Kannst Du kritisch denken oder glaubst Du das nur? Gerade in unseren heutigen turbulenten Zeiten ist das Thema sehr wichtig, und deswegen wagen wir uns an eine Artikel-Trilogie dazu. In diesem ersten Teil geht es um unsere subjektiven Realitäten: Denkfehler, kognitive Blockaden, Herdenmentalität, Autoritätshörigkeit und warum unser Selbst- und Weltbild das kritische Denken behindert …
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Du wirst diese Serie hassen. Denn wir alle haben unsere Überzeugungen und Narrative, die in unserem Hirn absolut Sinn ergeben, und wir alle stehen gerne positiv da. Dabei kommt es sehr selten vor, dass wir unser eigenes Selbstbild herausfordern und unser Denken hinterfragen. Was ist also, wenn ich provokant frage:
Kannst Du kritisch denken oder bist Du eine Dumpfbacke, die einfach nur fremde Meinungen nachplappert und mit dem Strom schwimmt?
Eigentlich sollten gerade wir Literaten doch vor allem eins wissen:
Erzählen ist immer eine Verfälschung der objektiven Ereignisse.
Und auf unsere Überzeugungen und Narrative übertragen bedeutet das:
Unsere Ansichten sind nichts weiter als Geschichten, die wir uns selbst erzählen. Diese Geschichten mögen dabei noch so sehr auf Fakten beruhen: Es handelt sich um Erzählungen, und Erzählungen sind, wie gesagt, immer eine Verfälschung der objektiven Ereignisse.
Somit sind unsere Ansichten und Meinungen, so sehr wir uns auch um Objektivität bemühen, immer eine verfälschte Sichtweise auf die Realität.
Ausgehend von diesem Wissen aus unserem eigenen Fachbereich können wir also etwas fürs Leben lernen. Doch dazu müssen wir über unseren eigenen Schatten springen, vor allem, wenn wir in unseren Werken irgendwelche Botschaften, Werte und Weltanschauungen vermitteln wollen: Denn in dieser Serie werde ich Dir darlegen, dass Du – zumindest in den meisten Bereichen – eine mitläuferische Dumpfbacke und sogar ein potentielles Arschloch bist. Heute beginnend mit dem Thema:
Als normalsterblicher homo sapiens bist Du naturbedingt zu doof, um die objektive Realität auch nur wahrzunehmen.
Gefangen in einer Welt von Illusionen
Warum das Erzählen immer automatisch eine Verfälschung ist, haben wir bereits in einem früheren Artikel besprochen. Daher sei das Wesentliche hier nur schnell aufgefrischt:
Erzählen bedeutet, unter den wahrgenommenen Vorfällen eine Auswahl zu treffen, die ausgewählten Vorfälle auf eine bestimmte Weise anzuordnen und anschließend auf eine bestimmte Weise zu präsentieren.
Und um das Ganze noch etwas zu vertiefen:
Für die Auswahl, Anordnung und Präsentation der Vorfälle nutzen wir immer irgendwelche Kriterien, deren Auswahl wiederum irgendwelchen Kriterien unterliegt, die wiederum irgendwelchen Kriterien unterliegen, und nach einer schier endlosen Kette von Kriterien landen wir irgendwann bei quasi-religiösen Glaubenssätzen und Annahmen. (Und dann wollen manche Leute einem erzählen, sie wären nicht gläubig. 😜)
Falls Du noch nicht überzeugt bist, hier ein sehr einfaches Beispiel …
Ehrliche Unwahrheit
Fritzchen hat einen Autounfall beobachtet und wird nun von der Polizei befragt. Der Unfallverursacher hat Fahrerflucht begangen und die Polizistin möchte von Fritzchen eine möglichst genaue Beschreibung des Autos.
Fritzchen weiß, dass es am sinnvollsten wäre, das Kennzeichen zu nennen. Er weiß es nicht, weil er durch eigene Analysen zu diesem Ergebnis gekommen ist, sondern weil man es ihm so eingetrichtert hat. Somit ist das nicht Wissen, sondern ein Glaubenssatz – zumindest bis Fritzchen selbstständig eine Statistik darüber zusammenstellt, wie oft das Wissen um das Autokennzeichen des Täters der Polizei tatsächlich geholfen hat. Und selbst dann kann es noch passieren, dass Fritzchen beim Aufstellen einer solchen Statistik Fehler macht. Er müsste diese Statistik deswegen prüfen lassen und idealerweise sollten auch andere unabhängig von ihm solche Statistiken zusammenstellen. Wenn also alle diese Studien zum selben Ergebnis kommen und auch alle Kritik aushalten, dann kann Fritzchen erst davon ausgehen, dass seine Annahme wahrscheinlich korrekt ist. – Eben nur wahrscheinlich, weil es immer noch sein kann, dass es einen Faktor gibt, den niemand beachtet hat.
Nun hat Fritzchen aber keine solche Statistik aufgestellt, verlässt sich auf seinen Glauben und versucht, sich an das Kennzeichen zu erinnern, zumal es mitten in seinem Blickfeld war. Doch obwohl Fritzchen das Kennzeichen durchaus passiv wahrgenommen hat, hat er nicht gezielt darauf geachtet. Worauf er achtet, wird nämlich maßgeblich vom Kriterium „Interesse“ bestimmt, und Autokennzeichen findet Fritzchen eben nicht spannend. Deswegen überlegt er, was noch relevant sein könnte, sucht also nach weiteren Kriterien, nach denen er eine Auswahl der zu berichtenden Fakten treffen kann. Dass das Auto vier Räder hatte, hält er zum Beispiel für irrelevant, weil diese Information auf jedes Auto zutreffen könnte. Deswegen streicht er sie.
Relevanter sind in Fritzchens subjektiver Wahrnehmung die Farbe und die Marke des Autos. Subjektiv ist diese Ansicht deswegen, weil Fritzchens Annahme, dass es bei Farben und Marken eine größere Vielfalt gibt, auf seinen subjektiven Erlebnissen in den wenigen Städten, in denen er in seinem Leben gewesen ist, beruht. Fritzchen kann eigentlich nicht ausschließen, dass es dort, wo er wohnt, zufällig eine größere Vielfalt gibt als anderswo. Und ein grauer VW zum Beispiel wäre in einem Gebiet, das von grauen VWs bevölkert ist, schwer zu finden. Die Polizei freut sich natürlich über jedes Detail, das er liefern kann, aber um sich einigermaßen sicher zu sein, dass die Information wirklich wichtig sein wird, bräuchte Fritzchen eigentlich ebenfalls eine Statistik.
Nun war das Auto aber kein grauer VW, sondern Fritzchen ist sich ziemlich sicher, einen Mercedes-Stern gesehen zu haben. Er sagt also, es sei ein Mercedes gewesen, weil er davon ausgeht, dass ein Auto mit einem Mercedes-Stern ein Mercedes ist. Die Feststellung der Automarke unterliegt also dem Kriterium von Fritzchens Wissens- oder eher: Glaubenshorizont. Details, die über diesen Horizont hinausgehen, hält Fritzchen nicht für erwähnenswert. Dabei hatte das Auto, das Fritzchen zu beschreiben versucht, in Wirklichkeit einen zweigeteilten, abgerundeten Kühlergrill, und das ist ein charakteristisches Merkmal von BMWs, die sogenannte BMW-Niere.
Was die Farbe angeht, so hat Fritzchen von seinem Augenarzt gesagt bekommen, dass er gute Augen hat. Er verlässt sich also auf sie, und weil er in seinem Leben – im Gegensatz zu beispielsweise Fotografen – nicht viel mit Licht arbeitet, denkt er auch nicht an solche Faktoren wie optische Täuschungen. Er ist sich also sicher – oder eher: glaubt –, dass das Auto schwarz war. In Wirklichkeit aber hat es aufgrund der herrschenden Lichtverhältnisse von seinem Standpunkt aus nur so ausgehen. Eigentlich war das Auto dunkelblau.
Obwohl Fritzchen also ehrlich und aufrichtig sein Bestes gibt, überhäuft er die Polizistin mit Falschangaben. Er sagt, das Auto sei ein schwarzer Mercedes gewesen, obwohl es ein dunkelblauer BMW war. Wenn die Polizistin seinen Bericht also für bare Münze nimmt, dann ist sie eine schlechte Polizistin und wird den Täter nicht finden.
Unsere Polizistin ist aber eine gute Polizistin und löchert Fritzchen mit Fragen, die sich extradoof anfühlen, bei Zeugenbefragungen und Verhören aber aus gutem Grund oft vorkommen:
„Woher wissen Sie, dass es ein Mercedes war?“
„Da war ein Mercedes-Stern.“
„Wie sah er aus?“
„Wie ein Mercedes-Stern eben aussieht.“
„Wie sieht ein Mercedes-Stern aus? Wie viele Zacken hat er, zum Beispiel?“
„Na wie ein Stern halt! Fünf Zacken!“
Autsch! Nun weiß die Polizistin ziemlich genau, dass Fritzchen sich mit Automarken nicht auskennt und das Auto möglicherweise kein Mercedes war. Denn ein Mercedes-Stern hat drei Zacken, nicht fünf. Weil das Thema Kühlergrill nicht erwähnt wird und die Polizistin auch sonst keine weiteren Angaben zur Marke aus dem Nicht-Autokenner Fritzchen herausbekommt, kann sie dazu nichts notieren. Aber dafür hat sie eine andere wichtige Information, die Fritzchen ihr unwissentlich gegeben hat: Auf dem Auto ist aus irgendeinem Grund eine Dekoration in Form eines fünfzackigen Sterns montiert, was ein sehr ungewöhnliches und dadurch auffälliges Merkmal ist.
In Bezug auf die Farbe weiß unsere Polizistin sehr wohl um mögliche Täuschungen und befragt Fritzchen ausführlich zum Wetter und den Lichtverhältnissen. Am Ende notiert sie sich, dass das Auto möglicherweise schwarz, aber mit größter Wahrscheinlichkeit zumindest dunkel ist.
Was das Kennzeichen angeht, so hält die Polizistin diese Information auf Grund von persönlicher Erfahrung, Austausch mit Kollegen und nicht zuletzt durch polizeiinterne Statistiken für durchaus sehr wichtig. Und wenn Fritzchen nicht von sich aus gesagt hätte, dass er sich nicht erinnern kann, hätte sie ihn danach gefragt. (Ebenso übrigens, wie sie ihn auch nach der Marke und der Farbe gefragt hätte.) Dass sie kein Kennzeichen notieren kann, ist zwar schade, aber sie quetscht ihn trotzdem weiter aus und bekommt wenigstens die Information, dass da schwarze Buchstaben und Zahlen auf weißem Grund waren. Somit ist das Auto wahrscheinlich in einem Land registriert, in dem weiße Plaketten benutzt werden, zum Beispiel eher Deutschland und nicht etwa Niederlande. – Vorausgesetzt natürlich, das Nummernschild ist echt.
Das Endergebnis ist: Obwohl die Polizistin durchaus den Eindruck hat, dass Fritzchen, ein Augenzeuge, nach bestem Wissen und Gewissen zu helfen versucht, hinterfragt sie jedes Detail seiner Angaben. Denn Fritzchen mag den Unfall klar gesehen haben, aber wie sich herausstellt, hat er nur sehr bedingt verstanden, was er da gesehen hat. Und durch dieses Hinterfragen findet die Polizistin schließlich die Wahrheit heraus. So kann der Täter gefasst und bestraft werden, das Unfallopfer ist nur leicht verletzt und schon bald wieder auf den Beinen, bekommt Schadensersatz und die Geschichte hat ein Happy End.
Denkfehler & Co.: Entstehung und Aufrechterhaltung subjektiver Realitäten
Das war jetzt aber nur ein sehr vereinfachtes, harmloses Beispiel, mit dem ich zu demonstrieren versuche,
wie jede Wahrnehmung, jeder Gedanke, jede Information, die Du zu wissen glaubst, eine individuelle, phantastische Parallelwelt konstruieren, die Du aber für die objektive Realität hältst.
Und wenn jemand Dinge sagt, die nicht in Deine phantastische Parallelwelt passen, hältst Du, geblendet von Deinem Glauben an Deine Wahrnehmung, Deine subjektiven Erfahrungen und Dein vermeintliches Wissen, diese Person für dumm oder verrückt. Schlimmstenfalls wirst Du dieser Person gegenüber sogar aggressiv, weil Du glaubst (so viel Glauben hier!), dass ihre Ansichten gefährlich sind.
Dabei sind so viele komplexe psychologische und gesellschaftliche Prozesse am Werk, dass es schnell unübersichtlich wird. Versuchen wir dennoch, zumindest einige von ihnen aufzuzählen und in ein System zu bringen …
Die Wurzel des Übels: Ego und Selbstbild
Beginnen wir dabei mit dem Grundlegendsten:
dem menschlichen Bedürfnis, sich selbst als lebens- und liebenswertes Geschöpf zu sehen.
Dabei verfallen Menschen oft dem Irrglauben, dass sie, sofern sie keine bösen Gedanken und Absichten haben, auch nichts Böses tun können. Das stimmt schon allein deswegen nicht, weil wir in der Praxis ständig Interessenkonflikte beobachten, für die niemand von den Beteiligten etwas kann. Zum Beispiel:
Lieschen ist talentiert und bekommt in der Schule, ohne sich groß zu bemühen, gute Noten. Ernas Talente liegen in anderen Bereichen und sie tut sich in der Schule schwer. Ernas Eltern machen sich Sorgen um ihre Tochter und wollen sie zum Lernen motivieren, indem sie ihr Lieschen als Vorbild vorhalten. Dass solche Vergleiche erstens ein klassischer Erziehungsfehler sind und zweitens nicht funktionieren, wenn die Talente der Verglichenen völlig unterschiedlich verteilt sind, kommt ihnen gar nicht in den Sinn, weil ihre eigenen Talente so gestrickt sind, dass sie sich nur bedingt für Psychologie interessieren. Sie wollen einfach nur das Beste für ihre Tochter und handeln nach ihrem besten Wissen und Gewissen. Für Erna jedoch ist dieses ständige Vorhalten Lieschens als Ideal frustrierend, sie fühlt sich selbst entwertet und entwickelt einen Hass auf Lieschen, die wiederum nicht verstehen kann, warum Erna so kalt zu ihr ist.
Da haben wir also den Salat: Lieschen ist einfach durch ihre bloße Existenz zu einem Problem für Erna geworden, Ernas Eltern durch ihr menschliches Unwissen zu Aggressoren, die gleich zwei Kindern das Leben schwer machen, und das zunächst unschuldige Opfer Erna wird unabsichtlich zur Täterin. Wir haben einen Konflikt, in dem jeder sich moralisch im Recht sieht, weil er ja keine bösen Absichten hat. Und wenn man diesen Konflikt auflösen möchte, müssten alle Beteiligten über ihren Schatten springen und vor allem sich selbst eingestehen, dass sie, wenn auch ohne es zu wollen, Schaden anrichten und jemandes Leben, zumindest in einem Aspekt, ohne sie angenehmer wäre. Und gerade Letzteres ist ein Gedanke, den kaum ein Mensch zulassen möchte.
Das heißt natürlich nicht, dass wir uns alle aus dem Weg gehen oder gegenseitig umbringen müssten. Aber wir sollten einsehen, dass Interessenkonflikte das Natürlichste der Welt sind. Ich meine, schaue Dir die Nahrungskette an: Eine Katze will leben und muss deswegen die Maus fressen und vorher mit ihr ihre sadistischen Spielchen treiben, um als Jägerin in Form zu bleiben; die Maus will aber auch leben und muss deswegen schauen, wie sie entwischen kann. Um die Natürlichkeit von Interessenkonflikten jedoch zu akzeptieren, müssten wir, denke ich, tun, was so ziemlich jeder Persönlichkeitscoach der Welt predigt:
Hör auf, Deinen Selbstwert an irgendwelche Kriterien zu koppeln!
Denn sobald Du glaubst – klingeling! –, dass Du nur dann etwas wert bist oder mehr wert bist, wenn Du moralisch, intelligent, beliebt, erfolgreich oder was auch immer bist, wirst Du sehr schnell Opfer von Manipulationen und endest womöglich sogar als empathiebehindertes Arschloch und merkst es nicht mal. Hier ein paar Beispiele:
- Bestimmt kennst Du die fast schon klischeehaften Manipulationsversuche, mit denen fiktive Figuren Bösewichte oft von etwas zu überzeugen versuchen, indem sie auf deren vermeintliche positive Eigenschaften pochen. Nehmen wir zum Beispiel die zweite Folge der ersten Staffel des Breaking-Bad-Ablegers Better Call Saul, in der der Anwalt Jimmy McGill, der spätere Saul Goodman, versucht, den brutalen Drogenboss Tuco Salamanca davon zu überzeugen, ihn und seine zwei Komplizen, die nur versehentlich in einen Konflikt mit Tuco geschlittert sind, am Leben zu lassen. Dabei benutzt er ein ganzes Feuerwerk aus Manipulationstechniken. Zum Beispiel bestätigt er Tucos Selbstbild mit den Worten: „You’re tough, but you’re fair. You’re all about justice.“ Natürlich glaubt Tuco gerne, dass er gerecht ist, und somit muss Jimmy ihn „nur“ noch davon überzeugen, dass Gerechtigkeit darin besteht, ihn und seine Komplizen gehen zu lassen.
- Auch aus der Werbung kennst Du dieses Prinzip. Zum Beispiel: „Die neuen Schuhe von XY – Die Schuhe für coole Kids!“ Wenn Kinder oder Teenager eine Werbung von diesem Typ sehen, dann wird ihnen der Gedanke eingepflanzt: „Wenn ich zu den coolen Kids gehören will, dann brauche ich die Schuhe von XY!“ – Und dann kommen sie alle uniformiert in XY-Schuhen zur Schule und kommen sich sehr individuell vor.
- Glaub aber ja nicht, dass nur soziopathische Mafiabosse und Kinder darauf hereinfallen! So hat zum Beispiel die Frankfurter Allgemeine Zeitung einen sehr manipulativen Werbespruch: „Dahinter steckt immer ein kluger Kopf“. Da schwingt natürlich mit: „Wenn Du die FAZ liest, bist Du klug.“ Die FAZ positioniert sich also als Zeitung für Intellektuelle und präsentiert sich auch mit entsprechenden Attributen wie beispielsweise einem anspruchsvollen Schreibstil. Das ist aber reine Kosmetik, Äußerlichkeiten, und ob die FAZ in der Tat ihrem Anspruch gerecht wird, kann man nur feststellen, wenn man den Inhalt ihrer Artikel immer wieder überprüft. Und mal ehrlich: Wie viele FAZ-Leser kennst Du, die das tun? Es ist eher die Minderheit, aber sie alle genießen das Gefühl von intellektueller Überlegenheit, das die Marketing-Abteilung der FAZ aufbaut. Somit läuft ein allzu unkritischer FAZ-Leser Gefahr, in Wirklichkeit zu einem Papageien zu verkommen, der einfach nur nachplappert, was andere vermeintlich kluge Leute sagen, damit er nicht selbst nachdenken muss, um klug zu wirken. Genau deswegen sind Menschen, die sich selbst für besonders intelligent halten, tendenziell besonders anfällig für Manipulationen. Es ist wie in Hans Christian Andersens berühmtem Märchen Des Kaisers neue Kleider: Eine Lüge kann sich äußerst hartnäckig halten, wenn niemand sich traut, als dumm dazustehen. Und daher ist es wichtig, ganz besonders die sogenannten Qualitätsmedien zu hinterfragen und zu kritisieren: damit sie tatsächlich Qualitätsmedien bleiben. – Ab dem Moment, wo Kritiker von Qualitätsmedien angegriffen und diffamiert werden, kannst Du Dir so ziemlich sicher sein, dass da etwas nicht stimmt.
- Die Manipulationen können dabei nicht nur von außen kommen, sondern auch aus Dir selbst heraus. Das zeigt zum Beispiel ein psychologisches Experiment an der University of California, Irvine. Die Teilnehmer sollten Monopoly spielen, aber mit absolut unfairen Start- und Spielbedingungen: Durch einen Münzwurf wurde entschieden, wer ein größeres Startkapital und mehr Züge hatte. Natürlich gewannen die Spieler, die von vornherein im Vorteil waren. Statt aber einzusehen, dass sie einfach nur Glück hatten, führten sie ihren Erfolg auf ihr Können zurück. Es fühlt sich nun mal sehr angenehm an, klug und geschickt zu sein, und es ist ein Betrug, den wir uns selbst gerne abkaufen. Und es macht uns weniger empathisch gegenüber Menschen, die weniger Glück im Leben haben als wir: Denn wenn wir unsere eigenen Errungenschaften auf unser Können zurückführen, dann führen wir den Misserfolg anderer auf deren Nichtkönnen zurück. Statt sich also solidarisch zu zeigen, sagen wir lieber arrogant: „Selber schuld!“
- Äußerst spannend ist in Sachen Selbstbetrug auch die mentale Akrobatik, mit der sich Täter und oft auch ihre Angehörigen die Hände in Unschuld waschen, um ja nicht als nicht lebens- und liebenswert dazustehen, vor allem in den eigenen Augen. „Selbst schuld!“ ist zum Beispiel eine beliebte Ausrede von Mobbern und Vergewaltigern: Statt Verantwortung für ihre Taten zu übernehmen, wollen sie die Schuld ihrem Opfer in die Schuhe schieben. Der Fachbegriff dafür ist victim blaming bzw. Täter-Opfer-Umkehr. Was auch vorkommt, ist eine Art selektive Amnesie, zum Beispiel, wenn ein ehemaliger Mobber sich viele Jahre später nicht mehr erinnert, dass er jemanden gemobbt hat. Und auch bei Opfern kann es zu Verzerrungen im Erinnerungsvermögen kommen – als Opfer dazustehen ist eben auch sehr unangenehm und nicht jeder kann das ertragen, also greift das Unterbewusstsein schützend ein.
- Eine noch krassere Form von Selbstbetrug lässt sich bei NS-Prozessen beobachten. Geistig absolut gesunde Menschen, die, ziemlich eindeutigen Beweisen nach zu urteilen, an Massenmorden und anderen Verbrechen des Nationalsozialismus beteiligt waren, glauben gerne bis an ihr Lebensende aufrichtig, nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt zu haben und pflichtbewusste, ehrliche und vorbildliche Bürger oder Soldaten gewesen zu sein. Der niederländische Historiker Dick de Mildt hat diesem Phänomen ein ganzes – übrigens äußerst empfehlenswertes – Buch gewidmet: The Palmström Syndrome. Und auch Angehörige von Tätern und Mitläufern sind nicht besser: Im Artikel über Propaganda und Storytelling haben wir bereits das Buch „Opa war kein Nazi“ besprochen. Dabei handelt es sich um eine Auswertung von Gesprächen über die NS-Zeit in deutschen Familien und aufgefallen ist da unter anderem eine Heroisierung und/oder Viktimisierung der eigenen Angehörigen: Die Täter waren immer „die anderen“ – dass Opa da gerade erzählt, wie er Kriegsverbrechen begangen hat, fällt niemandem auf, zumal die Beteiligung der Wehrmacht an den Verbrechen des Vernichtungskrieges immer noch nicht bei allen angekommen zu sein scheint und viele die Schuld nach wie vor ausschließlich bei der SS und Konsorten sehen. Die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Familie und ihren Werten hat eben durchaus einen Einfluss auf unser Selbstbild. Zu einer Familie von Verbrechern, Opportunisten und Mitläufern zu gehören, ist deswegen moralisch anstrengend, auch wenn man selbst nichts getan hat. Die Folge dieser positiven Voreingenommenheit gegenüber den eigenen Angehörigen ist eine recht lückenhafte Vergangenheitsbewältigung, auf die Deutschland sich trotzdem ganz selbstherrlich etwas einbildet.
- Krasser Selbstbetrug im Zusammenhang mit dem Nationalsozialismus lässt sich zum Teil auch bei den Opfern beobachten: 1940 wurde das Warschauer Ghetto als Sammellager für die Massenvernichtung der Juden errichtet. Längst nicht jeder dort konnte mit dem Wissen umgehen, dass er einfach so, dafür, dass er war, was er war, für die Schlachtbank vorbereitet wurde und diesem Treiben im Grunde hilflos ausgeliefert war. Statt die Realität zu akzeptieren und vielleicht sogar nach Möglichkeiten für Flucht oder Widerstand zu suchen, haben viele versucht, sie sich zurechtzubiegen, also gewissermaßen schönzureden bzw. zu verharmlosen, was sie den Tätern gegenüber natürlich noch hilfloser und gehorsamer gemacht hat. Dick de Mildt zitiert in seinem Buch die Beobachtungen des Lehrers Chaim Kapłan:
„The lack of reason for these murders especially throubles the inhabitants of the ghetto. In order to comfort ourselves we feel compelled to find some sort of system to explain these night-time murders. Everyone, afraid for his own skin, thinks to himself: If there is a system, every murder must have a cause; if there is a cause, nothing will happen to me since I am absolutely guiltless.“
„Das Fehlen eines Grundes für diese Morde beunruhigt die Bewohner des Ghettos besonders. Um uns selbst zu trösten, fühlen wir uns gezwungen, eine Art System zu finden, um diese nächtlichen Morde zu erklären. Jeder hat Angst um seine eigene Haut und denkt: Wenn es ein System gibt, muss jeder Mord eine Ursache haben; wenn es eine Ursache gibt, kann mir nichts zustoßen, weil ich ganz unschuldig bin.“
Abraham I. Katsch (Hrsg.): Scroll of Agony. The Warsaw Diary of Chaim A. Kaplan, London 1966, S. 264, zitiert in: Dick de Mildt: The Palmström Syndrome. Mass Murder and Motivation. A Study of Reluctance, Berlin 2020, S. 17, hier übersetzt von Feael Silmarien.
Auch Nicht-Opfer – Deutsche, die angesichts des Unrechts einfach wegsahen, und die Menschen in anderen Ländern – taten sich schwer damit, die Verbrechen der Nazis zu glauben, und wer auf sie aufmerksam machte, erntete Gegenwind. Von unterlassener Hilfeleistung gegenüber den Opfern ganz zu schweigen. Heute hingegen werden die Täter gerne als wahnsinnig, irrational und moralisch verkommen dargestellt, unabhängig davon, dass sie laut Quellen mehrheitlich geistig gesund und Menschen wie du und ich waren: Der Unglaube, dass Menschen etwas so Schreckliches tun können, bleibt also bestehen, indem die Verbrechen in den Bereich der psychischen Störungen ausgelagert werden. – Und warum das alles? Auch das beschreibt Dick de Mildt. Zusammenfassen lässt sich die Logik hinter dem Nicht-sehen-Wollen in etwa so: Wenn solche Grausamkeiten tatsächlich stattfinden, dann gibt es offenbar Menschen, die dazu moralisch in der Lage sind; und wenn die Täter gewöhnliche Menschen sind und auch ich selbst ein gewöhnlicher Mensch bin, dann bedeutet das ja, dass auch ich selbst zu solchen Grausamkeiten in der Lage sein könnte. Weil man sein Selbstbild also nicht anzweifeln will, sieht man die Menschheit ganz allgemein lieber als positiver, als sie wirklich ist. Abweichungen von diesem positiven Bild werden in den Bereich von psychischen Krankheiten ausgelagert. Somit gilt hier dasselbe Prinzip wie bei der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Familie, nur geht es hier noch allgemeiner um die Zugehörigkeit zu einer ganzen Spezies. Wir projizieren also das Bild, das wir von uns selbst aufrechterhalten wollen, auf andere Menschen, und machen sie somit zu einer Art Zerrspiegel, der uns selbst eine bessere Figur vorgaukelt.
Das waren nur einige wenige Beispiele, mit denen ich zu zeigen versuche, wie leicht das ganz normale menschliche Bedürfnis nach einem positiven Selbstbild einen Menschen zum manipulierbaren Zombie oder rücksichtslosen Egoisten, wenn nicht sogar Verbrecher, machen kann:
Je mehr Dein Selbstwertgefühl an irgendwelche Kriterien, also positive Eigenschaften, gekoppelt ist, desto blinder bist Du, desto egoistischer wirst Du, und desto weniger bist Du zu kritischem Denken fähig.
Denn nur, wenn Du keine Angst hast, als böse, dumm, unbeliebt, gescheitert oder anderweitig blöder Mensch dazustehen, kannst Du das Sakralste des Sakralsten hinterfragen: Dein Selbstbild, Deine Lebens- und Liebenswürdigkeit. Nur, wenn Du Dich selbst auch dann noch als lebens- und liebenswert betrachten kannst, wenn Du Dich als absolutes Arschloch entpuppst, wenn Du Deinen Selbstwert also aus Deiner bloßen Existenz schöpfst, weil Du wie alles, was existiert, einen inhärenten Wert hast, kannst Du wirklich unabhängig denken.
Das heißt natürlich nicht, dass Du Dein Gewissen aufgeben musst. Bloß denke kritisch nach, bevor Du handelst. Hinterfrage, ob die vermeintlich gute Tat auch wirklich gut wäre, unabhängig davon, was andere sagen. Denn manchmal ist gewissenhaftes Handeln, das auf kritischem Denken beruht, damit verbunden, gegen den Strom zu schwimmen und eben als böse, dumm, unbeliebt, gescheitert oder anderweitig blöd dazustehen. Das musst Du aushalten können.
Oder kurz formuliert:
Geld korrumpiert zwar, aber das Gefühl, ein guter, intelligenter, beliebter, erfolgreicher oder anderweitig toller Mensch zu sein, tut es mindestens genauso.
Kognitive Blockaden: Grundpfeiler paralleler Realitäten
Jetzt, wo wir unsere Motivation hinter unseren Selbstlügen kennen, beschäftigen wir uns damit, wie wir diese Lügen aufrechterhalten. Das ist in der Regel keine bewusste Entscheidung, sondern ein Automatismus unseres Unterbewusstseins. Dieses hat das Ziel, uns funktions- und dadurch überlebensfähig zu erhalten, und wenn wir auf Dinge treffen, die unsere Weltsicht, also unsere Komfortzone, infrage stellen, nutzt es ein breites Arsenal an Werkzeugen, um solche unbequemen Dinge aus unserer Wahrnehmung herauszufiltern.
Wenn wir also Zweifel an unserer Lebens- und Liebenswürdigkeit als existenzbedrohend empfinden, sind wir durch die Machenschaften unseres Unterbewusstseins oft rein kognitiv nicht in der Lage, uns mit Dingen auseinanderzusetzen, die diese Zweifel säen könnten.
Wir haben da einfach eine innere Blockade, unser Gehirn setzt schlicht und ergreifend aus. Der Sinn dieser Blockade ist, wie gesagt, der Schutz unserer Komfortzone, unserer Matrix sozusagen, und diese wiederum ist das Ergebnis unseres ganzen bisherigen Lebens …
Im besagten Artikel über Propaganda und Storytelling haben wir bereits angesprochen, wie Weltbilder und Meinungen durch Familie, Kultur und Staat von Generation zu Generation weitergegeben werden. Jeder von uns lebt in einem System, das sich kontinuierlich zu legitimieren und aufrechtzuerhalten versucht, weil es ja sonst zusammenbrechen würde. Ebenso wie ein Mensch als Individuum sich an seiner Lebens- und Liebenswürdigkeit festkrallt, tun es auch Gruppen von Menschen, die sich auf eine bestimmte Weise organisieren und diese Art der Organisation natürlich zementieren wollen. Diese Zementierungsversuche sind nichts anderes als Propaganda: Wie in dem Artikel gesagt, muss auch Demokratie (bzw. unsere aktuelle Version davon) propagiert werden. Und weil der Begriff „Propaganda“ seit dem Zweiten Weltkrieg negativ konnotiert ist, spricht man heute von Public Relations (PR), politischer Kommunikation, strategischer Kommunikation und Öffentlichkeitsarbeit. Und ja, diese Euphemismen wurden bewusst eingeführt, um vom Wort „Propaganda“ wegzukommen, was aber natürlich nichts daran ändert, dass sie dasselbe Phänomen und dieselbe Tätigkeit beschreiben.
Wir wachsen auf mit den Glaubensmustern unseres Umfelds, werden von verschiedenen Organisationen unentwegt und buchstäblich mit Propaganda bearbeitet und in unseren Köpfen entsteht ein System von Glaubenssätzen, bei denen wir gar nicht erst auf die Idee kommen, sie zu hinterfragen. Oder wie viele Menschen kennst Du, die erstens ernsthaft hinterfragen, ob Demokratie wirklich so supertoll ist, und zweitens dafür nicht in der Luft zerrissen werden, weil sie das Sakralste des Sakralsten anzweifeln? Es gibt Dinge, die allgemein unhinterfragt als Tatsache gelten, und wenn man sie anzweifelt, steht man als Ketzer da. Dabei muss man, um bei unserem Beispiel zu bleiben, nicht einmal ein Demokratiefeind sein, sondern könnte einfach aus rein wissenschaftlichem Interesse theoretische Überlegungen anstellen. So kenne ich zum Beispiel die These, dass Demokratien besonders anfällig für verdeckte Manipulationen durch Geheimdienste sind – das ist doch spannend zu überprüfen, allein schon, um das Problem, wenn es tatsächlich besteht, zu korrigieren und eine Demokratie wirklich demokratisch zu halten.
Wir werden also von den Glaubenssätzen, die wir verabreicht bekommen, beeinflusst, und dann reproduzieren wir diese Glaubenssätze auch selbst, beispielsweise in unseren Geschichten. Wir helfen also aktiv mit, die Matrix, in die wir hineingeboren wurden, aufrechtzuerhalten. Oder sprechen wir besser nicht von einer Matrix, sondern von einem Realitätstunnel, wie Timothy Leary das Phänomen bezeichnet:
Jeder Mensch hat seinen eigenen subjektiven Realitätstunnel, der ein System von unterbewussten Filtern aus Überzeugungen und Erfahrungen darstellt.
Und diese Filter bestimmen, was wir überhaupt wahrnehmen. Hier einige Phänomene, die ich in diesem Zusammenhang erwähnen möchte:
- Wir Menschen neigen grundsätzlich zum sogenannten Bestätigungsfehler (confirmation bias): Wir haben unsere bestimmten Ansichten und Erwartungen und wenn wir mit Informationen hantieren, wählen und interpretieren wir diese Informationen so, dass sie in unser Weltbild passen. Das bedeutet, dass wir „passende“ Informationen als wichtiger erachten und uns besser merken und „unpassende“ Informationen womöglich gar nicht erst aufnehmen oder sogar gezielt vermeiden. Dieses Prinzip lässt sich zum Beispiel bei der Red-Pill- und Incel-Community beobachten: Hier haben wir frustrierte Männer, die negative Erfahrungen mit Frauen gemacht haben und jedes Verhalten von Frauen durch das Prisma ihrer Hauptannahme deuten, dass Frauen nur auf der Suche nach aggressiven, durchtrainierten, egoistischen Alphamännchen sind. All die Frauen mit einer Schwäche für sanfte Teddybären nehmen sie entweder nicht wahr oder unterstellen solchen Paaren eine Dynamik, bei der der Mann ein willenloser Pantoffelheld ist und von seiner Frau bei der erstbesten Gelegenheit mit einem aggressiven, durchtrainierten, egoistischen Alphamännchen betrogen wird.
- Auch können wir durch unseren Realitätstunnel einen Hyperfokus auf bestimmte Themen entwickeln: Wir empfinden diese Themen als dermaßen wichtig, dass wir alles, was wir wahrnehmen, darauf zurückführen und unser Realitätstunnel sich primär um diese Themen dreht. Während wir also diese superwichtigen Themen sehr genau wahrnehmen, werden wir buchstäblich blind für alles andere. Diese Unaufmerksamkeitsblindheit wurde durch eine Studie der University of Illinois deutlich: Die Studienteilnehmer mussten ein Video anschauen, bei dem sich Spieler in weißen und schwarzen Shirts Bälle zuwarfen. Dabei sollten sie zählen, wie oft sich das weiße Team den Ball zuwirft. Das erstaunliche Ergebnis der Studie war, dass die Testpersonen sich so sehr auf die Spieler und die Bälle fokussierten, dass sie völlig übersahen, wie eine Frau im Gorillakostüm mitten durchs Bild lief. Erklärt wird diese Blindheit damit, dass das menschliche Gehirn nicht die benötigten Kapazitäten hat, um wirklich alles Wahrgenommene zu verarbeiten, und daher Prioritäten setzen muss. Deswegen sind wir in der Lage, uns auf bestimmte Dinge zu konzentrieren, aber gleichzeitig sorgt diese Konzentration für tote Winkel in unserer Wahrnehmung: Wir werden buchstäblich blind für eigentlich offensichtliche Dinge. Und was für Bälle und Gorillas gilt, wirkt, fürchte ich, auch in anderen Bereichen des Lebens. Wenn also Unaufmerksamkeitsblindheit und der Bestätigungsfehler ineinander greifen, werden wir zu buchstäblich blinden Fanatikern unserer Überzeugungen – ein Phänomen, das sich zum Beispiel bei manchen – besonders eifrigen und aggressiven – Aktivisten beobachten lässt. Sie kämpfen mit Überzeugung für eine vielleicht sogar tatsächlich gute Sache, aber weil sie dieser Sache die größte Wichtigkeit beimessen, werden sie blind für andere Lösungsansätze als ihre eigenen und den Schaden, den sie anderen Menschen zufügen. Ein konstruktiver Dialog ist nicht möglich, weil die Argumente der Gegenseite einfach kognitiv nicht aufgenommen und verstanden werden können.
- Eine ebenfalls wichtige Rolle für die Aufrechterhaltung eines Realitätstunnels spielen Unwissenheit, Dummheit und Selbstüberschätzung, auch bekannt als Dunning-Kruger-Effekt: Damit bezeichnet man das Phänomen, dass Menschen, die sich mit einer Sache nur schlecht auskennen, häufig ehrlich und aufrichtig glauben, dass sie sich gut auskennen, und ihre Ansichten mit großer Selbstsicherheit vertreten. Mit anderen Worten: Sie haben ein bisschen über ein Thema erfahren und kommen sich nun wahnsinnig intelligent und informiert vor und haben deswegen eine wahnsinnig feste Meinung. Dabei gibt es aber eine Menge Aspekte, die sie nicht wissen und in ihre Meinung somit auch nicht einkalkulieren. Bloß wissen sie nicht, dass sie diese Dinge nicht wissen und unterliegen deswegen der Illusion, sie wüssten genug. Somit sind allzu feste Meinungen und absolute Selbstsicherheit meistens ein zuverlässiges Anzeichen von Uninformiertheit.
Kompetente Menschen hingegen erkennt man in der Regel eher an der Fähigkeit, sich selbst zu hinterfragen, oder schlimmstenfalls sogar an massiven Selbstzweifeln, auch bekannt als Hochstapler-Syndrom. Ihnen ist bewusst, wie viel sie nicht wissen, und deswegen können sie ihre Meinungen auch nicht mit absoluter Selbstsicherheit vertreten. Doch obwohl diese Menschen wesentlich kompetenter sind als die Selbstsicheren, wird ihnen meistens weniger zugehört, weil wir oberflächliche Wesen sind und meistens auch selbst einem Dunning-Kruger-Effekt unterliegen, wenn es um die Einschätzung der Kompetenz anderer geht, und glauben, dass ein selbstsicherer Mensch sich wohl tatsächlich auskennt.
Selbstüberschätzung ist dabei an sich nicht schlecht und grundsätzlich allen Menschen eigen: Nur, wenn wir uns an neue, große Aufgaben trauen, können wir wachsen. Wir nehmen uns dieser Aufgaben an, scheitern, lernen daraus, finden eine Lösung und sind am Ende klüger. Weil wahre Klugheit und Weisheit somit aber mehr oder weniger an Erfahrungen des Scheiterns und damit auch Lebenserfahrung generell gekoppelt sind, sind junge Menschen besonders anfällig für den Dunning-Kruger-Effekt, neigen mehr zu Selbstüberschätzung und weniger zu kritischem Denken. Deswegen sind sie leicht zu manipulieren und werden – wenn wir in die Geschichte schauen – auch tatsächlich bevorzugt von zweifelhaften Ideologen anvisiert. Sei also vorsichtig, wenn Du eine Bewegung mit vielen jungen Menschen siehst, und schalte Dein kritisches Denken ein.
Herdenmentalität: Autoritäten und Konformität
Nun sollten wir aber nicht vergessen, dass ein Mensch nicht einfach für sich existiert, sondern in einer Gesellschaft. Und diese Gesellschaft, das Umfeld, hat ebenfalls einen großen Einfluss auf den subjektiven Realitätstunnel.
Der Hauptgrund, warum wir überhaupt das Grundbedürfnis haben, als liebenswert erachtet zu werden, ist, dass der Mensch im Grunde ein Herdentier ist. Und wenn ein Herdentier nicht liebenswert ist, kann es von der Herde verstoßen werden und seine Überlebenschancen sinken dann dramatisch.
Das Bedürfnis nach Liebe, das, wie wir bereits gesehen haben, so manche gruselige Auswirkung hat, ist tatsächlich von essenzieller Bedeutung für unser Überleben. Und wenn wir uns selbst nicht ausreichend Liebe geben können, vielleicht, weil unsere Eltern fatale Erziehungsfehler begangen haben, dann laufen wir Gefahr, zu Monstern zu mutieren.
Das gilt umso mehr, wenn unser Umfeld uns bestimmte Verhaltensweisen vorgibt:
Weil wir von der Gruppe ja akzeptiert werden wollen, neigen wir dazu, uns anzupassen – ob bewusst aus Angst vor Ablehnung oder auch instinktiv, ohne es zu merken.
Wir nennen das Phänomen Gruppendruck oder Gruppenzwang: Wenn alle um Dich herum die komischen XY-Schuhe tragen, dann kommst Du Dir irgendwann wie ein Außenseiter vor und kaufst Dir auch ein Paar. Oder vielleicht nimmt die Gruppe das Fehlen dieser Schuhe zum Anlass, Dich tatsächlich auszugrenzen. Denn wenn Du bei diesem Modetrend nicht mitmachst, könnte es als Ablehnung und Kritik aufgefasst werden, und damit auch als Angriff, weil Du ja im Grunde die Liebenswürdigkeit der XY-Schuhe anzweifelst und damit auch die ihrer Träger, weil sie sich offenbar mit diesem Modetrend identifizieren. Und wenn die Gruppe sich von Dir angegriffen fühlt, schlägt sie zurück. Wie gesagt, jedes System versucht, sich selbst zu legitimieren und aufrechtzuerhalten, die Herde hält zusammen, und wenn jemand sich widersetzt, wird er vernichtet oder bestenfalls sich selbst überlassen.
Wir alle wissen instinktiv um diese Dynamik. Deswegen laufen die meisten von uns bereitwillig mit der Herde mit, auch wenn sie das Gegenteil von dem sagt und tut, was wir selbst für richtig halten. Zum Beispiel gab es das berühmte Konformitätsexperiment von Solomon Asch, bei dem Gruppen von Teilnehmern Striche gezeigt wurden und die einzelnen Teilnehmer nacheinander denjenigen benennen sollten, der die gleiche Länge wie der Referenzstrich hatte. Der Witz dabei: Es gab in jeder Gruppe immer nur einen richtigen Teilnehmer, die anderen waren Schauspieler. Nach einigen vorbereitenden Runden gaben die Schauspieler alle einheitlich eine offensichtlich falsche Antwort. Und der einzige richtige Teilnehmer, der theoretisch klar sehen konnte, welcher Strich tatsächlich dem Referenzstrich entsprach, schloss sich in ca. 75 Prozent aller Fälle der falschen Mehrheitsmeinung an. Und wenn es schon bei solchen harmlosen Dingen so einfach ist, einen gewöhnlichen Menschen zu einem Mitläuferzombie zu machen, dann sollte es einen auch nicht mehr wundern, dass so viele damals beim Nationalsozialismus begeistert mitgelaufen sind.
Eine falsche Minderheitsmeinung hat dabei übrigens deutlich weniger Chancen, eine Versuchsperson zu überzeugen. Serge Moscovici führte nämlich eine Umkehrung des Asch-Experiments durch, bei der die Teilnehmer eine richtige Farbe benennen sollten. Während die Mehrheit der Schauspieler die richtige Antwort gegeben hat, gab es einen Abweichler mit einer konsequent falschen Antwort. Gerade mal 8,42 Prozent der richtigen Versuchspersonen ließen sich von ihm überzeugen.
Wir brauchen also keine Angst zu haben, dass wirre Theorien die Oberhand gewinnen – es sei denn, die Mehrheit erklärt diese wirren Theorien zu ihrer Doktrin, beispielsweise durch bewusste Manipulation der Gruppe.
So begann Edward Bernays, ein Neffe von Sigmund Freud, sein berühmtes Buch Propaganda mit den Worten:
„Die bewusste und intelligente Manipulation der organisierten Gewohnheiten und Meinungen der Massen ist ein wichtiges Element in der demokratischen Gesellschaft. Diejenigen, die diesen unsichtbaren Mechanismus der Gesellschaft manipulieren, bilden eine unsichtbare Regierung, die die wahre Regierungsmacht unseres Landes ist.“
Edward Bernays: Propaganda, Kapitel: I. Die Ordnung des Chaos.
Wenn wir uns diese Worte des Vaters der modernen Propaganda anschauen, so müssen wir uns fragen: Wie demokratisch ist die Demokratie eigentlich wirklich? Denn ein Diktator, der absolute Macht hat, kann tun und lassen, was er will, egal, was sein Volk denkt. Wenn man aber in einer Demokratie etwas umsetzen will, muss man das Volk überzeugen, also Öffentlichkeitsarbeit und strategische Kommunikation betreiben – kurzum: Propaganda. Je demokratischer eine Gesellschaft ist, desto mehr werden Menschen mit Interessen daran setzen, durch Manipulationsstrategien die Meinung der Massen zum eigenen Vorteil zu steuern. Vor diesem Hintergrund ist es daher gar nicht mal so abwegig, wenn manche Systemkritiker meinen, in einer Demokratie gäbe es mehr und raffiniertere Propaganda als in Diktaturen. Denn während man in einer Diktatur nicht alles sagen kann, was man denkt, wäre in einer Demokratie bei all der Manipulation zu hinterfragen, inwiefern die Gedanken, die man so hat, wirklich die eigenen sind – und nicht etwa die einer Bernays’schen „unsichtbaren Regierung“, die die Herde manipuliert.
In diesem Zusammenhang ist auch anzumerken, dass Menschen, wenn sie einsehen, dass sie manipuliert oder überhaupt irgendwie beherrscht werden, häufig von der Grundannahme ausgehen, dass die Mächtigen es gut mit ihnen meinen. Natürlich würde kaum jemand das genau so formulieren, weil es sich extrem naiv anhört, aber Spielarten davon sind durchaus verbreitet: zum Beispiel die Annahme, dass „die da oben“ schon wissen werden, was sie tun, weil ihnen ja so viele wissenschaftliche Experten zur Seite stehen, oder dass Superreiche, die sich als Philanthropen inszenieren, sich tatsächlich vor allem um andere Menschen sorgen und keine Hintergedanken haben. Dass die Reichen und Mächtigen eher wenig echtes Mitgefühl für weniger reiche und mächtige Menschen haben, zeigt allein schon das Monopoly-Experiment. Die unterbewusste Neigung, Menschen, denen man ausgeliefert ist, bessere Absichten zu unterstellen, als sie vielleicht haben, erinnert hingegen an die Beobachtungen im Warschauer Ghetto. Es ist eine Variante des Selbstbetrugs, ein verbreiteter Denkfehler namens Projektion, der uns gegenüber denen, die Macht über uns haben, noch hilfloser macht. Deswegen dürfen wir gerade den Reichen und Mächtigen nicht vertrauen. Deswegen haben wir die Gewaltenteilung und alle möglichen Kontrollinstanzen. Deswegen ist Kritik an den Reichen und Mächtigen für eine Gesellschaft, die frei sein will, überlebensnotwendig. Und deswegen müssen wir auch aufhorchen, wenn Kritik an Machthabern jeglicher Art als falsch, amoralisch oder anderweitig verwerflich hingestellt wird. Vor allem, wenn es die Herde ist, die die Kritik an den Autoritäten ablehnt, denn das bedeutet, dass die Mächtigen die Masse tatsächlich fest in ihrer Hand haben.
An sich ist es natürlich weder gut noch schlecht, dass Menschen sich zu Gruppen zusammenschließen. Es ist einfach unsere Natur, unser Grundbedürfnis, zu einer Gruppe zu gehören. Und tatsächlich können wir als Gruppe auch viel Gutes bewirken, was ein Einzelner nicht erreichen könnte. Allerdings sollten wir nie vergessen, dass es gleichzeitig auch unsere Schwachstelle ist. Denn, wie in der Erforschung der Gruppenpsychologie, mit der sich u. a. eben Sigmund Freud und Edward Bernays befasst haben, schon sehr früh festgestellt wurde, lassen sich eigentlich rationale Individuen durch eine starke Identifikation mit einer Gruppe zu wirklich hirnrissigen und sogar grausamen Aktionen verleiten. Gruppen – Menschenmassen – denken nämlich nicht rational, sondern emotional, und sind dadurch hochgradig manipulierbar. Man muss sich dabei nicht einmal physisch in einer Menge befinden, um von ihr emotional mitgerissen zu werden: Eine starke Identifikation mit einer bestimmten Bewegung reicht völlig aus.
Und dann haben wir den Salat:
Die Masse ist manipulierbar und handelt irrational und Menschen, die sich körperlich oder geistig (vor dem Computerbildschirm zum Beispiel) mit dieser Masse identifizieren, handeln dann – entgegen ihrer eigenen Rationalität – ebenfalls irrational.
Wenn wir uns einer emotional aufgewühlten Gruppe anschließen, werden wir also buchstäblich dümmer. Und jetzt denke mal an die Identitätspolitik und die Klimabewegung, die in den letzten Jahren umhergrassieren. An sich ist an Ideen des Schutzes von Minderheiten und des Klimas nichts auszusetzen, aber die emotionale Aufladung dieser Bewegungen sollte einen aufhorchen lassen: Dass man Fehler machen könnte, auch wenn man sich für eine gute Sache einsetzt, passt nicht ins Selbstbild, wird deswegen aus der eigenen Wahrnehmung herausgefiltert und wenn man Teil einer ganzen Bewegung ist, kann man eh nicht klar denken und merkt es nicht einmal. Die Fähigkeit zu kritischem Denken ist lahmgelegt.
Dabei ist noch zu hinterfragen, inwiefern Menschen überhaupt kritisch denken wollen. Unbestreitbar ist, dass wir alle gerne das Gefühl genießen, klug und informiert und kritisch denkend zu sein – über das Bedürfnis nach einem positiven Selbstbild haben wir ja bereits ausführlich gesprochen –, aber kritisches Denken ist, wie wir in den späteren Teilen dieser Reihe noch sehen werden, mit sehr viel Arbeit verbunden. Und längst nicht jeder Mensch hat Zeit und Lust dazu. Viel einfacher ist es, sich jemanden zu suchen, dem man vertraut, und ihn diese Arbeit machen zu lassen.
Also geben wir bereitwillig die Verantwortung für unser Denken in die Hände von (vermeintlichen) Experten, Journalisten und anderen Autoritäten.
So haben wir ja zum Beispiel durchaus schon darüber gesprochen, wie die FAZ durch geschicktes Marketing ihren Lesern das Gefühl gibt, klug und gut informiert zu sein. Das heißt natürlich nicht, dass die FAZ immer lügt und absolut unzuverlässig ist, aber ohne kritische Prüfung der Artikel sind wir Leser eben nicht mehr als unkritische Papageien, die fremde Meinungen nachplappern und sich dabei als Teil einer intellektuellen Elite fühlen. Und was für die FAZ gilt, gilt auch für jede andere Zeitung, jede Nachrichtenagentur, jeden Blog, jedes Medium, das Du Dir vorstellen kannst. Wenn Du nicht skeptisch bist und prüfst, dann denkst Du nicht kritisch.
Überhaupt können auch Journalisten und andere (vermeintliche) Autoritäten selbst Herdenmitläufer sein. So haben Siegfried Weischenberg, Maja Malik und Armin Scholl in ihrer Studie Journalismus in Deutschland 2005: zentrale Befunde der aktuellen Repräsentativbefragung deutscher Journalisten unter anderem herausgefunden, dass – zumindest damals – 68 Prozent der Journalisten, also mehr als zwei Drittel, aus der Mittelschicht stammten. Das ist insofern interessant, als dass der Soziologe Pierre Bourdieu in seiner auf empirischen Studien beruhenden Erforschung des sogenannten „Raums der Lebensstile“ unter anderem festgestellt hat, dass die Mittelschicht am meisten zu Konformismus, Autoritätshörigkeit und kritikloser Befolgung von Regeln neigt (vgl. dazu diesen Artikel von Marcus Klöckner). Und passend dazu meinte auch Hannah Arendt, die als Jüdin aus Hitlerdeutschland emigrierte, über 1933, dass nicht die politische Gleichschaltung das Problem war, sondern die „Gleichschaltung“ der Freunde, die in ihrem intellektuellen, akademischen Milieu „sozusagen die Regel war“ und in den anderen Milieus nicht. Wenn die meisten Journalisten also aus dieser sozialen Schicht stammen, ist rein statistisch die Wahrscheinlichkeit groß, dass sie autoritätshörige Mitläufer sind und die Obrigkeiten daher nicht ausreichend hinterfragen. Sich auf ihre Meinungen und Einschätzungen blind zu verlassen ist somit nicht ratsam. Und wenn wir uns dann noch erinnern, dass auch viele andere wichtige, gar systemrelevante Berufe der Mittelschicht angehören – Lehrer, Juristen, Ärzte etc. – verstehen wir sofort ein gutes Stück besser, wie die NS-Diktatur möglich wurde.
Außerdem solltest Du Dich auch vor dem sogenannten Halo-Effekt in Acht nehmen: Darunter versteht man eine kognitive Verzerrung, bei der wir von einer bekannten Eigenschaft einer Person auf unbekannte schließen. Sehr häufig kommt er zum Vorschein, wenn zum Beispiel gutaussehende Menschen als klüger eingeschätzt werden als weniger gutaussehende, obwohl zwischen Aussehen und Klugheit überhaupt kein Zusammenhang besteht. Aber unser Affenhirn, das nun mal zu Vereinfachungen neigt, denkt sich: gutes Aussehen = sympathisch, sympathische Menschen sind klug, also gutes Aussehen = klug. Und – wer hätte das gedacht? – diese Affenlogik behindert natürlich unser kritisches Denken: Wenn wir zum Beispiel Meinungsäußerungen von bemerkenswerten Schriftstellern, Schauspielern oder anderen bekannten Persönlichkeiten hören, neigen wir dazu, diese Meinungen unkritisch zu übernehmen. Deswegen werden Promis gerne in der Werbung eingesetzt. Und deswegen hört man auch oft, wie gerade Menschen, die sich für besonders klug und kultiviert halten, sich in ihren Aussagen auf irgendwelche großen Schriftsteller berufen, ohne dass diese Schriftsteller irgendwelche Kompetenzen im jeweiligen Bereich hätten. Nur, weil jemand ein tolles Buch geschrieben hat, ist er kein Experte, der weiß, wie kulturelle, soziale, politische oder anderweitige Probleme gelöst gehören. Deswegen finde ich persönlich es auch problematisch, wenn Promis sich zum aktuellen Geschehen oder generell fremden Fachbereichen äußern: Auch sie sind nur Menschen, können dem Dunning-Kruger-Effekt unterliegen und ihre Meinungen sind deswegen nicht zwangsläufig fundiert. Trotzdem haben diese Meinungen in der Öffentlichkeit Gewicht, weil wir gerne die Verantwortung für unser Denken und Handeln an charismatische Persönlichkeiten abgeben.
Doch auch akademischen Experten sollten wir nicht blind folgen. Ich habe irgendwo einen Spruch aufgeschnappt, den ich leider als sehr wahr einstufen muss: Wissenschaft sucht nicht die Wahrheit, sondern Finanzierung. – Ernsthaft, frag jeden x‑beliebigen Forscher, was ihm am meisten Kopfschmerzen bereitet. Du wirst erstaunt sein, wie oft der Punkt der Finanzierung der Forschungsarbeit und damit auch des eigenen Lebensunterhalts vorkommt. So habe ich als MS-Kranke zum Beispiel von Forschungsansätzen gehört, die die Multiple Sklerose heilbar machen oder zumindest die Therapie verbessern könnten. Oft bekommen sie aber keine Finanzierung, weil das Patentrecht im Weg steht und die Pharmakonzerne auch generell nicht an einer Heilung von MS-Patienten interessiert sind: Durch den Verkauf teurer Präparate lässt sich viel mehr Geld verdienen als durch Heilung. Selbst wenn Wissenschaftler es also gut meinen, sind sie sehr stark von ihren Geldgebern abhängig. Und diese können dann beeinflussen, zu welchen Fragen überhaupt geforscht wird, oder unliebsamen Wissenschaftlern die Finanzierung entziehen. Passiert ratzfatz, weswegen man als Wissenschaftler im Zweifelsfall durchaus aufpassen muss, was man sagt und was man überhaupt erforscht.
Und abgesehen davon sollten wir auch nicht vergessen, dass Wissenschaftler und andere Experten auch nur Menschen mit eigenen Schwächen, Vorurteilen und Interessen sind. Auch sie wollen Karriere machen, ein viel zu gutes Selbstbild pflegen, neigen zum Bestätigungsfehler und anderen kognitiven Blockaden, spinnen widerliche Intrigen gegeneinander, und manche sind sogar korrupt. Tatsächlich zeigt ein Blick in die Geschichte, dass der Großteil der Wissenschaft und anderer Experten, der „wissenschaftliche Mainstream“ wenn man so will, sich schon immer äußerst bereitwillig in den Dienst von Autoritäten gestellt hat, sei es, indem er eine vermeintlich göttliche Abstammung der Herrscherfamilie untermauert, die Geschichte zugunsten der jeweiligen Autoritäten umgeschrieben oder gar hochgradig rassistische Thesen mit vermeintlichen Belegen gefüttert hat. Mehr noch, als normalsterbliche Menschen können sich Wissenschaftler auch ganz banal irren! So wurde zum Beispiel ursprünglich angenommen, dass der Megalosaurus ein Vierbeiner war. Heute wissen wir, dass er auf zwei Beinen lief.
Und wann ist ein Experte überhaupt ein Experte? Zum Beispiel habe ich selbst Slawistik mit Schwerpunkt auf russischer und polnischer Literatur- und Kulturwissenschaft sowie Geschichtswissenschaft studiert und am Institut für Osteuropäische Geschichte und Landeskunde an der Uni Tübingen als HiWi gearbeitet, und schaue deswegen genau hin, wer in den Medien bei geopolitischen Diskussionen so als „Osteuropa-Experte“ stilisiert wird: Schließlich sind da hin und wieder Namen dabei, die ich kenne. Und was fällt auf? Oft genug kommt es vor, dass die „Experten“ tatsächlich etwas mit Osteuropa zu tun haben, aber ihre Expertise in einem anderen Fachbereich liegt als in der Geopolitik, zu der sie sich aber als „Experten“ äußern dürfen. Ein solcher fachfremder „Experte“ wäre Klaus Gestwa, Direktor des und Professor am Institut für Osteuropäische Geschichte und Landeskunde an der Uni Tübingen, also mein ehemaliger Chef. Prüfungen habe ich bei ihm sorgfältig vermieden, weil ich von anderen Studenten von seinen Prüfungsmethoden gehört habe und sie unpassend fand. Aber durch meinen Job als HiWi kenne ich ihn trotzdem persönlich und kann mit absoluter Sicherheit sagen, dass er ein Historiker ist und seine Schwerpunkte in der russischen und sowjetischen Wirtschafts- und Wissenschaftsgeschichte liegen. In letzter Zeit tritt er aber als „Ukraine-Experte“ auf und äußert sich zu Geopolitik, was so gar nicht zu seinen Publikationen passt. Somit haben wir hier eher ein Beispiel von Selbstüberschätzung und einem Dunning-Kruger-Effekt, und auch Korruption kann ich grundsätzlich nicht ausschließen, auch wenn es natürlich nur reine Interpretation von meiner Seite ist: Aber rein subjektiv hat er auf mich damals während meiner Zeit als HiWi durchaus den Eindruck gemacht, ein überdurchschnittliches Geltungsbedürfnis zu haben, und, wie wir bereits gesehen haben, kann allein schon das Gefühl, ein toller Mensch zu sein, zum Beispiel durch Publicity und das Auftreten als „Experte“, korrumpierend wirken, weil es dem Ego schmeichelt.
Vergiss auch nicht, dass alle möglichen Arten von Experten in der Geschichte schon so manches Verbrechen begangen haben. Im Mittelalter galten Geistliche als Experten für die Auslegung von Gottes Willen, und es kam zu Kreuzzügen, Hexenverfolgungen und anderen brutalen Aktionen. Während der NS-Zeit haben Wissenschaftler für das Regime gearbeitet, eine pseudowissenschaftliche Grundlage für die Ideologie erarbeitet und grausame Menschenexperimente durchgeführt. Wie können wir garantieren, dass jene, die wir heutzutage als Experten erachten, nicht ebenfalls in irgendwelche dunklen Machenschaften verstrickt sind? – Können wir gar nicht! Dabei hat das berühmte Milgram-Experiment eindrücklich gezeigt, wie leicht Menschen Wissenschaftler als Autoritäten akzeptieren und auf deren Anordnung grausame Dinge tun, obwohl sie damit gegen ihre eigenen Werte verstoßen: Die Testpersonen wurden angewiesen, einem vermeintlichen Versuchsteilnehmerkollegen, in Wirklichkeit einem Schauspieler, elektrische Stromstöße zu verpassen, wenn er bei Lernaufgaben Fehler machte. Es hieß, man wolle den Einfluss von Bestrafung auf das Lernen untersuchen. Und obwohl der „Lernende“ vor Schmerzen schrie und um Abbruch bat, befolgte die Mehrheit der Teilnehmer die Anweisungen des Experimentleiters und machte weiter. Spätestens seit diesem Experiment sollten wir also wissen, dass auch blinde Wissenschaftsgläubigkeit nicht mit kritischem Denken vereinbar und in Kombination mit Autoritätshörigkeit sogar gefährlich ist.
Weil wir aber nun wissen, dass wir Faktenbehauptungen nicht blind vertrauen können, sind in den letzten Jahren unendlich viele sogenannte Faktenchecker wie Pilze aus dem Boden gesprossen. Doch auch diesen dürfen wir natürlich nicht bedingungslos glauben. Zwar werben sie damit, dass sie uns Denk- und Recherchearbeit abnehmen, aber sie tun eben genau das: Sie nehmen uns Denk- und Recherchearbeit ab, die wir aber, wenn wir selbstständig denken wollen, eben selbstständig erledigen sollten. Weil es sich dabei letztendlich auch nur um journalistische Artikel handelt, müssen wir mit ihnen genauso verfahren wie mit Medien und Experten, nämlich genau hinschauen und keinen Faktencheck akzeptieren, den wir nicht selbst verzapft haben. So wird zum Beispiel im „Faktenfinder“ der Tagesschau beim Faktencheck von Stimmen, die darin als „vermeintliche Experten“ abgetan werden, unter anderem unser guter Bekannter Klaus Gestwa in der Funktion eines „Ukraine-Experten“ zitiert: Es werden also Leute als „vermeintliche Experten“ hingestellt, indem ein tatsächlich vermeintlicher Experte zu Wort kommen darf und dabei nicht hinterfragt wird. Dabei werden die Argumente der kritisierten „vermeintlichen Experten“ nicht sachlich zerlegt, das heißt, es wird nicht darauf eingegangen, wie genau die kritisierten „Experten“ ihre Ansichten begründen, sondern es werden einfach nur Gegenthesen präsentiert, frei nach dem Prinzip: „X sagt das und das, aber das ist falsch, in Wirklichkeit ist das so und so.“ So funktioniert seriöser wissenschaftlicher Diskurs aber nicht. Um die Position der Gegenseite zu widerlegen, muss man ihre Argumentationskette und die angeführten Belege prüfen. Und vielleicht haben die Interviewpartner des „Faktenfinders“ das sogar gemacht – aber im Artikel merkt man nichts davon.
Spannend ist vor diesem Hintergrund auch die Frage, wer die Faktenchecker finanziert: Sie selbst mögen sich noch so sehr als „unabhängig“ stilisieren, aber wenn ein Löwenanteil ihrer Finanzen von US-amerikanischen Multimilliardären, die keinen Hehl aus ihrer politischen Agenda machen, kommt, wie das zum Beispiel bei Correctiv der Fall ist, das 2022 über eine halbe Million Euro von der Luminate Foundation, die dem eBay-Gründer Pierre Omidyar gehört, erhalten hat, dann ist diese Behauptung von einer „Unabhängigkeit“ bestenfalls unglaubwürdig.
Dass wir gerne herdenhaft irgendwelchen Autoritäten hinterherlaufen, liegt aber nicht nur an unserer denkfaulen Natur, sondern auch am Bildungssystem: Denkst Du wirklich, Schulen sind aus reiner übergroßer Herzensgüte entstanden, damit junge Seelen ihr volles Potential entfalten können? Nein. Vielleicht bist Du selbst so idealistisch, aber Du bist schlecht beraten, wenn Du Deine Werte und Ideale auch anderen unterstellst. Denn hier wären wir wieder beim Denkfehler der Projektion. Vergiss nie, dass Schulen Geld kosten, und wer es investiert, will dafür etwas bekommen. Bei Privatschulen investieren die Eltern und bekommen dafür eine gute Bildung für ihre Kinder. Bei Schulen für das gemeine Volk investieren je nach Land und Epoche der Staat und/oder superreiche vermeintliche Philanthropen (in Wirklichkeit Fabrikbesitzer und andere, sagen wir mal, Oligarchen). Beide wollen aber vor allem eins: Arbeitskräfte, die nicht mehr und nicht weniger können als die Arbeit, für die sie herangezüchtet werden. Die Ursprünge des Schulsystems, wie wir es kennen, reichen ins frühe 18. Jahrhundert, als in Preußen die Schulpflicht eingeführt wurde, um disziplinierte und ausreichend kompetente Untertanen zu formen. Und das ist bis heute spürbar: In einer Sendung von SWR1 Leute geht der Propagandaforscher Jonas Tögel ab Minute 29:03 darauf ein, dass es an deutschen Schulen durchaus bewusste NATO-Propaganda gibt. Und wenn wir uns daran erinnern, dass Systeme sich von Natur aus selbst legitimieren müssen, dann ist es ganz logisch, dass es in den Schulen eines NATO-Landes NATO-Propaganda gibt. In Nicht-NATO-Ländern gibt es anderweitige Propaganda. Sofern Schulen Teil eines Systems mit bestimmten Interessen sind, solange sie von diesem System Gelder bekommen und das Personal von diesem System ausgebildet wird, sind sie auch eine Propagandainstitution zur Heranzüchtung braver, manipulierbarer Bürger. Oder wie der US-amerikanische Lehrer John Taylor Gatto es in seinem Buch Dumbing Us Down so schön formuliert:
„Schools are intended to produce, through the application of formulas, formulaic human beings whose behavior can be predicted and controlled.“
„Schulen sind dafür gedacht, durch die Anwendung von Schablonen schablonenhafte Menschen hervorzubringen, deren Verhalten vorhergesagt und kontrolliert werden kann.“
John Taylor Gatto: Dumbing Us Down: The Hidden Curriculum of Compulsory Schooling, Kapitel: The Psychopathic School, hier übersetzt von Feael Silmarien.
Wobei das natürlich mit allen anderen Säulen von Realitätstunneln Hand in Hand geht: Denn Lehrer zum Beispiel neigen ja auch völlig ohne bewusste Propagandaabsicht zu Denkfehlern, Autoritätshörigkeit und Mitläufertum, äußern sich gegenüber ihren Schülern (wie meine Assistentin Lara so schön anmerkte) aber oft und gerne zu Themen, mit denen sie sich eigentlich nicht auskennen. Damit werden sie also zu Opfern des Dunning-Kruger-Effekts, was jedoch besonders gefährlich ist angesichts dessen, dass sie gegenüber Kindern, die erst recht noch nicht kritisch denken können, als Autoritäten und Vorbilder auftreten und diese somit unwissentlich und unabsichtlich mit falschen Informationen und Denkfehlern indoktrinieren können. Und wenn wir von der ersten Klasse an lernen, dass Lehrer mehr oder weniger immer recht haben, und Lehrer auch noch Macht über unsere Schulnoten – und damit über unsere Zukunft – haben, dann braucht es nicht einmal bewusste Propaganda im Lehrplan: Wenn die Lehrer selbst an das glauben, was sie ihren Schülern vermitteln sollen, machen sie diese Propaganda ganz unbewusst und unaufgefordert.
Mit anderen Worten:
Unsere natürliche Autoritätshörigkeit wird durch das Schulsystem, wie wir es heute kennen, nur noch verstärkt.
Dabei wäre es auch ein Fehler, mit Autoritäten nur klare Befehle und Drohungen zu assoziieren. Viel gefährlicher als solche offenen Autoritäten sind laut dem Psychoanalytiker Erich Fromm sogenannte anonyme Autoritäten. Denn wenn eine offen autoritäre Mutter dem kleinen Hans zum Beispiel sagt: „Wenn du den Spinat nicht isst, dann gibt’s Prügel!“, dann kann der kleine Hans sich auflehnen, rebellieren, für seine Rechte kämpfen. Anonyme Autorität hingegen wäre, um Fromms eigenes Beispiel zu klauen, wenn die Mutter sagt: „Du kannst essen, was du willst“, dabei aber „ein sehr trauriges Gesicht“ macht, wenn der kleine Hans den Spinat nicht isst. Mit anderen Worten: Die Mutter täuscht den kleinen Hans, indem sie ihm vorgaukelt, er wäre frei in seiner Entscheidung, ihm gleichzeitig aber zu verstehen gibt, dass nur eine Entscheidung richtig ist. Gegen eine solche passiv aggressive Psychomanipulation kann man sich kaum wehren, weil man ja angeblich so frei ist. Denn gegen wen wehrt man sich da? Gegen die liebe Mama, die einem sagt, man könne doch essen, was man will? Und dann werden solche Psychomanipulationen nicht nur beim Spinat eingesetzt, sondern natürlich auch in allen anderen Lebensbereichen: In der Schule zum Beispiel bekommen wir oft Aufgaben, bei denen wir durch „selbstständiges“ Denken zur erwünschten „richtigen“ Antwort kommen müssen, und dafür werden uns von der Lehrkraft seeehr zielgerichtete Tipps gegeben. Und generell heißt es an jeder Ecke, wir seien als Gesellschaft ja so frei, aber dann ergeben die Umfragen der letzten Jahre, dass immer mehr Deutsche die Meinungsfreiheit eingeschränkt sehen.
Ansonsten spielen ein Stück weit auch kulturelle Besonderheiten eine Rolle. So wird den Deutschen im interkulturellen Vergleich immer wieder eine überdurchschnittliche Autoritätshörigkeit attestiert. Die Trägheit des deutschen Michels mag der Grund für diese Bereitwilligkeit zum Abtreten von Verantwortung an irgendwelche Autoritäten sein. Und das wiederum bedroht die Fähigkeit zu kritischem Denken:
Denn kritisches Denken ist selbstständiges Denken. Und selbstständiges Denken bedeutet, dass man selbstständig denkt und das Denken somit eben nicht an die Herde, Autoritäten und (vermeintliche) Experten outsourct.
Subjektive Realitäten: Zusammenfassung
Puh, das war viel! Und weil das so viel war, sollten wir vielleicht kurz zusammenfassen:
Das Hauptproblem besteht darin, dass wir alle geliebt werden wollen und – sofern wir nicht in der Lage sind, uns selbst genug Liebe zu geben – darauf angewiesen sind, ein positives Selbstbild zu pflegen. Dabei konstruieren wir Menschen (im Gegensatz zu Tieren) gerne Narrative bzw. Realitätstunnel, in denen wir selbst (oder auch unsere Angehörigen) eine Helden- oder Opferrolle einnehmen. An diese Narrative glauben wir dann ehrlich und aufrichtig und errichten kognitive Filter gegen Informationen, die diesen Narrativen widersprechen. Außerdem neigen wir dazu, uns selbst, unsere Fähigkeiten und unsere Bedeutung für die Welt zu überschätzen und ganz naiv und blauäugig anzunehmen, dass wir tatsächlich Gutes tun, wenn wir es gut meinen, und dass andere Menschen es auch gut mit uns meinen. Wir glauben gerne an das Gute in anderen Menschen, weil wir auch Menschen sind, und wenn der Mensch an sich gut ist, dann sind wir ja auch selbst gut.
Außerdem sind wir unverbesserliche Herdentiere und geben die Verantwortung für unser Denken und Handeln gerne an vermeintlich vertrauenswürdige Autoritäten ab, deren Narrative wir nur zu gerne unkritisch übernehmen. Dabei blenden wir aus, dass diese Autoritäten genauso fehleranfällige Menschen wie wir sind. Wie gesagt, wir blenden generell alles aus, was unsere rosarote Brille bei der Betrachtung der Welt und vor allem von uns selbst beeinträchtigen könnte. Wir sind also von Natur aus nicht zu kritischem Denken veranlagt und es wird von unserer Gesellschaft auch nicht gefördert. Mehr noch: Wenn wir die Bedrohungen für unser Selbst- und Weltbild nicht einfach ausblenden können, wollen wir es gewaltsam verteidigen und werden aggressiv, merken es aber häufig nicht, weil Aggression und Boshaftigkeit nicht zu unserem freundlichen Selbstbild passen. Und wenn die Herde auch noch mitmacht, sehen wir erst recht keinen Grund, unser Denken und Handeln zu hinterfragen.
Besonders fatal ist in diesem Zusammenhang der Individualismus, weil durch ihn jeder auf sich selbst, seine Wirkung und seinen Realitätstunnel fixiert ist, wir uns sehr stark mit irgendwelchen Gruppen identifizieren, sie als Teil unserer Individualität betrachten und uns somit ihren Narrativen ausliefern, und weil die anonyme Autorität, die uns eine Freiheit zur individuellen Entfaltung vorgaukelt, uns und unseren Realitätstunnel in eine bestimmte Richtung zu lenken versucht.
Also ganz kurz formuliert:
Das Bedürfnis, als lebens- und liebenswertes Geschöpf gesehen zu werden, macht uns manipulierbar und schlimmstenfalls sogar zu menschenverachtenden Bastarden.
Oder umgekehrt:
Die meisten Arschlöcher werden nicht deswegen zu Arschlöchern, weil sie Arschlöcher sein, sondern weil sie als gut und liebenswert gelten wollen.
Oder noch kürzer:
Kritisches Denken erfordert sehr viel Mut, weil wir uns vor allem uns selbst stellen müssen.
Die Tragik hinter dieser Natürlichkeit von kognitiven Blockaden, Herdenmentalität und Autoritätshörigkeit besteht nun darin, dass sie auf ganz natürliche Weise zu Konflikten führt. Wir hauen uns gegenseitig die Köpfe ein, weil wir für das Gute kämpfen und die Welt retten wollen, und merken nicht, dass wir selbst genau die Monster sind, die wir zu bekämpfen glauben. Und um diesen Sachverhalt etwas anschaulicher darzustellen, möchte ich im zweiten Teil dieser Reihe detaillierter auf die fatalen Folgen von subjektiven Realitäten eingehen. Denn während wir alle uns Sorgen um Dinge wie die gesellschaftliche Spaltung machen, sind die wenigsten von uns bereit einzusehen, dass wir selbst Teil des Problems sind. Im dritten Teil schließlich werden wir uns konkreten Schritten für die kritische Analyse von Informationen zuwenden.