Kri­ti­sches Denken Schritt für Schritt (Wie geht selbst­stän­diges, kri­ti­sches Denken? – Teil 3)

Kri­ti­sches Denken Schritt für Schritt (Wie geht selbst­stän­diges, kri­ti­sches Denken? – Teil 3)

Wie geht kri­ti­sches Denken? Nach zwei Teilen mit theo­re­ti­schen Ana­lysen und Bei­spielen gehen wir end­lich zur Praxis über und zer­legen die sechs Ein­zel­schritte für eine fak­ten­ba­sierte Mei­nungs­bil­dung. Unsere Methode beruht dabei auf wis­sen­schaft­li­cher Quel­len­kritik, jour­na­lis­ti­schen Grund­lagen und erzähl­theo­re­ti­schen Ansätzen. Bre­chen wir also gemeinsam aus unseren Rea­li­täts­tun­neln aus!

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Wie viele Men­schen kennst Du, die völlig unge­niert von sich behaupten, sie würden nicht kri­tisch denken? Nicht viele, oder? Hinz, Kunz und ihr Hund glauben ehr­lich und auf­richtig, sie würden kri­tisch denken. Doch wenn man gegen­über einem durch­schnitt­li­chen Men­schen nach­hakt, kommt schnell heraus, dass sein kri­ti­sches Denken meis­tens darin besteht, sich einer Mei­nung anzu­schließen, „ein­fach weil sie mir am plau­si­belsten erscheint“, wie ein Schlau­meier in einem leider und nicht von mir gelöschten Kom­mentar unter einem meiner Videos es ganz selbst­über­zeugt for­mu­liert hat.

Falls Du das auch so hand­habst, dass Du Dir unter­schied­liche Dar­stel­lungen anschaust und dann dem glaubst, was Dir „am plau­si­belsten“ erscheint, dann habe ich eine ganz schlechte Nach­richt für Dich: Genau so geht kri­ti­sches Denken nicht.

Aber wie geht es dann? Das bespre­chen wir in diesem Artikel!

Kri­ti­sches Denken: Grund­lagen

Zunächst soll­test Du ein­sehen, dass zwi­schen kri­ti­schem Denken und dem Glauben, man würde kri­tisch denken, ein mas­siver Unter­schied besteht. In den ersten beiden Teilen dieser Reihe haben wir näm­lich aus­führ­lich dar­über gespro­chen, wie wir Men­schen ganz unbe­wusst uns selbst in die Irre führen, wie wir unseren Vor­ur­teilen, Denk­feh­lern und kogni­tiven Blo­ckaden nahezu hilflos aus­ge­lie­fert sind und wie subtil sich das in unserem Denken, Fühlen und Han­deln nie­der­schlagen kann. Wenn Du Dir diese beiden Teile also noch nicht zu Gemüte geführt hast, würde ich emp­fehlen, dass Du das jetzt nach­holst, denn sie bilden die Grund­lage für diesen Artikel.

An dieser Stelle aber zurück zu Hinz, Kunz und ihrem Hund. Weil die drei der fel­sen­festen Über­zeu­gung sind, sie würden kri­tisch denken, glauben sie auch, sie würden Pro­pa­ganda sofort erkennen, wenn sie ihnen begegnet. Doch genau hier liegt ihr Trug­schluss:

Mani­pu­la­tion ist keine gute Mani­pu­la­tion, wenn der Mani­pu­lierte erkennt, dass er mani­pu­liert wird.

Gute Pro­pa­ganda ope­riert im Ver­bor­genen, Unter­be­wussten, und erkenn­bare Pro­pa­ganda ist somit schlechte Pro­pa­ganda, die nicht wirkt, eben weil sie durch­schaut wird. Gute Pro­pa­ganda hin­gegen ist genau das, was auf uns ohne kri­ti­sche Ana­lyse „am plau­si­belsten“ wirkt. Denn wie wir in den ersten beiden Teilen dieser Reihe gelernt haben:

Als Men­schen haben wir unsere Rea­li­täts­tunnel, neigen zu Selbst­täu­schung und können uns beim kri­ti­schen Denken somit nicht auf uns selbst ver­lassen. Denn um unseren kom­for­ta­blen Rea­li­täts­tunnel zu erhalten, sind wir darauf getrimmt, das zu glauben, woran wir eh schon glauben.

Du kennst das Prinzip bereits aus der Wer­bung, die ja nichts anderes ist als Pro­pa­ganda für bestimmte Pro­dukte und Dienst­leis­tungen: Viele glauben, von ihr nicht beein­flusst zu werden, und finden sie sogar nervig, aber später beim Ein­kaufen zeigt sich, dass die Wer­bung eben doch gewirkt hat. Letzt­end­lich sind wir alle anfällig, beson­ders jene, die sich für auf­ge­klärt und unemp­fäng­lich halten – denn diese Men­schen sind weniger auf der Hut, weil sie sich in fal­scher Sicher­heit wiegen. Aber wie die Praxis zeigt, über­schätzen sie ihre Fähig­keiten, und somit deutet die Annahme, gegen Wer­bung und Pro­pa­ganda immun zu sein, eben auf Selbst­über­schät­zung hin und dadurch, wie gesagt, auf eine erhöhte Anfäl­lig­keit für Mani­pu­la­tion. Somit sagen Deine Mei­nungen oft auch weniger über die Sache aus als über Dich selbst, wie wir vor allem an den Bei­spielen im zweiten Teil gesehen haben.

Und je mehr Du nun das Gefühl hast, dass diese Aus­füh­rungen hier auf alles und jeden zutreffen, nur nicht auf ganz kon­kret Dich, desto mehr soll­test Du Dich von dieser Reihe ange­spro­chen fühlen.

Weil wir nicht die ein­zigen sind, die unkri­tisch denken, dürfen wir uns auch nicht auf andere ver­lassen, egal, wie qua­li­fi­ziert und kri­tisch sie auf uns wirken mögen. Selbst „der Wis­sen­schaft“ dürfen wir, wie wir bereits gesehen haben, nicht unkri­tisch folgen und irgend­wel­chen „Fak­ten­che­ckern“ und Kon­sorten schon gar nicht. Selbst wenn uns ver­meint­liche Beweise gelie­fert werden, sei es auch noch so sehr authen­ti­sches Video­ma­te­rial, – gerade wir Schrei­ber­linge wissen spä­tes­tens seit unserem Artikel über den neu­tralen und den unzu­ver­läs­sigen Erzähler, dass auch eine Kamera nie­mals neu­tral oder objektiv ist, weil wir immer nur einen sorg­fältig aus­ge­wählten Aus­schnitt zu sehen bekommen.

Und auf unsere Bil­dung und Erzie­hung können wir uns erst recht nicht ver­lassen. Denn wer sind unsere Lehrer und Erzie­hungs­be­rech­tigten? Hier in Deutsch­land haben unsere Vor­gänger sich wäh­rend des Natio­nal­so­zia­lismus über­wie­gend als Täter, Oppor­tu­nisten und Mit­läufer erwiesen – sollen wir von ihnen kri­ti­sches Denken gelernt haben? Und dass es kein spe­zi­fisch deut­sches Pro­blem ist, hat das The-Third-Wave-Expe­ri­ment gezeigt, denn da wurde ein auto­ri­täres Regime im Taschen­format an einer US-ame­ri­ka­ni­schen High School auf­ge­baut.

Es ist also ein all­ge­mein­mensch­li­ches Pro­blem. Und somit müssen wir, wenn wir kri­tisch denken wollen, gewis­ser­maßen unserer ego­is­ti­schen, pro­pa­gan­da­ver­sifften, denk­faulen mensch­li­chen Natur ent­ge­gen­wirken.

Das bedeutet: Wir müssen uns von unseren Gefühlen, Ansichten und Ein­drü­cken lösen und nahezu robo­ter­haft auf einen Algo­rithmus, eine mög­lichst neu­trale Methode setzen: Wir müssen die Infor­ma­tionen von allen Seiten selbst­ständig zusam­men­su­chen, sie dann zunächst einmal stehen lassen, sie ver­stehen, uns anschauen, wer die Betei­ligten über­haupt sind und welche Kon­takte und Inter­essen sie haben, wo ihre Finan­zie­rung her­kommt, wie sie sich in der Ver­gan­gen­heit ver­halten haben und was ihre Kri­tiker so sagen (die wir natür­lich eben­falls hin­ter­fragen müssen), wir müssen die Aus­sagen inhalt­lich durch­ana­ly­sieren auf Per­spek­tive, Logik und Methode, recher­chieren, was für und was gegen die Behaup­tungen spricht und welche Nach­weise vor­liegen, und schließ­lich kal­ku­lieren, wie hoch die Wahr­schein­lich­keit ist, dass die vor­lie­gende Infor­ma­tion stimmt. Das ist klein­ka­rierte Mil­li­me­ter­ar­beit. Und des­wegen spre­chen wir nun etwas aus­führ­li­cher dar­über.

6 Schritte für selbst­stän­diges, kri­ti­sches Denken

Schritt 1: Demut

Wie bei so vielen anderen Dingen ist auch beim kri­ti­schen Denken die Ein­stel­lung, mit der man an die kri­tisch zu betrach­tenden Fragen her­an­geht, ent­schei­dend. Denn wenn die Wurzel des Übels hinter feh­lendem kri­ti­schen Denken das mensch­liche Ego ist, dann bedeutet das, dass wir, wenn wir wirk­lich kri­tisch denken wollen, unser Ego zum Schweigen bringen müssen.

Im ersten Teil dieser Reihe haben wir bereits ange­spro­chen, was das bedeutet:

Wir müssen unser Selbst­wert­ge­fühl von Kri­te­rien ent­kop­peln.

Soll also heißen:

Wir müssen uns selbst immer noch als lebens- und lie­bens­wert ansehen, sogar wenn sich her­aus­stellt, dass wir nicht mora­lisch, intel­li­gent, beliebt, erfolg­reich oder was auch immer sind.

Oder anders for­mu­liert:

Wir müssen demütig werden.

Tat­säch­lich erwi­sche ich mich immer wieder dabei, wie ich mit zuneh­mendem Alter immer mehr zu tra­di­tio­nellen christ­li­chen Werten finde. Wäre ich kul­tu­rell anders geprägt, würde ich sicher­lich zu den Werten einer anderen Reli­gion finden, aber ich bin nun mal in einem kul­tu­rellen Kon­text des Chris­ten­tums auf­ge­wachsen und ver­stehe mit den Jahren mehr und mehr den Sinn hinter dessen Lehren. Und in Bezug auf Demut stelle ich fest, dass demü­tige Men­schen nicht nur ange­nehmer im Umgang sind, son­dern eben auch kri­ti­scher denken:

Denn wer sich bewusst ist, dass er nur ein kleiner, unwis­sender und sünd­hafter Mensch ist, wird sich davor hüten, sich allzu sehr auf seine sub­jek­tiven Urteile zu ver­lassen.

Dafür muss man nicht einmal an Gott glauben. Aber man­chen hilft es wohl, sich ein großes, all­mäch­tiges und all­wis­sendes Wesen vor­zu­stellen, um sich im Ver­gleich mit ihm als die kleinen und unwis­senden Sünder zu fühlen, die sie sind, und gleich­zeitig das Gefühl zu haben, dass jemand sie trotz all dieser Makel immer noch als lie­bens­wert erachtet. Über­haupt scheint mir die Vor­stel­lung von Gott in vie­lerlei Hin­sicht eher eine Esels­brücke zu sein, um ein glück­li­ches, recht­schaf­fenes Leben zu führen. Denn ohne solche Esels­brü­cken und Psy­cho­t­ricks ist es in der Tat noch schwerer. Aber wir schweifen ab. 😉

Wenn es also nun um Demut geht, dann bedeutet es in Bezug auf kri­ti­sches Denken,

dass wir uns zunächst darauf besinnen, dass wir durch unser Selbst­bild, unsere Denk­fehler und über­haupt durch unsere mensch­liche Natur über zahl­reiche tote Winkel im Denken und Wahr­nehmen ver­fügen.

Als Men­schen sind wir ein­fach zu doof, um die objek­tive Rea­lität wahr­zu­nehmen, wenn man so will. Und das bedeutet, dass all unsere Bewer­tungen und Urteile, Mei­nungen und Ansichten und was wir zu wissen glauben alles Mum­pitz sind. Was uns selbst als offen­sicht­lich erscheint, ist nicht unbe­dingt objektiv offen­sicht­lich und ent­spricht auch nicht unbe­dingt der Rea­lität. Und aus einem anderen Rea­li­täts­tunnel heraus ist es viel­leicht sogar gänz­lich absurd.

Selbst wenn Du glaubst, etwas mit eigenen Augen gesehen zu haben, soll­test Du Dich nicht darauf ver­lassen. Denn wie wir im ersten Teil dieser Reihe am Fritz­chen­bei­spiel gesehen haben, gibt es sehr viele Fak­toren, die bestimmen, was wir wie wahr­nehmen, und das führt dazu, dass wir oft gar nicht merken, dass wir nicht ver­stehen, was wir da über­haupt wahr­ge­nommen haben. Als His­to­ri­kerin mit so man­chem Seminar über inter­kul­tu­relle Kom­pe­tenz auf dem Buckel kann ich zum Bei­spiel anführen, dass man sich auf his­to­ri­sche Rei­se­be­richte nicht allzu sehr ver­lassen darf, seien es Römer, die über Gal­lier und Ger­manen schreiben, oder west­eu­ro­päi­sche Rei­sende und Aben­teurer in fremden Län­dern. Selbst wenn diese Men­schen nicht lügen oder zumin­dest fan­ta­sie­voll aus­schmü­cken, so begegnen sie anderen Kul­turen doch mit einer bestimmten Grund­ein­stel­lung und sehr viel Unwissen, was dazu führt, dass sie oft nicht ver­stehen, was sie da sehen, und dem­entspre­chend ziem­lich fal­sche Schlüsse ziehen. Und dann schlägt der Dun­ning-Kruger-Effekt zu und sie glauben ehr­lich und auf­richtig, sie würden sich aus­kennen, wäh­rend die Leute, über die sie in ihren Berichten schreiben, oder deren Nach­kommen die Beschrei­bungen und Urteile, wenn sie ihnen in die Hände fallen, belei­di­gend oder aber aus­ge­spro­chen komisch finden.

Es ver­steht sich übri­gens auch von selbst, dass wir bei man­chen Themen demü­tiger und kri­ti­scher sind als bei anderen. Wenn ein Thema uns zum Bei­spiel relativ egal ist, dann macht es uns auch weniger aus, da etwas zu hin­ter­fragen. Wenn kri­ti­sches Hin­ter­fragen aber unseren Rea­li­täts­tunnel und unser Selbst­bild bedrohen würde, wehren wir uns vehe­ment selbst gegen die kleinsten Zweifel. Das kann sich zum Bei­spiel darin äußern, dass wir Men­schen, die eine andere Mei­nung ver­treten, von vorn­herein abstem­peln:

  • Hast Du schon mal gedacht oder sogar gesagt, dass Men­schen, die in irgend­einem Punkt eine andere Ansicht haben, alles Bild­zei­tungs­leser sind?
  • Dass sie nur stumpf irgend­welche Parolen grölen?
  • Dass sie ideo­lo­gie­ver­sifft, pro­pa­gan­da­ver­blendet und sowieso Ver­schwö­rungs­theo­re­tiker sind oder sogar bewusst lügen?

Herz­li­chen Glück­wunsch, das alles sind typi­sche Aus­reden, um sich mit anderen Ansichten nicht aus­ein­an­der­zu­setzen. Oder sie zu erwürgen:

So hat die CIA 1967 das Doku­ment #1035–960 her­aus­ge­geben, das buch­stäb­lich eine Anlei­tung dar­stellt, wie man unan­ge­nehme Kri­tiker als „Ver­schwö­rungs­theo­re­tiker“ und „Pro­pa­gan­disten“ des Feindes dis­kre­di­tiert. Dabei zeigt die Geschichte, dass ein Teil dessen, was von den Regie­rungen und in den Leit­me­dien als „Ver­schwö­rungs­theorie“ abgetan wird, sich im Nach­hinein durchaus als wahr her­aus­stellt, bei­spiels­weise dass die USA die Mas­sen­ver­nich­tungs­waffen im Irak 2003 sage und schreibe erfunden haben, um ihren Krieg zu legi­ti­mieren. Eine „Ver­schwö­rungs­theorie“ ist also nicht auto­ma­tisch Humbug, und ob da tat­säch­lich etwas dran ist oder nicht, weiß man nur, wenn man sie sich genauer anschaut. Genau davon soll das Label „Ver­schwö­rungs­theorie“ aber abhalten.

Diese und alle anderen Arten des Her­ab­set­zens anderer Mei­nungen als „nicht beach­tens­wert“ sind eine Form von Aggres­sion.

Und Aggres­sion ent­steht, wenn man sich – sei es auch nur unter­be­wusst – bedroht fühlt.

Und warum fühlst Du Dich bedroht, wenn die Behaup­tungen Anders­den­kender Deiner Mei­nung nach nur „dumme Parolen“ sind? Denn wenn Du Dich nicht bedroht fühlen wür­dest, wür­dest Du doch gelassen reagieren und die Anders­den­kenden nicht verbal oder zumin­dest gedank­lich angreifen. Die „dummen Parolen“ sind für Dich also offenbar doch keine „dummen Parolen“, son­dern Gedanken, die für Dich gefähr­lich sein könnten. Und wann sind bloße Gedanken (und nicht etwa Hand­lungen) über­haupt gefähr­lich? – Genau, wenn sie unser Selbst­bild, unseren Rea­li­täts­tunnel, bedrohen. Du hast also unter­be­wusst Angst, dass hinter den „dummen Parolen“ eine Wahr­heit ste­cken könnte, in deren Licht Du nicht als mora­lisch, intel­li­gent, beliebt, erfolg­reich oder was auch immer dastehen wür­dest.

Weil Du Deinen Selbst­wert also an solche Kri­te­rien kop­pelst, hin­derst Du Dich selbst daran, Dich mit anderen Ansichten kri­tisch aus­ein­an­der­zu­setzen. Du weist sie von vorn­herein ab und unter­stellst ihren Ver­tre­tern nega­tive Eigen­schaften, damit Du selbst im Ver­gleich gut dastehst: Denn wenn die Anders­den­kenden dumm sind, dann bist Du klug; wenn sie blöde Außen­seiter sind, dann bist Du ein geschätzes Mit­glied der Gesell­schaft; und wenn sie aso­zial oder ander­weitig amo­ra­lisch sind, dann bist Du sozial und mora­lisch. Du erhebst Dich über sie. Du maßt Dir an, über andere urteilen zu können, ohne jemals in ihren Schuhen gelaufen zu sein. Du glaubst zu wissen, was in ihrem Inneren statt­findet. Doch mit wel­chem Recht eigent­lich? Was glaubst Du, wer Du bist? – Gott? Wis­sender, klüger und mora­li­scher als andere Men­schen? Somit beglück­wün­sche ich Dich noch ein zweites Mal:

Wenn Du die Ansichten Anders­den­kender ohne inhalt­liche Argu­mente von vorn­herein her­ab­setzt, dann begehst Du die Tod­sünde des Hoch­muts.

Und da ist es egal, wie sehr Du selbst von Deiner eigenen Beschei­den­heit und Demut über­zeugt bist: Deine Hand­lungen spre­chen vom Gegen­teil. Wenn auf dem Rasen ein Hun­de­häuf­chen liegt, dann ist das ein ziem­lich ein­deu­tiger Beweis, dass ein Hund vor­bei­ge­kommen ist. Und wenn Du andere Men­schen auf­grund von ihren aus Deiner sub­jek­tiven Sicht viel­leicht noch so abstrusen Mei­nungen her­ab­setzt, dann bist Du ein arro­gantes Arsch­loch.

In diesem Sinne: Herz­lich will­kommen im Klub der arro­ganten Arsch­lö­cher. So ziem­lich die meisten von uns haben das Pro­blem. Und das Beste, was wir tun können, ist, auf unsere eigenen Gedanken auf­zu­passen und noch mehr auf unsere Hand­lungen. Denn wenn wir uns in all unserem Hochmut mora­lisch im Recht sehen und unsere Taten dem­entspre­chend nicht hin­ter­fragen, sind wir schnell zu schreck­li­chen Dingen fähig. Schaue Dir nur die schlimmsten Aus­wüchse der Cancel Cul­ture an: Anders­den­kende werden abge­stem­pelt, aus­ge­grenzt und manche ver­lieren ihren Job oder sogar ihr ganzes Umfeld. – Und nur, weil andere ihre bloßen Gedanken, zum Bei­spiel über die Nütz­lich­keit von Corona-Maß­nahmen, als bedroh­lich emp­finden. Dabei ist es normal, dass Men­schen ver­schie­dene Ansichten haben, und wenn wir auf Anders­den­kende gelassen reagieren, können wir meis­tens Kom­pro­misse finden oder uns gemeinsam auf Wahr­heits­suche begeben.

Aber – oha, ich höre Wider­spruch! Du sagst: „Was, wenn die anderen Mei­nungen tat­säch­lich gefähr­lich sind, weil sie zu Ver­hal­tens­weisen führen, die mir schaden?“

Ich sage dazu: „Schau Dich selbst an. Bist Du sicher, dass Deine Mei­nungen nicht zu Ver­hal­tens­weisen führen, die anderen schaden? Warum sollen die anderen ihre Mei­nung auf­geben und Du nicht?“

Und Du ant­wor­test: „Weil die Mei­nung der anderen dis­kri­mi­nie­rend oder ander­weitig unmo­ra­lisch ist!“

Und ich wie­der­hole: „Schau Dich selbst an. Bist Du sicher, dass Deine Mei­nung nicht dis­kri­mi­nie­rend oder ander­weitig unmo­ra­lisch ist? Ich weiß, Du bist Dir wirk­lich sicher, sonst wür­dest Du nicht so reden und Dich wehren. Du gewich­test den Schaden, der durch andere ent­steht, höher als den Schaden, der durch Dich ent­steht und dessen Exis­tenz Du viel­leicht sogar nicht einmal in Erwä­gung ziehen willst. Du gewich­test Deine Werte, Deine Moral, höher als die Werte anderer Men­schen. – Und genau das ist der Inbe­griff von Arro­ganz. Von mora­li­scher Selbst­er­hö­hung auf Kosten anderer. Wenn Du die Welt also wirk­lich ver­bes­sern willst, dann beginne bei Dir selbst. Denn Du bist ein arro­gantes Arsch­loch und hast des­wegen kein Recht, anderen vor­zu­schreiben, was sie zu tun und zu lassen haben.“

Abge­sehen von kom­plettem Abblo­cken und Ver­ur­teilen anderer Mei­nungen gibt es noch andere Dinge, die uns an Kom­pro­missen oder an gemein­samer Wahr­heits­suche behin­dern, zum Bei­spiel das absolut arro­gante Gefühl, man würde die Gegen­seite ver­stehen, aber die Gegen­seite einen selbst nicht. Das kann durchaus der Fall sein, aber es kann auch nicht der Fall sein. Des­wegen ist auch dieses Gefühl zu hin­ter­fragen – man kann es absolut äußern, das kon­krete Pro­blem zu benennen ist meis­tens sehr hilf­reich, aber man sollte es trotzdem respekt­voll tun, am besten als Ich-Bot­schaft: „Ich glaube, wir reden anein­ander vorbei.“ Oder: „Ich fühle mich nicht ver­standen.“

Solche vor­sich­tigen, rela­ti­vie­renden For­mu­lie­rungen ver­tragen sich aller­dings meis­tens nicht mit der west­li­chen Men­ta­lität mit ihrem – nennen wir es mal „Kult der Selbst­dar­stel­lung“. Schon als Kinder bekommen wir ein­ge­trich­tert, dass wir, wenn wir ernst genommen werden wollen, „selbst­be­wusst“ auf­treten müssen. Wenn man ständig die Ein­ge­schränkt­heit seiner eigenen Sub­jek­ti­vität betont und Raum für Zweifel an den eigenen Aus­sagen lässt, wirkt man meis­tens nicht selbst­be­wusst. Dabei hat das eigent­lich nichts mit rich­tigem Selbst­be­wusst­sein zu tun, denn Selbst­be­wusst­sein bedeutet, sich seiner Selbst bewusst zu sein, also zu wissen, wer man ist. Was man hier­zu­lande für Selbst­be­wusst­sein hält, ist aber eher Selbst­über­zeugt­heit: Men­schen lassen sich eher von Selbst­über­zeugt­heit über­zeugen als von Argu­menten, völlig egal, ob diese Selbst­über­zeugt­heit berech­tigt ist oder nicht. Meis­tens ist sie sogar tat­säch­lich nicht berech­tigt, wie der Dun­ning-Kruger-Effekt zeigt, da vor allem unwis­sende und dumme Men­schen selbst­über­zeugt auf­treten. In Bezug auf kri­ti­sches Denken würde ich Selbst­über­zeugt­heit daher als toxisch ein­stufen, was wie­derum bedeutet, dass wir gegen einen Wert ver­stoßen müssen, den viele von uns schon mit der Mut­ter­milch ver­ab­reicht bekommen haben.

Auch unsere natür­liche Auto­ri­täts­hö­rig­keit könnte zu einem beson­deren Pro­blem werden, weil sie leicht mit Demut ver­wech­selt werden kann. Denn der Auto­ri­täts­hö­rige sagt ver­meint­lich demütig: „Ich bin doof, ich kenne mich nicht aus und des­wegen höre ich auf jemanden, der Bescheid weiß.“ Grund­sätz­lich ist es natür­lich nicht ver­kehrt, um sein eigenes Unwissen wis­send nach zuver­läs­sigen Infor­ma­ti­ons­quellen zu suchen. – Aber wer sagt, dass Deine Ein­stu­fung einer Infor­ma­ti­ons­quelle als „zuver­lässig“ kor­rekt ist? In Teil 1 und 2 dieser Reihe haben wir ja bereits fest­ge­stellt, dass wir selbst „der Wis­sen­schaft“ nicht blind ver­trauen dürfen. Wenn Du einer Infor­ma­ti­ons­quelle ohne Wenn und Aber glaubst, dann maßt Du Dir genug Kom­pe­tenz an, um sie zu beur­teilen. – Mit wel­chem Recht eigent­lich? Viel­leicht wirkt diese Quelle auf Dich nur des­wegen so zuver­lässig, weil Du so doof und mani­pu­lierbar bist? Und wenn andere Men­schen anderen Quellen trauen, die Deiner Quelle wider­spre­chen? Dann stellst Du Dein Urteil also mal wieder über das anderer Men­schen. Du bist also nicht etwa demütig, son­dern ein arro­gantes Arsch­loch.

Nein. Demut bedeutet nicht, sich irgend­einer Mei­nung anzu­schließen, weil man es nicht besser weiß:

Demut bedeutet, auf eine Mei­nung ent­weder kom­plett zu ver­zichten, weil man genau weiß, dass sie auf jeden Fall Mum­pitz sein wird, oder sie auf selbst­stän­diger, ergeb­nis­of­fener For­schung auf­zu­bauen und dabei im Hin­ter­kopf zu behalten, dass man sich trotzdem irren könnte.

Wie kommt man also zu dieser demü­tigen Grund­ein­stel­lung?

Sofern Du ein nor­mal­sterb­li­cher Mensch bist, wirst Du Dich von Deiner irdi­schen Sünd­haf­tig­keit wohl nie lösen können. Aber wir Men­schen können zumin­dest ver­su­chen, uns vor­über­ge­hend in einen „demü­tigen Modus“ zu ver­setzen, um einer bestimmten Sache auf den Grund zu gehen.

Und wie Du Dir viel­leicht mitt­ler­weile denken kannst, beginnen wir dabei mit der Selbst­re­fle­xion. Denn es ist ja schön und gut, wenn Du die Fehler anderer zu erkennen glaubst – aber schau Dich in erster Linie selbst an:

Du bist nicht per­fekt, Du unter­liegst schreck­li­chen Irr­tü­mern und Du fügst anderen wahr­schein­lich Schaden zu, ohne es zu merken bzw. merken zu wollen.

Des­wegen liegt es nicht in der Kom­pe­tenz Deines Spat­zen­hirns, irgend­etwas zu beur­teilen. Ins­be­son­dere andere zu ver­ur­teilen, vor allem, wenn Du nicht in ihrer Haut steckst.

Ich meine, klar, wenn Dir weh­getan wird, hast du jedes Recht der Welt, ganz laut „Au!“ zu schreien. Es ist sogar Deine Pflicht als erwach­sener Mensch, für Dich selbst ein­zu­stehen und in einer kon­kreten Situa­tion oder bei einem sys­te­mi­schen Pro­blem die Schwei­ge­spi­rale zu durch­bre­chen. Aber hetze nicht! Gib Dich nicht dem Hass hin, sogar wenn Du glaubst, dass Dir selbst mit Hass begegnet wird. Denn die­je­nigen, die Dir wehtun, sind keine schlech­teren Men­schen und du bist auch kein bes­serer Mensch. Zumin­dest liegt es, wie gesagt, nicht in Deiner Kom­pe­tenz, das zu beur­teilen. Lege also ein­fach nur deine Sicht der Dinge dar, so gut und zivi­li­siert Du kannst.

Um das zu schaffen und gene­rell ergeb­nis­offen for­schen zu können, musst Du emo­tional mög­lichst gelassen sein.

Zieh Dich not­falls also zurück, beru­hige Dich und löse Dich ggf. von Deiner Iden­ti­fi­ka­tion mit einer Gruppe, zumin­dest vor­über­ge­hend, weil es Dich sonst par­tei­isch macht und, wie wir in Teil 1 gesehen haben, auch Deine intel­lek­tu­ellen Fähig­keiten ein­schränkt.

Über­haupt ist es sinn­voll, sich gene­rell nicht groß­artig mit etwas zu iden­ti­fi­zieren außer mit sich selbst: also auch nicht mit irgend­einer Lehre, einer Bewe­gung, einer Mis­sion, was auch immer. Das ist natür­lich schwierig, weil wir allein schon durch unsere ange­bo­renen Eigen­schaften unter­schied­li­chen Gruppen zuge­ordnet werden können und es auch werden und es oft auch sinn­voll ist. Wie es zum Bei­spiel sinn­voll ist, seine Schuh­größe zu kennen, denn das ist auch eine Gruppe. Aber es ist nochmal eine andere Sache, sich mit seiner Schuh­größe zu iden­ti­fi­zieren und das Fehlen der eigenen Schuh­größe im Geschäft als per­sön­li­chen Angriff zu werten. Wenn Du nur schwer an gescheites Schuh­werk her­an­kommst, weil Deine Füße unge­wöhn­lich groß oder unge­wöhn­lich klein sind, dann ist das ein ernst­zu­neh­mendes Pro­blem und danke, dass Du darauf auf­merksam machst. Aber des­wegen soll­test Du nicht los­ziehen und Schuh­fach­ge­schäfte nie­der­brennen und eine Revo­lu­tion anzet­teln. Ver­stehst Du, was ich meine? Du hast jedes Recht der Welt, Themen zu haben, die Dir beson­ders wichtig sind. Aber zwinge sie nie­mandem auf! Es sei denn natür­lich, das kon­krete Thema ist in der jewei­ligen kon­kreten Situa­tion tat­säch­lich wichtig.

Und weil es defi­nitiv Leute geben wird, die eine andere Mei­nung haben, gilt:

Sei offen für die Argu­mente der Gegen­seite bzw. aller Seiten. Sei bereit, ihre Logik nach­zu­voll­ziehen, und lass den Gedanken zu, dass jede der Seiten recht haben könnte. Und auch wenn Dir etwas auf Anhieb wie schreck­li­cher Unsinn vor­kommt, besinne Dich auf die Ein­ge­schränkt­heit Deines Spat­zen­hirns und lass den Gedanken zu, dass dieser ver­meint­liche Unsinn stimmen könnte.

Kri­tisch zu denken bedeutet also unterm Strich, sich selbst zu hin­ter­fragen:

Ist die Quelle, der ich glauben möchte, wirk­lich zuver­lässig? Ist die Infor­ma­tion, die ich absurd finde, wirk­lich absurd? Und bin ich am Ende nicht ein­fach nur eine ego­is­ti­sche Dumpf­backe?

Und nachdem ich Dich nun hof­fent­lich bis in die tiefsten Abgründe der Demut gede­mü­tigt habe, können wir zu Schritt 2 über­gehen …

Schritt 2: Recherche

Bevor wir über irgend­etwas kri­tisch nach­denken können, brau­chen wir natür­lich Infor­ma­tionen. Wie geht aber Infor­ma­ti­ons­be­schaf­fung? Denn ein häu­figer gegen­sei­tiger Vor­wurf ver­fein­deter Mei­nungs­lager ist, die jeweils andere Seite würde sich nur ein­seitig infor­mieren. Und es stimmt ja auch:

Wenn wir unsere Infor­ma­tionen immer nur von einer Seite schöpfen – egal, für wie zuver­lässig wir die Quelle halten, – dann sind wir ein­seitig infor­miert.

Statt uns also naiv darauf zu ver­lassen, dass jemand anderes uns zuver­lässig und umfas­send infor­miert, nehmen wir die Sache selbst in die Hand und betreiben Recherche.

Dabei macht es in der Regel Sinn, sich vom All­ge­meinen zum Spe­zi­ellen in die Tiefe zu graben:

  • Wir beginnen also nicht mit einem hoch­kom­pli­zierten Fach­ar­tikel, den wir bes­ten­falls nur zur Hälfte ver­stehen, weil uns die nötigen Hin­ter­grund­kennt­nisse fehlen, son­dern mit Lexi­kon­ar­ti­keln und Über­blicks­dar­stel­lungen, Enzy­klo­pä­dien und allen mög­li­chen Nach­schla­ge­werken, die uns all­ge­mein in das Thema ein­führen. Anhand von diesen Über­blicks­dar­stel­lungen bilden wir uns noch keine Mei­nung, weil wir noch keine Kom­pe­tenz haben, sie kri­tisch zu hin­ter­fragen. Wir lassen zunächst nur stehen, dass die Autoren des Lexi­kons, der Enzy­klo­pädie oder von was auch immer bestimmte Dinge behaupten. Wir müssen den Autoren dabei nicht einmal unter­stellen, sie würden lügen, denn es ist nur natür­lich, dass grobe Über­blicks­dar­stel­lungen unvoll­ständig sind: Um ein kom­plexes Thema in einen ver­dau­li­chen Text zu ver­pa­cken, muss man zwangs­läufig ver­all­ge­mei­nern, ver­ein­fa­chen und weg­lassen. Und so sehr die Autoren sich um Objek­ti­vität bemühen mögen, bleibt ihre Ent­schei­dung, was sie in ihren Über­sichts­ar­tikel auf­nehmen und wie sie es for­mu­lieren, bis zu einem gewissen Grad sub­jektiv und will­kür­lich. Es geht gar nicht anders, denn das sind die Grenzen des Erzäh­lens und der mensch­li­chen Kom­mu­ni­ka­tion gene­rell. Des­wegen werden wir im Ver­lauf unserer Recherche die Behaup­tungen in den Über­sichts­ar­ti­keln einer Über­prü­fung unter­ziehen.
  • Vorher brau­chen wir aber ein­fach nur Infor­ma­tionen, und zwar so viele, wie wir kriegen können. Des­wegen holen wir uns aus dem Über­sichts­dar­stel­lungen zwar keine Mei­nung, aber dafür Stich­worte, Daten, Per­so­nen­namen, Begriffe und alles Mög­liche, was man in die Maske einer Such­ma­schine, eines Biblio­theks­ka­ta­logs, eines Archivs, einer Daten­bank und Kon­sorten ein­geben kann. Auf diese Weise finden wir Bücher und Artikel, Blogs und Pod­casts, alle mög­li­chen Medien zum Thema. Außerdem schauen wir uns die Lite­ra­tur­ver­weise und Quellen des Über­blicks­ar­ti­kels an und suchen sie heraus.
  • Wir haben also nun eine laaaaaaaange Lek­tür­eliste. Diese arbeiten wir durch. Buch­stäb­lich: Wir lesen sie. Und dann machen wir das, was wir schon mit den all­ge­meinen Nach­schla­ge­werken gemacht haben: Wir recher­chieren die Stich­worte, Daten, Per­so­nen­namen etc., die wir neu ken­nen­ge­lernt haben, und wir schauen uns die Lite­ra­tur­ver­weise und Quellen an. Erfreu­li­cher­weise werden wir wahr­schein­lich auf alte Bekannte stoßen, Werke, die bereits auf unserer Lite­ra­tur­liste sind, aber wir werden auch Neues ent­de­cken, das wir auf eben diese Lite­ra­tur­liste setzen. Und dann arbeiten wir diese neuen Sachen durch. Und so weiter und so fort, bis wir der welt­weit füh­rende Experte auf dem Gebiet sind.
  • Par­allel dazu können wir auch noch stö­bern gehen: Wir durch­su­chen Kata­loge und Biblio­theken nicht gezielt nach bestimmten Stich­worten, son­dern gehen in einen Abschnitt, dem unser Thema unter­ge­ordnet ist, und schauen uns dort ein­fach um, wie wir es zum Bei­spiel auch in einem Geschäft oder Online-Shop machen würden. Wenn das Ganze digital abläuft, rufen wir ein­fach die ent­spre­chende Kate­gorie auf. In einer phy­si­schen Biblio­thek würden wir uns in eine the­ma­tisch pas­sende Abtei­lung begeben, dort vors Regal stellen und gucken, was es da so gibt. Diese Methode ist nur als Ergän­zung gedacht, weil ihr eigent­lich System fehlt, aber ich zumin­dest würde Dir durchaus ans Herz legen, es zu pro­bieren: Ich selbst habe auf diese Weise schon so manche Perle ent­deckt, die mir bei meinen Recher­chen sehr wei­ter­ge­holfen hat.

So viel also zur Technik. Bevor wir aber zum nächsten Schritt über­gehen, möchte ich noch einige wich­tige Hin­weise los­werden:

  • Zunächst kannst Du Dir sicher­lich auch selbst denken, dass die Kenntnis mög­lichst vieler Spra­chen einen großen Vor­teil dar­stellt. Vor allem, wenn es um Spra­chen geht, die mit dem Thema, zu dem Du recher­chierst, eng ver­knüpft sind. Denn eine viel­spra­chige Recherche ermög­licht tie­fere Ein­blicke in unter­schied­liche Per­spek­tiven und die Lek­türe von Quellen im Ori­ginal, das nicht durch Über­set­zungen ver­fälscht wurde.
  • Auch soll­test Du, wenn es um Enzy­klo­pä­dien geht, nie­mals ver­gessen, dass Wiki­pedia selbst gemessen an Enzy­klo­pä­dien­stan­dards kei­nes­wegs eine neu­trale oder zuver­läs­sige Infor­ma­ti­ons­quelle dar­stellt. Die Unklar­heit bezüg­lich der Autoren­schaft der Artikel sowie die Willkür und Intrans­pa­renz sei­tens der Admi­nis­tra­tion sind ernst­zu­neh­mende Pro­bleme, ange­sichts derer es auch nicht ver­wun­der­lich ist, dass Ver­weise auf Wiki­pedia in ernst­haften Arbeiten nicht gern gesehen sind. Außerdem steht Wiki­pedia mit durchaus sehr kon­kreten Belegen immer wieder in der Kritik, die Artikel zu kon­tro­versen Themen seien ein­seitig bis pro­pa­gan­dis­tisch. Zu den schärfsten Kri­ti­kern in diesem Punkt gehört Larry Sanger, ein Mit­be­gründer von Wiki­pedia, auf den viele der ursprüng­li­chen Prin­zi­pien der Online-Enzy­klo­pädie zurück­gehen, die er aber trotz offi­zi­eller Behaup­tungen der Wiki­pedia nicht mehr länger erfüllt sieht. Weil es bei Wiki­pedia jedoch wirk­lich zu fast jedem Thema einen Artikel gibt, eignet sie sich durchaus als Ein­stiegs­lek­türe für kom­plette Anfänger, ein­fach um, wie vorhin beschrieben, über­haupt erst ein paar Stich­worte, Namen, Daten und Begriffe ken­nen­zu­lernen. Jedoch nicht für mehr. – Und ganz am Rande sei noch ChatGPT erwähnt, das als Infor­ma­ti­ons­quelle noch ent­setz­li­cher ist als Wiki­pedia.
  • Was die Online-Recherche angeht, soll­test Du nicht nur Google ver­wenden, weil Google durchaus Zensur betreibt, wie unter anderem Wall Street Journal und The New York Times schon längst fest­ge­stellt haben. Weil Du ja aber erst mal ganz viel Lek­türe suchst, die Du im Anschluss natür­lich auch hin­ter­fragen wirst, soll­test Du Dich nicht damit begnügen, nur das zu lesen, was Google Dir anbietet. Nutze also auch andere Such­ma­schinen, vor allem solche, die ihren Fir­men­sitz in anderen Län­dern haben. Miss­traue jeder Such­ma­schine – von Yahoo und Bing über Yandex und Baidu bis hin zu Ecosia und Duck­DuckGo – und gib gleich­zeitig jeder eine Chance, Dir ihre Fil­ter­blase zu prä­sen­tieren.
  • Ähn­lich soll­test Du auch in den sozialen Netz­werken recher­chieren – denn auch sie sind Such­ma­schinen mit ihren eigenen Richt­li­nien und einer Füh­rung mit eigenen Inter­essen. Nutze unter­schied­liche Platt­formen, mache Dich schlau, welche Platt­form was zen­siert (das steht meis­tens in den Com­mu­nity-Richt­li­nien – in der Regel beschö­ni­gend, sodass immer zu hin­ter­fragen ist, was kon­kret die Platt­form unter bestimmten ver­bo­tenen Dingen ver­steht), und nutze auch Netz­werke, die kon­tro­verse Mei­nungen eben nicht oder nur wenig zen­sieren und wo die User sich des­wegen unge­hemmter aus­tau­schen, wes­wegen solche Platt­formen – wie zum Bei­spiel Tele­gram – immer wieder medial in der Kritik stehen. Dies ermög­licht eine umfas­sen­dere Recherche und dem­entspre­chend – nach aus­gie­bigem Hin­ter­fragen der beob­ach­teten Rea­li­täts­tunnel, ver­steht sich, – auch ein tie­feres Ver­ständnis kom­plexer Themen.
  • Für spe­zi­fi­sches Fach­wissen, bei­spiels­weise für his­to­ri­sche Infor­ma­tionen, emp­fehle ich den Gang zu Fach­bi­blio­theken, zum Bei­spiel von Uni­ver­si­täten. In der Regel kannst Du auf der Web­site der Biblio­thek im Katalog stö­bern, den Umgang mit einer Such­maske beherrschst Du ja sicher­lich. Ansonsten findet man heut­zu­tage auch online wis­sen­schaft­liche Res­sourcen. JSTOR zum Bei­spiel bietet Zugang zu aus­ge­wählten Fach­zeit­schriften, wis­sen­schaft­li­chen Büchern und Quel­len­samm­lungen. Ein ähn­li­ches Angebot findet sich auch bei Digi­Zeit­schriften und Pro­ject MUSE.
  • Bei tages­ak­tu­ellem Geschehen haben wir im Zeit­alter von sozialen Medien das Pro­blem, dass es zu viele und zu wider­sprüch­liche Infor­ma­tionen gibt, die ein ein­fa­cher Mensch schon rein phy­sisch nicht ver­ar­beiten kann. Und da wir somit auch nur bedingt die Quellen über­prüfen können, müssen wir uns wohl oder übel damit abfinden, dass wir selbst bei bester Recherche zu 99 Pro­zent unwis­send bleiben. Umso mehr sollten wir uns also in Demut üben und davor hüten, Anders­den­kende zu dif­fa­mieren und aus­zu­grenzen. Denn gerade heute sollten wir eigent­lich wissen, dass wir nichts wissen – und schon gar nicht besser als andere.
  • Beson­ders wert­volle Infor­ma­ti­ons­quellen sind Zeugen- und Erleb­nis­be­richte. Sie sind aber auch nur bedingt ver­läss­lich. Diese soge­nannten Pri­mär­quellen sollten wie jede andere Quelle auch bei der Recherche zunächst ein­fach nur stehen gelassen und später über­prüft werden. Denn wie wir schon im ersten Teil dieser Reihe am fik­tiven Fritz­chen­bei­spiel gesehen haben, kann selbst ein ehr­lich und auf­richtig um Kor­rekt­heit bemühter Augen­zeuge Falsch­in­for­ma­tionen geben. Zeugen sagen bes­ten­falls nur das, was sie aus ihrem eigenen Rea­li­täts­tunnel heraus gesehen haben, was aber nicht der Wahr­heit ent­spre­chen muss. Schlimms­ten­falls können Zeugen auch bewusst lügen.
  • Und nicht zuletzt ist es sinn­voll, gezielt Kri­tiker Deiner Ansichten auf­zu­su­chen. Die Gegen­seite zu ver­stehen zu ver­su­chen, ihre Logik, ihre Art zu denken und, natür­lich, ihre Quellen. Abge­sehen davon, dass die Gegen­seite oft von Dingen spricht, die wir selbst nicht wahr­haben wollen und des­wegen – bewusst wie unbe­wusst – aus unserem Rea­li­täts­tunnel drängen und somit Gefahr laufen, bestimmte Aspekte unseres Themas schon bei der Recherche ein­fach zu über­sehen – Bestä­ti­gungs­fehler, Unauf­merk­sam­keits­blind­heit und der Dun­ning-Kruger-Effekt lassen grüßen –, bemerkt die Gegen­seite oft auch eher die Fehler in unserer eigenen Argu­men­ta­tion bzw. in den Aus­füh­rungen unserer Gleich­ge­sinnten. Dass die Gegen­seite unsere Fehler eher findet, bedeutet natür­lich nicht, dass sie unbe­dingt recht hat, aber sie schaut ein­fach aus einer anderen Per­spek­tive und hat dadurch even­tuell Ein­sicht in unsere toten Winkel. Das erleich­tert es uns, uns selbst zu hin­ter­fragen.

Nun haben wir also eine Menge Infor­ma­tionen zu einem bestimmten Thema zusam­men­ge­kratzt. Was machen wir damit?

Schritt 3: Zuhören und Ver­stehen

Bevor wir mit Infor­ma­tionen irgend­etwas anstellen können, müssen wir sie natür­lich auf­nehmen. – Klingt nahe­lie­gend und ein­fach, ist es aber nicht. Denn das Rezi­pieren – also Lesen, Zuhören, Zusehen etc. – ist eine Kunst für sich, die wir nicht von Natur aus beherr­schen und somit erst lernen müssen.

Um zu illus­trieren, was ich damit meine, erzähle ich Dir einen kleinen Witz:

Ein Phi­lo­soph, ein Phy­siker und ein Mathe­ma­tiker sitzen im Zug und schauen aus dem Fenster.

Sagt der Phi­lo­soph: „Da ist ein Schaf.“

Sagt der Phy­siker: „Da ist ein weißes Schaf.“

Sagt der Mathe­ma­tiker: „Da ist ein Schaf, das auf min­des­tens einer Seite weiß ist.“

Wenn wir diese drei Aus­sagen ver­glei­chen, beob­achten wir eine Stei­ge­rung der Prä­zi­sion: Wäh­rend der Phi­lo­soph das Schaf nur sehr all­ge­mein und ober­fläch­lich rezi­piert und der Phy­siker etwas mehr ins Detail geht, trennt der Mathe­ma­tiker sehr exakt zwi­schen dem, was er weiß und was er nicht weiß. Somit ist seine Aus­sage logisch-ana­ly­tisch betrachtet am kor­rek­testen:

  • Der Phi­lo­soph nimmt nur eine grobe Ein­ord­nung vor und meint, mit der Zuord­nung des Tieres zu einer Spe­zies sei schon alles geklärt.
  • Der Phy­siker doku­men­tiert schon prä­ziser, was er sieht, und berück­sich­tigt, dass es unter­schied­liche Schafe gibt.
  • Nur der Mathe­ma­tiker sieht das Schaf als das Indi­vi­duum, das es ist, und unter­stellt ihm keine Eigen­schaften bloß auf­grund von seiner Spe­zies oder der Zuge­hö­rig­keit zu einer Gruppe inner­halb dieser Spe­zies. Er ist sich näm­lich dessen bewusst, dass er höchs­tens nur auf­grund von Erfah­rungs­werten ver­muten kann, dass das Schaf auch auf der anderen Seite weiß ist. Aber er kann es nicht wissen, bis er sich das Schaf auch von der anderen Seite anguckt.

Über­tragen auf die kom­ple­xeren Themen des Lebens, beob­achten wir, dass die meisten Men­schen eher wie der Phi­lo­soph wahr­nehmen, höchs­tens wie der Phy­siker. Den Zugang des Mathe­ma­ti­kers sehen wir meis­tens nur, wenn füh­rende Experten einer kleinen Nische über ihren Fach­be­reich reden. Die logisch-ana­ly­ti­sche Wahr­neh­mungs­weise des Mathe­ma­ti­kers ist nun mal ein sehr auf­wen­diger Pro­zess, der durchaus auch seine Zeit braucht – Zeit, die Mutter Natur in der Regel nicht vor­ge­sehen hat: Wenn unsere Vor­fahren einen Säbel­zahn­tiger gesehen haben, mussten sie sofort reagieren und nicht erst ana­ly­sieren, ob kon­kret dieser Säbel­zahn­tiger nicht aus irgend­wel­chen Gründen ein Vege­ta­rier sein könnte. Schub­la­den­denken ist nun mal über­le­bens­not­wendig. Des­wegen haben wir es.

Aber es behin­dert uns auch, wenn wir es in Berei­chen ein­setzen, die nichts mit dem Über­leben zu tun haben. Dieser Fall wurde von Mutter Natur offenbar nicht vor­ge­sehen, was für uns wie­derum bedeutet, dass wir, sofern es nicht um unser unmit­tel­bares Über­leben geht, uns die Zeit nehmen sollten, über wich­tige Dinge gründ­lich nach­zu­denken. Und zum Nach­denken brau­chen wir eben Infor­ma­tionen, und diese Infor­ma­tionen müssen wir bewusst rezi­pieren.

Das bedeutet, dass wir uns von der Infor­ma­ti­ons­quelle nicht ein­fach berie­seln lassen und sie sofort irgendwo ein­ordnen, son­dern exakt darauf achten, was gesagt wird und was nicht gesagt wird. Hier ein Bei­spiel für einen typi­schen Fehler dies­be­züg­lich:

Im Februar 2023 bin ich wegen der Frie­dens­demo von Sahra Wagen­knecht und Alice Schwarzer mit einem Abon­nenten in den öffent­li­chen Kom­men­taren in eine Mei­nungs­ver­schie­den­heit geraten. Weil ich seinen Ton als pampig und her­ab­las­send emp­fand, wollte ich mich nicht auf eine län­gere Dis­kus­sion haar­kleiner Details ein­lassen – pam­pigen Ton­fall werte ich in der Regel als Des­in­ter­esse an einer sach­li­chen Dis­kus­sion. Des­wegen begann ich eine meiner Ant­worten mit den fol­genden Worten:

„Ich glaube, du gehst von einem etwas sehr ein­fa­chen Welt­bild aus. Bitte glaube nicht alles, was dir erzählt wird, son­dern recher­chiere nach, wie all die Nach­richten zustan­de­kommen, welche Quellen ver­wendet werden, welche Quellen nicht ver­wendet werden, welche Inter­essen dahin­ter­ste­cken.“

Die wenig begeis­terte Reak­tion meines Abon­nenten begann so:

„Ach so, klar, wenn man keine Argu­mente mehr hat, nennt man seinen Gegen­über ein­fach indi­rekt dumm und unge­bildet. Ist richtig XD
Denkst ich wäre NICHT im Bilde was gerade pas­siert?“

Was sehen wir also? – Wenn wir nüch­tern schauen, was ich gesagt habe, dann stellen wir fest, dass ich – übri­gens sehr bewusst – meine Kritik als sub­jek­tiven Ein­druck for­mu­liert habe. Ich habe geschrieben, dass ich glaube, dass er von einem etwas sehr ein­fa­chen Welt­bild aus­geht. Ich habe nicht geschrieben, dass er es tat­säch­lich tut. Ich berück­sich­tige also die Mög­lich­keit, dass ich mich irren könnte. Auch sprach ich von „einem etwas sehr ein­fa­chen Welt­bild“, nicht Dumm­heit und man­gelnder Bil­dung. Ich gebe aber zu, dass ich durch meine anschlie­ßende Kurz­zu­sam­men­fas­sung von dem, wie kri­ti­sches Denken funk­tio­niert, meinem Gegen­über unter­stelle, er wüsste es nicht, sonst würde ich es ihm ja nicht zusam­men­fassen. Ich habe aller­dings ver­sucht, das Ganze wenigs­tens in eine höf­liche Form zu bringen, indem ich es als Bitte for­mu­liert habe, sodass mein Gegen­über sich recht ein­fach hätte gesichts­wah­rend aus der Debatte her­aus­ma­nö­vrieren können, zum Bei­spiel mit den Worten: „Genau so mache ich es schon.“ Oder durch das Bekennen zu einer anderen Form des Erkennt­nis­ge­winns als dem logisch-ana­ly­tisch-kri­ti­schen Ansatz, den ich beschrieben habe. Viel­leicht kann mein Abon­nent ja tat­säch­lich hell­sehen oder sowas.

Doch statt die ihm ange­bo­tenen Hin­ter­tür­chen zu nutzen und meine Ver­mu­tung und meine Unter­stel­lung zu ent­kräften, unter­stellt er mir wie­derum, ich hätte keine Argu­mente. Dazu hat er aber keine Grund­lage, zumin­dest führt er sie nicht aus, for­mu­liert die Unter­stel­lung aber auch nicht als die Ver­mu­tung, die sie ist, son­dern als Tat­sache, die er nicht kennen kann, weil er keinen Ein­blick in meinen Kopf hat. Auch ist seine Gleich­set­zung von „einem etwas sehr ein­fa­chen Welt­bild“ mit Dumm­heit und man­gelnder Bil­dung nur seine eigene Inter­pre­ta­tion, also eben­falls eine Ver­mu­tung, die er aber wieder als Tat­sache hin­stellt. Offenbar gehören „ein etwas sehr ein­fa­ches Welt­bild“ und Dumm­heit und man­gelnde Bil­dung in seinem Rea­li­täts­tunnel in die­selbe Schub­lade, und des­wegen schließt er von einem ein­fach aufs andere, ohne zu klären, ob ich diese Begriffe auch in der­selben Schub­lade ver­orte. (Das tue ich übri­gens nicht. Wir erin­nern uns an den ersten Teil dieser Reihe: Hannah Are­ndts Freunde, die sich 1933 haben gleich­schalten lassen, waren Aka­de­miker, also durchaus intel­li­gente und gebil­dete Leute, die der natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Hass­pro­pa­ganda gefolgt sind.) Anschlie­ßend scheint mein Abon­nent durchaus meine Unter­stel­lung der man­gel­haften Kenntnis der Prin­zi­pien des kri­ti­schen Den­kens zu ver­stehen, geht aber nicht auf diese Prin­zi­pien ein, son­dern beharrt in seiner rhe­to­ri­schen Frage im Grunde ein­fach darauf, dass er sich in der Situa­tion halt eben aus­kennt und es bleibt unklar, was ihm diese Selbst­si­cher­heit gibt. Er ent­kräftet meine Unter­stel­lung also nicht und ich kann nur dar­über spe­ku­lieren, dass er es mög­li­cher­weise auch nicht kann, weil er die Methoden des kri­ti­schen Den­kens eben nicht anwendet. Falls meine Spe­ku­la­tion kor­rekt sein sollte, könnte das seinen pam­pigen Ton und seine Selbst­si­cher­heit erklären: der Dun­ning-Kruger-Effekt und all die anderen Denk­fehler sowie das Gefühl einer Bedro­hung des eigenen Rea­li­täts­tun­nels und Egos.

Wobei es aber natür­lich auch noch die Mög­lich­keit gibt, dass mein Abon­nent in Bezug auf soziales Ver­halten eine defi­zi­täre Erzie­hung hatte und tat­säch­lich nicht weiß, dass seine Iro­ni­sie­rungen, Abwer­tungen anderer Mei­nungen und die Prä­sen­ta­tion der eigenen Mei­nung als einzig kor­rekt her­ab­las­send sind. Das ist auch gar nicht mal so unwahr­schein­lich – zumin­dest habe ich rein sub­jektiv den Ein­druck, dass solche jungen Men­schen, die sich unge­hemmt aus­drü­cken, wie ihnen der Schnabel gewachsen ist, und sich keine Gedanken über ihre Wort­wahl machen, dann aber belei­digt sind, wenn sie auch nur einen Bruch­teil von dem abbe­kommen, was sie auf die Welt los­lassen, immer mehr werden. So wird gerade bei jungen Men­schen eine Abnahme von Empa­thie beob­achtet, die oft auf zu häu­figen Social-Media-Konsum zurück­ge­führt wird. Aber das ist ein anderes Thema.

So in etwa ent­steht fast jede Fehl­kom­mu­ni­ka­tion: unter­schied­liche Welt­bilder, unter­schied­li­ches Ver­ständnis von Begriffen und eine Ver­tei­di­gung des eigenen Egos um jeden Preis. Und das pas­siert nicht nur bei der zwi­schen­mensch­li­chen Kom­mu­ni­ka­tion, son­dern auch bei der Auf­nahme von Infor­ma­tionen:

Zwei unter­schied­liche Men­schen können zum Bei­spiel den­selben Artikel lesen und dabei völlig unter­schied­liche Infor­ma­tionen daraus ziehen.

Du erin­nerst Dich sicher­lich an unseren guten, alten Freund namens Alex­ander Prinz a.k.a. Der Dunkle Para­bel­ritter. In seinem Video „Wir müssen über Frieden reden!“ ist er fel­sen­fest über­zeugt, Russ­land wolle die Exis­tenz des ukrai­ni­schen Volkes ver­nichten, und stellt es als unum­stöß­liche, bewie­sene Tat­sache dar, als hätte er unge­hin­derten Ein­blick in die Gedan­ken­welt eines ganzen Volkes oder zumin­dest seiner Regie­rung. Abge­sehen davon, dass er von seiner Posi­tion aus nur inter­pre­tieren kann, seine Inter­pre­ta­tionen aber als Fakten aus­gibt, stützt er diese Inter­pre­ta­tionen auf Artikel, die er nicht nur nicht hin­ter­fragt, son­dern auch logisch-ana­ly­tisch offenbar nicht ver­steht:

Bei Minute 16:14 unter­mauert er seine Behaup­tung über die Absichten Russ­lands mit fol­gendem Satz: „Leute, sie ver­schleppen ukrai­ni­sche Kinder und ste­cken sie in rus­si­sche Pfle­ge­fa­mi­lien!“ Als Nach­weis dafür blendet er den RND-Artikel „Russ­land soll Tau­sende Kinder aus der Ukraine gewaltsam ver­schleppt haben“ ein.

Wer den Unter­schied zwi­schen einer Fak­ten­be­haup­tung im Indi­kativ und einer unbe­stä­tigten Behaup­tung mit der Kon­struk­tion „soll etwas getan haben“ kennt – was man Alex­ander Prinz, der Deutsch auf Lehramt stu­diert hat, eigent­lich zutrauen sollte –, bemerkt schon bei der Über­schrift des Arti­kels Alex­an­ders Fehler: Die „Ver­schlep­pung“ von Kin­dern ist keine gesi­cherte Tat­sache, son­dern ein Vor­wurf. Und wenn wir den Artikel auf­rufen und lesen, dann erfahren wir, dass es sich dabei um eine Zusam­men­fas­sung eines Berichts des Huma­ni­ta­rian Rese­arch Lab der US-Eli­te­uni­ver­sität Yale han­delt. Soll heißen: Da waren Leute an der Uni in Yale, sie haben Unter­su­chungen ange­stellt und erheben Vor­würfe. Ganz unten im Artikel darf auch die rus­si­sche Seite kurz zur Sprache kommen: Die Kinder hätten sich unter Beschuss befunden und eva­ku­iert werden müssen. Im Artikel haben wir also eine Zusam­men­fas­sung der Vor­würfe und ganz kurz die Ableh­nung der Vor­würfe durch die beschul­digte Seite. Wir haben aber keine Unter­su­chung, welche der beiden Seiten nun recht hat. Den Artikel als Beweis für die „Ver­schlep­pung“ von Kin­dern anzu­führen, ist somit ein­fach nicht kor­rekt. Wenn ich an meine Stu­di­en­zeit zurück­denke, hätten meine Dozenten mir die Ohren lang­ge­zogen, wenn ich so etwas ver­zapft hätte.

Prinz’ ober­fläch­liche Her­an­ge­hens­weise an den Artikel ist also die des Phi­lo­so­phen aus unserem Witz. Ein genauerer Blick in den Artikel und darauf, was tat­säch­lich wört­lich gesagt wird, ist die Her­an­ge­hens­weise unseres Phy­si­kers. Und die Her­an­ge­hens­weise des Mathe­ma­ti­kers wäre es, den Bericht selbst auf­zu­rufen und sich aller­we­nigs­tens die Metho­do­logie anzu­schauen. Sie befindet sich auf Seite 7 und 22–23, und darin erfahren wir, dass die Unter­su­chung anhand von Open-Source-Quellen erfolgt ist, das heißt, anhand von Social-Media-Bei­trägen, offi­zi­ellen Regie­rungs­pu­bli­ka­tionen, Nach­rich­ten­bei­trägen, Fotos, Satel­li­ten­bil­dern, Zeu­gen­be­richten. Was es nicht gab, sind eigene Zeu­gen­be­fra­gungen und For­schung vor Ort. Die Unter­su­chung basiert also auf frei zugäng­li­chen Online­quellen, und viel­leicht habe ich ja Tomaten auf den Augen, aber ich konnte keine Stelle finden, wo erklärt wurde, nach wel­chen Kri­te­rien die Quellen aus­ge­wählt und wie die Authen­ti­zität und Ver­läss­lich­keit von den pri­vaten Social-Media-Bei­trägen über­prüft wurden (die Authen­ti­zität von Bil­dern wurde anhand von Meta­daten über­prüft). Auch wird – soweit ich das beob­achten kann – nicht darauf ein­ge­gangen, dass die Social-Media-Platt­formen selbst viel­leicht nur eine pro-ukrai­nisch zurecht­zen­sierte Aus­wahl von Bei­trägen zulassen, weil viele Platt­formen durchaus eine klare Posi­tion zum Ukrai­ne­krieg bezogen und ihre Com­mu­nity-Richt­li­nien danach aus­ge­richtet haben. Außerdem wurden die ukrai­nisch- und rus­sisch­spra­chigen Quellen mit Google oder DeepL auto­ma­tisch über­setzt und anschlie­ßend von einem „Sprach­ex­perten“ über­prüft. Wer der „Sprach­ex­perte“ ist und was ihn qua­li­fi­ziert, bleibt schlei­er­haft, und außerdem erstaunt, dass die For­scher selbst offenbar keine Sprach­kennt­nisse haben: Wer den Aus­druck „lost in trans­la­tion“ kennt, weiß, wie viel bei einer Über­set­zung ver­loren geht oder ander­weitig schief laufen kann, und dass auch die Kenntnis spe­zi­fi­scher kul­tu­reller Kon­texte wichtig ist, über die jemand, der nicht einmal der Sprache mächtig ist, meis­tens nicht ver­fügt. Zudem geben die For­scher offen zu:

„Many fami­lies in Ukraine do not want to publicly share their expe­ri­ences because they fear they will be seen as col­la­bo­ra­tors with Russia. Those living under Russia’s occu­pa­tion may like­wise not report mistre­at­ment due to fear of repri­sals from Russia’s forces.“

„Viele Fami­lien in der Ukraine wollen ihre Erfah­rungen nicht öffent­lich teilen, weil sie befürchten, als Kol­la­bo­ra­teure von Russ­land gesehen zu werden. Jene, die unter rus­si­scher Besat­zung leben, könnten ebenso keine Miss­hand­lungen melden aus Angst vor Ver­gel­tungs­maß­nahmen durch rus­si­sche Truppen.“

Auf wel­chen Quellen die Fak­ten­be­haup­tung im ers­teren Satz und die Ver­mu­tung im letz­teren beruhen, ist unklar: Die Quelle für die Fak­ten­be­haup­tung wird aus Sicher­heits­gründen bewusst vor­ent­halten und für die Ver­mu­tung fehlt die Quelle oder Begrün­dung völlig. Durchaus klar ist aber das kom­mu­ni­zierte Bewusst­sein dar­über, dass die Quel­len­lage in Bezug auf authen­ti­sche Berichte aus erster Hand eher mau ist. (Und mal nebenbei: Sollten wir nicht auf­hor­chen, wenn Fami­lien laut der anony­mi­sierten Quelle sich vor Repres­sa­lien durch ihren eigenen Staat fürchten, weil ihre Kinder vom Feind angeb­lich „ver­schleppt“ wurden?)

Nicht zuletzt erfahren wir in Bezug auf die Metho­do­logie auch, dass „beson­dere Auf­merk­sam­keit“ Vor­würfen von Miss­hand­lung, Behin­de­rung der Kom­mu­ni­ka­tion, Ver­zö­ge­rungen und der dau­er­haften Erschwernis der Rück­kehr sowie spe­zi­fi­scher Pro­bleme in Bezug auf die Erlan­gung von Zustim­mung galt. Es wurde also mehr oder weniger gezielt auf Nega­tives geachtet, was die Gefahr der Vor­ein­ge­nom­men­heit und des Bestä­ti­gungs­feh­lers in sich birgt, die bei der schwie­rigen Quel­len­lage umso größer wird. Und das ist umso bedenk­li­cher ange­sichts dessen, dass das Huma­ni­ta­rian Rese­arch Lab von der US-Regie­rung finan­ziert und mit Satel­li­ten­bil­dern unter­stützt wird, weil die USA als Staat eine pro-ukrai­ni­sche und anti-rus­si­sche Posi­tion im Ukraine-Krieg ein­nehmen. Mit anderen Worten: Ein Teil der Finan­zie­rung dieser Studie kommt von min­des­tens einer Partei, die an einem ganz bestimmten, also pro-ukrai­ni­schen und anti-rus­si­schen, Ergebnis inter­es­siert und in der Ver­gan­gen­heit durch Mani­pu­la­tionen wie der Brut­kasten-Affäre und den angeb­li­chen Mas­sen­ver­nich­tungs­waffen im Irak auf­ge­fallen ist, um ihre Außen­po­litik zu legi­ti­mieren. Aber zum Thema Finan­zie­rung kommen wir später noch.

So viel zu meiner Kritik an dem Bericht. Dabei ist das alles nur die Spitze des Eis­bergs dessen, was man daran zer­legen könnte. Ich sage nicht, dass diese „Ver­schlep­pungen“ auf keinen Fall statt­finden und dabei keine huma­ni­tären Eva­ku­ie­rungen sind. Mög­lich ist es. Aber zum gege­benen Zeit­punkt ist das nur ein Vor­wurf, der meines Wis­sens nicht unab­hängig und unvor­ein­ge­nommen über­prüft wurde. Alex­ander Prinz jedoch über­nimmt dessen Zusam­men­fas­sung beim RND ganz unkri­tisch als Wahr­heit in letzter Instanz.

Wie Du also siehst, ent­stehen durch unter­schied­li­ches Rezi­pieren sehr unter­schied­liche Welt­bilder und unter­schied­liche Rea­li­täts­tunnel. Wir glauben am ehesten das, woran wir eh schon glauben, und miss­trauen dem, was wir eh schon ver­dächtig finden. Somit wird unser Wahr­nehmen oft von unseren bereits bestehenden Denk­mus­tern beein­flusst, ist also im wahrsten Sinne des Wortes ein quasi-reli­giöser Glaube: Wir glauben etwas, weil wir daran glauben. Und aus­bre­chen können wir aus quasi-reli­giösem Glauben nur durch eine quasi-wis­sen­schaft­liche, also ana­ly­ti­sche Her­an­ge­hens­weise.

Dabei geht es nicht nur um die Wahr­heits­suche, son­dern auch um die Fähig­keit, später andere zu über­zeugen, sowie um die Ver­mei­dung von Schaden durch Aktio­nismus bzw. unüber­legte Hand­lungen. Denn wenn wir dis­ku­tieren, dann betreiben wir im Grunde Mar­ke­ting, bloß ver­su­chen wir unseren Gegen­über nicht von einem Pro­dukt, son­dern von einer Idee zu über­zeugen. Und in meiner Wei­ter­bil­dung zur Online-Mar­ke­ting-Mana­gerin habe ich gelernt:

Um jemanden zu errei­chen und zu über­zeugen, muss man sich auf dessen Rea­li­täts­tunnel ein­lassen bzw. man muss ihn ganz genau kennen.

Man muss wie sein Gegen­über denken können – denn nur so können wir Argu­mente finden, die auf diese kon­krete Person wirk­lich über­zeu­gend wirken. Wobei man sich natür­lich auch damit abfinden muss, dass man nur einen begrenzten Kreis wird über­zeugen können: Ebenso wie man einem über­zeugten Vege­ta­rier auch mit dem besten Mar­ke­ting kein Fleisch andrehen können wird, wird es immer Leute geben, die Deine Argu­mente ein­fach aus Prinzip gar nicht erst in Erwä­gung ziehen wollen. Es gibt Diplo­matie- und Rhe­to­rik­ge­nies, die auch eine solch harte Schale durch­bre­chen können, doch die meisten von uns Nor­mal­sterb­li­chen sind, fürchte ich, zu doof dazu. Des­wegen ist es durchaus in Ord­nung, man­chen Dis­kus­sionen ein­fach aus dem Weg zu gehen. Dabei kann man aber natür­lich immer noch seinem Gegen­über zuhören und sogar fra­gend nach­haken, um seine Welt­sicht besser ken­nen­zu­lernen, doch es macht wahr­schein­lich am meisten Sinn, ihn nicht über­zeugen zu wollen.

Was den Schaden durch Aktio­nismus angeht, so meine ich zum Bei­spiel solche Fälle:

Du gehst zur Schule und irgend­eine Tussi in Deiner Klasse ver­breitet fiese Gerüchte über Dich. Wenn die anderen ihre Behaup­tungen als Fakten akzep­tieren, kann es pas­sieren, dass sie sich von Dir abwenden oder Dich sogar mobben. Sie werden also zu Tätern und merken es nicht einmal. Womög­lich glauben sie sogar, sie tun etwas Gutes, weil sie ja Dich, angeb­lich das ulti­ma­tive Böse, bekämpfen.

Und nun stell Dir vor, es geht nicht ein­fach „nur“ um eine Schul­klasse, son­dern um einen Zei­tungs­ar­tikel, in dem berichtet wird, dass Person A Person B einer schlimmen Sache beschul­digt. Stell Dir außerdem vor, die meisten Leser dieser Zei­tung gehen mit Infor­ma­tionen genauso schlampig um wie Alex­ander Prinz. Und dann schlägt die Cancel Cul­ture zu und es ent­steht eine mediale Hexen­jagd auf Person B inklu­sive Belei­di­gungen, Mord­dro­hungen, Hass­ar­tikel etc. Wenn Person B keine über­mensch­lich stäh­lernen Nerven hat, wird sie aller­min­des­tens einen emo­tio­nalen Schaden erleiden, mög­li­cher­weise wird sie oder ihr Besitz auch phy­sisch ange­griffen und schlimms­ten­falls treibt der Shit­s­torm Person B in den Suizid. – Und dabei bleibt die ganze Zeit unklar, ob an den Vor­würfen gegen Person B etwas dran ist oder nicht: Womög­lich ist sie unschuldig.

Lies also genau und hin­ter­frage: Nur, weil irgendwer irgendwo behauptet, jemand sei ein Ver­ge­wal­tiger, kor­rupt, rechts­extrem oder was auch immer, heißt das noch lange nicht, dass er es tat­säch­lich ist.

Über­prüfe stets die Grund­lage sol­cher Vor­würfe, über­prüfe den Kon­text mög­li­cher Zitate, über­prüfe ver­schie­dene Inter­essen … Und bis Du wirk­lich alles über­prüft hast, hat die Unschulds­ver­mu­tung zu gelten. Sonst bist Du ein Täter, selbst wenn Du aus noch so noblen Gefühlen heraus han­delst.

Kor­rektes kri­ti­sches Rezi­pieren von Infor­ma­tionen ist also eine unge­heuer wich­tige Kom­pe­tenz. Zwar sollte sie richtig gelernt und ein­geübt werden, aber für den Anfang hier ein paar Grund­lagen:

  • Fokus­siere Dich auf den Inhalt, nicht auf Äußer­lich­keiten wie for­male Kom­pe­tenz­nach­weise. Denn man muss zum Bei­spiel kein Stu­dium oder Ähn­li­ches absol­viert haben, um auf einem Gebiet über Exper­tise zu ver­fügen. Ich meine, schau mich an: Ich bin weder Deutsch-Mut­ter­sprach­lerin noch habe ich Ger­ma­nistik stu­diert. Trotzdem bin ich Lek­torin für deutsch­spra­chige Texte und ver­öf­fent­liche Videos, in denen ich über­wie­gend Deutsch-Mut­ter­sprach­lern unter anderem ihre eigene Sprache erkläre. Was macht mich kom­pe­tent? Ich lebe in Deutsch­land seit über einem Vier­tel­jahr­hun­dert, bin gene­rell sehr sprach­in­ter­es­siert und habe mich dem­entspre­chend auch mit der deut­schen Sprache sehr intensiv aus­ein­an­der­ge­setzt, nicht zuletzt durch das Schreiben eigener Geschichten seit ca. 20 Jahren. Ich kann keine Zeug­nisse vor­legen, die mir meinen Exper­ten­status nach­weisen, aber schau Dir meinen Kanal an, über­prüfe, ob das, was ich ver­mittle, kor­rekt ist, und Du wirst sehen, dass ich was drauf habe. Genauso soll­test Du mit jeder Infor­ma­ti­ons­quelle ver­fahren, egal, wie unab­hängig und seriös sie selbst behauptet zu sein oder für wie min­der­wertig sie von anderen gehalten wird.
  • Betrachte Deinen Gegen­über als Indi­vi­duum mit einer indi­vi­du­ellen Denk­weise, egal, wie sehr Dich seine Aus­sagen an die Aus­sagen anderer Leute erin­nern: Denn das ist übelstes Schub­la­den­denken, das zu manchmal sogar belei­di­genden Unter­stel­lungen und zu Fehl­kom­mu­ni­ka­tion führt. Wenn Erna also zum Bei­spiel A sagt und Klaus eben­falls A gesagt hat, heißt das nicht, dass Erna sich Klaus‘ Mei­nung anschließt bzw. sie unkri­tisch nach­plap­pert. Es kann auch sein, dass sie nach ein­ge­hender selbst­stän­diger Recherche zu den­selben Schlüssen gekommen ist. Oder viel­leicht hat sie tat­säch­lich durch Klaus von A erfahren, diesen Sach­ver­halt aber selbst­ständig über­prüft und fest­ge­stellt, dass Klaus in diesem Punkt recht hat. Dar­über hinaus bedeutet die Einig­keit von Erna und Klaus beim Punkt A nicht, dass Erna der Mei­nung B ist, nur weil Klaus zusätz­lich zum A auch noch B sagt. Sofern Erna sich zu B nicht äußert, wissen wir nicht, was sie dar­über denkt. Wenn Du anderen Men­schen durch sol­ches Schub­la­den­denken Aus­sagen und Mei­nungen unter­stellst bzw. ihnen Dinge in den Mund legst, die sie nicht gesagt haben, dann hörst Du nicht zu und bist als Dis­kus­si­ons­partner maximal inkom­pe­tent.
  • Unter­scheide zwi­schen Fakten, Zitaten, Inter­pre­ta­tionen und Mei­nungen: Sind die behaup­teten Fakten wirk­lich Fakten? Worauf stützt sich deren Behaup­tung? Oder sind es nicht einmal Fak­ten­be­haup­tungen vom Autor des Arti­kels, son­dern Zitate? Denn wenn in einem Text steht, dass eine bestimmte Person etwas behauptet, dann ist es zunächst nur eine Behaup­tung durch diese Person, die natür­lich auch zu hin­ter­fragen ist. Oft teilt der Autor eines Textes aber auch seine eigene Mei­nung zum behan­delten Thema mit. Und dabei gilt auch hier: Nur, weil der Autor zu bestimmten Schlüssen kommt, müssen diese Schlüsse nicht unbe­dingt kor­rekt sein. Sie sind also zu hin­ter­fragen. Dazu musst Du genau nach­ver­folgen, wie der Autor zu seiner Mei­nung kommt: Stützt er sich auf unbe­wie­sene Behaup­tungen? Wie ist die Quel­len­lage? Über­nimmt er unkri­tisch irgend­wessen Per­spek­tive oder berück­sich­tigt er ver­schie­dene Sicht­weisen? Ist sein Gedan­ken­gang logisch nach­voll­ziehbar? Wo hören seine Fakten auf und wo fangen seine sub­jek­tiven Inter­pre­ta­tionen an? Ver­steht er seine Quellen über­haupt kognitiv richtig, also gibt er ihren Inhalt kor­rekt wieder? Kennt er die kor­rekte Bedeu­tung der Wörter, die er benutzt, oder ver­tauscht er Begriffe, die nicht ver­tauscht gehören? Unter­scheidet er selbst zwi­schen Fakten, Zitaten, Inter­pre­ta­tionen und Mei­nungen? Und so weiter … Dabei ist es wichtig, dass Du das Ganze nicht ein­fach aus dem Bauch heraus ein­schätzt, son­dern Deine Ein­drücke vom Text mit kon­kreten Text­stellen unter­mauern kannst und dabei auch keine Text­stellen aus­klam­merst, die Deinen Ein­drü­cken wider­spre­chen. Und achte auch auf die exakte, buch­stäb­liche Bedeu­tung der Wörter und For­mu­lie­rungen: Wenn da etwas steht wie „sagte Person X“, dann ist das zum Bei­spiel ziem­lich ein­deutig ein Zitat und keine Fak­ten­be­haup­tung oder Mei­nung des Autors.
  • Sei bei allem Miss­trauen aber trotzdem grund­sätz­lich offen für neue Per­spek­tiven: Anstatt sofort Ein­wände oder Kri­tik­punkte ein­zu­bringen, akzep­tiere die Mög­lich­keit, dass der Spre­cher oder Autor mög­li­cher­weise recht haben könnte. Kon­zen­triere dich vor­erst auf die innere Logik der Argu­men­ta­tion und über­prüfe die Fakten, bevor Du anfängst zu dis­ku­tieren. Aber über Demut haben wir ja schon gespro­chen.
  • Akzep­tiere auch, dass nicht jede Argu­men­ta­tion auf den ersten Blick Sinn ergibt: Wenn du auf Aus­sagen stößt, die dir nicht sofort ein­leuchten, bedeutet das nicht zwangs­läufig, dass sie unsinnig sind. Es kann näm­lich auch sein, dass Du selbst ein­fach zu doof bist. Wieder Stich­wort Demut also. Gerade bei wis­sen­schaft­li­chen Aus­sagen gibt es oft das Pro­blem, dass Leute, die nicht vom Fach sind, sie rein kognitiv nicht oder nicht richtig ver­stehen und es dabei nicht einmal merken. Nimm Dir also Zeit, um tiefer in die Materie ein­zu­tau­chen und die kom­plexen Zusam­men­hänge zu ver­stehen.
  • Ver­meide außerdem Unter­stel­lungen, Dein Gegen­über würde sich nicht oder nur aus dubiosen Quellen infor­mieren, dumm oder unmo­ra­lisch sein oder was auch immer. Selbst wenn seine Fakten nach einer Über­prü­fung nicht stimmen sollten, heißt das noch lange nicht, dass das Gegen­über lügt oder dumm ist. Die Wirk­lich­keit kann näm­lich kom­plexer sein, als Du Dir vor­stellst, und auch wenn Dein Gegen­über unrecht hat, könnte an seinen Aus­sagen trotzdem etwas dran sein. So wurde Google in seiner Früh­phase zum Bei­spiel dafür kri­ti­siert, dass die Such­ma­schine nichts finden würde. Über­prü­fungen haben jedoch ergeben, dass der Algo­rithmus ein­wand­frei funk­tio­niert. Statt die Kritik aber ein­fach als dumm abzutun, schauten die Leute von Google genau hin und konnten das Pro­blem schließ­lich iden­ti­fi­zieren: Die­je­nigen, die bei der Suche Pro­bleme hatten, machten Tipp­fehler. Der Algi­rithmus funk­tio­nierte also, aber er berück­sich­tigte nicht die feh­ler­an­fäl­lige mensch­liche Natur seiner Nutzer. Mit dieser Erkenntnis konnte das System ver­bes­sert werden und seitdem erkennt Google Tipp­fehler.

Also zusam­men­ge­fasst:

Ein kor­rektes kri­ti­sches Rezi­pieren von Infor­ma­tionen erfor­dert Offen­heit, Dif­fe­ren­zie­rung und die Bereit­schaft, unter­schied­liche Per­spek­tiven zu ver­stehen, bevor eigene Schluss­fol­ge­rungen gezogen werden.

Und um es wirk­lich prak­tisch zu üben, emp­fehle ich das Schreiben von Zusam­men­fas­sungen: also stumpfes, aber mög­lichst kor­rektes und sach­li­ches Wie­der­geben der Aus­sagen anderer unter gleich­zei­tiger Aus­klam­me­rung des eigenen Rea­li­täts­tun­nels:

  • Kon­zen­triere Dich dafür aus­schließ­lich auf die Worte Deines Gegen­übers: Was sind seine zen­tralen Thesen? Wie unter­mauert er sie? Wie ist seine Logik­kette auf­ge­baut? Was sind seine Schlüsse?
  • Wenn Du beim Ver­folgen der Logik­kette Schwie­rig­keiten hast oder etwas nicht ver­stehst, dann lies den Text noch einmal auf­merksam und ana­ly­siere ins­be­son­dere die betref­fende Stelle Satz für Satz. Wenn Du etwas trotz aller Bemü­hungen nicht ver­stehst oder Dir nicht sicher bist, dann sei ehr­lich und schreibe das so hin. Oder hast Du rich­tige Denk­fehler oder metho­do­lo­gi­sche Mängel ent­deckt? Auch sie soll­test Du anhand von kon­kreten Text­stellen belegen können.
  • Ver­suche auch, das Welt­bild Deines Gegen­übers zu rekon­stru­ieren, und zwar aus­schließ­lich anhand des Textes, also mit kon­kreten Zitaten. Was sagt das Gegen­über über sich selbst und über seine Werte? Welche Gefühle äußert es dabei? Was ist ihm beson­ders wichtig? Gibt es im Text kon­krete Anhalts­punkte, warum es denkt und fühlt, wie es eben denkt und fühlt? Ver­giss dabei aber nicht, dass Du Dich hier auf das Ter­ri­to­rium von sub­jek­tiven Inter­pre­ta­tionen begibst, und ver­wechsle diese sub­jek­tiven Inter­pre­ta­tionen nicht mit Fakten. Kenn­zeichne sie als solche.

So viel zur Theorie. In der Praxis wirst Du, fürchte ich, einen Mentor brau­chen, der Deine Zusam­men­fas­sungen kri­tisch gegen­liest. Denn Du selbst wirst, gefangen in Deinem süßen, kleinen Rea­li­täts­tunnel voller Betriebs­blind­heit, Deine Fehler wahr­schein­lich gar nicht bemerken. Des­wegen sollte das Zusam­men­fassen idea­ler­weise schon in der Schule und/oder an der Uni geübt werden. Wenn Du nicht den Luxus hast, das Zusam­men­fassen mit einem Mentor geübt zu haben, wäre ein Übungs­partner viel­leicht eine Alter­na­tive: Schreibt eure Mei­nungen zu ver­schie­denen Themen aus­führ­lich nieder, tauscht eure Texte und fasst die Mei­nung des jeweils anderen zusammen. Dann tauscht ihr wieder. Ihr mögt zwar beide keine Zusam­men­fas­sungs­experten sein, aber der Autor des Textes, den Du zusam­men­fasst, wird wohl ein­schätzen können, ob Du ihn richtig ver­standen hast oder nicht.

Schritt 4: Über­prüfen der äußeren Merk­male

Nun haben wir eine Menge Infor­ma­ti­ons­quellen und haben inhalt­lich ver­standen, was da drin­steht und was nicht. Der nächste Schritt ist die kri­ti­sche Ana­lyse, die soge­nannte Quel­len­kritik.

Hierbei unter­scheiden wir im All­ge­meinen zwi­schen zwei Ebenen: der Ana­lyse äußerer und innerer Merk­male.

Und im Grunde kennst Du das Pro­ze­dere aus dem Alltag, bei­spiels­weise vom Umgang mit ver­däch­tigen E‑Mails, wo wir eben­falls kri­ti­sches Denken anwenden, um Betrug zu erkennen: Auch hier schauen wir uns an, wie die ver­däch­tige E‑Mail äußer­lich aus­sieht, ob sie bestimmten Stan­dards ent­spricht, wer der Absender ist etc., und wir prüfen auch die innere Plau­si­bi­lität der E‑Mail.

Bei der Ana­lyse äußerer Merk­male von Infor­ma­ti­ons­quellen schauen wir eben­falls auf ihre phy­si­sche Gestalt: die Art der Her­stel­lung, Mate­ri­al­wahl, ver­wen­dete Sprache und andere cha­rak­te­ris­ti­sche Merk­male. In der Geschichts­wis­sen­schaft ist das essen­ziell, unter anderem um zu prüfen, ob die Quelle über­haupt echt ist oder eine Fäl­schung. Denn Fäl­schungen gab es schon immer in Hülle und Fülle, und auch sie können dem Erkennt­nis­ge­winn dienen, wenn man zum Bei­spiel unter­sucht, wer die jewei­lige Fäl­schung ange­fer­tigt hat und wozu. Dafür muss man aber natür­lich über­haupt erst mal wissen, dass es eben eine Fäl­schung ist. Diese Authen­ti­zi­täts­prü­fung erfor­dert natür­lich spe­zi­fi­sche Fach­kennt­nisse, etwa dar­über, wie eine Urkunde aus dem 13. Jahr­hun­dert aus­zu­sehen hat.

Auch bei all­täg­li­cheren Quellen geht es uns vor­rangig um die all­ge­meine Zuver­läs­sig­keit hin­sicht­lich ihres Infor­ma­ti­ons­ge­halts. Wir berück­sich­tigen dabei Fak­toren wie

die Art der Quelle, das Erstel­lungs­datum, den Erstel­lungsort, den Urheber, die Methode der Erstel­lung, den Adres­saten und die Frage, ob die Quelle unver­än­dert ist oder irgendwie bear­beitet wurde.

Wenn es spe­ziell um die Frage nach der Art der Quelle geht, ist zu unter­scheiden, ob es eine Primär- oder eine Sekun­där­quelle ist. Unter Pri­mär­quellen ver­steht man Zeug­nisse aus erster Hand, bei­spiels­weise Augen­zeu­gen­be­richte, Gerichts­ur­teile, Ver­träge, Pro­to­kolle, Briefe, Akten und so weiter … Sekun­där­quellen hin­gegen sind Berichte aus zweiter Hand, die in der Regel Pri­mär­quellen zitieren. Dazu gehören Geschichts­dar­stel­lungen, Zei­tungs­ar­tikel, Repor­tagen etc. Dabei gelten Pri­mär­quellen auf­grund ihrer zeit­li­chen und räum­li­chen Nähe zum Geschehen als aus­sa­ge­kräf­tiger. Man sollte aller­dings nicht ver­gessen, dass es sich dabei meis­tens um sub­jek­tive Frosch­per­spek­tiven han­delt, und wie wir im ersten Teil am Fritz­chen­bei­spiel gesehen haben, ist das, was ein Zeuge gesehen zu haben glaubt, nicht immer zuver­lässig. Dass es außerdem auch bewusste Mani­pu­la­tionen geben kann, ver­steht sich von selbst. Sekun­där­quellen haben dagegen den Vor­teil von zeit­li­cher Distanz und können durch den Ver­gleich meh­rerer Pri­mär­quellen ein objek­ti­veres Bild lie­fern: Gerade direkt nach einem Ereignis gibt es in der Regel extrem viel Ver­wir­rung, und oft kann man erst, wenn man all die Infor­ma­tionen und Ein­drücke in Ruhe prüft und ordnet, irgend­etwas mit einer eini­ger­maßen mini­malen Sicher­heit behaupten. Die Beto­nung liegt dabei auf „kann“, denn letzt­end­lich kommt es auf die Qua­lität der Sekun­där­quelle an, und die fällt extrem unter­schied­lich aus.

Achte zum Bei­spiel in den Nach­richten mal darauf, von wo aus die Aus­lands­kor­re­spon­denten berichten. Mal ange­nommen, in Hin­ter­tup­fingen in Fan­ta­sie­stan ist etwas Schlimmes pas­siert und in der Tages­schau wird zu einer Aus­lands­kor­re­spon­dentin geschaltet. Diese befindet sich in vielen Fällen aber nicht vor Ort, son­dern zum Bei­spiel in der Haupt­stadt. Nun ist die fan­ta­sie­sta­ni­sche Haupt­stadt aber etwa 400 km von Hin­ter­tup­fingen ent­fernt. Somit kann die Aus­lands­kor­re­spon­dentin höchs­tens Erzäh­lungen, Gerüchte und offi­zi­elle Mel­dungen wie­der­käuen, ist also defi­nitiv eine Sekun­där­quelle (und man fragt sich, warum sie dazu im Zeit­alter des Inter­nets über­haupt im Aus­land hocken muss). Manchmal sieht man aber auch heute noch Reporter direkt vor Ort, die nach Hin­ter­tup­fingen hin­fahren und sich die Situa­tion angu­cken und mit den Leuten dort spre­chen, also viel näher an den Pri­mär­quellen dran sind bzw. zum Teil sogar selbst eine Pri­mär­quelle sind. Passe beim Zuschalten von Kor­re­spon­denten also gut darauf auf, von wo aus sie berichten und auf welche Pri­mär­quellen sie ihre Berichte stützen.

Wenn es um die Frage nach dem Urheber einer Quelle geht, dann inter­es­sieren uns vor allem seine Inter­essen und Ver­trau­ens­wür­dig­keit. Denn kaum jemand ver­breitet Infor­ma­tionen, von denen er weiß, dass sie ihm per­sön­lich mög­li­cher­weise schaden. Meis­tens werden Infor­ma­tionen sogar zu eigenen Gunsten beschö­nigt. Das kennst Du sicher­lich aus Deinem eigenen Umfeld, wenn Men­schen über ihre per­sön­li­chen Kon­flikte erzählen und sich selbst dabei als Unschulds­lämmer dar­stellen. Auch werden eigene Freunde und Ver­bün­dete in der Regel positiv dar­ge­stellt, wäh­rend Leute, mit denen man Mei­nungs­ver­schie­den­heiten hat, eher in schlechtes Licht gerückt werden. Und das gilt nicht nur für zwi­schen­mensch­liche Bezie­hungen, son­dern auch für die Medien und sogar ganze Staaten:

Wenn die Springer-Presse sich in ihren Werten offen und offi­ziell zur NATO bekennt, dann ist es logisch, dass die Bericht­erstat­tung ten­den­ziell NATO-freund­lich aus­fällt. Wenn Weißrussland/Belarus und Russ­land enge Freunde sind, dann ist es logisch, dass sie über­ein­ander nur das Beste sagen. Wenn China und Indien, gelinde gesagt, nicht sehr dicke sind, dann ist es zu erwarten, dass sie, wenn sie über­ein­ander reden, das Nega­tive etwas dicker auf­tragen.

Und auch sonst sind manche Urheber erwie­se­ner­maßen ehr­li­cher als andere: Wäh­rend Du natür­lich allen miss­trauen soll­test, darfst Du Urhe­bern, die sich in der Ver­gan­gen­heit als zuver­lässig erwiesen haben, ein paar kleine, zer­quetschte Ver­trau­ens­punkte zuge­stehen; wer schon in der Ver­gan­gen­heit bewusst gelogen hat, ver­dient dagegen umso mehr Miss­trauen: „Fool me once, shame on you. Fool me twice, shame on me!“, wie es so schön heißt.

Wie eben nebenher ange­klungen ist, soll­test Du auch die Netz­werke des Urhe­bers über­prüfen. Gib Dich dabei nicht mit Anschul­di­gungen oder Beweih­räu­che­rungen durch andere zufrieden, son­dern stu­diere sie ebenso ein­ge­hend wie die Infor­ma­ti­ons­quelle. Das Netz­werk soll kom­pe­tent und ver­trau­ens­würdig sein? Über­prüfe es! Das Netz­werk soll aus Spin­nern und Nazis bestehen? Über­prüfe es eben­falls! Und ist der Urheber über­haupt tat­säch­lich mit diesen Netz­werken ver­netzt oder ist er ihnen nur irgend­wann mal zufällig über den Weg gelaufen? Lass Dich nicht damit abspeisen, was andere über das Netz­werk sagen, son­dern höre dem Netz­werk offen zu, hin­ter­frage, recher­chiere. Hin­ter­frage auch Deine eigene Wahr­neh­mung. Und vor allem: Mach es selbst!

Zum Bei­spiel sind wir ja bereits auf Alex­ander Prinz und seinen schlam­pigen Umgang mit Quellen ein­ge­gangen. Über die spe­zi­elle Quelle, um die es ging, können wir ergän­zend sagen, dass der Artikel über die „Ver­schlep­pung“ von Kin­dern, auf den Alex­ander Prinz sich beruft, vom RND Redak­ti­ons­netz­werk Deutsch­land stammt, das für die Madsack Medi­en­gruppe tätig ist. Für das RND ist außerdem zu 23,1 Pro­zent die Deut­sche Druck- und Ver­lags­ge­sell­schaft ver­ant­wort­lich, die wie­derum der SPD gehört, die aktuell ja den Kanzler stellt. Es ist also zu hin­ter­fragen, inwie­fern das RND unab­hängig bzw. gewillt ist, Nar­ra­tive zu ver­breiten, die dem aktu­ellen, in diesem kon­kreten Fall eher pro-ukrai­ni­schen und anti-rus­si­schen, Regie­rungs­kurs Deutsch­lands wider­spre­chen. Zumin­dest könnte das erklären, warum die Zusam­men­fas­sung des anti-rus­si­schen Berichts ganz aus­führ­lich aus­ge­fallen ist, wäh­rend die rus­si­sche Sicht­weise nur ganz am Ende und ganz kurz abge­knus­pert wird. Das heißt nicht, dass man den Artikel des RND nicht zitieren darf, aber man sollte die even­tu­elle poli­ti­sche Vor­ein­ge­nom­men­heit berück­sich­tigen.

Und damit wären wir bei dem viel­leicht wich­tigsten Punkt, der beim Ana­ly­sieren des Netz­werks zu beachten ist:

Wo bekommt der Urheber der Quelle sein Geld her?

Sicher­lich kennst Du die Rede­wen­dung: „Wes Brot ich ess, des Lied ich sing.“ Die Finan­zie­rung schafft ein Abhän­gig­keits­ver­hältnis, weil nie­mand sich allein von Luft und Son­nen­schein ernähren kann. Und wenn die Sümm­chen üppiger aus­fallen, stei­gert sich oft auch der Grad der Loya­lität. Wobei es aber natür­lich nicht immer um Sümm­chen geht, son­dern auch um imma­te­ri­elle „Bezah­lungen“ wie zum Bei­spiel die Aus­sicht auf irgend­welche Posten oder auch ein­fach Ansehen, das dem Ego des „Besto­chenen“ schmei­chelt.

In den frü­heren Teilen dieser Reihe habe ich nicht umsonst bereits davor gewarnt, sich Pro­jek­tionen hin­zu­geben: Nur weil Du selbst für „das Gute“ und Selbst­lo­sig­keit bist, heißt das noch lange nicht, dass andere Men­schen auch aus Idealen und über­großer Her­zens­güte heraus han­deln. Des­wegen prüfe immer: Wo kommt das Geld her? Wer sind die Auf­trag­geber? Welche Inter­essen haben sie? Wo bekommen wie­derum sie ihr Geld her? Was steht im Klein­ge­druckten bei Ver­lagen, Medi­en­kon­zernen, Stif­tungen, NGOs und allen mög­li­chen anderen Geld­ge­bern? Glaub keiner Infor­ma­ti­ons­quelle, von der Du nicht genau weißt, wie und von wem sie finan­ziert wird. Und selbst wenn Du es zu wissen glaubst, bleib skep­tisch.

Was gibt es also zum Bei­spiel bei den finan­zi­ellen Ver­flech­tungen in Deutsch­land zu beachten?

Zunächst soll­test Du wissen, dass prak­tisch die gesamte deut­sche Pres­se­land­schaft in den Händen einiger weniger Fami­lien liegt. Über­prüfe es selbst: Nimm x‑beliebige Zei­tungen und schaue nach, zu wel­chem Medi­en­kon­zern sie gehören. Und Du wirst fest­stellen, dass die kom­plette über­re­gio­nale Bericht­erstat­tung in den Händen von Springer, Ber­tels­mann, Burda, Funke, DuMont, Madsack und so weiter liegt. Und bei Hun­derten von Zei­tungen, die alle nur einigen wenigen Kon­zernen gehören, ist es schwierig, von einer unab­hän­gigen Presse zu spre­chen. Auf mich per­sön­lich wirkt das eher wie eine Medi­en­olig­ar­chie. Und die wenigen Fami­lien, denen diese Kon­zerne gehören, haben oft nicht nur Macht über Medien, son­dern auch Ein­fluss auf die Politik: So betreibt die Ber­tels­mann Stif­tung der Familie Mohn Lob­by­ar­beit und berät Poli­tiker, wirkt also an Gesetzen mit, für die sie in ihren Medien gleich­zeitig Stim­mung machen kann. Es ist daher extrem wichtig, genauer hin­zu­schauen und zu über­prüfen, welche Inter­essen und Kon­takte diese Fami­lien haben könnten. Und ebenso lohnt sich auch ein Blick auf die Jour­na­listen selbst, ins­be­son­dere die Chef­re­dak­teure: Wenn zum Bei­spiel nur ein paar von ihnen mit trans­at­lan­ti­schen Orga­ni­sa­tionen ver­strickt sind und andere nicht, dann ist das Viel­falt. Wenn aber prak­tisch alle trans­at­lan­ti­sche Ver­bin­dungen unter­halten (und das ist im Moment der Fall, fürchte ich), dann ist die Viel­falt, von der die Demo­kratie eigent­lich lebt, gefährdet. Auf­grund der vielen Hun­dert Zei­tungen in Deutsch­land fällt das aller­dings meis­tens nicht auf, weil Hun­derte von Zei­tungen ober­fläch­lich eine Viel­falt sug­ge­rieren. Und viele Men­schen ticken nun mal so, dass sie eine Nach­richt glaub­wür­diger finden, wenn meh­rere Zei­tungen davon berichten. Wenn all diese Zei­tungen aber über meh­rere Ecken einen gemein­samen Chef oder poli­ti­schen Freund haben, dann ist diese Viel­falt nur eine Illu­sion.

Nun magst Du Dich aber viel­leicht freuen, dass wir in Deutsch­land auch unab­hän­gige, weil gebüh­ren­fi­nan­zierte öffent­lich-recht­liche Medien haben. Aller­dings muss ich Dich ent­täu­schen, seit Ende 2022 und Anfang 2023 ist es offi­ziell: Jour­na­listen der öffent­lich-recht­li­chen Medien bekommen – zusätz­lich zu ihren gebüh­ren­fi­nan­zierten Gehäl­tern – von der Bun­des­re­gie­rung beein­dru­ckende, viel­stel­lige Zah­lungen. Das geht aus der Ant­wort der Bun­des­re­gie­rung auf eine Kleine Anfrage hervor. (Die ent­spre­chenden hoch­of­fi­zi­ellen PDFs fin­dest Du hier und hier.) Obwohl es sich dabei um scheinbar harm­lose Tätig­keiten wie Mode­ra­tion han­delt, machen die Zahlen miss­trau­isch: Wenn ein Jour­na­list einmal oder wie­der­holt gut bezahlte Auf­träge von der Bun­des­re­gie­rung bekommt, ist es durchaus frag­lich, ob er oder sie bei der Bericht­erstat­tung objektiv bleiben kann – einen gut zah­lenden Kunden will man ja nicht ver­graulen. Hin­ter­frage bei den Öffent­lich-Recht­li­chen außerdem die Zusam­men­set­zung der Inten­danten sowie der Auf­sichts- und Kon­troll­gre­mien, denn sie bestimmen unterm Strich, wohin und in wel­chem Umfang die Bei­trags­ein­nahmen fließen, also welche Pro­gramme und somit auch welche Jour­na­listen wie viel Geld bekommen. Und wenn Poli­tiker bei­spiels­weise einen nen­nens­werten Pro­zent­satz in den Rund­funk­räten stellen, was tat­säch­lich der Fall ist, dann kann von einer Unab­hän­gig­keit der öffent­lich-recht­li­chen Medien nicht wirk­lich die Rede sein.

Und ja, kri­ti­sche Bericht­erstat­tung gibt es in den öffent­lich-recht­li­chen Medien auf jeden Fall und das wird gerne als Beweis für Zuver­läs­sig­keit gewertet. Aller­dings fällt auch auf, dass die Kritik oft ver­zö­gert erscheint.

So erschien Ende 2022 beim Hes­si­schen Rund­funk zum Bei­spiel eine äußerst span­nende Doku dar­über, wie der Bun­des­nach­rich­ten­dienst in der Nach­kriegs­zeit gezielt NS-Ver­bre­cher rekru­tierte. Dass heute offen über diesen Skandal berichtet wird, ist für die all­ge­meine Zuver­läs­sig­keit der Medien aber wenig aus­sa­ge­kräftig, weil die Ver­ant­wort­li­chen ja nicht mehr belangt werden können. Hier wird also offen über Schnee von ges­tern gespro­chen, nicht über mög­li­chen Schnee von heute: Spe­ziell auf den Bun­des­nach­rich­ten­dienst bezogen ver­folgt mich zum Bei­spiel die Frage, wer die heu­tigen Mit­ar­beiter aus­ge­wählt, ein­ge­stellt und ein­ge­ar­beitet hat und wer diese Leute wie­derum aus­ge­wählt, ein­ge­stellt und ein­ge­ar­beitet hat. – Könnte es nicht sein, dass die NS-Ver­bre­cher trotz der ange­prie­senen par­la­men­ta­ri­schen Kon­trolle eine geis­tige Saat hin­ter­lassen haben?

Da nicht nur Jour­na­listen Quellen pro­du­zieren, ist die Frage nach der Finan­zie­rung bei absolut jeder Art von Texten, Bil­dern und Medien gene­rell wichtig: Die Letzte Gene­ra­tion zum Bei­spiel „erhält einen Groß­teil der Mittel für Recruit­ment, Trai­ning und Wei­ter­bil­dung aus dem Cli­mate Emer­gency Fund.“ Dieser wurde von der Öl-Erbin Aileen Getty mit­be­gründet. Und wenn Du mich nun fragst, warum eine Öl-Erbin die Letzte Gene­ra­tion unter­stützt, dann herz­li­chen Glück­wunsch, Du hast da eine sehr inter­es­sante Frage für eine Recherche. Viel­leicht kannst Du danach ja uns alle auf­klären. Und viel­leicht steckt ja auch eine gute, altru­is­ti­sche Absicht hinter dieser Finan­zie­rung, aber grund­sätz­lich würde ich nicht emp­fehlen, an die guten Absichten von super­rei­chen Phil­an­thropen zu glauben: Denke an das Mono­poly-Expe­ri­ment, über das wir im ersten Teil gespro­chen haben, und daran, wie die Gewinner des Spiels unter zu ihrem Vor­teil mani­pu­lierten Bedin­gungen nicht allzu viel Empa­thie für die Ver­lierer dieses unfairen Sys­tems hatten. Denke auch daran, dass es einen klas­si­schen Mar­ke­tingzug gibt, der sich fol­gen­der­maßen zusam­men­fassen lässt: Tue „Gutes“ und rede dar­über. – Phil­an­thro­pi­sche Tätig­keiten sind halt gut fürs Image, und ein gutes Image ist gut fürs Geschäft. Ansonsten eignen sich phil­an­thro­pi­sche Orga­ni­sa­tionen her­vor­ra­gend, um Steuern zu sparen: Denn reich ist nicht der­je­nige, der viel Geld bekommt, son­dern der­je­nige, der viel behält! Des­wegen gibt es Steu­er­hin­ter­zie­hung. Und wenn man sich legal vor Steuern drü­cken will, dann gründet man eben eine gemein­nüt­zige Orga­ni­sa­tion, die nicht nur Steu­er­vor­teile genießen darf, son­dern oft auch Geld von Regie­rungen bekommt, weil es ja angeb­lich um das All­ge­mein­wohl geht. Und solange dieses Hin­ter­tür­chen funk­ti­ons­fähig ist, ist davon aus­zu­gehen, dass es auch genutzt wird.

Weil es bei der Suche nach Infor­ma­tion meis­tens aber tat­säch­lich um jour­na­lis­ti­sche Quellen geht, lohnt es sich, sich mit jour­na­lis­ti­schen Richt­li­nien zu befassen. Denn so erwirbst Du ein Instru­men­ta­rium, um die Qua­lität jour­na­lis­ti­scher Texte ein­zu­schätzen. Und da hätten wir, wenn es um ethi­sche Aspekte geht, allem voran den Pres­se­kodex, den, meiner Mei­nung nach zumin­dest, jeder eini­ger­maßen kri­tisch den­kende Mensch min­des­tens einmal gelesen haben sollte. Er legt die Grund­re­geln und Prin­zi­pien für jour­na­lis­ti­sche Arbeit fest, dar­unter die Ver­pflich­tung zur Wahr­haf­tig­keit, zur unab­hän­gigen Bericht­erstat­tung und zur Ach­tung der Men­schen­würde. So soll eine ver­ant­wor­tungs­be­wusste, ethisch kor­rekte, zuver­läs­sige und aus­ge­wo­gene Bericht­erstat­tung sicher­ge­stellt werden. Und wenn man sich nicht an den Pres­se­kodex hält, dann wird diesem ambi­tio­nierten Ziel natür­lich die Grund­lage genommen.

So hat zum Bei­spiel laut Richt­linie 13.1 die Unschulds­ver­mu­tung zu gelten: Wenn in einem Artikel auto­ma­tisch davon aus­ge­gangen wird, dass einer der Ver­däch­tigten der Täter ist, ohne dass es klare Beweise gibt, dann ist diese jour­na­lis­ti­sche Quelle pro­ble­ma­tisch. Wenn Du also nach­prüfst und fest­stellst, dass jemand als Täter hin­ge­stellt wird, obwohl die Lage eigent­lich unklar ist und es sich bisher nur um Vor­würfe han­delt, dann weißt Du, dass Du bei der Quelle und ihrem Urheber in Zukunft vor­sichtig sein musst.

Über­haupt: Arbeite ruhig den kom­pletten Pres­se­kodex Richt­linie für Richt­linie durch und suche nach Positiv- und Nega­tiv­bei­spielen. Bei einigen Richt­li­nien ist mög­li­cher­weise eine etwas auf­wen­di­gere Recherche erfor­der­lich, weil nicht immer alles sofort in einem Artikel sichtbar ist. Aber Du bekommst ein Grund­ge­fühl dafür, was gute Presse über­haupt aus­macht.

Zusätz­lich dazu sind die sieben jour­na­lis­ti­schen W‑Fragen ein nütz­li­ches Werk­zeug, um die Qua­lität eines Textes zu beur­teilen. Eigent­lich dienen diese Fragen als Leit­faden zum Ver­fassen eines guten jour­na­lis­ti­schen Textes, aber wenn Du weißt, wie ein guter jour­na­lis­ti­scher Text ver­fasst gehört, dann kannst Du ihn auch besser beur­teilen. Diese Fragen lauten fol­gen­der­maßen:

  • Wer hat etwas getan oder nicht getan?
  • Was hat er getan oder nicht getan?
  • Wo hat er es getan oder nicht getan?
  • Wann hat er es getan oder nicht getan?
  • Wie hat er es getan oder nicht getan?
  • Warum hat er es getan oder nicht getan?
  • Woher stammen die Infor­ma­tionen?

Beson­ders die letzte Frage, näm­lich nach Her­kunft der Infor­ma­tionen und deren Glaub­wür­dig­keit, ist von großer Bedeu­tung. Idea­ler­weise sollten unter­schied­liche Quellen mit­ein­ander ver­gli­chen werden, und es ist wichtig zu schauen, wie die Infor­ma­tionen über­prüft wurden. Auch die Frage nach dem Warum ist kom­plexer: Denn es ist ent­schei­dend, den his­to­ri­schen, poli­ti­schen und gesell­schaft­li­chen Hin­ter­grund zu ana­ly­sieren, um die Motive und Beweg­gründe der han­delnden Akteure zu ver­stehen.

Wenn Du also merkst, dass ein Artikel irgend­welche dieser Fragen nicht beant­wortet, ist das ein guter Grund, um hell­hörig zu werden. Und es ist ein Anlass, selbst­ständig zu recher­chieren, um die Infor­ma­ti­ons­lücke zu füllen. Auch kannst Du Dich gene­rell an diesen Fragen ent­lang­han­geln, wenn Du mit eigen­stän­diger Recherche die Wahr­haf­tig­keit der Bericht­erstat­tung über­prüfst.

Schritt 5: Über­prüfen der inneren Merk­male

Aber genug zu den äußeren und for­malen Merk­malen der Quelle. Schauen wir nun in den Text selbst hinein und

prüfen den Inhalt auf seine Sinn­haf­tig­keit und Glaub­wür­dig­keit.

Es geht dabei nicht darum, ob der Inhalt der Quelle zu anderen Quellen passt, son­dern ob sie in sich, inner­halb des eigenen Rea­li­täts­tun­nels, Sinn ergibt: Gibt es logi­sche Inkon­sis­tenzen oder Wider­sprüche? Ist der Inhalt plau­sibel und nach­voll­ziehbar? Wie wird der Inhalt prä­sen­tiert? Welche Absicht wird ver­folgt? Welche Ideo­logie liegt der Dar­stel­lung zugrunde?

Beson­ders wichtig ist hierbei die Per­spek­tive. Denn nicht nur fik­tio­nale Texte haben eine Erzähl­per­spek­tive, son­dern auch fak­tuale. Wir haben dar­über schon im Artikel über Fik­tion gespro­chen, daher erin­nere ich hier nur kurz an den lin­gu­i­stic turn in der Geschichts­wis­sen­schaft, also die Erkenntnis,

dass die Per­spek­tive des Autors eines noch so fak­ten­ba­sierten Textes die Aus­wahl, Anord­nung, Ver­knüp­fung und Prä­sen­ta­tion der Fakten beein­flusst.

Somit ist die Erfor­schung von Fakten sehr stark vom sub­jek­tiven Welt­bild des For­schenden abhängig. – Und das nicht nur in der Geschichts­wis­sen­schaft, son­dern bei jeder Dis­zi­plin, in der Fakten aus­ge­wählt, ange­ordnet, ver­knüpft und prä­sen­tiert werden, also auch bei Nach­rich­ten­mel­dungen, Augen­zeu­gen­be­richten, Repor­tagen etc.

Zum Ana­ly­sieren der Per­spek­tive in fak­tualen Texten können wir die­selben Mittel benutzen wie beim Ana­ly­sieren fik­tio­naler Texte, allem voran die fünf Para­meter der Per­spek­tive von Wolf Schmid:

  • räum­liche Per­spek­tive: Die Posi­tion im Raum bestimmt, welche Teile des Gesche­hens wahr­ge­nommen werden. Je nachdem, wo sich jemand befindet, kann seine Sicht auf ein Ereignis ein­ge­schränkt oder erwei­tert sein. Unter anderem des­wegen fragen wir schon bei den äußeren Merk­malen nach dem Wo. Bei der inneren Quel­len­kritik fragen wir dann genauer danach, wie die Posi­tion des Berich­tenden im Raum seine Sicht­weise beein­flusst: Wenn die Aus­lands­kor­re­spon­dentin sich in der fan­ta­sie­sta­ni­schen Haupt­stadt befindet, bekommt sie nur mit, was sich in der fan­ta­sie­sta­ni­schen Haupt­stadt tut. Über die Vor­gänge in Hin­ter­tup­fingen weiß sie nur vom Hören­sagen.
  • ideo­lo­gi­sche Per­spek­tive: Die indi­vi­du­elle Ideo­logie, das Vor­wissen, die Denk­weise und die per­sön­li­chen Werte beein­flussen maß­geb­lich, wie jemand Infor­ma­tionen auf­nimmt und inter­pre­tiert. Wir haben ja schon dar­über gespro­chen, dass ein Mensch in erster Linie das glaubt, woran er eh schon glaubt, und Fakten, die dem wider­spre­chen, unter­be­wusst in den Hin­ter­grund rückt. Das nennt sich Bestä­ti­gungs­fehler. Außerdem kann der Dun­ning-Kruger-Effekt dafür sorgen, dass ein Mensch die Dinge, die er wahr­nimmt, völlig falsch deutet, weil ihm das nötige Hin­ter­grund­wissen fehlt. Und so weiter und so fort – über Denk­fehler und kogni­tive Blo­ckaden haben wir ja schon gespro­chen. An dieser Stelle wollen wir daher nur noch einmal betonen, dass ideo­lo­gi­sche Über­zeu­gungen (die der Mensch selbst in der Regel für objek­tive Fakten hält) die Wahr­neh­mung einer Person stark prägen können. – Unter anderem des­wegen recher­chieren wir übri­gens zum Urheber der Quelle, wer die Person ist, wo sie her­kommt, wie ihr Leben ver­laufen ist … und wir fragen auch nach dem Netz­werk und nach der Finan­zie­rung.
  • zeit­liche Per­spek­tive: Der zeit­liche Abstand zum Geschehen spielt zwei­fellos eben­falls eine Rolle bei der Wahr­neh­mung. Je nachdem, wie viel Zeit ver­gangen ist, kann die Erin­ne­rung an Ereig­nisse ver­blassen oder sich ver­än­dern. Oder aber der Wahr­neh­mende ist in der Zwi­schen­zeit an Infor­ma­tionen gekommen, die er zum Zeit­punkt des Gesche­hens nicht hatte, was seine Deu­tung der Ereig­nisse stark beein­flussen kann. Des­wegen fragen wir schon bei der äußeren Quel­len­kritik nach dem Wann und bei der anschlie­ßenden inneren Quel­len­kritik nach dessen Bedeu­tung für die Per­spek­tive bzw. den Rea­li­täts­tunnel, der der Quelle zugrunde liegt.
  • sprach­liche Per­spek­tive: Die Wahl der Sprache bei der Prä­sen­ta­tion der Fakten und ins­be­son­dere sprach­liche Stil­mittel haben Ein­fluss darauf, wie das Prä­sen­tierte vom Publikum auf­ge­nommen wird. Sie gibt also Auf­schluss über die Absicht, die mit dem Text ver­folgt wird: Spricht man von zivilen Opfern oder benutzt man Euphe­mismen wie „Kol­la­te­ral­schaden“? Spricht man von einem Angriffs­krieg oder von einer „huma­ni­tären Inter­ven­tion“, obwohl diese „huma­ni­täre Inter­ven­tion“ von Flä­chen­bom­bar­de­ments begleitet wird? Spricht man von Olig­ar­chen oder von Mil­li­ar­dären? Oder benutzt man immer wieder, gebets­müh­len­artig, eine bestimmte For­mu­lie­rung, also das rhe­to­ri­sche Mittel der Repe­titio, damit sie sich in den Köpfen des Ziel­pu­bli­kums besser abspei­chert? Unter­schied­liche sprach­liche Dar­stel­lungen lösen ver­schie­dene Bilder und Emo­tionen aus. Dabei können diese Emo­tionen, wie wir ja bereits wissen, das kri­ti­sche Denk­ver­mögen des Publi­kums lahm­legen. Des­wegen kannst Du durch das Unter­su­chen der Sprache fest­stellen, welche Bilder und Emo­tionen die Quelle aus­lösen und somit in welche Rich­tung die Wahr­neh­mung und das Denken des Ziel­pu­bli­kums beein­flusst werden sollen.
  • per­zep­tive Per­spek­tive: Hier geht es darum, ob eine Per­spek­tive durch das Prisma einer bestimmten Partei geprägt ist. Dabei kann eine Per­spek­tive auf den ersten Blick durchaus objektiv erscheinen, obwohl sie es eigent­lich nicht ist. Dass wir das Prisma nicht bemerken, könnte zum Bei­spiel daran liegen, dass wir selbst dieses Prisma teilen und somit als objektiv ansehen. Ich will nicht kom­plett aus­schließen, dass es neu­trale Quellen geben könnte, aber weil wir mensch­li­chen Dumpf­ba­cken ja sehr beschränkt sind, hält sich unsere Fähig­keit zur Wahr­neh­mung der objek­tiven Rea­lität sehr in Grenzen: Wir haben nun mal unseren Rea­li­täts­tunnel, also das Prisma, durch das wir die Welt wahr­nehmen. Somit haben auch alle Akteure des Gesche­hens, über das wir berichten, ihre Prismen. Wenn wir also ein Prisma gegen­über den anderen bevor­zugen, sozu­sagen einen „Prot­ago­nisten“ haben, am besten noch einen, mit dem wir mit­fühlen, laufen wir Gefahr, unsere Erzäh­lung durch seine Sicht­weise ein­zu­färben.

Mit diesen fünf Para­me­tern können wir ermit­teln, wie das Bild, das dem Leser ver­ab­reicht wird, über­haupt zustande kommt. Auf diese Weise erhalten wir eine grobe Vor­stel­lung davon, inwie­weit objek­tive Ereig­nisse und Sach­ver­halte mög­li­cher­weise ver­fälscht oder ver­zerrt werden.

Zum Bei­spiel wird beim Thema All­tags­ras­sismus häufig ange­führt, dass dun­kel­häu­tige Frauen schwerer an Make-up her­an­kommen, das zu ihrer Haut­farbe passt. Nehmen wir also eine dun­kel­häu­tige Lisa, die sich dar­über beschwert, dass sie keinen pas­senden Con­cealer finden kann. Wir haben also die räum­liche und zeit­liche Per­spek­tive, dass die Bericht­erstat­terin zusammen mit Lisa ein Geschäft nach dem anderen abklap­pert und sie tat­säch­lich nicht fündig werden. Da Lisa oft All­tags­ras­sismus erlebt, prägt das ihre ideo­lo­gi­sche Per­spek­tive und sie führt den Mangel an Make-up für Dun­kel­häu­tige auch auf Ras­sismus zurück. In Bezug auf die sprach­liche Per­spek­tive merken wir, dass Lisa unzu­frieden ist und Mit­ge­fühl will. In Bezug auf die per­zep­tive Per­spek­tive merken wir, dass die Person, die über Lisa berichtet, mit Lisa mit­fühlt und ihre Sicht­weise und Sprache über­nimmt.

Wir haben also einen in sich geschlos­senen Rea­li­täts­tunnel. Ich per­sön­lich habe einen etwas anderen Rea­li­täts­tunnel und würde vor­schlagen, den Rea­li­täts­tunnel des Berichts über Lisa etwas auf­zu­sprengen:

So war die Person, die über Lisa berichtet, räum­lich und zeit­lich mit Lisa unter­wegs. Wäre sie mit jemand anderem unter­wegs gewesen oder hätte sich von anderen Shop­ping­touren erzählen lassen, hätte sie viel­leicht andere Dinge wahr­ge­nommen. Meine Erfah­rung ist zum Bei­spiel, dass ich als extrem heller Mensch, der bei gerade mal 25°C schon nach zehn Minuten krebsrot wird, ein ähn­li­ches Pro­blem habe, nur umge­kehrt: Die ange­bo­tenen Con­cealer sind mir fast alle zu dunkel.

Im Gegen­satz zu Lisa bin ich nicht vom Ras­sismus gegen Dun­kel­häu­tige betroffen, und somit fällt auch meine ideo­lo­gi­sche Per­spek­tive anders aus: Einer­seits bin ich sicher­lich blind für den All­tags­ras­sismus gegen diese Gruppe, ande­rer­seits neige ich aber auch weniger dazu, alle Unan­nehm­lich­keiten auto­ma­tisch darauf zurück­zu­führen. Weil ich ideo­lo­gisch weniger mit Ras­sismus gegen Dun­kel­häu­tige zu tun habe, ver­orte ich die Wurzel des Übels eher im Kapi­ta­lismus und dem Prinzip von Angebot und Nach­frage: Wenn dun­kel­häu­tige (oder auch extrem hell­häu­tige) Men­schen eine Min­der­heit bilden, dann gibt es weniger Nach­frage und des­wegen fällt auch das Angebot geringer aus.

Von der per­zep­tiven Per­spek­tive her über­nehme ich Lisas Prisma nicht und lasse mich auch weniger von ihrer sprach­li­chen Per­spek­tive beein­flussen, weil ich die Fakten, auf die sich ihre Sprache stützt, anders sehe. Das bedeutet aber nicht, dass Lisa und ich keinen gemein­samen Nenner finden können. Denn es ist egal, ob wir die Ursa­chen der Pro­bleme bei der Make-up-Suche im Ras­sismus, im Kapi­ta­lismus oder in sonstwas ver­orten: Nega­tive Erfah­rungen bleiben nega­tive Erfah­rungen und sowohl Lisas Erleb­nisse als auch meine sind echt und unan­ge­nehm. Und ich kann mir vor­stellen, dass Lisas Schwie­rig­keiten beim Make-up, selbst wenn sie eigent­lich vom Kapi­ta­lismus her­rühren sollten, im Zusam­men­spiel mit anderen, ein­deutig ras­sis­ti­schen Erfah­rungen, zu einem all­ge­meinen Unwohl­sein führen, weil sie an jeder Ecke, sei es mit Absicht oder nicht, ihre Anders­ar­tig­keit und Nicht-Zuge­hö­rig­keit ins Gesicht gepresst bekommt. In der Hin­sicht hat Lisa mein abso­lutes Mit­ge­fühl.

So unter­schied­lich können also die Per­spek­tiven auf ein und die­selbe Sache aus­fallen, und das schon bei Lap­pa­lien. Des­wegen ist es eben so wichtig zu ver­stehen, wo der Urheber einer Quelle her­kommt und wie sich das auf seine Dar­stel­lung aus­wirkt. Dass eine Dar­stel­lung nicht neu­tral ist, merkt man oft übri­gens vor allem an der sprach­li­chen Per­spek­tive, weil es hier am meisten um die Beein­flus­sung des Rezi­pi­enten geht.

Aus diesem Grund soll­test Du Dich mit den gän­gigen Tak­tiken der Emo­tio­na­li­sie­rung befassen, um sie in Infor­ma­ti­ons­quellen durch­schauen zu können. Vor­sicht ist zum Bei­spiel geboten, wenn es meh­rere Kon­flikt­par­teien gibt und bei einer Kon­flikt­partei die Wort­wahl wohl­wol­lender aus­fällt als bei der anderen. Wenn in einem Text gehäs­sige Aus­drücke fallen, dann ist das ein Hin­weis, dass jemand in seinem Rea­li­täts­tunnel sehr tief drin­steckt. Wird auf Mit­ge­fühl gepocht, kann das den Blick auf die Rea­lität trüben. Das heißt nicht, dass emo­ti­ons­ge­la­dene Quellen grund­sätz­lich schlechter sind, Lisas Auf­re­gung über die Sache mit dem Make-up ist ja auch absolut legitim, aber Du soll­test bei der Aus­wer­tung dieser Quellen darauf achten, Dich emo­tional nicht mit­nehmen zu lassen:

Ver­suche am besten, für einige Zeit zu einem emo­ti­ons­losen Roboter zu werden.

Als sol­cher wirst Du hof­fent­lich auch weniger anfällig für Pseudo- und Schein­ar­gu­mente. Denn ein Roboter ist vor allem logisch und lässt keine Emo­tionen und Mora­li­sie­rungen als Argu­mente gelten. Wenn jemand sagt: „Wir müssen XY tun, weil es das mora­lisch Rich­tige ist“, dann fragt der Roboter, warum gerade XY mora­lisch richtig ist und ob das nicht auch nega­tive Kon­se­quenzen haben kann. Und sofern der Jemand nicht knall­harte Daten vor­legen kann, warum XY zu einem bes­seren Ergebnis führen wird als andere Ansätze, sind seine Reden vom „mora­lisch Rich­tigen“ nur heiße Luft. Wenn nicht sogar bewusste Mani­pu­la­tionen: Denn Du willst doch bestimmt das mora­lisch Rich­tige tun und nicht als amo­ra­lisch dastehen. Wenn Du Dein Selbst­wert­ge­fühl also nicht von diesem Kri­te­rium ent­kop­pelt hast, wie wir es im ersten Teil dieser Reihe bespro­chen haben, kannst Du nur zu leicht auf diesen Trick her­ein­fallen. Über­haupt emp­fehle ich, ein grund­le­gendes Ver­ständnis für Pro­pa­ganda- und Mani­pu­la­ti­ons­tech­niken sowie für ver­brei­tete Denk­fehler zu erar­beiten, um diese später in Quellen erkennen zu können. Dazu gibt es aber mas­sen­haft Lite­ratur, wes­wegen ich an dieser Stelle auf eine aus­führ­liche Liste ver­zichte.

Was logi­sche Inkon­sis­tenzen, Wider­sprüche und Nach­voll­zieh­bar­keit angeht, so ist der Rea­li­täts­tunnel in jeder Quelle im Grunde indi­vi­duell, wes­wegen es mir schwer fällt, die vielen Mög­lich­keiten in ein ein­ziges System zu pressen. Achte hier ein­fach darauf, ob alles inner­halb der Quelle ein logi­sches Netz ergibt.

Wenn Du zum Bei­spiel Denk­fehler iden­ti­fi­zierst, dann merkst Du, dass Du Dich auf die logi­schen Schlüsse der Quelle nicht ver­lassen kannst. Was aber nicht auto­ma­tisch bedeutet, dass die ganze Quelle Unsinn ist: Nur, weil Lisa ihre Schwie­rig­keiten bei der Make-up-Suche eher aus ideo­lo­gi­schen Gründen auf Ras­sismus zurück­führt, heißt das nicht, dass da kein Ras­sismus dahin­ter­steckt. Wenn Du weiter recher­chierst, könnte es ja sein, dass Du auf ras­sis­ti­sche Aus­sagen von Make-up-Her­stel­lern stößt à la: Dun­kel­häu­tige bräuchten eh kein Make-up, sie seien so oder so häss­lich. Dann hät­test Du einen knall­harten Beweis, dass Lisa mit ihrer Ver­mu­tung richtig liegt, auch wenn sie nicht auf einer wirk­lich logi­schen Über­le­gung beruht. Und selbst wenn Du im Zuge Deiner Recherche zu dem Schluss kommst, dass das Pro­blem nichts mit Ras­sismus zu tun hat, ist es noch kein Grund, Lisa ihre unan­ge­nehmen Erfah­rungen abzu­spre­chen. Eine andere Ursache des Pro­blems ändert ja nichts daran, dass das Pro­blem besteht.

Wenn die Logik inner­halb des Rea­li­täts­tun­nels der Quelle aber kon­sis­tent ist, auch wenn sie Deinem Welt­bild wider­spricht, könnte erst recht etwas dran sein: Um das fest­zu­stellen, musst Du die Prä­missen, also die Grund­an­nahmen, von denen – meis­tens unhin­ter­fragt – aus­ge­gangen wird, und Quellen der Quelle über­prüfen, auch im Kon­text der anderen Infor­ma­tionen, die Du zusam­men­re­cher­chiert hast. Und wenn alles metho­do­lo­gisch solide und nach­voll­ziehbar ist, dann wirst Du wohl oder übel Dein Welt­bild anpassen müssen. Das heißt nicht, dass Du die andere Sicht­weise eins zu eins über­nehmen musst, das kommt immer auf den indi­vi­du­ellen Sach­ver­halt an, aber Du wirst aller­min­des­tens akzep­tieren müssen, dass es eine legi­time Sicht­weise ist, die neben Deiner Sicht­weise eben­falls ein Recht auf Exis­tenz hat.

Beson­ders auf­hor­chen soll­test Du, wenn die Quelle ein­fache Ant­worten auf kom­plexe Fragen geben will.

Wäh­rend meines Geschichts­stu­diums habe ich die Erfah­rung gemacht, dass jedes his­to­ri­sche Ereignis, das ich mir jemals genauer ange­schaut habe, eine äußerst kom­plexe Ursa­chen­viel­falt auf­weist. Ich ver­stehe, dass es zum Bei­spiel ein­fach ist, die Ursa­chen für den Zweiten Welt­krieg Hitler und irgend­wel­chen ver­rückten Ideo­logen in die Schuhe zu schieben, aber ers­tens haben wir bereits fest­ge­stellt, dass die NS-Ver­bre­chen über­wie­gend eher wenig mit Ver­rückt­heit zu tun hatten, was sie ja umso gru­se­liger macht, und zwei­tens ver­nach­läs­sigen wir bei einer sol­chen Deu­tung das äußert kom­plexe Bündel von his­to­ri­schen und wirt­schaft­li­chen Aspekten ins­be­son­dere nach dem Ersten Welt­krieg, die geo­po­li­ti­schen Ver­stri­ckungen und Ambi­tionen aller Kriegs­par­teien, die gesell­schaft­li­chen, poli­ti­schen und ideo­lo­gi­schen Gege­ben­heiten im Dritten Reich und bei anderen Betei­ligten etc. pp. Wenn man die Ursa­chen his­to­ri­scher Ereig­nisse so klein­ka­riert zer­legt, ent­steht häufig der Ein­druck einer unaus­weich­li­chen Ent­wick­lung. Für die Zeit­zeugen kommen die Ereig­nisse oft über­ra­schend, aber wenn man als His­to­riker das Ganze aus Vogel­per­spek­tive betrachtet, kommt eben häufig heraus, dass schon Jahr­zehnte vorher hätte klar sein können, dass es genau darauf hin­aus­läuft. Das macht die his­to­ri­schen Ereig­nisse nicht weniger schlimm und ent­bindet die Täter auch nicht von ihrer mora­li­schen Ver­ant­wor­tung, aber es zeigt dann doch, dass die Situa­tion in Wirk­lich­keit immer extrem kom­pli­ziert ist. Des­wegen sind Schwarz-Weiß-Denken und ein­sei­tige Schuld­zu­wei­sungen an eine Ein­zel­person oder Entität fast immer ein ziem­lich sicheres Indiz für Pro­pa­ganda. Oder aber für Dumm­heit bzw. Kurz­sich­tig­keit. Nimm das ruhig als Faust­regel.

Schritt 6: Schlüsse ziehen und ver­läss­liche Quellen ermit­teln

Nun hast Du sehr viele Quellen, sehr viele Infor­ma­tionen und sehr viele Wider­sprüche. Wie findet man da die Wahr­heit? Dafür brauchst Du natür­lich die Fähig­keit zu logi­schem Denken, und so leid es mir tut, das zu sagen: Nicht jeder hat sie. Wenn es nach mir ginge, wäre Logik ein Pflicht­fach in der Schule, aber mich fragt ja nie­mand. Grund­sätz­lich ist Mathe­matik da zwar ziem­lich nah dran und meinen Beob­ach­tungen nach können Mathe­ma­tiker oder zumin­dest Natur­wis­sen­schaftler oft tat­säch­lich logi­scher denken und argu­men­tieren als meine eigene Brut der Geis­tes­wis­sen­schaftler, aber ande­rer­seits ist Mathe­matik auch ziem­lich abs­trakt und das „Über­setzen“ des mathe­ma­ti­schen Den­kens in Dinge wie Text­ver­ständnis sind eine Kunst für sich. Zudem lässt der Mathe­ma­tik­un­ter­richt in Deutsch­land doch sehr zu wün­schen übrig.

Den­noch eignet sich Mathe­matik gut für eine ganz grobe Ein­schät­zung der eigenen logi­schen Bega­bung:

Wenn Du in der Schule in Mathe durch­schnitt­lich auf 3 oder schlechter stan­dest, und das unab­hängig von der Lehr­kraft (dass man zwi­schen­zeit­lich einen schlechten Lehrer hat, kann ja mal vor­kommen), dann kann das ein Hin­weis darauf sein, dass Du nicht von Natur aus begabt bist und an Deinen logi­schen Fähig­keiten arbeiten soll­test.

Wenn Du in Mathe ohne Spick­zettel oder stumpfes Buli­mie­lernen im Schnitt Einsen und Zweien hat­test, bist Du aller­dings auch nicht fein raus, denn dass Du wahr­schein­lich gute ange­bo­rene Vor­aus­set­zungen zu logi­schem Denken hast, heißt noch lange nicht, dass Du wirk­lich logisch denkst:

Du bist für all die Denk­fehler, Mani­pu­la­tionen und psy­cho­lo­gi­schen Effekte, die wir in dieser Reihe bespro­chen haben, genauso anfällig wie jeder andere und Deine Fähig­keit zu logi­schem Denken kann somit erfolg­reich lahm­ge­legt werden.

Wie wir uns gegen diese Lahm­le­gung des logi­schen Den­kens wehren können, haben wir ja in diesem Artikel bespro­chen. Und erst wenn wir damit die Vor­aus­set­zungen für logi­sches Denken geschaffen haben, können wir unsere Fähig­keiten wirk­lich nutzen. Und wenn wir nicht von Natur aus logisch begabt sind, müssen wir logi­sches Denken erst lernen. Doch da es den Rahmen dieses Arti­kels sprengen würde und es auch ein­schlä­gige Bücher zu dem Thema gibt, belasse ich es an dieser Stelle bei dieser Emp­feh­lung.

Statt­dessen möchte ich auf eine grund­sätz­liche Sache auf­merksam machen, die eben­falls im Bereich der Logik ange­sie­delt ist, beim Aus­werten von Quellen aber eine beson­ders zen­trale Rolle spielt:

Es geht nicht darum, wer recht hat!

Mal ange­nommen, Du hast zwei Par­teien, die im Kon­flikt sind. Mein Ein­druck ist, dass Men­schen häufig davon aus­gehen, dass eine der Par­teien recht haben muss und die andere dem­entspre­chend unrecht. Es gibt aber unzäh­lige andere Mög­lich­keiten, die Du nicht aus dem Blick ver­lieren darfst: Beide könnten recht haben und beide könnten unrecht haben. Beide könnten nur zur Hälfte recht haben. Eine könnte kom­plett unrecht haben, wäh­rend die andere zu einem Viertel recht hat. Und so weiter …

Erin­nere Dich an Google und die Vor­würfe, die Such­ma­schine würde nicht funk­tio­nieren. Da waren zwei Par­teien im Kon­flikt, bei dem die Kri­tiker behauptet haben, der Algo­rithmus würde nicht funk­tio­nieren, und Google behauptet hat, der Algo­rithmus würde sehr wohl funk­tio­nieren. Dass beide recht haben könnten, scheint bei dieser Kon­stel­la­tion undenkbar – und doch war genau das der Fall: Google hatte recht, weil der Algo­rithmus tech­nisch durchaus funk­tio­nierte, und die Kri­tiker hatten recht, weil der Algo­rithmus für sie per­sön­lich nicht funk­tio­nierte, weil er ihre fehl­bare Mensch­lich­keit nicht berück­sich­tigte.

Es geht also eher darum, sich maximal der Wahr­heit anzu­nä­hern, die auch uner­war­tete Twists beinhalten kann.

Da wir fehl­baren Men­schen, gefangen in unseren Rea­li­täts­tun­neln, uns wohl nur bedingt der Wahr­heit annä­hern können, weil wir für sie ein­fach nicht die nötigen Gehirn­ka­pa­zi­täten haben, müssen wir uns wohl oder übel damit zufrieden geben, dass die Wahr­heit für uns auf ewig eine Asym­ptote bleibt. Du erin­nerst Dich sicher­lich: Eine Asym­ptote ist in der Mathe­matik eine Linie oder Kurve, der sich der Graph einer Funk­tion immer weiter annä­hert, sie aber nie erreicht, selbst wenn er unend­lich ver­län­gert wird. So können auch wir uns der Wahr­heit immer mehr annä­hern, aber wir dürfen nie­mals ver­gessen, dass es immer etwas gibt, das wir nicht wissen, nicht ver­stehen, das sich unserem Denk­ver­mögen ent­zieht. Und schon alleine das ist Grund genug, demütig zu sein, ganz egal, wie viel man zu wissen glaubt.

Ein gutes Bei­spiel, wie demü­tiges, logi­sches Schlüs­se­ziehen funk­tio­niert, fin­dest Du übri­gens in Quo vadis? von Henryk Śien­kie­wicz. Darin ver­liebt sich der Römer Vini­cius in Lygia, weiß zunächst aber noch nicht, dass sie Christin ist. Er weiß nur, dass sie ihm gegen­über einen Fisch in den Sand gezeichnet hat, und spä­tes­tens als sie spurlos ver­schwindet, will er her­aus­finden, was das bedeutet. Er und sein Onkel Petro­nius heuern den Grie­chen Chilon Chi­lo­nides zur Infor­ma­ti­ons­be­schaf­fung an. Und als Chilon ihnen ein­deutig beweist, dass der Fisch ein Symbol des Chris­ten­tums ist und Lygia und ihre Zieh­mutter Pom­ponia Chris­tinnen sind, beginnt es in Vini­cius und Petro­nius ange­sichts der vielen Vor­ur­teile gegen Christen zu arbeiten:

„»Das bedeutet«, sagte Petro­nius, »daß Pom­ponia und Lygia Brunnen ver­giften, von der Straße auf­ge­grif­fene Kinder morden und sich Aus­schwei­fungen hin­geben! Nar­retei! Du, Vini­cius, warst länger in ihrem Haus, ich war nur kurz dort, aber ich kenne sowohl Aulus [Lygias Zieh­vater] als auch Pom­ponia, ja selbst Lygia gut genug, um sagen zu können: das ist Ver­leum­dung und Nar­retei! Wenn der Fisch das Sinn­bild der Christen ist, was sich wirk­lich schwer bestreiten läßt, und wenn sie Chris­tinnen sind, dann, bei Pro­ser­pina!, sind die Christen offen­sicht­lich nicht das, wofür wir sie halten.«“
Henryk Sien­kie­wicz: Quo vadis?, Vier­zehntes Kapitel.

Leider ist eine solche Selbst­re­fle­xion – zumin­dest meiner Beob­ach­tung nach – in der realen Welt eher selten. Schaue Dir selbst an, wie Freund­schaften und Fami­lien in den ver­gan­genen Jahren an ver­schie­denen Mei­nungen zer­bro­chen sind: Wenn Men­schen fest­stellen, dass Leute in ihrem Umfeld sich zu einer Gruppe bekennen, die als dumm, gefäh­lich, aso­zial oder sonstwie negativ dar­ge­stellt wird, beugen sie sich eher dem Mei­nungs­diktat ihrer eigenen Glau­bens­brüder, als sich auf ihre jah­re­lange Kenntnis der betrof­fenen Ange­hö­rigen zu ver­lassen. Wenn der Kind­heits­freund mit Leuten sym­pa­thi­siert, die man für aso­zial hält, ist der Kind­heits­freund auch aso­zial, so scheint die Logik oder eher Nicht-Logik. Denn diesen anders­den­kenden Kind­heits­freund als Anlass zu betrachten, die eigenen Über­zeu­gungen zu hin­ter­fragen, würde ja am Selbst­bild kratzen! … Ich fürchte, wir sind als Gesell­schaft ein­fach zu ego­is­tisch.

Aber nun wollen wir aus diesem Ego­ismus aus­bre­chen und gehen all die Schritte des kri­ti­schen Den­kens durch. Und wenn Du das wirk­lich bei jedem Thema knall­hart durch­ziehst, muss ich Dich eins fragen: Hast Du ein Leben?

Denn Hand aufs Herz:

Die gewis­sen­hafte Umset­zung aller Schritte ist nur mög­lich, wenn man es beruf­lich tut.

Oder Du besitzt einen Zeit­um­kehrer oder sowas. Aber ein Otto Nor­mal­ver­brau­cher hat in der Regel nicht die Mög­lich­keiten, sich der­maßen intensiv mit jedem auch nur ansatz­weise rele­vanten Thema der Welt aus­ein­an­der­zu­setzen. Er hat ein­fach nicht die Zeit, oft­mals keine aus­rei­chenden Sprach­kennt­nisse und meis­tens auch nur einen begrenzten Zugang zu Fach­bi­blio­theken und anderen Quellen für Fach­wissen. Ob wir es also wollen oder nicht, wir müssen uns wohl oder übel auf fremde Bericht­erstat­tungen und Ana­lysen ver­lassen. Wir dürfen dabei aber nie­mals ver­gessen, dass es nur das gerin­gere Übel und sehr bedenk­lich ist. Wir dürfen nie­mals annehmen, dass die Quellen, die wir bevor­zugen, besser sind als die Quellen, denen andere ver­trauen. Aller­dings sollten wir trotzdem darauf achten, dass wir uns Quellen aus­su­chen, bei denen wir zumin­dest eine kor­rekte Arbeits­weise erkannt haben. Ich betone:

Wir sollten uns nicht auf Quellen ver­lassen, die uns seriös erscheinen. Son­dern auf die, deren Arbeits­weise wir tat­säch­lich selbst­ständig über­prüft haben und die wir auch wei­terhin immer mal wieder über­prüfen.

Denn nur, weil eine Quelle selbst behauptet, seriös zu sein, heißt es noch lange nicht, dass sie das tat­säch­lich ist. Erin­nern wir uns an Alex­ander Prinz:

Obwohl er sich auf die Fahnen geschrieben hat, gegen Des­in­for­ma­tion vor­zu­gehen, haben wir an den Bei­spielen in dieser Reihe gesehen, dass sein Umgang mit Infor­ma­ti­ons­quellen äußerst schlampig ist. Grund­sätz­lich könn­test Du mir vor­werfen, ich würde Rosi­nen­pi­ckerei betreiben und hätte ein­fach nur unglück­liche Momente in seinem Video her­aus­ge­sucht. Darauf kann ich nur erwi­dern: Bitte zwing mich nicht, jeden ein­zelnen Satz von Prinz in jedem ein­zelnen seiner poli­ti­schen Videos so zu zer­legen, wie ich es in dieser Reihe getan habe. Im Rahmen eines Arti­kels oder Videos, meine ich. Das wäre ein Voll­zeitjob, den mir nie­mand bezahlt. Wenn Du also eine Über­prü­fung möch­test, inwie­fern meine Bei­spiele reprä­sen­tativ für seine Arbeits­weise sind, bist Du herz­lich ein­ge­laden, sie selbst vor­zu­nehmen. Wie das geht, weißt Du ja spä­tes­tens jetzt. An dieser Stelle jedoch lasse ich meine Schlüsse über Prinz’ Arbeits­weise stehen und warne: Wer so unsauber und ober­fläch­lich arbeitet, läuft große Gefahr, selbst Des­in­for­ma­tion zu betreiben – also genau zu dem zu werden, was er bekämpfen will. Und es nicht einmal zu merken.

Bonus­punkte für Zuver­läs­sig­keit bekommen übri­gens Bericht­erstatter und Ana­ly­tiker, die Demut an den Tag legen und Mut zum „Ich weiß nicht“ haben. Denn sie haben schon mal die rich­tige Grund­ein­stel­lung, die wir in Schritt 1 bespro­chen haben. Vor allem haben demü­tige Bericht­erstatter weniger Hem­mungen, mög­liche Fehler von ihrer Seite ein­zu­sehen und zu kor­ri­gieren, was sie natür­lich der objek­tiven Wahr­heit näher bringt.

Jen­seits von Bericht­erstat­tern haben wir es natür­lich auch in der pri­vaten Kom­mu­ni­ka­tion oft mit Men­schen zu tun, die eine Mei­nung haben und sich für kri­tisch den­kend halten. Und ich denke, ich muss Dir nicht extra sagen, dass Du auch bei ihnen grund­sätz­lich vor­sichtig sein musst, denn nur, weil sie viel­leicht Deine Ange­hö­rigen sind, sind sie nicht auto­ma­tisch intel­li­genter und infor­mierter als andere Men­schen. Ich meine, jetzt, wo Du gesehen hast, wie auf­wendig das ganze Pro­ze­dere ist, sollte es sich eigent­lich von selbst ver­stehen, dass Du kri­tisch hin­ter­fragen soll­test, wenn jemand, also eine poten­ti­elle mensch­liche Infor­ma­ti­ons­quelle, behauptet, er wäre ja soooo kri­tisch den­kend und würde seine Quellen immer über­prüfen. Nur, weil jemand nach einer Über­prü­fung einer bestimmten Quelle zu einem bestimmten Urteil über ihre Ver­läss­lich­keit gekommen ist, heißt das nicht, dass Du nach einer Über­prü­fung der­selben Quelle zum selben Ergebnis kommen wirst. Denn auch beim Über­prüfen und Recher­chieren neigen wir zum Bestä­ti­gungs­fehler. Und wer garan­tiert, dass die kri­tisch den­kende Person wirk­lich metho­do­lo­gisch sauber gear­beitet hat? Hast Du die Metho­do­logie denn eigen­händig über­prüft?

Horche auch auf, wenn diese Men­schen sich auf Ver­wandte, Bekannte und Freunde berufen, denn für diese Erzäh­lungen gelten die­selben Regeln wie auch für alle anderen Pri­mär­quellen: Haben diese Men­schen das Geschehen tat­säch­lich als Zeugen erlebt? Wurde das tat­säch­liche Geschehen even­tuell durch Erzäh­lungen ver­fälscht? Was haben diese Men­schen even­tuell nicht gesehen? Haben sie wirk­lich ver­standen, was sie gesehen haben, oder haben feh­lendes Hin­ter­grund­wissen, der Rea­li­täts­tunnel und die vielen mög­li­chen Denk­fehler zuge­schlagen? Oder haben diese Men­schen nichts gesehen und geben selbst nur Gerüchte wieder?

Viel­leicht bist Du jetzt aber ver­wirrt: Soll ich meine Ange­hö­rigen und andere Men­schen gene­rell nun zum Anlass nehmen, um meine Ansichten zu hin­ter­fragen, oder soll ich ihren Erzäh­lungen miss­trauen? Ich würde sagen: Tue beides. Gleich­zeitig. Lasse ihre Mei­nungen stehen, drücke ihnen keine Stempel auf, aber hin­ter­frage sie auch. Ebenso wie Du die Bericht­erstatter, denen Du nach ein­ge­hender Prü­fung ver­traust, trotzdem noch hin­ter­fragen soll­test. Und vor allem: wie Du Dich selbst hin­ter­fragen soll­test.

Außerdem musst Du wirk­lich nicht zu jedem Thema eine Mei­nung haben. Mehr noch,

weil kri­ti­sches Denken so auf­wändig ist, kann kein Mensch, der zu allem und jedem eine Mei­nung hat, über all diese Themen wirk­lich kri­tisch nach­ge­dacht haben.

Es spricht – in meinen Augen zumin­dest – also sogar gegen Dich, wenn Du zu jedem Thema Deinen Senf bei­steuern willst. Gleich­zeitig bedeutet das natür­lich nicht auto­ma­tisch, dass ein Mensch, der zu meh­reren Themen eine Mei­nung hat, Unsinn redet: Ein Mensch kann sich näm­lich auf meh­reren Gebieten aus­kennen, und viel­leicht hat er sich ja gerade mit diesen Themen ein­ge­hender befasst.

Des­wegen soll­test Du nie­manden abstem­peln, von dem Du nicht weißt, wie er auf seine Mei­nung gekommen ist.

Küm­mere Dich lieber um Dich selbst und sorge dafür, dass wenigs­tens Du keinen Unsinn ver­brei­test.

Und wenn Du Dich bei einem Thema zu einer Mei­nung nicht qua­li­fi­ziert fühlst, dann ist es eben so. Es ist, wie gesagt, absolut keine Schande und sogar eher etwas, das für Dich spricht, wenn Du ehr­lich zugeben kannst: „Ich weiß es nicht, ich kenne mich da nicht aus.“

Kri­tisch gedacht: Was nun?

Nach diesem aus­führ­li­chen Blick auf die ver­schie­denen Aspekte und Schritte des kri­ti­schen Den­kens hast Du hof­fent­lich eine fun­dierte, dif­fe­ren­zierte Mei­nung zu den Themen, die Dich beschäf­tigen. Aber was machst Du nun damit?

Natür­lich ist es Dein gutes Recht, Dich damit zu begnügen, eine fun­dierte, dif­fe­ren­zierte Mei­nung zu haben. Weil kri­ti­sches Denken aber auch sehr viel mit dem Aneignen von Wissen zu tun hat, könnte dieses Wissen Dein Ver­ant­wor­tungs­be­wusst­sein wecken sowie ein Ver­langen danach, zu han­deln. Vor allem, wenn Du auf gra­vie­rende Miss­stände auf­merksam wirst, ist es mehr als ver­ständ­lich, wenn Du daran etwas ändern möch­test. Gerade wenn über diese Miss­stände sonst kaum gespro­chen wird, braucht es jemanden, der die Schwei­ge­spi­rale unter­bricht.

Aber Vor­sicht, wie Du das anstellst!

Ich per­sön­lich emp­fehle, Deine Mei­nungen vor­sichtig und rela­ti­vie­rend zu for­mu­lieren.

Bedenke stets, dass nie­mand unfehlbar ist, und sei bereit, Fehler ein­zu­ge­stehen, wenn Du Dich doch irren soll­test. Eine offene Hal­tung gegen­über anderen Per­spek­tiven und die Fähig­keit, Mei­nungen zu revi­dieren, sind eben nicht umsonst Zei­chen von intel­lek­tu­eller Reife und Demut. Men­schen sind eher geneigt, mit Dir zu dis­ku­tieren und kon­struk­tive Gespräche zu führen, wenn sie spüren, dass Du nicht dog­ma­tisch, son­dern lern­be­reit bist.

Ganz beson­ders möchte ich an dieser Stelle noch einmal betonen, dass Du unbe­dingt klare Grenzen zwi­schen Fakten, Zitaten, Inter­pre­ta­tionen und Mei­nungen ziehen und sie ent­spre­chend kenn­zeichnen soll­test. Sage es zum Bei­spiel deut­lich, wenn Du eine Mei­nung äußerst, anstatt sie als Tat­sache dar­zu­stellen. Dies schafft Trans­pa­renz und ver­hin­dert Miss­ver­ständ­nisse. – Vor­aus­ge­setzt, Dein Dis­kus­si­ons­partner besitzt eben­falls die Fähig­keit, zwi­schen Fakten, Zitaten, Inter­pre­ta­tionen und Mei­nungen zu unter­scheiden. Falls das nicht der Fall ist: Warum dis­ku­tierst Du mit dieser Person über­haupt noch? Sie ist im Moment nicht auf­nahme- und dis­kus­si­ons­fähig, weil sie viel­leicht emo­tional auf­ge­wühlt ist oder sowas. Lass sie um Him­mels willen in Ruhe!

Außerdem können vor­sich­tige For­mu­lie­rungen dabei helfen, Dich quasi selbst zu erziehen. Auch, wenn Du das mit der Demut tief in Deinem Inneren noch nicht ganz ver­in­ner­licht hast, erin­nerst Du Dich selbst durch demü­tige For­mu­lie­rungen daran, dass Du demütig sein soll­test. Frei nach dem Motto: „Fake it till you make it!“ Der Nach­teil ist aber, dass ober­fläch­liche Men­schen, die sich vor allem durch Auf­treten und Cha­risma über­zeugen lassen, Dich weniger ernst nehmen. Aber bleib dran und übe das Dis­ku­tieren! Irgend­wann wirst Du sie höf­lich und zivi­li­siert mit über­zeu­genden Fakten über­schwemmen können, die sie dumm aus der Wäsche schauen lassen. Jedem auf­ge­bla­senen Luft­ballon geht früher oder später die Luft aus, und dann kann auch das beste Cha­risma der Wirk­lich­keit nicht mehr stand­halten.

Und klar, ich weiß, wie schwierig es ist, demütig zu sein. Ich meine, mein eigenes Ego ist auch nicht von schlechten Eltern. Aller­dings halte ich eine allzu selbst­si­chere und aggres­sive Prä­sen­ta­tion der eigenen Mei­nung oft für kon­tra­pro­duktiv. Wenn Du in einer Dis­kus­sion „auf die Kacke gehauen“ und alle Anders­den­kenden belei­digt hast und sich dann her­aus­stellt, dass Du falsch lagst, kann das gesichts­wah­rende Zurück­ru­dern zu einer Her­aus­for­de­rung werden. Mit der Selbst­si­cher­heit geht nun mal oft auch ein gewisser Stolz auf die eigene Mei­nung einher. Wenn Du dann fest­stellen musst, dass Deine Mei­nung, gelinde gesagt, Müll ist, sind Scham­ge­fühle die logischste aller Folgen. Du stehst dann näm­lich nicht nur als jemand da, der sich geirrt hat, was an sich ja absolut mensch­lich, normal und gesell­schaft­lich akzep­tabel ist, son­dern auch als aso­zialer Arro­ganz­beutel, mit dem man als durch­schnitt­li­cher Mensch eher wenig zu tun haben will. Dein urinstink­tives Bedürfnis danach, als lebens- und lie­bens­wert wahr­ge­nommen zu werden, ist dann einer exis­ten­zi­ellen Bedro­hung aus­ge­setzt.

Diese Dynamik erklärt auch, warum Dis­kus­si­ons­partner, die in einer Debatte Schwie­rig­keiten haben, gegen Deine Argu­mente anzu­kommen, mög­li­cher­weise aggressiv reagieren. Sie möchten nicht als böser, dummer, unbe­liebter, geschei­terter oder ander­weitig schlechter Mensch dastehen und ver­tei­digen daher ihre Stand­punkte mit Vehe­menz, selbst wenn sie längst ver­loren haben und der wei­tere Kampf somit sinnlos ist. Willst Du selbst so enden? – Wahr­schein­lich nicht. Also hüte Dich davor, „auf die Kacke zu hauen“. Es sei denn natür­lich, es han­delt sich um eine Aus­nah­me­si­tua­tion, in der Du Dich unmit­telbar bedroht fühlst. Wer Dir dann zum Vor­wurf macht, dass Du laut und unver­söhn­lich wirst, hat defi­nitiv selbst ein Pro­blem.

Beachte aber auch, dass nicht jede aggres­sive Reak­tion auf Scham­ge­fühle zurück­zu­führen ist. Manchmal können auch per­sön­liche Trigger oder trau­ma­ti­sche Erfah­rungen eine Rolle spielen: Bei Deinem Dis­kus­si­ons­partner könnte eben tat­säch­lich eine Aus­nah­me­si­tua­tion vor­liegen, auch wenn Du selbst nichts davon merkst. Ein sen­si­bler Umgang mit­ein­ander ist daher in allen Dis­kus­sionen von großer Bedeu­tung: Wenn ich zum Bei­spiel mit der hypo­the­ti­schen dun­kel­häu­tigen Lisa spreche und ihr erkläre, warum ich den Mangel von pas­sendem Make-up nicht für Ras­sismus halte, sollte ich das mög­lichst takt­voll machen.

Und „takt­voll“ ist ein wich­tiges Stich­wort:

Takt­volles Ver­halten bedeutet näm­lich, die Gefühle und Emp­find­lich­keiten anderer Men­schen zu erkennen und ernst zu nehmen und den Dialog auf eine respekt­volle Weise zu führen.

Es ist mehr als bloße Höf­lich­keit. Denn Höf­lich­keit ist eher ober­fläch­lich und kann unter­halb dieser Ober­fläche extrem giftig sein: Man kann sehr wohl einen Men­schen belei­digen, ohne belei­di­gende oder her­ab­las­sende Worte zu ver­wenden. Takt­ge­fühl hin­gegen erfor­dert ein tiefes Ver­ständnis für die Bedürf­nisse und Emp­find­lich­keiten anderer Men­schen sowie die Fähig­keit, sen­sibel auf diese ein­zu­gehen. Und dies ist für eine pro­duk­tive und kon­struk­tive Kom­mu­ni­ka­tion ent­schei­dend. Takt­ge­fühl kann jedoch nicht ein­fach in einem ein­zigen Artikel ver­mit­telt werden, denn es erfor­dert kon­ti­nu­ier­li­ches Lernen und sehr viel Übung. Und abge­sehen davon, dass es den Rahmen dieses Arti­kels sprengen würde, habe ich Zweifel, inwie­fern ich über­haupt die rich­tige Person bin, um anderen etwas über Takt­ge­fühl bei­zu­bringen.

Auf den Miss­stand hin­weisen möchte ich aber trotzdem:

Leider ist vielen Men­schen heut­zu­tage – vor allem den jün­geren Gene­ra­tionen – anschei­nend nicht einmal bewusst, wie wichtig Takt­ge­fühl ist.

Häufig sagen sie Dinge wie: „Das Leben ist kein Ponyhof.“ Und dann dis­ku­tieren sie so, wie ihnen halt der Schnabel gewachsen ist, und finden das even­tuell sogar cool, schlag­fertig und selbst­be­wusst. Sie dis­ku­tieren mit viel Emo­tion, zuweilen mit Witz, Ironie und Sar­kasmus, und meinen, der Adressat solle sich eine dickere Haut zulegen. Es gehöre zu einer reifen Per­sön­lich­keit dazu, mit Wider­spruch umgehen zu können. Und an sich stimmt das Ganze ja auch. Bloß sind diese sar­kas­ti­schen Leute häufig die ersten, die jam­mern und sich belei­digt fühlen, wenn man ihnen – wohl­ge­merkt in einem viel ruhi­geren und sach­li­cheren Ton­fall – wider­spricht.

Ich drücke meine Mei­nung dazu mal hart aus: Ich finde das aso­zial. Und ver­mute dahinter ent­weder eine schlechte Erzie­hung oder Nar­zissmus oder sogar beides. Und alle drei Vari­anten schaden allen Betei­ligten. Meine Erfah­rung ist näm­lich: Je sach­li­cher und takt­voller der Ton, desto höher ist die Wahr­schein­lich­keit, dass eine sach­liche Dis­kus­sion zustande kommt, und viel­leicht kann man sogar über­zeugen. Und ja, es stimmt, dass das Leben ist kein Ponyhof ist. Und genau des­wegen sollten wir auf­ein­ander so viel Rück­sicht nehmen wie mög­lich.

Nun kann eine ernst­hafte Aus­ein­an­der­set­zung mit kri­ti­schem Denken aber auch einen sehr depri­mie­renden Neben­ef­fekt haben: Wenn Du anfängst, auf Denk- und Logik­fehler zu achten, Pro­pa­gan­da­tech­niken zu durch­schauen, all die unbe­wussten Vor­ur­teile und sogar Ras­sismen wahr­zu­nehmen, selbst die sub­tilsten Aggres­sionen wegen Mei­nungs­ver­schie­den­heiten zu regis­trieren etc., kommst Du Dir irgend­wann wie der ein­zige intel­li­gente Mensch unter Idioten vor. Das dadurch ent­ste­hende Gefühl von Ein­sam­keit ist so ein biss­chen die Bürde reifer, intel­li­genter Men­schen und zugleich auch eine große Gefahr:

Denn die idio­tischsten Idioten sind die­je­nigen, die das Gefühl haben, der ein­zige intel­li­gente Mensch unter Idioten zu sein. (Siehe Dun­ning-Kruger-Effekt.)

Und damit schließt sich der Kreis. Bilde Dir also nie­mals etwas auf Dein kri­ti­sches Denken und Deine Intel­li­genz ein. Argu­men­tiere. Weise auf Fehler und Miss­stände hin. Ver­tei­dige Dich, wenn Du ange­griffen wirst und eine Ver­tei­di­gung für nötig hältst. Aber erhebe Dich nicht über andere und bilde Dir nicht ein, Du wärst etwas Bes­seres. Wie gesagt, belei­dige nie­manden, selbst wenn Du das Gefühl hast, objektiv intel­li­genter als Dein Gegen­über zu sein. Und ja, wenn Du tat­säch­lich intel­li­gent bist und gut argu­men­tierst, kann es auch ohne Belei­di­gungen von Deiner Seite dazu kommen, dass Dein Oppo­nent sich Dir gegen­über dumm und daher belei­digt fühlt. Das ist aber sein eigenes Pro­blem und geht Dich nichts an. Lass ihn ruhig rum­schreien und verbal um sich schlagen. Ist doch schön, wenn Dein Oppo­nent sich vor aller Augen selbst dis­kre­di­tiert. 😉

Also alles in allem:

Denke kri­tisch, aber sei nicht arro­gant, son­dern takt­voll.

Dabei ist es egal, zu wel­chen Schlüssen Du kommst, solange Du sie gut begründen kannst und sie einer sach­li­chen Kritik stand­halten können. Vor allem aber sollte nie­mand belei­digt werden. Und damit das Ganze etwas besser funk­tio­niert, brau­chen wir Empa­thie und Takt­ge­fühl als Schul­fach. Ebenso Logik. Über­haupt brau­chen wir ein Bil­dungs­system, bei dem man nicht in ein Schema F gepresst wird. Und ja, ich weiß, es ist nicht so ganz der Sinn und Zweck unseres Schul­sys­tems, eigen­stän­dige, reife Per­sön­lich­keiten her­vor­zu­bringen, aber man wird ja wohl träumen dürfen.

Schluss­wort

Wie, Du bist noch da? Respekt! Das schafft echt nicht jeder. Hier, nimm Dir einen ima­gi­nären Keks! – Ich hoffe aber natür­lich, dass Du nicht ein­fach nur durch­ge­halten hast, son­dern auch wert­volle Erkennt­nisse gewinnen konn­test und nun moti­viert bist, Dein eigenes kri­ti­sches Denken wei­ter­zu­ent­wi­ckeln und zu ver­fei­nern. Unsere Welt braucht näm­lich mehr Men­schen, die in der Lage sind, die Dinge dif­fe­ren­ziert zu betrachten und fun­dierte Ent­schei­dungen zu treffen.

Zum Abschluss möchte ich nur noch einmal meine Fas­zi­na­tion über einige Par­al­lelen zwi­schen ver­schie­denen Dis­zi­plinen aus­drü­cken. Denn im Grunde beruhen das lite­ra­tur­wis­sen­schaft­liche Ana­ly­sieren der Erzähl­per­spek­tive, die Quel­len­kritik in der Geschichts­wis­sen­schaft und die Medi­en­kritik im Wesent­li­chen auf den­selben Prin­zi­pien. Dies unter­streicht die Bedeu­tung von kri­ti­schem Denken als grund­le­gende Fähig­keit, die Du in ver­schie­denen Berei­chen des Lebens anwenden kannst.

Dabei dürfen wir nicht ver­gessen, dass nie­mand per­fekt im kri­ti­schen Denken sein kann. Unsere Fähig­keit, Infor­ma­tionen zu ana­ly­sieren und Schluss­fol­ge­rungen zu ziehen, ist immer begrenzt. Den­noch sollten wir uns stets bemühen, unser kri­ti­sches Denken zu ver­bes­sern und mög­li­chen Trug­schlüssen ent­ge­gen­zu­wirken. Und glaub mir, ich habe alle oder zumin­dest fast alle der in dieser Reihe bespro­chenen Denk­fehler, kogni­tiven Blo­ckaden und Tücken selbst erlebt. Bin also kei­nes­falls besser als Du, nur weil ich diese Reihe fabri­ziert habe. Habe also keine Scheu, wenn Du etwas kor­ri­gieren oder ergänzen willst. Solange Du es sach­lich und freund­lich tust, ver­steht sich.

Ansonsten schim­mern in dieser Arti­kel­reihe zwei­fels­ohne meine eigenen Ansichten zu kon­tro­versen poli­ti­schen Themen durch. Obwohl ich mich bemüht habe, mög­lichst neu­tral zu for­mu­lieren, musste ich ja Bei­spiele anführen und zer­legen, und da kommt man nicht umhin, auf den eigenen Wis­sens­stand und damit auch auf den eigenen Rea­li­täts­tunnel zurück­zu­greifen. Habe also auch hier keine Scheu, mir zu wider­spre­chen, solange Du es zivi­li­siert tust.

Und schließ­lich möchte ich noch klar­stellen, dass diese Arti­kel­reihe nicht als Aus­druck von Men­schen­hass gedacht ist. Stel­len­weise mag es viel­leicht so scheinen, weil ich immer wieder davor warne, anderen Men­schen gute Absichten zu unter­stellen, und immer wieder darauf hin­weise, dass „das Böse“ auch in Dir selbst wohnt. Ich will nur sagen:

Men­schen sind Men­schen, und das ist weder gut noch schlecht.

Diese Arti­kel­reihe richtet sich viel­mehr gegen naiven Idea­lismus, der die Rea­li­täten der mensch­li­chen Natur aus­blendet und die Welt in allzu simplen Mus­tern betrachtet.

Men­schen­liebe bedeutet meiner Mei­nung nach näm­lich nicht, die dunklen Seiten des Men­schen zu leugnen, son­dern ihn trotz seiner Unvoll­kom­men­heit, manchmal sogar Bies­tig­keit, zu akzep­tieren und ihn bei all seinem enormen Grau­sam­keits­po­ten­tial trotzdem noch zu lieben.

Und der erste Schritt besteht nun mal darin, dass wir diese Schat­ten­seiten am Men­schen gene­rell und an uns selbst im Spe­zi­ellen über­haupt erst wahr­nehmen und aner­kennen.

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