurück. Statt sich also soli­da­risch zu zeigen, sagen wir lieber arro­gant: „Selber schuld!“
  • Äußerst span­nend ist in Sachen Selbst­be­trug auch die men­tale Akro­batik, mit der sich Täter und oft auch ihre Ange­hö­rigen die Hände in Unschuld waschen, um ja nicht als nicht lebens- und lie­bens­wert dazu­stehen, vor allem in den eigenen Augen. „Selbst schuld!“ ist zum Bei­spiel eine beliebte Aus­rede von Mob­bern und Ver­ge­wal­ti­gern: Statt Ver­ant­wor­tung für ihre Taten zu über­nehmen, wollen sie die Schuld ihrem Opfer in die Schuhe schieben. Der Fach­be­griff dafür ist victim bla­ming bzw. Täter-Opfer-Umkehr. Was auch vor­kommt, ist eine Art selek­tive Amnesie, zum Bei­spiel, wenn ein ehe­ma­liger Mobber sich viele Jahre später nicht mehr erin­nert, dass er jemanden gemobbt hat. Und auch bei Opfern kann es zu Ver­zer­rungen im Erin­ne­rungs­ver­mögen kommen – als Opfer dazu­stehen ist eben auch sehr unan­ge­nehm und nicht jeder kann das ertragen, also greift das Unter­be­wusst­sein schüt­zend ein.
  • Eine noch kras­sere Form von Selbst­be­trug lässt sich bei NS-Pro­zessen beob­achten. Geistig absolut gesunde Men­schen, die, ziem­lich ein­deu­tigen Beweisen nach zu urteilen, an Mas­sen­morden und anderen Ver­bre­chen des Natio­nal­so­zia­lismus betei­ligt waren, glauben gerne bis an ihr Lebens­ende auf­richtig, nach bestem Wissen und Gewissen gehan­delt zu haben und pflicht­be­wusste, ehr­liche und vor­bild­liche Bürger oder Sol­daten gewesen zu sein. Der nie­der­län­di­sche His­to­riker Dick de Mildt hat diesem Phä­nomen ein ganzes – übri­gens äußerst emp­feh­lens­wertes – Buch gewidmet: The Palm­ström Syn­drome. Und auch Ange­hö­rige von Tätern und Mit­läu­fern sind nicht besser: Im Artikel über Pro­pa­ganda und Sto­rytel­ling haben wir bereits das Buch „Opa war kein Nazi“ bespro­chen. Dabei han­delt es sich um eine Aus­wer­tung von Gesprä­chen über die NS-Zeit in deut­schen Fami­lien und auf­ge­fallen ist da unter anderem eine Heroi­sie­rung und/oder Vik­ti­mi­sie­rung der eigenen Ange­hö­rigen: Die Täter waren immer „die anderen“ – dass Opa da gerade erzählt, wie er Kriegs­ver­bre­chen begangen hat, fällt nie­mandem auf, zumal die Betei­li­gung der Wehr­macht an den Ver­bre­chen des Ver­nich­tungs­krieges immer noch nicht bei allen ange­kommen zu sein scheint und viele die Schuld nach wie vor aus­schließ­lich bei der SS und Kon­sorten sehen. Die Zuge­hö­rig­keit zu einer bestimmten Familie und ihren Werten hat eben durchaus einen Ein­fluss auf unser Selbst­bild. Zu einer Familie von Ver­bre­chern, Oppor­tu­nisten und Mit­läu­fern zu gehören, ist des­wegen mora­lisch anstren­gend, auch wenn man selbst nichts getan hat. Die Folge dieser posi­tiven Vor­ein­ge­nom­men­heit gegen­über den eigenen Ange­hö­rigen ist eine recht lücken­hafte Ver­gan­gen­heits­be­wäl­ti­gung, auf die Deutsch­land sich trotzdem ganz selbst­herr­lich etwas ein­bildet.
  • Krasser Selbst­be­trug im Zusam­men­hang mit dem Natio­nal­so­zia­lismus lässt sich zum Teil auch bei den Opfern beob­achten: 1940 wurde das War­schauer Ghetto als Sam­mel­lager für die Mas­sen­ver­nich­tung der Juden errichtet. Längst nicht jeder dort konnte mit dem Wissen umgehen, dass er ein­fach so, dafür, dass er war, was er war, für die Schlacht­bank vor­be­reitet wurde und diesem Treiben im Grunde hilflos aus­ge­lie­fert war. Statt die Rea­lität zu akzep­tieren und viel­leicht sogar nach Mög­lich­keiten für Flucht oder Wider­stand zu suchen, haben viele ver­sucht, sie sich zurecht­zu­biegen, also gewis­ser­maßen schön­zu­reden bzw. zu ver­harm­losen, was sie den Tätern gegen­über natür­lich noch hilf­loser und gehor­samer gemacht hat. Dick de Mildt zitiert in seinem Buch die Beob­ach­tungen des Leh­rers Chaim Kapłan:

„The lack of reason for these mur­ders espe­ci­ally throu­bles the inha­bi­tants of the ghetto. In order to com­fort our­selves we feel com­pelled to find some sort of system to explain these night-time mur­ders. Ever­yone, afraid for his own skin, thinks to himself: If there is a system, every murder must have a cause; if there is a cause, not­hing will happen to me since I am abso­lutely guilt­less.“

„Das Fehlen eines Grundes für diese Morde beun­ru­higt die Bewohner des Ghettos beson­ders. Um uns selbst zu trösten, fühlen wir uns gezwungen, eine Art System zu finden, um diese nächt­li­chen Morde zu erklären. Jeder hat Angst um seine eigene Haut und denkt: Wenn es ein System gibt, muss jeder Mord eine Ursache haben; wenn es eine Ursache gibt, kann mir nichts zustoßen, weil ich ganz unschuldig bin.“

Abraham I. Katsch (Hrsg.): Scroll of Agony. The Warsaw Diary of Chaim A. Kaplan, London 1966, S. 264, zitiert in: Dick de Mildt: The Palm­ström Syn­drome. Mass Murder and Moti­va­tion. A Study of Reluc­tance, Berlin 2020, S. 17, hier über­setzt von Feael Sil­ma­rien.

Auch Nicht-Opfer – Deut­sche, die ange­sichts des Unrechts ein­fach weg­sahen, und die Men­schen in anderen Län­dern – taten sich schwer damit, die Ver­bre­chen der Nazis zu glauben, und wer auf sie auf­merksam machte, ern­tete Gegen­wind. Von unter­las­sener Hil­fe­leis­tung gegen­über den Opfern ganz zu schweigen. Heute hin­gegen werden die Täter gerne als wahn­sinnig, irra­tional und mora­lisch ver­kommen dar­ge­stellt, unab­hängig davon, dass sie laut Quellen mehr­heit­lich geistig gesund und Men­schen wie du und ich waren: Der Unglaube, dass Men­schen etwas so Schreck­li­ches tun können, bleibt also bestehen, indem die Ver­bre­chen in den Bereich der psy­chi­schen Stö­rungen aus­ge­la­gert werden. – Und warum das alles? Auch das beschreibt Dick de Mildt. Zusam­men­fassen lässt sich die Logik hinter dem Nicht-sehen-Wollen in etwa so: Wenn solche Grau­sam­keiten tat­säch­lich statt­finden, dann gibt es offenbar Men­schen, die dazu mora­lisch in der Lage sind; und wenn die Täter gewöhn­liche Men­schen sind und auch ich selbst ein gewöhn­li­cher Mensch bin, dann bedeutet das ja, dass auch ich selbst zu sol­chen Grau­sam­keiten in der Lage sein könnte. Weil man sein Selbst­bild also nicht anzwei­feln will, sieht man die Mensch­heit ganz all­ge­mein lieber als posi­tiver, als sie wirk­lich ist. Abwei­chungen von diesem posi­tiven Bild werden in den Bereich von psy­chi­schen Krank­heiten aus­ge­la­gert. Somit gilt hier das­selbe Prinzip wie bei der Zuge­hö­rig­keit zu einer bestimmten Familie, nur geht es hier noch all­ge­meiner um die Zuge­hö­rig­keit zu einer ganzen Spe­zies. Wir pro­ji­zieren also das Bild, das wir von uns selbst auf­recht­erhalten wollen, auf andere Men­schen, und machen sie somit zu einer Art Zerr­spiegel, der uns selbst eine bes­sere Figur vor­gau­kelt.

Das waren nur einige wenige Bei­spiele, mit denen ich zu zeigen ver­suche, wie leicht das ganz nor­male mensch­liche Bedürfnis nach einem posi­tiven Selbst­bild einen Men­schen zum mani­pu­lier­baren Zombie oder rück­sichts­losen Ego­isten, wenn nicht sogar Ver­bre­cher, machen kann:

Je mehr Dein Selbst­wert­ge­fühl an irgend­welche Kri­te­rien, also posi­tive Eigen­schaften, gekop­pelt ist, desto blinder bist Du, desto ego­is­ti­scher wirst Du, und desto weniger bist Du zu kri­ti­schem Denken fähig.

Denn nur, wenn Du keine Angst hast, als böse, dumm, unbe­liebt, geschei­tert oder ander­weitig blöder Mensch dazu­stehen, kannst Du das Sakralste des Sakralsten hin­ter­fragen: Dein Selbst­bild, Deine Lebens- und Lie­bens­wür­dig­keit. Nur, wenn Du Dich selbst auch dann noch als lebens- und lie­bens­wert betrachten kannst, wenn Du Dich als abso­lutes Arsch­loch ent­puppst, wenn Du Deinen Selbst­wert also aus Deiner bloßen Exis­tenz schöpfst, weil Du wie alles, was exis­tiert, einen inhä­renten Wert hast, kannst Du wirk­lich unab­hängig denken.

Das heißt natür­lich nicht, dass Du Dein Gewissen auf­geben musst. Bloß denke kri­tisch nach, bevor Du han­delst. Hin­ter­frage, ob die ver­meint­lich gute Tat auch wirk­lich gut wäre, unab­hängig davon, was andere sagen. Denn manchmal ist gewis­sen­haftes Han­deln, das auf kri­ti­schem Denken beruht, damit ver­bunden, gegen den Strom zu schwimmen und eben als böse, dumm, unbe­liebt, geschei­tert oder ander­weitig blöd dazu­stehen. Das musst Du aus­halten können.

Oder kurz for­mu­liert:

Geld kor­rum­piert zwar, aber das Gefühl, ein guter, intel­li­genter, beliebter, erfolg­rei­cher oder ander­weitig toller Mensch zu sein, tut es min­des­tens genauso.

Kogni­tive Blo­ckaden: Grund­pfeiler par­al­leler Rea­li­täten

Jetzt, wo wir unsere Moti­va­tion hinter unseren Selbst­lügen kennen, beschäf­tigen wir uns damit, wie wir diese Lügen auf­recht­erhalten. Das ist in der Regel keine bewusste Ent­schei­dung, son­dern ein Auto­ma­tismus unseres Unter­be­wusst­seins. Dieses hat das Ziel, uns funk­tions- und dadurch über­le­bens­fähig zu erhalten, und wenn wir auf Dinge treffen, die unsere Welt­sicht, also unsere Kom­fort­zone, infrage stellen, nutzt es ein breites Arsenal an Werk­zeugen, um solche unbe­quemen Dinge aus unserer Wahr­neh­mung her­aus­zu­fil­tern.

Wenn wir also Zweifel an unserer Lebens- und Lie­bens­wür­dig­keit als exis­tenz­be­dro­hend emp­finden, sind wir durch die Machen­schaften unseres Unter­be­wusst­seins oft rein kognitiv nicht in der Lage, uns mit Dingen aus­ein­an­der­zu­setzen, die diese Zweifel säen könnten.

Wir haben da ein­fach eine innere Blo­ckade, unser Gehirn setzt schlicht und ergrei­fend aus. Der Sinn dieser Blo­ckade ist, wie gesagt, der Schutz unserer Kom­fort­zone, unserer Matrix sozu­sagen, und diese wie­derum ist das Ergebnis unseres ganzen bis­he­rigen Lebens …

Im besagten Artikel über Pro­pa­ganda und Sto­rytel­ling haben wir bereits ange­spro­chen, wie Welt­bilder und Mei­nungen durch Familie, Kultur und Staat von Gene­ra­tion zu Gene­ra­tion wei­ter­ge­geben werden. Jeder von uns lebt in einem System, das sich kon­ti­nu­ier­lich zu legi­ti­mieren und auf­recht­zu­er­halten ver­sucht, weil es ja sonst zusam­men­bre­chen würde. Ebenso wie ein Mensch als Indi­vi­duum sich an seiner Lebens- und Lie­bens­wür­dig­keit fest­krallt, tun es auch Gruppen von Men­schen, die sich auf eine bestimmte Weise orga­ni­sieren und diese Art der Orga­ni­sa­tion natür­lich zemen­tieren wollen. Diese Zemen­tie­rungs­ver­suche sind nichts anderes als Pro­pa­ganda: Wie in dem Artikel gesagt, muss auch Demo­kratie (bzw. unsere aktu­elle Ver­sion davon) pro­pa­giert werden. Und weil der Begriff „Pro­pa­ganda“ seit dem Zweiten Welt­krieg negativ kon­no­tiert ist, spricht man heute von Public Rela­tions (PR), poli­ti­scher Kom­mu­ni­ka­tion, stra­te­gi­scher Kom­mu­ni­ka­tion und Öffent­lich­keits­ar­beit. Und ja, diese Euphe­mismen wurden bewusst ein­ge­führt, um vom Wort „Pro­pa­ganda“ weg­zu­kommen, was aber natür­lich nichts daran ändert, dass sie das­selbe Phä­nomen und die­selbe Tätig­keit beschreiben.

Wir wachsen auf mit den Glau­bens­mus­tern unseres Umfelds, werden von ver­schie­denen Orga­ni­sa­tionen unent­wegt und buch­stäb­lich mit Pro­pa­ganda bear­beitet und in unseren Köpfen ent­steht ein System von Glau­bens­sätzen, bei denen wir gar nicht erst auf die Idee kommen, sie zu hin­ter­fragen. Oder wie viele Men­schen kennst Du, die ers­tens ernst­haft hin­ter­fragen, ob Demo­kratie wirk­lich so super­toll ist, und zwei­tens dafür nicht in der Luft zer­rissen werden, weil sie das Sakralste des Sakralsten anzwei­feln? Es gibt Dinge, die all­ge­mein unhin­ter­fragt als Tat­sache gelten, und wenn man sie anzwei­felt, steht man als Ketzer da. Dabei muss man, um bei unserem Bei­spiel zu bleiben, nicht einmal ein Demo­kra­tie­feind sein, son­dern könnte ein­fach aus rein wis­sen­schaft­li­chem Inter­esse theo­re­ti­sche Über­le­gungen anstellen. So kenne ich zum Bei­spiel die These, dass Demo­kra­tien beson­ders anfällig für ver­deckte Mani­pu­la­tionen durch Geheim­dienste sind – das ist doch span­nend zu über­prüfen, allein schon, um das Pro­blem, wenn es tat­säch­lich besteht, zu kor­ri­gieren und eine Demo­kratie wirk­lich demo­kra­tisch zu halten.

Wir werden also von den Glau­bens­sätzen, die wir ver­ab­reicht bekommen, beein­flusst, und dann repro­du­zieren wir diese Glau­bens­sätze auch selbst, bei­spiels­weise in unseren Geschichten. Wir helfen also aktiv mit, die Matrix, in die wir hin­ein­ge­boren wurden, auf­recht­zu­er­halten. Oder spre­chen wir besser nicht von einer Matrix, son­dern von einem Rea­li­täts­tunnel, wie Timothy Leary das Phä­nomen bezeichnet:

Jeder Mensch hat seinen eigenen sub­jek­tiven Rea­li­täts­tunnel, der ein System von unter­be­wussten Fil­tern aus Über­zeu­gungen und Erfah­rungen dar­stellt.

Und diese Filter bestimmen, was wir über­haupt wahr­nehmen. Hier einige Phä­no­mene, die ich in diesem Zusam­men­hang erwähnen möchte:

  • Wir Men­schen neigen grund­sätz­lich zum soge­nannten Bestä­ti­gungs­fehler (con­fir­ma­tion bias): Wir haben unsere bestimmten Ansichten und Erwar­tungen und wenn wir mit Infor­ma­tionen han­tieren, wählen und inter­pre­tieren wir diese Infor­ma­tionen so, dass sie in unser Welt­bild passen. Das bedeutet, dass wir „pas­sende“ Infor­ma­tionen als wich­tiger erachten und uns besser merken und „unpas­sende“ Infor­ma­tionen womög­lich gar nicht erst auf­nehmen oder sogar gezielt ver­meiden. Dieses Prinzip lässt sich zum Bei­spiel bei der Red-Pill- und Incel-Com­mu­nity beob­achten: Hier haben wir frus­trierte Männer, die nega­tive Erfah­rungen mit Frauen gemacht haben und jedes Ver­halten von Frauen durch das Prisma ihrer Haupt­an­nahme deuten, dass Frauen nur auf der Suche nach aggres­siven, durch­trai­nierten, ego­is­ti­schen Alpha­männ­chen sind. All die Frauen mit einer Schwäche für sanfte Ted­dy­bären nehmen sie ent­weder nicht wahr oder unter­stellen sol­chen Paaren eine Dynamik, bei der der Mann ein wil­len­loser Pan­tof­fel­held ist und von seiner Frau bei der erst­besten Gele­gen­heit mit einem aggres­siven, durch­trai­nierten, ego­is­ti­schen Alpha­männ­chen betrogen wird.
  • Auch können wir durch unseren Rea­li­täts­tunnel einen Hyper­fokus auf bestimmte Themen ent­wi­ckeln: Wir emp­finden diese Themen als der­maßen wichtig, dass wir alles, was wir wahr­nehmen, darauf zurück­führen und unser Rea­li­täts­tunnel sich primär um diese Themen dreht. Wäh­rend wir also diese super­wich­tigen Themen sehr genau wahr­nehmen, werden wir buch­stäb­lich blind für alles andere. Diese Unauf­merk­sam­keits­blind­heit wurde durch eine Studie der Uni­ver­sity of Illi­nois deut­lich: Die Stu­di­en­teil­nehmer mussten ein Video anschauen, bei dem sich Spieler in weißen und schwarzen Shirts Bälle zuwarfen. Dabei sollten sie zählen, wie oft sich das weiße Team den Ball zuwirft. Das erstaun­liche Ergebnis der Studie war, dass die Test­per­sonen sich so sehr auf die Spieler und die Bälle fokus­sierten, dass sie völlig über­sahen, wie eine Frau im Goril­la­kostüm mitten durchs Bild lief. Erklärt wird diese Blind­heit damit, dass das mensch­liche Gehirn nicht die benö­tigten Kapa­zi­täten hat, um wirk­lich alles Wahr­ge­nom­mene zu ver­ar­beiten, und daher Prio­ri­täten setzen muss. Des­wegen sind wir in der Lage, uns auf bestimmte Dinge zu kon­zen­trieren, aber gleich­zeitig sorgt diese Kon­zen­tra­tion für tote Winkel in unserer Wahr­neh­mung: Wir werden buch­stäb­lich blind für eigent­lich offen­sicht­liche Dinge. Und was für Bälle und Gorillas gilt, wirkt, fürchte ich, auch in anderen Berei­chen des Lebens. Wenn also Unauf­merk­sam­keits­blind­heit und der Bestä­ti­gungs­fehler inein­ander greifen, werden wir zu buch­stäb­lich blinden Fana­ti­kern unserer Über­zeu­gungen – ein Phä­nomen, das sich zum Bei­spiel bei man­chen – beson­ders eif­rigen und aggres­siven – Akti­visten beob­achten lässt. Sie kämpfen mit Über­zeu­gung für eine viel­leicht sogar tat­säch­lich gute Sache, aber weil sie dieser Sache die größte Wich­tig­keit bei­messen, werden sie blind für andere Lösungs­an­sätze als ihre eigenen und den Schaden, den sie anderen Men­schen zufügen. Ein kon­struk­tiver Dialog ist nicht mög­lich, weil die Argu­mente der Gegen­seite ein­fach kognitiv nicht auf­ge­nommen und ver­standen werden können.
  • Eine eben­falls wich­tige Rolle für die Auf­recht­erhal­tung eines Rea­li­täts­tun­nels spielen Unwis­sen­heit, Dumm­heit und Selbst­über­schät­zung, auch bekannt als Dun­ning-Kruger-Effekt: Damit bezeichnet man das Phä­nomen, dass Men­schen, die sich mit einer Sache nur schlecht aus­kennen, häufig ehr­lich und auf­richtig glauben, dass sie sich gut aus­kennen, und ihre Ansichten mit großer Selbst­si­cher­heit ver­treten. Mit anderen Worten: Sie haben ein biss­chen über ein Thema erfahren und kommen sich nun wahn­sinnig intel­li­gent und infor­miert vor und haben des­wegen eine wahn­sinnig feste Mei­nung. Dabei gibt es aber eine Menge Aspekte, die sie nicht wissen und in ihre Mei­nung somit auch nicht ein­kal­ku­lieren. Bloß wissen sie nicht, dass sie diese Dinge nicht wissen und unter­liegen des­wegen der Illu­sion, sie wüssten genug. Somit sind allzu feste Mei­nungen und abso­lute Selbst­si­cher­heit meis­tens ein zuver­läs­siges Anzei­chen von Unin­for­miert­heit.

Kom­pe­tente Men­schen hin­gegen erkennt man in der Regel eher an der Fähig­keit, sich selbst zu hin­ter­fragen, oder schlimms­ten­falls sogar an mas­siven Selbst­zwei­feln, auch bekannt als Hoch­stapler-Syn­drom. Ihnen ist bewusst, wie viel sie nicht wissen, und des­wegen können sie ihre Mei­nungen auch nicht mit abso­luter Selbst­si­cher­heit ver­treten. Doch obwohl diese Men­schen wesent­lich kom­pe­tenter sind als die Selbst­si­cheren, wird ihnen meis­tens weniger zuge­hört, weil wir ober­fläch­liche Wesen sind und meis­tens auch selbst einem Dun­ning-Kruger-Effekt unter­liegen, wenn es um die Ein­schät­zung der Kom­pe­tenz anderer geht, und glauben, dass ein selbst­si­cherer Mensch sich wohl tat­säch­lich aus­kennt.

Selbst­über­schät­zung ist dabei an sich nicht schlecht und grund­sätz­lich allen Men­schen eigen: Nur, wenn wir uns an neue, große Auf­gaben trauen, können wir wachsen. Wir nehmen uns dieser Auf­gaben an, schei­tern, lernen daraus, finden eine Lösung und sind am Ende klüger. Weil wahre Klug­heit und Weis­heit somit aber mehr oder weniger an Erfah­rungen des Schei­terns und damit auch Lebens­er­fah­rung gene­rell gekop­pelt sind, sind junge Men­schen beson­ders anfällig für den Dun­ning-Kruger-Effekt, neigen mehr zu Selbst­über­schät­zung und weniger zu kri­ti­schem Denken. Des­wegen sind sie leicht zu mani­pu­lieren und werden – wenn wir in die Geschichte schauen – auch tat­säch­lich bevor­zugt von zwei­fel­haften Ideo­logen anvi­siert. Sei also vor­sichtig, wenn Du eine Bewe­gung mit vielen jungen Men­schen siehst, und schalte Dein kri­ti­sches Denken ein.

Her­den­men­ta­lität: Auto­ri­täten und Kon­for­mität

Nun sollten wir aber nicht ver­gessen, dass ein Mensch nicht ein­fach für sich exis­tiert, son­dern in einer Gesell­schaft. Und diese Gesell­schaft, das Umfeld, hat eben­falls einen großen Ein­fluss auf den sub­jek­tiven Rea­li­täts­tunnel.

Der Haupt­grund, warum wir über­haupt das Grund­be­dürfnis haben, als lie­bens­wert erachtet zu werden, ist, dass der Mensch im Grunde ein Her­den­tier ist. Und wenn ein Her­den­tier nicht lie­bens­wert ist, kann es von der Herde ver­stoßen werden und seine Über­le­bens­chancen sinken dann dra­ma­tisch.

Das Bedürfnis nach Liebe, das, wie wir bereits gesehen haben, so manche gru­se­lige Aus­wir­kung hat, ist tat­säch­lich von essen­zi­eller Bedeu­tung für unser Über­leben. Und wenn wir uns selbst nicht aus­rei­chend Liebe geben können, viel­leicht, weil unsere Eltern fatale Erzie­hungs­fehler begangen haben, dann laufen wir Gefahr, zu Mons­tern zu mutieren.

Das gilt umso mehr, wenn unser Umfeld uns bestimmte Ver­hal­tens­weisen vor­gibt:

Weil wir von der Gruppe ja akzep­tiert werden wollen, neigen wir dazu, uns anzu­passen – ob bewusst aus Angst vor Ableh­nung oder auch instinktiv, ohne es zu merken.

Wir nennen das Phä­nomen Grup­pen­druck oder Grup­pen­zwang: Wenn alle um Dich herum die komi­schen XY-Schuhe tragen, dann kommst Du Dir irgend­wann wie ein Außen­seiter vor und kaufst Dir auch ein Paar. Oder viel­leicht nimmt die Gruppe das Fehlen dieser Schuhe zum Anlass, Dich tat­säch­lich aus­zu­grenzen. Denn wenn Du bei diesem Mode­trend nicht mit­machst, könnte es als Ableh­nung und Kritik auf­ge­fasst werden, und damit auch als Angriff, weil Du ja im Grunde die Lie­bens­wür­dig­keit der XY-Schuhe anzwei­felst und damit auch die ihrer Träger, weil sie sich offenbar mit diesem Mode­trend iden­ti­fi­zieren. Und wenn die Gruppe sich von Dir ange­griffen fühlt, schlägt sie zurück. Wie gesagt, jedes System ver­sucht, sich selbst zu legi­ti­mieren und auf­recht­zu­er­halten, die Herde hält zusammen, und wenn jemand sich wider­setzt, wird er ver­nichtet oder bes­ten­falls sich selbst über­lassen.

Wir alle wissen instinktiv um diese Dynamik. Des­wegen laufen die meisten von uns bereit­willig mit der Herde mit, auch wenn sie das Gegen­teil von dem sagt und tut, was wir selbst für richtig halten. Zum Bei­spiel gab es das berühmte Kon­for­mi­täts­expe­ri­ment von Solomon Asch, bei dem Gruppen von Teil­neh­mern Striche gezeigt wurden und die ein­zelnen Teil­nehmer nach­ein­ander den­je­nigen benennen sollten, der die gleiche Länge wie der Refe­renz­strich hatte. Der Witz dabei: Es gab in jeder Gruppe immer nur einen rich­tigen Teil­nehmer, die anderen waren Schau­spieler. Nach einigen vor­be­rei­tenden Runden gaben die Schau­spieler alle ein­heit­lich eine offen­sicht­lich fal­sche Ant­wort. Und der ein­zige rich­tige Teil­nehmer, der theo­re­tisch klar sehen konnte, wel­cher Strich tat­säch­lich dem Refe­renz­strich ent­sprach, schloss sich in ca. 75 Pro­zent aller Fälle der fal­schen Mehr­heits­mei­nung an. Und wenn es schon bei sol­chen harm­losen Dingen so ein­fach ist, einen gewöhn­li­chen Men­schen zu einem Mit­läu­fer­zombie zu machen, dann sollte es einen auch nicht mehr wun­dern, dass so viele damals beim Natio­nal­so­zia­lismus begeis­tert mit­ge­laufen sind.

Eine fal­sche Min­der­heits­mei­nung hat dabei übri­gens deut­lich weniger Chancen, eine Ver­suchs­person zu über­zeugen. Serge Mosco­vici führte näm­lich eine Umkeh­rung des Asch-Expe­ri­ments durch, bei der die Teil­nehmer eine rich­tige Farbe benennen sollten. Wäh­rend die Mehr­heit der Schau­spieler die rich­tige Ant­wort gegeben hat, gab es einen Abweichler mit einer kon­se­quent fal­schen Ant­wort. Gerade mal 8,42 Pro­zent der rich­tigen Ver­suchs­per­sonen ließen sich von ihm über­zeugen.

Wir brau­chen also keine Angst zu haben, dass wirre Theo­rien die Ober­hand gewinnenes sei denn, die Mehr­heit erklärt diese wirren Theo­rien zu ihrer Dok­trin, bei­spiels­weise durch bewusste Mani­pu­la­tion der Gruppe.

So begann Edward Ber­nays, ein Neffe von Sig­mund Freud, sein berühmtes Buch Pro­pa­ganda mit den Worten:

„Die bewusste und intel­li­gente Mani­pu­la­tion der orga­ni­sierten Gewohn­heiten und Mei­nungen der Massen ist ein wich­tiges Ele­ment in der demo­kra­ti­schen Gesell­schaft. Die­je­nigen, die diesen unsicht­baren Mecha­nismus der Gesell­schaft mani­pu­lieren, bilden eine unsicht­bare Regie­rung, die die wahre Regie­rungs­macht unseres Landes ist.“
Edward Ber­nays: Pro­pa­ganda, Kapitel: I. Die Ord­nung des Chaos.

Wenn wir uns diese Worte des Vaters der modernen Pro­pa­ganda anschauen, so müssen wir uns fragen: Wie demo­kra­tisch ist die Demo­kratie eigent­lich wirk­lich? Denn ein Dik­tator, der abso­lute Macht hat, kann tun und lassen, was er will, egal, was sein Volk denkt. Wenn man aber in einer Demo­kratie etwas umsetzen will, muss man das Volk über­zeugen, also Öffent­lich­keits­ar­beit und stra­te­gi­sche Kom­mu­ni­ka­tion betreiben – kurzum: Pro­pa­ganda. Je demo­kra­ti­scher eine Gesell­schaft ist, desto mehr werden Men­schen mit Inter­essen daran setzen, durch Mani­pu­la­ti­ons­stra­te­gien die Mei­nung der Massen zum eigenen Vor­teil zu steuern. Vor diesem Hin­ter­grund ist es daher gar nicht mal so abwegig, wenn manche Sys­tem­kri­tiker meinen, in einer Demo­kratie gäbe es mehr und raf­fi­nier­tere Pro­pa­ganda als in Dik­ta­turen. Denn wäh­rend man in einer Dik­tatur nicht alles sagen kann, was man denkt, wäre in einer Demo­kratie bei all der Mani­pu­la­tion zu hin­ter­fragen, inwie­fern die Gedanken, die man so hat, wirk­lich die eigenen sind – und nicht etwa die einer Bernays’schen „unsicht­baren Regie­rung“, die die Herde mani­pu­liert.

In diesem Zusam­men­hang ist auch anzu­merken, dass Men­schen, wenn sie ein­sehen, dass sie mani­pu­liert oder über­haupt irgendwie beherrscht werden, häufig von der Grund­an­nahme aus­gehen, dass die Mäch­tigen es gut mit ihnen meinen. Natür­lich würde kaum jemand das genau so for­mu­lieren, weil es sich extrem naiv anhört, aber Spiel­arten davon sind durchaus ver­breitet: zum Bei­spiel die Annahme, dass „die da oben“ schon wissen werden, was sie tun, weil ihnen ja so viele wis­sen­schaft­liche Experten zur Seite stehen, oder dass Super­reiche, die sich als Phil­an­thropen insze­nieren, sich tat­säch­lich vor allem um andere Men­schen sorgen und keine Hin­ter­ge­danken haben. Dass die Rei­chen und Mäch­tigen eher wenig echtes Mit­ge­fühl für weniger reiche und mäch­tige Men­schen haben, zeigt allein schon das Mono­poly-Expe­ri­ment. Die unter­be­wusste Nei­gung, Men­schen, denen man aus­ge­lie­fert ist, bes­sere Absichten zu unter­stellen, als sie viel­leicht haben, erin­nert hin­gegen an die Beob­ach­tungen im War­schauer Ghetto. Es ist eine Vari­ante des Selbst­be­trugs, ein ver­brei­teter Denk­fehler namens Pro­jek­tion, der uns gegen­über denen, die Macht über uns haben, noch hilf­loser macht. Des­wegen dürfen wir gerade den Rei­chen und Mäch­tigen nicht ver­trauen. Des­wegen haben wir die Gewal­ten­tei­lung und alle mög­li­chen Kon­troll­in­stanzen. Des­wegen ist Kritik an den Rei­chen und Mäch­tigen für eine Gesell­schaft, die frei sein will, über­le­bens­not­wendig. Und des­wegen müssen wir auch auf­hor­chen, wenn Kritik an Macht­ha­bern jeg­li­cher Art als falsch, amo­ra­lisch oder ander­weitig ver­werf­lich hin­ge­stellt wird. Vor allem, wenn es die Herde ist, die die Kritik an den Auto­ri­täten ablehnt, denn das bedeutet, dass die Mäch­tigen die Masse tat­säch­lich fest in ihrer Hand haben.

An sich ist es natür­lich weder gut noch schlecht, dass Men­schen sich zu Gruppen zusam­men­schließen. Es ist ein­fach unsere Natur, unser Grund­be­dürfnis, zu einer Gruppe zu gehören. Und tat­säch­lich können wir als Gruppe auch viel Gutes bewirken, was ein Ein­zelner nicht errei­chen könnte. Aller­dings sollten wir nie ver­gessen, dass es gleich­zeitig auch unsere Schwach­stelle ist. Denn, wie in der Erfor­schung der Grup­pen­psy­cho­logie, mit der sich u. a. eben Sig­mund Freud und Edward Ber­nays befasst haben, schon sehr früh fest­ge­stellt wurde, lassen sich eigent­lich ratio­nale Indi­vi­duen durch eine starke Iden­ti­fi­ka­tion mit einer Gruppe zu wirk­lich hirn­ris­sigen und sogar grau­samen Aktionen ver­leiten. Gruppen – Men­schen­massen – denken näm­lich nicht rational, son­dern emo­tional, und sind dadurch hoch­gradig mani­pu­lierbar. Man muss sich dabei nicht einmal phy­sisch in einer Menge befinden, um von ihr emo­tional mit­ge­rissen zu werden: Eine starke Iden­ti­fi­ka­tion mit einer bestimmten Bewe­gung reicht völlig aus.

Und dann haben wir den Salat:

Die Masse ist mani­pu­lierbar und han­delt irra­tional und Men­schen, die sich kör­per­lich oder geistig (vor dem Com­pu­ter­bild­schirm zum Bei­spiel) mit dieser Masse iden­ti­fi­zieren, han­deln dann – ent­gegen ihrer eigenen Ratio­na­lität – eben­falls irra­tional.

Wenn wir uns einer emo­tional auf­ge­wühlten Gruppe anschließen, werden wir also buch­stäb­lich dümmer. Und jetzt denke mal an die Iden­ti­täts­po­litik und die Kli­ma­be­we­gung, die in den letzten Jahren umher­gras­sieren. An sich ist an Ideen des Schutzes von Min­der­heiten und des Klimas nichts aus­zu­setzen, aber die emo­tio­nale Auf­la­dung dieser Bewe­gungen sollte einen auf­hor­chen lassen: Dass man Fehler machen könnte, auch wenn man sich für eine gute Sache ein­setzt, passt nicht ins Selbst­bild, wird des­wegen aus der eigenen Wahr­neh­mung her­aus­ge­fil­tert und wenn man Teil einer ganzen Bewe­gung ist, kann man eh nicht klar denken und merkt es nicht einmal. Die Fähig­keit zu kri­ti­schem Denken ist lahm­ge­legt.

Dabei ist noch zu hin­ter­fragen, inwie­fern Men­schen über­haupt kri­tisch denken wollen. Unbe­streitbar ist, dass wir alle gerne das Gefühl genießen, klug und infor­miert und kri­tisch den­kend zu sein – über das Bedürfnis nach einem posi­tiven Selbst­bild haben wir ja bereits aus­führ­lich gespro­chen –, aber kri­ti­sches Denken ist, wie wir in den spä­teren Teilen dieser Reihe noch sehen werden, mit sehr viel Arbeit ver­bunden. Und längst nicht jeder Mensch hat Zeit und Lust dazu. Viel ein­fa­cher ist es, sich jemanden zu suchen, dem man ver­traut, und ihn diese Arbeit machen zu lassen.

Also geben wir bereit­willig die Ver­ant­wor­tung für unser Denken in die Hände von (ver­meint­li­chen) Experten, Jour­na­listen und anderen Auto­ri­täten.

So haben wir ja zum Bei­spiel durchaus schon dar­über gespro­chen, wie die FAZ durch geschicktes Mar­ke­ting ihren Lesern das Gefühl gibt, klug und gut infor­miert zu sein. Das heißt natür­lich nicht, dass die FAZ immer lügt und absolut unzu­ver­lässig ist, aber ohne kri­ti­sche Prü­fung der Artikel sind wir Leser eben nicht mehr als unkri­ti­sche Papa­geien, die fremde Mei­nungen nach­plap­pern und sich dabei als Teil einer intel­lek­tu­ellen Elite fühlen. Und was für die FAZ gilt, gilt auch für jede andere Zei­tung, jede Nach­rich­ten­agentur, jeden Blog, jedes Medium, das Du Dir vor­stellen kannst. Wenn Du nicht skep­tisch bist und prüfst, dann denkst Du nicht kri­tisch.

Über­haupt können auch Jour­na­listen und andere (ver­meint­liche) Auto­ri­täten selbst Her­den­mit­läufer sein. So haben Sieg­fried Wei­schen­berg, Maja Malik und Armin Scholl in ihrer Studie Jour­na­lismus in Deutsch­land 2005: zen­trale Befunde der aktu­ellen Reprä­sen­ta­tiv­be­fra­gung deut­scher Jour­na­listen unter anderem her­aus­ge­funden, dass – zumin­dest damals – 68 Pro­zent der Jour­na­listen, also mehr als zwei Drittel, aus der Mit­tel­schicht stammten. Das ist inso­fern inter­es­sant, als dass der Sozio­loge Pierre Bour­dieu in seiner auf empi­ri­schen Stu­dien beru­henden Erfor­schung des soge­nannten „Raums der Lebens­stile“ unter anderem fest­ge­stellt hat, dass die Mit­tel­schicht am meisten zu Kon­for­mismus, Auto­ri­täts­hö­rig­keit und kri­tik­loser Befol­gung von Regeln neigt (vgl. dazu diesen Artikel von Marcus Klöckner). Und pas­send dazu meinte auch Hannah Arendt, die als Jüdin aus Hit­ler­deutsch­land emi­grierte, über 1933, dass nicht die poli­ti­sche Gleich­schal­tung das Pro­blem war, son­dern die „Gleich­schal­tung“ der Freunde, die in ihrem intel­lek­tu­ellen, aka­de­mi­schen Milieu „sozu­sagen die Regel war“ und in den anderen Milieus nicht. Wenn die meisten Jour­na­listen also aus dieser sozialen Schicht stammen, ist rein sta­tis­tisch die Wahr­schein­lich­keit groß, dass sie auto­ri­täts­hö­rige Mit­läufer sind und die Obrig­keiten daher nicht aus­rei­chend hin­ter­fragen. Sich auf ihre Mei­nungen und Ein­schät­zungen blind zu ver­lassen ist somit nicht ratsam. Und wenn wir uns dann noch erin­nern, dass auch viele andere wich­tige, gar sys­tem­re­le­vante Berufe der Mit­tel­schicht ange­hören – Lehrer, Juristen, Ärzte etc. – ver­stehen wir sofort ein gutes Stück besser, wie die NS-Dik­tatur mög­lich wurde.

Außerdem soll­test Du Dich auch vor dem soge­nannten Halo-Effekt in Acht nehmen: Dar­unter ver­steht man eine kogni­tive Ver­zer­rung, bei der wir von einer bekannten Eigen­schaft einer Person auf unbe­kannte schließen. Sehr häufig kommt er zum Vor­schein, wenn zum Bei­spiel gut­aus­se­hende Men­schen als klüger ein­ge­schätzt werden als weniger gut­aus­se­hende, obwohl zwi­schen Aus­sehen und Klug­heit über­haupt kein Zusam­men­hang besteht. Aber unser Affen­hirn, das nun mal zu Ver­ein­fa­chungen neigt, denkt sich: gutes Aus­sehen = sym­pa­thisch, sym­pa­thi­sche Men­schen sind klug, also gutes Aus­sehen = klug. Und – wer hätte das gedacht? – diese Affen­logik behin­dert natür­lich unser kri­ti­sches Denken: Wenn wir zum Bei­spiel Mei­nungs­äu­ße­rungen von bemer­kens­werten Schrift­stel­lern, Schau­spie­lern oder anderen bekannten Per­sön­lich­keiten hören, neigen wir dazu, diese Mei­nungen unkri­tisch zu über­nehmen. Des­wegen werden Promis gerne in der Wer­bung ein­ge­setzt. Und des­wegen hört man auch oft, wie gerade Men­schen, die sich für beson­ders klug und kul­ti­viert halten, sich in ihren Aus­sagen auf irgend­welche großen Schrift­steller berufen, ohne dass diese Schrift­steller irgend­welche Kom­pe­tenzen im jewei­ligen Bereich hätten. Nur, weil jemand ein tolles Buch geschrieben hat, ist er kein Experte, der weiß, wie kul­tu­relle, soziale, poli­ti­sche oder ander­wei­tige Pro­bleme gelöst gehören. Des­wegen finde ich per­sön­lich es auch pro­ble­ma­tisch, wenn Promis sich zum aktu­ellen Geschehen oder gene­rell fremden Fach­be­rei­chen äußern: Auch sie sind nur Men­schen, können dem Dun­ning-Kruger-Effekt unter­liegen und ihre Mei­nungen sind des­wegen nicht zwangs­läufig fun­diert. Trotzdem haben diese Mei­nungen in der Öffent­lich­keit Gewicht, weil wir gerne die Ver­ant­wor­tung für unser Denken und Han­deln an cha­ris­ma­ti­sche Per­sön­lich­keiten abgeben.

Doch auch aka­de­mi­schen Experten sollten wir nicht blind folgen. Ich habe irgendwo einen Spruch auf­ge­schnappt, den ich leider als sehr wahr ein­stufen muss: Wis­sen­schaft sucht nicht die Wahr­heit, son­dern Finan­zie­rung. – Ernst­haft, frag jeden x‑beliebigen For­scher, was ihm am meisten Kopf­schmerzen bereitet. Du wirst erstaunt sein, wie oft der Punkt der Finan­zie­rung der For­schungs­ar­beit und damit auch des eigenen Lebens­un­ter­halts vor­kommt. So habe ich als MS-Kranke zum Bei­spiel von For­schungs­an­sätzen gehört, die die Mul­tiple Skle­rose heilbar machen oder zumin­dest die The­rapie ver­bes­sern könnten. Oft bekommen sie aber keine Finan­zie­rung, weil das Patent­recht im Weg steht und die Phar­ma­kon­zerne auch gene­rell nicht an einer Hei­lung von MS-Pati­enten inter­es­siert sind: Durch den Ver­kauf teurer Prä­pa­rate lässt sich viel mehr Geld ver­dienen als durch Hei­lung. Selbst wenn Wis­sen­schaftler es also gut meinen, sind sie sehr stark von ihren Geld­ge­bern abhängig. Und diese können dann beein­flussen, zu wel­chen Fragen über­haupt geforscht wird, oder unlieb­samen Wis­sen­schaft­lern die Finan­zie­rung ent­ziehen. Pas­siert ratz­fatz, wes­wegen man als Wis­sen­schaftler im Zwei­fels­fall durchaus auf­passen muss, was man sagt und was man über­haupt erforscht.

Und abge­sehen davon sollten wir auch nicht ver­gessen, dass Wis­sen­schaftler und andere Experten auch nur Men­schen mit eigenen Schwä­chen, Vor­ur­teilen und Inter­essen sind. Auch sie wollen Kar­riere machen, ein viel zu gutes Selbst­bild pflegen, neigen zum Bestä­ti­gungs­fehler und anderen kogni­tiven Blo­ckaden, spinnen wider­liche Intrigen gegen­ein­ander, und manche sind sogar kor­rupt. Tat­säch­lich zeigt ein Blick in die Geschichte, dass der Groß­teil der Wis­sen­schaft und anderer Experten, der „wis­sen­schaft­liche Main­stream“ wenn man so will, sich schon immer äußerst bereit­willig in den Dienst von Auto­ri­täten gestellt hat, sei es, indem er eine ver­meint­lich gött­liche Abstam­mung der Herr­scher­fa­milie unter­mauert, die Geschichte zugunsten der jewei­ligen Auto­ri­täten umge­schrieben oder gar hoch­gradig ras­sis­ti­sche Thesen mit ver­meint­li­chen Belegen gefüt­tert hat. Mehr noch, als nor­mal­sterb­liche Men­schen können sich Wis­sen­schaftler auch ganz banal irren! So wurde zum Bei­spiel ursprüng­lich ange­nommen, dass der Mega­losaurus ein Vier­beiner war. Heute wissen wir, dass er auf zwei Beinen lief.

Und wann ist ein Experte über­haupt ein Experte? Zum Bei­spiel habe ich selbst Sla­wistik mit Schwer­punkt auf rus­si­scher und pol­ni­scher Lite­ratur- und Kul­tur­wis­sen­schaft sowie Geschichts­wis­sen­schaft stu­diert und am Institut für Ost­eu­ro­päi­sche Geschichte und Lan­des­kunde an der Uni Tübingen als HiWi gear­beitet, und schaue des­wegen genau hin, wer in den Medien bei geo­po­li­ti­schen Dis­kus­sionen so als „Ost­eu­ropa-Experte“ sti­li­siert wird: Schließ­lich sind da hin und wieder Namen dabei, die ich kenne. Und was fällt auf? Oft genug kommt es vor, dass die „Experten“ tat­säch­lich etwas mit Ost­eu­ropa zu tun haben, aber ihre Exper­tise in einem anderen Fach­be­reich liegt als in der Geo­po­litik, zu der sie sich aber als „Experten“ äußern dürfen. Ein sol­cher fach­fremder „Experte“ wäre Klaus Gestwa, Direktor des und Pro­fessor am Institut für Ost­eu­ro­päi­sche Geschichte und Lan­des­kunde an der Uni Tübingen, also mein ehe­ma­liger Chef. Prü­fungen habe ich bei ihm sorg­fältig ver­mieden, weil ich von anderen Stu­denten von seinen Prü­fungs­me­thoden gehört habe und sie unpas­send fand. Aber durch meinen Job als HiWi kenne ich ihn trotzdem per­sön­lich und kann mit abso­luter Sicher­heit sagen, dass er ein His­to­riker ist und seine Schwer­punkte in der rus­si­schen und sowje­ti­schen Wirt­schafts- und Wis­sen­schafts­ge­schichte liegen. In letzter Zeit tritt er aber als „Ukraine-Experte“ auf und äußert sich zu Geo­po­litik, was so gar nicht zu seinen Publi­ka­tionen passt. Somit haben wir hier eher ein Bei­spiel von Selbst­über­schät­zung und einem Dun­ning-Kruger-Effekt, und auch Kor­rup­tion kann ich grund­sätz­lich nicht aus­schließen, auch wenn es natür­lich nur reine Inter­pre­ta­tion von meiner Seite ist: Aber rein sub­jektiv hat er auf mich damals wäh­rend meiner Zeit als HiWi durchaus den Ein­druck gemacht, ein über­durch­schnitt­li­ches Gel­tungs­be­dürfnis zu haben, und, wie wir bereits gesehen haben, kann allein schon das Gefühl, ein toller Mensch zu sein, zum Bei­spiel durch Publi­city und das Auf­treten als „Experte“, kor­rum­pie­rend wirken, weil es dem Ego schmei­chelt.

Ver­giss auch nicht, dass alle mög­li­chen Arten von Experten in der Geschichte schon so man­ches Ver­bre­chen begangen haben. Im Mit­tel­alter galten Geist­liche als Experten für die Aus­le­gung von Gottes Willen, und es kam zu Kreuz­zügen, Hexen­ver­fol­gungen und anderen bru­talen Aktionen. Wäh­rend der NS-Zeit haben Wis­sen­schaftler für das Regime gear­beitet, eine pseu­do­wis­sen­schaft­liche Grund­lage für die Ideo­logie erar­beitet und grau­same Men­schen­ex­pe­ri­mente durch­ge­führt. Wie können wir garan­tieren, dass jene, die wir heut­zu­tage als Experten erachten, nicht eben­falls in irgend­welche dunklen Machen­schaften ver­strickt sind? – Können wir gar nicht! Dabei hat das berühmte Mil­gram-Expe­ri­ment ein­drück­lich gezeigt, wie leicht Men­schen Wis­sen­schaftler als Auto­ri­täten akzep­tieren und auf deren Anord­nung grau­same Dinge tun, obwohl sie damit gegen ihre eigenen Werte ver­stoßen: Die Test­per­sonen wurden ange­wiesen, einem ver­meint­li­chen Ver­suchs­teil­neh­mer­kol­legen, in Wirk­lich­keit einem Schau­spieler, elek­tri­sche Strom­stöße zu ver­passen, wenn er bei Lern­auf­gaben Fehler machte. Es hieß, man wolle den Ein­fluss von Bestra­fung auf das Lernen unter­su­chen. Und obwohl der „Ler­nende“ vor Schmerzen schrie und um Abbruch bat, befolgte die Mehr­heit der Teil­nehmer die Anwei­sungen des Expe­ri­ment­lei­ters und machte weiter. Spä­tes­tens seit diesem Expe­ri­ment sollten wir also wissen, dass auch blinde Wis­sen­schafts­gläu­big­keit nicht mit kri­ti­schem Denken ver­einbar und in Kom­bi­na­tion mit Auto­ri­täts­hö­rig­keit sogar gefähr­lich ist.

Weil wir aber nun wissen, dass wir Fak­ten­be­haup­tungen nicht blind ver­trauen können, sind in den letzten Jahren unend­lich viele soge­nannte Fak­ten­che­cker wie Pilze aus dem Boden gesprossen. Doch auch diesen dürfen wir natür­lich nicht bedin­gungslos glauben. Zwar werben sie damit, dass sie uns Denk- und Recher­che­ar­beit abnehmen, aber sie tun eben genau das: Sie nehmen uns Denk- und Recher­che­ar­beit ab, die wir aber, wenn wir selbst­ständig denken wollen, eben selbst­ständig erle­digen sollten. Weil es sich dabei letzt­end­lich auch nur um jour­na­lis­ti­sche Artikel han­delt, müssen wir mit ihnen genauso ver­fahren wie mit Medien und Experten, näm­lich genau hin­schauen und keinen Fak­ten­check akzep­tieren, den wir nicht selbst ver­zapft haben. So wird zum Bei­spiel im „Fak­ten­finder“ der Tages­schau beim Fak­ten­check von Stimmen, die darin als „ver­meint­liche Experten“ abgetan werden, unter anderem unser guter Bekannter Klaus Gestwa in der Funk­tion eines „Ukraine-Experten“ zitiert: Es werden also Leute als „ver­meint­liche Experten“ hin­ge­stellt, indem ein tat­säch­lich ver­meint­li­cher Experte zu Wort kommen darf und dabei nicht hin­ter­fragt wird. Dabei werden die Argu­mente der kri­ti­sierten „ver­meint­li­chen Experten“ nicht sach­lich zer­legt, das heißt, es wird nicht darauf ein­ge­gangen, wie genau die kri­ti­sierten „Experten“ ihre Ansichten begründen, son­dern es werden ein­fach nur Gegen­thesen prä­sen­tiert, frei nach dem Prinzip: „X sagt das und das, aber das ist falsch, in Wirk­lich­keit ist das so und so.“ So funk­tio­niert seriöser wis­sen­schaft­li­cher Dis­kurs aber nicht. Um die Posi­tion der Gegen­seite zu wider­legen, muss man ihre Argu­men­ta­ti­ons­kette und die ange­führten Belege prüfen. Und viel­leicht haben die Inter­view­partner des „Fak­ten­fin­ders“ das sogar gemacht – aber im Artikel merkt man nichts davon.

Span­nend ist vor diesem Hin­ter­grund auch die Frage, wer die Fak­ten­che­cker finan­ziert: Sie selbst mögen sich noch so sehr als „unab­hängig“ sti­li­sieren, aber wenn ein Löwen­an­teil ihrer Finanzen von US-ame­ri­ka­ni­schen Mul­ti­mil­li­ar­dären, die keinen Hehl aus ihrer poli­ti­schen Agenda machen, kommt, wie das zum Bei­spiel bei Cor­rectiv der Fall ist, das 2022 über eine halbe Mil­lion Euro von der Lumi­nate Foun­da­tion, die dem eBay-Gründer Pierre Omidyar gehört, erhalten hat, dann ist diese Behaup­tung von einer „Unab­hän­gig­keit“ bes­ten­falls unglaub­würdig.

Dass wir gerne her­den­haft irgend­wel­chen Auto­ri­täten hin­ter­her­laufen, liegt aber nicht nur an unserer denk­faulen Natur, son­dern auch am Bil­dungs­system: Denkst Du wirk­lich, Schulen sind aus reiner über­großer Her­zens­güte ent­standen, damit junge Seelen ihr volles Poten­tial ent­falten können? Nein. Viel­leicht bist Du selbst so idea­lis­tisch, aber Du bist schlecht beraten, wenn Du Deine Werte und Ideale auch anderen unter­stellst. Denn hier wären wir wieder beim Denk­fehler der Pro­jek­tion. Ver­giss nie, dass Schulen Geld kosten, und wer es inves­tiert, will dafür etwas bekommen. Bei Pri­vat­schulen inves­tieren die Eltern und bekommen dafür eine gute Bil­dung für ihre Kinder. Bei Schulen für das gemeine Volk inves­tieren je nach Land und Epoche der Staat und/oder super­reiche ver­meint­liche Phil­an­thropen (in Wirk­lich­keit Fabrik­be­sitzer und andere, sagen wir mal, Olig­ar­chen). Beide wollen aber vor allem eins: Arbeits­kräfte, die nicht mehr und nicht weniger können als die Arbeit, für die sie her­an­ge­züchtet werden. Die Ursprünge des Schul­sys­tems, wie wir es kennen, rei­chen ins frühe 18. Jahr­hun­dert, als in Preußen die Schul­pflicht ein­ge­führt wurde, um dis­zi­pli­nierte und aus­rei­chend kom­pe­tente Unter­tanen zu formen. Und das ist bis heute spürbar: In einer Sen­dung von SWR1 Leute geht der Pro­pa­gan­da­for­scher Jonas Tögel ab Minute 29:03 darauf ein, dass es an deut­schen Schulen durchaus bewusste NATO-Pro­pa­ganda gibt. Und wenn wir uns daran erin­nern, dass Sys­teme sich von Natur aus selbst legi­ti­mieren müssen, dann ist es ganz logisch, dass es in den Schulen eines NATO-Landes NATO-Pro­pa­ganda gibt. In Nicht-NATO-Län­dern gibt es ander­wei­tige Pro­pa­ganda. Sofern Schulen Teil eines Sys­tems mit bestimmten Inter­essen sind, solange sie von diesem System Gelder bekommen und das Per­sonal von diesem System aus­ge­bildet wird, sind sie auch eine Pro­pa­gan­da­in­sti­tu­tion zur Her­an­züch­tung braver, mani­pu­lier­barer Bürger. Oder wie der US-ame­ri­ka­ni­sche Lehrer John Taylor Gatto es in seinem Buch Dum­bing Us Down so schön for­mu­liert:

„Schools are intended to pro­duce, through the appli­ca­tion of for­mulas, for­mu­laic human beings whose beha­vior can be pre­dicted and con­trolled.“

„Schulen sind dafür gedacht, durch die Anwen­dung von Scha­blonen scha­blo­nen­hafte Men­schen her­vor­zu­bringen, deren Ver­halten vor­her­ge­sagt und kon­trol­liert werden kann.“

John Taylor Gatto: Dum­bing Us Down: The Hidden Cur­ri­culum of Com­pul­sory Schoo­ling, Kapitel: The Psy­cho­pa­thic School, hier über­setzt von Feael Sil­ma­rien.

Wobei das natür­lich mit allen anderen Säulen von Rea­li­täts­tun­neln Hand in Hand geht: Denn Lehrer zum Bei­spiel neigen ja auch völlig ohne bewusste Pro­pa­gan­da­ab­sicht zu Denk­feh­lern, Auto­ri­täts­hö­rig­keit und Mit­läu­fertum, äußern sich gegen­über ihren Schü­lern (wie meine Assis­tentin Lara so schön anmerkte) aber oft und gerne zu Themen, mit denen sie sich eigent­lich nicht aus­kennen. Damit werden sie also zu Opfern des Dun­ning-Kruger-Effekts, was jedoch beson­ders gefähr­lich ist ange­sichts dessen, dass sie gegen­über Kin­dern, die erst recht noch nicht kri­tisch denken können, als Auto­ri­täten und Vor­bilder auf­treten und diese somit unwis­sent­lich und unab­sicht­lich mit fal­schen Infor­ma­tionen und Denk­feh­lern indok­tri­nieren können. Und wenn wir von der ersten Klasse an lernen, dass Lehrer mehr oder weniger immer recht haben, und Lehrer auch noch Macht über unsere Schul­noten – und damit über unsere Zukunft – haben, dann braucht es nicht einmal bewusste Pro­pa­ganda im Lehr­plan: Wenn die Lehrer selbst an das glauben, was sie ihren Schü­lern ver­mit­teln sollen, machen sie diese Pro­pa­ganda ganz unbe­wusst und unauf­ge­for­dert.

Mit anderen Worten:

Unsere natür­liche Auto­ri­täts­hö­rig­keit wird durch das Schul­system, wie wir es heute kennen, nur noch ver­stärkt.

Dabei wäre es auch ein Fehler, mit Auto­ri­täten nur klare Befehle und Dro­hungen zu asso­zi­ieren. Viel gefähr­li­cher als solche offenen Auto­ri­täten sind laut dem Psy­cho­ana­ly­tiker Erich Fromm soge­nannte anonyme Auto­ri­täten. Denn wenn eine offen auto­ri­täre Mutter dem kleinen Hans zum Bei­spiel sagt: „Wenn du den Spinat nicht isst, dann gibt’s Prügel!“, dann kann der kleine Hans sich auf­lehnen, rebel­lieren, für seine Rechte kämpfen. Anonyme Auto­rität hin­gegen wäre, um Fromms eigenes Bei­spiel zu klauen, wenn die Mutter sagt: „Du kannst essen, was du willst“, dabei aber „ein sehr trau­riges Gesicht“ macht, wenn der kleine Hans den Spinat nicht isst. Mit anderen Worten: Die Mutter täuscht den kleinen Hans, indem sie ihm vor­gau­kelt, er wäre frei in seiner Ent­schei­dung, ihm gleich­zeitig aber zu ver­stehen gibt, dass nur eine Ent­schei­dung richtig ist. Gegen eine solche passiv aggres­sive Psy­cho­ma­ni­pu­la­tion kann man sich kaum wehren, weil man ja angeb­lich so frei ist. Denn gegen wen wehrt man sich da? Gegen die liebe Mama, die einem sagt, man könne doch essen, was man will? Und dann werden solche Psy­cho­ma­ni­pu­la­tionen nicht nur beim Spinat ein­ge­setzt, son­dern natür­lich auch in allen anderen Lebens­be­rei­chen: In der Schule zum Bei­spiel bekommen wir oft Auf­gaben, bei denen wir durch „selbst­stän­diges“ Denken zur erwünschten „rich­tigen“ Ant­wort kommen müssen, und dafür werden uns von der Lehr­kraft seeehr ziel­ge­rich­tete Tipps gegeben. Und gene­rell heißt es an jeder Ecke, wir seien als Gesell­schaft ja so frei, aber dann ergeben die Umfragen der letzten Jahre, dass immer mehr Deut­sche die Mei­nungs­frei­heit ein­ge­schränkt sehen.

Ansonsten spielen ein Stück weit auch kul­tu­relle Beson­der­heiten eine Rolle. So wird den Deut­schen im inter­kul­tu­rellen Ver­gleich immer wieder eine über­durch­schnitt­liche Auto­ri­täts­hö­rig­keit attes­tiert. Die Träg­heit des deut­schen Michels mag der Grund für diese Bereit­wil­lig­keit zum Abtreten von Ver­ant­wor­tung an irgend­welche Auto­ri­täten sein. Und das wie­derum bedroht die Fähig­keit zu kri­ti­schem Denken:

Denn kri­ti­sches Denken ist selbst­stän­diges Denken. Und selbst­stän­diges Denken bedeutet, dass man selbst­ständig denkt und das Denken somit eben nicht an die Herde, Auto­ri­täten und (ver­meint­liche) Experten out­sourct.

Sub­jek­tive Rea­li­täten: Zusam­men­fas­sung

Puh, das war viel! Und weil das so viel war, sollten wir viel­leicht kurz zusam­men­fassen:

Das Haupt­pro­blem besteht darin, dass wir alle geliebt werden wollen und – sofern wir nicht in der Lage sind, uns selbst genug Liebe zu geben – darauf ange­wiesen sind, ein posi­tives Selbst­bild zu pflegen. Dabei kon­stru­ieren wir Men­schen (im Gegen­satz zu Tieren) gerne Nar­ra­tive bzw. Rea­li­täts­tunnel, in denen wir selbst (oder auch unsere Ange­hö­rigen) eine Helden- oder Opfer­rolle ein­nehmen. An diese Nar­ra­tive glauben wir dann ehr­lich und auf­richtig und errichten kogni­tive Filter gegen Infor­ma­tionen, die diesen Nar­ra­tiven wider­spre­chen. Außerdem neigen wir dazu, uns selbst, unsere Fähig­keiten und unsere Bedeu­tung für die Welt zu über­schätzen und ganz naiv und blau­äugig anzu­nehmen, dass wir tat­säch­lich Gutes tun, wenn wir es gut meinen, und dass andere Men­schen es auch gut mit uns meinen. Wir glauben gerne an das Gute in anderen Men­schen, weil wir auch Men­schen sind, und wenn der Mensch an sich gut ist, dann sind wir ja auch selbst gut.

Außerdem sind wir unver­bes­ser­liche Her­den­tiere und geben die Ver­ant­wor­tung für unser Denken und Han­deln gerne an ver­meint­lich ver­trau­ens­wür­dige Auto­ri­täten ab, deren Nar­ra­tive wir nur zu gerne unkri­tisch über­nehmen. Dabei blenden wir aus, dass diese Auto­ri­täten genauso feh­ler­an­fäl­lige Men­schen wie wir sind. Wie gesagt, wir blenden gene­rell alles aus, was unsere rosa­rote Brille bei der Betrach­tung der Welt und vor allem von uns selbst beein­träch­tigen könnte. Wir sind also von Natur aus nicht zu kri­ti­schem Denken ver­an­lagt und es wird von unserer Gesell­schaft auch nicht geför­dert. Mehr noch: Wenn wir die Bedro­hungen für unser Selbst- und Welt­bild nicht ein­fach aus­blenden können, wollen wir es gewaltsam ver­tei­digen und werden aggressiv, merken es aber häufig nicht, weil Aggres­sion und Bos­haf­tig­keit nicht zu unserem freund­li­chen Selbst­bild passen. Und wenn die Herde auch noch mit­macht, sehen wir erst recht keinen Grund, unser Denken und Han­deln zu hin­ter­fragen.

Beson­ders fatal ist in diesem Zusam­men­hang der Indi­vi­dua­lismus, weil durch ihn jeder auf sich selbst, seine Wir­kung und seinen Rea­li­täts­tunnel fixiert ist, wir uns sehr stark mit irgend­wel­chen Gruppen iden­ti­fi­zieren, sie als Teil unserer Indi­vi­dua­lität betrachten und uns somit ihren Nar­ra­tiven aus­lie­fern, und weil die anonyme Auto­rität, die uns eine Frei­heit zur indi­vi­du­ellen Ent­fal­tung vor­gau­kelt, uns und unseren Rea­li­täts­tunnel in eine bestimmte Rich­tung zu lenken ver­sucht.

Also ganz kurz for­mu­liert:

Das Bedürfnis, als lebens- und lie­bens­wertes Geschöpf gesehen zu werden, macht uns mani­pu­lierbar und schlimms­ten­falls sogar zu men­schen­ver­ach­tenden Bas­tarden.

Oder umge­kehrt:

Die meisten Arsch­lö­cher werden nicht des­wegen zu Arsch­lö­chern, weil sie Arsch­lö­cher sein, son­dern weil sie als gut und lie­bens­wert gelten wollen.

Oder noch kürzer:

Kri­ti­sches Denken erfor­dert sehr viel Mut, weil wir uns vor allem uns selbst stellen müssen.

Die Tragik hinter dieser Natür­lich­keit von kogni­tiven Blo­ckaden, Her­den­men­ta­lität und Auto­ri­täts­hö­rig­keit besteht nun darin, dass sie auf ganz natür­liche Weise zu Kon­flikten führt. Wir hauen uns gegen­seitig die Köpfe ein, weil wir für das Gute kämpfen und die Welt retten wollen, und merken nicht, dass wir selbst genau die Monster sind, die wir zu bekämpfen glauben. Und um diesen Sach­ver­halt etwas anschau­li­cher dar­zu­stellen, möchte ich im zweiten Teil dieser Reihe detail­lierter auf die fatalen Folgen von sub­jek­tiven Rea­li­täten ein­gehen. Denn wäh­rend wir alle uns Sorgen um Dinge wie die gesell­schaft­liche Spal­tung machen, sind die wenigsten von uns bereit ein­zu­sehen, dass wir selbst Teil des Pro­blems sind. Im dritten Teil schließ­lich werden wir uns kon­kreten Schritten für die kri­ti­sche Ana­lyse von Infor­ma­tionen zuwenden.

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