Wie geht kritisches Denken? Nach zwei Teilen mit theoretischen Analysen und Beispielen gehen wir endlich zur Praxis über und zerlegen die sechs Einzelschritte für eine faktenbasierte Meinungsbildung. Unsere Methode beruht dabei auf wissenschaftlicher Quellenkritik, journalistischen Grundlagen und erzähltheoretischen Ansätzen. Brechen wir also gemeinsam aus unseren Realitätstunneln aus!
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Wie viele Menschen kennst Du, die völlig ungeniert von sich behaupten, sie würden nicht kritisch denken? Nicht viele, oder? Hinz, Kunz und ihr Hund glauben ehrlich und aufrichtig, sie würden kritisch denken. Doch wenn man gegenüber einem durchschnittlichen Menschen nachhakt, kommt schnell heraus, dass sein kritisches Denken meistens darin besteht, sich einer Meinung anzuschließen, „einfach weil sie mir am plausibelsten erscheint“, wie ein Schlaumeier in einem leider und nicht von mir gelöschten Kommentar unter einem meiner Videos es ganz selbstüberzeugt formuliert hat.
Falls Du das auch so handhabst, dass Du Dir unterschiedliche Darstellungen anschaust und dann dem glaubst, was Dir „am plausibelsten“ erscheint, dann habe ich eine ganz schlechte Nachricht für Dich: Genau so geht kritisches Denken nicht.
Aber wie geht es dann? Das besprechen wir in diesem Artikel!
Kritisches Denken: Grundlagen
Zunächst solltest Du einsehen, dass zwischen kritischem Denken und dem Glauben, man würde kritisch denken, ein massiver Unterschied besteht. In den ersten beiden Teilen dieser Reihe haben wir nämlich ausführlich darüber gesprochen, wie wir Menschen ganz unbewusst uns selbst in die Irre führen, wie wir unseren Vorurteilen, Denkfehlern und kognitiven Blockaden nahezu hilflos ausgeliefert sind und wie subtil sich das in unserem Denken, Fühlen und Handeln niederschlagen kann. Wenn Du Dir diese beiden Teile also noch nicht zu Gemüte geführt hast, würde ich empfehlen, dass Du das jetzt nachholst, denn sie bilden die Grundlage für diesen Artikel.
An dieser Stelle aber zurück zu Hinz, Kunz und ihrem Hund. Weil die drei der felsenfesten Überzeugung sind, sie würden kritisch denken, glauben sie auch, sie würden Propaganda sofort erkennen, wenn sie ihnen begegnet. Doch genau hier liegt ihr Trugschluss:
Manipulation ist keine gute Manipulation, wenn der Manipulierte erkennt, dass er manipuliert wird.
Gute Propaganda operiert im Verborgenen, Unterbewussten, und erkennbare Propaganda ist somit schlechte Propaganda, die nicht wirkt, eben weil sie durchschaut wird. Gute Propaganda hingegen ist genau das, was auf uns ohne kritische Analyse „am plausibelsten“ wirkt. Denn wie wir in den ersten beiden Teilen dieser Reihe gelernt haben:
Als Menschen haben wir unsere Realitätstunnel, neigen zu Selbsttäuschung und können uns beim kritischen Denken somit nicht auf uns selbst verlassen. Denn um unseren komfortablen Realitätstunnel zu erhalten, sind wir darauf getrimmt, das zu glauben, woran wir eh schon glauben.
Du kennst das Prinzip bereits aus der Werbung, die ja nichts anderes ist als Propaganda für bestimmte Produkte und Dienstleistungen: Viele glauben, von ihr nicht beeinflusst zu werden, und finden sie sogar nervig, aber später beim Einkaufen zeigt sich, dass die Werbung eben doch gewirkt hat. Letztendlich sind wir alle anfällig, besonders jene, die sich für aufgeklärt und unempfänglich halten – denn diese Menschen sind weniger auf der Hut, weil sie sich in falscher Sicherheit wiegen. Aber wie die Praxis zeigt, überschätzen sie ihre Fähigkeiten, und somit deutet die Annahme, gegen Werbung und Propaganda immun zu sein, eben auf Selbstüberschätzung hin und dadurch, wie gesagt, auf eine erhöhte Anfälligkeit für Manipulation. Somit sagen Deine Meinungen oft auch weniger über die Sache aus als über Dich selbst, wie wir vor allem an den Beispielen im zweiten Teil gesehen haben.
Und je mehr Du nun das Gefühl hast, dass diese Ausführungen hier auf alles und jeden zutreffen, nur nicht auf ganz konkret Dich, desto mehr solltest Du Dich von dieser Reihe angesprochen fühlen.
Weil wir nicht die einzigen sind, die unkritisch denken, dürfen wir uns auch nicht auf andere verlassen, egal, wie qualifiziert und kritisch sie auf uns wirken mögen. Selbst „der Wissenschaft“ dürfen wir, wie wir bereits gesehen haben, nicht unkritisch folgen und irgendwelchen „Faktencheckern“ und Konsorten schon gar nicht. Selbst wenn uns vermeintliche Beweise geliefert werden, sei es auch noch so sehr authentisches Videomaterial, – gerade wir Schreiberlinge wissen spätestens seit unserem Artikel über den neutralen und den unzuverlässigen Erzähler, dass auch eine Kamera niemals neutral oder objektiv ist, weil wir immer nur einen sorgfältig ausgewählten Ausschnitt zu sehen bekommen.
Und auf unsere Bildung und Erziehung können wir uns erst recht nicht verlassen. Denn wer sind unsere Lehrer und Erziehungsberechtigten? Hier in Deutschland haben unsere Vorgänger sich während des Nationalsozialismus überwiegend als Täter, Opportunisten und Mitläufer erwiesen – sollen wir von ihnen kritisches Denken gelernt haben? Und dass es kein spezifisch deutsches Problem ist, hat das The-Third-Wave-Experiment gezeigt, denn da wurde ein autoritäres Regime im Taschenformat an einer US-amerikanischen High School aufgebaut.
Es ist also ein allgemeinmenschliches Problem. Und somit müssen wir, wenn wir kritisch denken wollen, gewissermaßen unserer egoistischen, propagandaversifften, denkfaulen menschlichen Natur entgegenwirken.
Das bedeutet: Wir müssen uns von unseren Gefühlen, Ansichten und Eindrücken lösen und nahezu roboterhaft auf einen Algorithmus, eine möglichst neutrale Methode setzen: Wir müssen die Informationen von allen Seiten selbstständig zusammensuchen, sie dann zunächst einmal stehen lassen, sie verstehen, uns anschauen, wer die Beteiligten überhaupt sind und welche Kontakte und Interessen sie haben, wo ihre Finanzierung herkommt, wie sie sich in der Vergangenheit verhalten haben und was ihre Kritiker so sagen (die wir natürlich ebenfalls hinterfragen müssen), wir müssen die Aussagen inhaltlich durchanalysieren auf Perspektive, Logik und Methode, recherchieren, was für und was gegen die Behauptungen spricht und welche Nachweise vorliegen, und schließlich kalkulieren, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass die vorliegende Information stimmt. Das ist kleinkarierte Millimeterarbeit. Und deswegen sprechen wir nun etwas ausführlicher darüber.
6 Schritte für selbstständiges, kritisches Denken
Schritt 1: Demut
Wie bei so vielen anderen Dingen ist auch beim kritischen Denken die Einstellung, mit der man an die kritisch zu betrachtenden Fragen herangeht, entscheidend. Denn wenn die Wurzel des Übels hinter fehlendem kritischen Denken das menschliche Ego ist, dann bedeutet das, dass wir, wenn wir wirklich kritisch denken wollen, unser Ego zum Schweigen bringen müssen.
Im ersten Teil dieser Reihe haben wir bereits angesprochen, was das bedeutet:
Wir müssen unser Selbstwertgefühl von Kriterien entkoppeln.
Soll also heißen:
Wir müssen uns selbst immer noch als lebens- und liebenswert ansehen, sogar wenn sich herausstellt, dass wir nicht moralisch, intelligent, beliebt, erfolgreich oder was auch immer sind.
Oder anders formuliert:
Wir müssen demütig werden.
Tatsächlich erwische ich mich immer wieder dabei, wie ich mit zunehmendem Alter immer mehr zu traditionellen christlichen Werten finde. Wäre ich kulturell anders geprägt, würde ich sicherlich zu den Werten einer anderen Religion finden, aber ich bin nun mal in einem kulturellen Kontext des Christentums aufgewachsen und verstehe mit den Jahren mehr und mehr den Sinn hinter dessen Lehren. Und in Bezug auf Demut stelle ich fest, dass demütige Menschen nicht nur angenehmer im Umgang sind, sondern eben auch kritischer denken:
Denn wer sich bewusst ist, dass er nur ein kleiner, unwissender und sündhafter Mensch ist, wird sich davor hüten, sich allzu sehr auf seine subjektiven Urteile zu verlassen.
Dafür muss man nicht einmal an Gott glauben. Aber manchen hilft es wohl, sich ein großes, allmächtiges und allwissendes Wesen vorzustellen, um sich im Vergleich mit ihm als die kleinen und unwissenden Sünder zu fühlen, die sie sind, und gleichzeitig das Gefühl zu haben, dass jemand sie trotz all dieser Makel immer noch als liebenswert erachtet. Überhaupt scheint mir die Vorstellung von Gott in vielerlei Hinsicht eher eine Eselsbrücke zu sein, um ein glückliches, rechtschaffenes Leben zu führen. Denn ohne solche Eselsbrücken und Psychotricks ist es in der Tat noch schwerer. Aber wir schweifen ab. 😉
Wenn es also nun um Demut geht, dann bedeutet es in Bezug auf kritisches Denken,
dass wir uns zunächst darauf besinnen, dass wir durch unser Selbstbild, unsere Denkfehler und überhaupt durch unsere menschliche Natur über zahlreiche tote Winkel im Denken und Wahrnehmen verfügen.
Als Menschen sind wir einfach zu doof, um die objektive Realität wahrzunehmen, wenn man so will. Und das bedeutet, dass all unsere Bewertungen und Urteile, Meinungen und Ansichten und was wir zu wissen glauben alles Mumpitz sind. Was uns selbst als offensichtlich erscheint, ist nicht unbedingt objektiv offensichtlich und entspricht auch nicht unbedingt der Realität. Und aus einem anderen Realitätstunnel heraus ist es vielleicht sogar gänzlich absurd.
Selbst wenn Du glaubst, etwas mit eigenen Augen gesehen zu haben, solltest Du Dich nicht darauf verlassen. Denn wie wir im ersten Teil dieser Reihe am Fritzchenbeispiel gesehen haben, gibt es sehr viele Faktoren, die bestimmen, was wir wie wahrnehmen, und das führt dazu, dass wir oft gar nicht merken, dass wir nicht verstehen, was wir da überhaupt wahrgenommen haben. Als Historikerin mit so manchem Seminar über interkulturelle Kompetenz auf dem Buckel kann ich zum Beispiel anführen, dass man sich auf historische Reiseberichte nicht allzu sehr verlassen darf, seien es Römer, die über Gallier und Germanen schreiben, oder westeuropäische Reisende und Abenteurer in fremden Ländern. Selbst wenn diese Menschen nicht lügen oder zumindest fantasievoll ausschmücken, so begegnen sie anderen Kulturen doch mit einer bestimmten Grundeinstellung und sehr viel Unwissen, was dazu führt, dass sie oft nicht verstehen, was sie da sehen, und dementsprechend ziemlich falsche Schlüsse ziehen. Und dann schlägt der Dunning-Kruger-Effekt zu und sie glauben ehrlich und aufrichtig, sie würden sich auskennen, während die Leute, über die sie in ihren Berichten schreiben, oder deren Nachkommen die Beschreibungen und Urteile, wenn sie ihnen in die Hände fallen, beleidigend oder aber ausgesprochen komisch finden.
Es versteht sich übrigens auch von selbst, dass wir bei manchen Themen demütiger und kritischer sind als bei anderen. Wenn ein Thema uns zum Beispiel relativ egal ist, dann macht es uns auch weniger aus, da etwas zu hinterfragen. Wenn kritisches Hinterfragen aber unseren Realitätstunnel und unser Selbstbild bedrohen würde, wehren wir uns vehement selbst gegen die kleinsten Zweifel. Das kann sich zum Beispiel darin äußern, dass wir Menschen, die eine andere Meinung vertreten, von vornherein abstempeln:
- Hast Du schon mal gedacht oder sogar gesagt, dass Menschen, die in irgendeinem Punkt eine andere Ansicht haben, alles Bildzeitungsleser sind?
- Dass sie nur stumpf irgendwelche Parolen grölen?
- Dass sie ideologieversifft, propagandaverblendet und sowieso Verschwörungstheoretiker sind oder sogar bewusst lügen?
Herzlichen Glückwunsch, das alles sind typische Ausreden, um sich mit anderen Ansichten nicht auseinanderzusetzen. Oder sie zu erwürgen:
So hat die CIA 1967 das Dokument #1035–960 herausgegeben, das buchstäblich eine Anleitung darstellt, wie man unangenehme Kritiker als „Verschwörungstheoretiker“ und „Propagandisten“ des Feindes diskreditiert. Dabei zeigt die Geschichte, dass ein Teil dessen, was von den Regierungen und in den Leitmedien als „Verschwörungstheorie“ abgetan wird, sich im Nachhinein durchaus als wahr herausstellt, beispielsweise dass die USA die Massenvernichtungswaffen im Irak 2003 sage und schreibe erfunden haben, um ihren Krieg zu legitimieren. Eine „Verschwörungstheorie“ ist also nicht automatisch Humbug, und ob da tatsächlich etwas dran ist oder nicht, weiß man nur, wenn man sie sich genauer anschaut. Genau davon soll das Label „Verschwörungstheorie“ aber abhalten.
Diese und alle anderen Arten des Herabsetzens anderer Meinungen als „nicht beachtenswert“ sind eine Form von Aggression.
Und Aggression entsteht, wenn man sich – sei es auch nur unterbewusst – bedroht fühlt.
Und warum fühlst Du Dich bedroht, wenn die Behauptungen Andersdenkender Deiner Meinung nach nur „dumme Parolen“ sind? Denn wenn Du Dich nicht bedroht fühlen würdest, würdest Du doch gelassen reagieren und die Andersdenkenden nicht verbal oder zumindest gedanklich angreifen. Die „dummen Parolen“ sind für Dich also offenbar doch keine „dummen Parolen“, sondern Gedanken, die für Dich gefährlich sein könnten. Und wann sind bloße Gedanken (und nicht etwa Handlungen) überhaupt gefährlich? – Genau, wenn sie unser Selbstbild, unseren Realitätstunnel, bedrohen. Du hast also unterbewusst Angst, dass hinter den „dummen Parolen“ eine Wahrheit stecken könnte, in deren Licht Du nicht als moralisch, intelligent, beliebt, erfolgreich oder was auch immer dastehen würdest.
Weil Du Deinen Selbstwert also an solche Kriterien koppelst, hinderst Du Dich selbst daran, Dich mit anderen Ansichten kritisch auseinanderzusetzen. Du weist sie von vornherein ab und unterstellst ihren Vertretern negative Eigenschaften, damit Du selbst im Vergleich gut dastehst: Denn wenn die Andersdenkenden dumm sind, dann bist Du klug; wenn sie blöde Außenseiter sind, dann bist Du ein geschätzes Mitglied der Gesellschaft; und wenn sie asozial oder anderweitig amoralisch sind, dann bist Du sozial und moralisch. Du erhebst Dich über sie. Du maßt Dir an, über andere urteilen zu können, ohne jemals in ihren Schuhen gelaufen zu sein. Du glaubst zu wissen, was in ihrem Inneren stattfindet. Doch mit welchem Recht eigentlich? Was glaubst Du, wer Du bist? – Gott? Wissender, klüger und moralischer als andere Menschen? Somit beglückwünsche ich Dich noch ein zweites Mal:
Wenn Du die Ansichten Andersdenkender ohne inhaltliche Argumente von vornherein herabsetzt, dann begehst Du die Todsünde des Hochmuts.
Und da ist es egal, wie sehr Du selbst von Deiner eigenen Bescheidenheit und Demut überzeugt bist: Deine Handlungen sprechen vom Gegenteil. Wenn auf dem Rasen ein Hundehäufchen liegt, dann ist das ein ziemlich eindeutiger Beweis, dass ein Hund vorbeigekommen ist. Und wenn Du andere Menschen aufgrund von ihren aus Deiner subjektiven Sicht vielleicht noch so abstrusen Meinungen herabsetzt, dann bist Du ein arrogantes Arschloch.
In diesem Sinne: Herzlich willkommen im Klub der arroganten Arschlöcher. So ziemlich die meisten von uns haben das Problem. Und das Beste, was wir tun können, ist, auf unsere eigenen Gedanken aufzupassen und noch mehr auf unsere Handlungen. Denn wenn wir uns in all unserem Hochmut moralisch im Recht sehen und unsere Taten dementsprechend nicht hinterfragen, sind wir schnell zu schrecklichen Dingen fähig. Schaue Dir nur die schlimmsten Auswüchse der Cancel Culture an: Andersdenkende werden abgestempelt, ausgegrenzt und manche verlieren ihren Job oder sogar ihr ganzes Umfeld. – Und nur, weil andere ihre bloßen Gedanken, zum Beispiel über die Nützlichkeit von Corona-Maßnahmen, als bedrohlich empfinden. Dabei ist es normal, dass Menschen verschiedene Ansichten haben, und wenn wir auf Andersdenkende gelassen reagieren, können wir meistens Kompromisse finden oder uns gemeinsam auf Wahrheitssuche begeben.
Aber – oha, ich höre Widerspruch! Du sagst: „Was, wenn die anderen Meinungen tatsächlich gefährlich sind, weil sie zu Verhaltensweisen führen, die mir schaden?“
Ich sage dazu: „Schau Dich selbst an. Bist Du sicher, dass Deine Meinungen nicht zu Verhaltensweisen führen, die anderen schaden? Warum sollen die anderen ihre Meinung aufgeben und Du nicht?“
Und Du antwortest: „Weil die Meinung der anderen diskriminierend oder anderweitig unmoralisch ist!“
Und ich wiederhole: „Schau Dich selbst an. Bist Du sicher, dass Deine Meinung nicht diskriminierend oder anderweitig unmoralisch ist? Ich weiß, Du bist Dir wirklich sicher, sonst würdest Du nicht so reden und Dich wehren. Du gewichtest den Schaden, der durch andere entsteht, höher als den Schaden, der durch Dich entsteht und dessen Existenz Du vielleicht sogar nicht einmal in Erwägung ziehen willst. Du gewichtest Deine Werte, Deine Moral, höher als die Werte anderer Menschen. – Und genau das ist der Inbegriff von Arroganz. Von moralischer Selbsterhöhung auf Kosten anderer. Wenn Du die Welt also wirklich verbessern willst, dann beginne bei Dir selbst. Denn Du bist ein arrogantes Arschloch und hast deswegen kein Recht, anderen vorzuschreiben, was sie zu tun und zu lassen haben.“
Abgesehen von komplettem Abblocken und Verurteilen anderer Meinungen gibt es noch andere Dinge, die uns an Kompromissen oder an gemeinsamer Wahrheitssuche behindern, zum Beispiel das absolut arrogante Gefühl, man würde die Gegenseite verstehen, aber die Gegenseite einen selbst nicht. Das kann durchaus der Fall sein, aber es kann auch nicht der Fall sein. Deswegen ist auch dieses Gefühl zu hinterfragen – man kann es absolut äußern, das konkrete Problem zu benennen ist meistens sehr hilfreich, aber man sollte es trotzdem respektvoll tun, am besten als Ich-Botschaft: „Ich glaube, wir reden aneinander vorbei.“ Oder: „Ich fühle mich nicht verstanden.“
Solche vorsichtigen, relativierenden Formulierungen vertragen sich allerdings meistens nicht mit der westlichen Mentalität mit ihrem – nennen wir es mal „Kult der Selbstdarstellung“. Schon als Kinder bekommen wir eingetrichtert, dass wir, wenn wir ernst genommen werden wollen, „selbstbewusst“ auftreten müssen. Wenn man ständig die Eingeschränktheit seiner eigenen Subjektivität betont und Raum für Zweifel an den eigenen Aussagen lässt, wirkt man meistens nicht selbstbewusst. Dabei hat das eigentlich nichts mit richtigem Selbstbewusstsein zu tun, denn Selbstbewusstsein bedeutet, sich seiner Selbst bewusst zu sein, also zu wissen, wer man ist. Was man hierzulande für Selbstbewusstsein hält, ist aber eher Selbstüberzeugtheit: Menschen lassen sich eher von Selbstüberzeugtheit überzeugen als von Argumenten, völlig egal, ob diese Selbstüberzeugtheit berechtigt ist oder nicht. Meistens ist sie sogar tatsächlich nicht berechtigt, wie der Dunning-Kruger-Effekt zeigt, da vor allem unwissende und dumme Menschen selbstüberzeugt auftreten. In Bezug auf kritisches Denken würde ich Selbstüberzeugtheit daher als toxisch einstufen, was wiederum bedeutet, dass wir gegen einen Wert verstoßen müssen, den viele von uns schon mit der Muttermilch verabreicht bekommen haben.
Auch unsere natürliche Autoritätshörigkeit könnte zu einem besonderen Problem werden, weil sie leicht mit Demut verwechselt werden kann. Denn der Autoritätshörige sagt vermeintlich demütig: „Ich bin doof, ich kenne mich nicht aus und deswegen höre ich auf jemanden, der Bescheid weiß.“ Grundsätzlich ist es natürlich nicht verkehrt, um sein eigenes Unwissen wissend nach zuverlässigen Informationsquellen zu suchen. – Aber wer sagt, dass Deine Einstufung einer Informationsquelle als „zuverlässig“ korrekt ist? In Teil 1 und 2 dieser Reihe haben wir ja bereits festgestellt, dass wir selbst „der Wissenschaft“ nicht blind vertrauen dürfen. Wenn Du einer Informationsquelle ohne Wenn und Aber glaubst, dann maßt Du Dir genug Kompetenz an, um sie zu beurteilen. – Mit welchem Recht eigentlich? Vielleicht wirkt diese Quelle auf Dich nur deswegen so zuverlässig, weil Du so doof und manipulierbar bist? Und wenn andere Menschen anderen Quellen trauen, die Deiner Quelle widersprechen? Dann stellst Du Dein Urteil also mal wieder über das anderer Menschen. Du bist also nicht etwa demütig, sondern ein arrogantes Arschloch.
Nein. Demut bedeutet nicht, sich irgendeiner Meinung anzuschließen, weil man es nicht besser weiß:
Demut bedeutet, auf eine Meinung entweder komplett zu verzichten, weil man genau weiß, dass sie auf jeden Fall Mumpitz sein wird, oder sie auf selbstständiger, ergebnisoffener Forschung aufzubauen und dabei im Hinterkopf zu behalten, dass man sich trotzdem irren könnte.
Wie kommt man also zu dieser demütigen Grundeinstellung?
Sofern Du ein normalsterblicher Mensch bist, wirst Du Dich von Deiner irdischen Sündhaftigkeit wohl nie lösen können. Aber wir Menschen können zumindest versuchen, uns vorübergehend in einen „demütigen Modus“ zu versetzen, um einer bestimmten Sache auf den Grund zu gehen.
Und wie Du Dir vielleicht mittlerweile denken kannst, beginnen wir dabei mit der Selbstreflexion. Denn es ist ja schön und gut, wenn Du die Fehler anderer zu erkennen glaubst – aber schau Dich in erster Linie selbst an:
Du bist nicht perfekt, Du unterliegst schrecklichen Irrtümern und Du fügst anderen wahrscheinlich Schaden zu, ohne es zu merken bzw. merken zu wollen.
Deswegen liegt es nicht in der Kompetenz Deines Spatzenhirns, irgendetwas zu beurteilen. Insbesondere andere zu verurteilen, vor allem, wenn Du nicht in ihrer Haut steckst.
Ich meine, klar, wenn Dir wehgetan wird, hast du jedes Recht der Welt, ganz laut „Au!“ zu schreien. Es ist sogar Deine Pflicht als erwachsener Mensch, für Dich selbst einzustehen und in einer konkreten Situation oder bei einem systemischen Problem die Schweigespirale zu durchbrechen. Aber hetze nicht! Gib Dich nicht dem Hass hin, sogar wenn Du glaubst, dass Dir selbst mit Hass begegnet wird. Denn diejenigen, die Dir wehtun, sind keine schlechteren Menschen und du bist auch kein besserer Mensch. Zumindest liegt es, wie gesagt, nicht in Deiner Kompetenz, das zu beurteilen. Lege also einfach nur deine Sicht der Dinge dar, so gut und zivilisiert Du kannst.
Um das zu schaffen und generell ergebnisoffen forschen zu können, musst Du emotional möglichst gelassen sein.
Zieh Dich notfalls also zurück, beruhige Dich und löse Dich ggf. von Deiner Identifikation mit einer Gruppe, zumindest vorübergehend, weil es Dich sonst parteiisch macht und, wie wir in Teil 1 gesehen haben, auch Deine intellektuellen Fähigkeiten einschränkt.
Überhaupt ist es sinnvoll, sich generell nicht großartig mit etwas zu identifizieren außer mit sich selbst: also auch nicht mit irgendeiner Lehre, einer Bewegung, einer Mission, was auch immer. Das ist natürlich schwierig, weil wir allein schon durch unsere angeborenen Eigenschaften unterschiedlichen Gruppen zugeordnet werden können und es auch werden und es oft auch sinnvoll ist. Wie es zum Beispiel sinnvoll ist, seine Schuhgröße zu kennen, denn das ist auch eine Gruppe. Aber es ist nochmal eine andere Sache, sich mit seiner Schuhgröße zu identifizieren und das Fehlen der eigenen Schuhgröße im Geschäft als persönlichen Angriff zu werten. Wenn Du nur schwer an gescheites Schuhwerk herankommst, weil Deine Füße ungewöhnlich groß oder ungewöhnlich klein sind, dann ist das ein ernstzunehmendes Problem und danke, dass Du darauf aufmerksam machst. Aber deswegen solltest Du nicht losziehen und Schuhfachgeschäfte niederbrennen und eine Revolution anzetteln. Verstehst Du, was ich meine? Du hast jedes Recht der Welt, Themen zu haben, die Dir besonders wichtig sind. Aber zwinge sie niemandem auf! Es sei denn natürlich, das konkrete Thema ist in der jeweiligen konkreten Situation tatsächlich wichtig.
Und weil es definitiv Leute geben wird, die eine andere Meinung haben, gilt:
Sei offen für die Argumente der Gegenseite bzw. aller Seiten. Sei bereit, ihre Logik nachzuvollziehen, und lass den Gedanken zu, dass jede der Seiten recht haben könnte. Und auch wenn Dir etwas auf Anhieb wie schrecklicher Unsinn vorkommt, besinne Dich auf die Eingeschränktheit Deines Spatzenhirns und lass den Gedanken zu, dass dieser vermeintliche Unsinn stimmen könnte.
Kritisch zu denken bedeutet also unterm Strich, sich selbst zu hinterfragen:
Ist die Quelle, der ich glauben möchte, wirklich zuverlässig? Ist die Information, die ich absurd finde, wirklich absurd? Und bin ich am Ende nicht einfach nur eine egoistische Dumpfbacke?
Und nachdem ich Dich nun hoffentlich bis in die tiefsten Abgründe der Demut gedemütigt habe, können wir zu Schritt 2 übergehen …
Schritt 2: Recherche
Bevor wir über irgendetwas kritisch nachdenken können, brauchen wir natürlich Informationen. Wie geht aber Informationsbeschaffung? Denn ein häufiger gegenseitiger Vorwurf verfeindeter Meinungslager ist, die jeweils andere Seite würde sich nur einseitig informieren. Und es stimmt ja auch:
Wenn wir unsere Informationen immer nur von einer Seite schöpfen – egal, für wie zuverlässig wir die Quelle halten, – dann sind wir einseitig informiert.
Statt uns also naiv darauf zu verlassen, dass jemand anderes uns zuverlässig und umfassend informiert, nehmen wir die Sache selbst in die Hand und betreiben Recherche.
Dabei macht es in der Regel Sinn, sich vom Allgemeinen zum Speziellen in die Tiefe zu graben:
- Wir beginnen also nicht mit einem hochkomplizierten Fachartikel, den wir bestenfalls nur zur Hälfte verstehen, weil uns die nötigen Hintergrundkenntnisse fehlen, sondern mit Lexikonartikeln und Überblicksdarstellungen, Enzyklopädien und allen möglichen Nachschlagewerken, die uns allgemein in das Thema einführen. Anhand von diesen Überblicksdarstellungen bilden wir uns noch keine Meinung, weil wir noch keine Kompetenz haben, sie kritisch zu hinterfragen. Wir lassen zunächst nur stehen, dass die Autoren des Lexikons, der Enzyklopädie oder von was auch immer bestimmte Dinge behaupten. Wir müssen den Autoren dabei nicht einmal unterstellen, sie würden lügen, denn es ist nur natürlich, dass grobe Überblicksdarstellungen unvollständig sind: Um ein komplexes Thema in einen verdaulichen Text zu verpacken, muss man zwangsläufig verallgemeinern, vereinfachen und weglassen. Und so sehr die Autoren sich um Objektivität bemühen mögen, bleibt ihre Entscheidung, was sie in ihren Übersichtsartikel aufnehmen und wie sie es formulieren, bis zu einem gewissen Grad subjektiv und willkürlich. Es geht gar nicht anders, denn das sind die Grenzen des Erzählens und der menschlichen Kommunikation generell. Deswegen werden wir im Verlauf unserer Recherche die Behauptungen in den Übersichtsartikeln einer Überprüfung unterziehen.
- Vorher brauchen wir aber einfach nur Informationen, und zwar so viele, wie wir kriegen können. Deswegen holen wir uns aus dem Übersichtsdarstellungen zwar keine Meinung, aber dafür Stichworte, Daten, Personennamen, Begriffe und alles Mögliche, was man in die Maske einer Suchmaschine, eines Bibliothekskatalogs, eines Archivs, einer Datenbank und Konsorten eingeben kann. Auf diese Weise finden wir Bücher und Artikel, Blogs und Podcasts, alle möglichen Medien zum Thema. Außerdem schauen wir uns die Literaturverweise und Quellen des Überblicksartikels an und suchen sie heraus.
- Wir haben also nun eine laaaaaaaange Lektüreliste. Diese arbeiten wir durch. Buchstäblich: Wir lesen sie. Und dann machen wir das, was wir schon mit den allgemeinen Nachschlagewerken gemacht haben: Wir recherchieren die Stichworte, Daten, Personennamen etc., die wir neu kennengelernt haben, und wir schauen uns die Literaturverweise und Quellen an. Erfreulicherweise werden wir wahrscheinlich auf alte Bekannte stoßen, Werke, die bereits auf unserer Literaturliste sind, aber wir werden auch Neues entdecken, das wir auf eben diese Literaturliste setzen. Und dann arbeiten wir diese neuen Sachen durch. Und so weiter und so fort, bis wir der weltweit führende Experte auf dem Gebiet sind.
- Parallel dazu können wir auch noch stöbern gehen: Wir durchsuchen Kataloge und Bibliotheken nicht gezielt nach bestimmten Stichworten, sondern gehen in einen Abschnitt, dem unser Thema untergeordnet ist, und schauen uns dort einfach um, wie wir es zum Beispiel auch in einem Geschäft oder Online-Shop machen würden. Wenn das Ganze digital abläuft, rufen wir einfach die entsprechende Kategorie auf. In einer physischen Bibliothek würden wir uns in eine thematisch passende Abteilung begeben, dort vors Regal stellen und gucken, was es da so gibt. Diese Methode ist nur als Ergänzung gedacht, weil ihr eigentlich System fehlt, aber ich zumindest würde Dir durchaus ans Herz legen, es zu probieren: Ich selbst habe auf diese Weise schon so manche Perle entdeckt, die mir bei meinen Recherchen sehr weitergeholfen hat.
So viel also zur Technik. Bevor wir aber zum nächsten Schritt übergehen, möchte ich noch einige wichtige Hinweise loswerden:
- Zunächst kannst Du Dir sicherlich auch selbst denken, dass die Kenntnis möglichst vieler Sprachen einen großen Vorteil darstellt. Vor allem, wenn es um Sprachen geht, die mit dem Thema, zu dem Du recherchierst, eng verknüpft sind. Denn eine vielsprachige Recherche ermöglicht tiefere Einblicke in unterschiedliche Perspektiven und die Lektüre von Quellen im Original, das nicht durch Übersetzungen verfälscht wurde.
- Auch solltest Du, wenn es um Enzyklopädien geht, niemals vergessen, dass Wikipedia selbst gemessen an Enzyklopädienstandards keineswegs eine neutrale oder zuverlässige Informationsquelle darstellt. Die Unklarheit bezüglich der Autorenschaft der Artikel sowie die Willkür und Intransparenz seitens der Administration sind ernstzunehmende Probleme, angesichts derer es auch nicht verwunderlich ist, dass Verweise auf Wikipedia in ernsthaften Arbeiten nicht gern gesehen sind. Außerdem steht Wikipedia mit durchaus sehr konkreten Belegen immer wieder in der Kritik, die Artikel zu kontroversen Themen seien einseitig bis propagandistisch. Zu den schärfsten Kritikern in diesem Punkt gehört Larry Sanger, ein Mitbegründer von Wikipedia, auf den viele der ursprünglichen Prinzipien der Online-Enzyklopädie zurückgehen, die er aber trotz offizieller Behauptungen der Wikipedia nicht mehr länger erfüllt sieht. Weil es bei Wikipedia jedoch wirklich zu fast jedem Thema einen Artikel gibt, eignet sie sich durchaus als Einstiegslektüre für komplette Anfänger, einfach um, wie vorhin beschrieben, überhaupt erst ein paar Stichworte, Namen, Daten und Begriffe kennenzulernen. Jedoch nicht für mehr. – Und ganz am Rande sei noch ChatGPT erwähnt, das als Informationsquelle noch entsetzlicher ist als Wikipedia.
- Was die Online-Recherche angeht, solltest Du nicht nur Google verwenden, weil Google durchaus Zensur betreibt, wie unter anderem Wall Street Journal und The New York Times schon längst festgestellt haben. Weil Du ja aber erst mal ganz viel Lektüre suchst, die Du im Anschluss natürlich auch hinterfragen wirst, solltest Du Dich nicht damit begnügen, nur das zu lesen, was Google Dir anbietet. Nutze also auch andere Suchmaschinen, vor allem solche, die ihren Firmensitz in anderen Ländern haben. Misstraue jeder Suchmaschine – von Yahoo und Bing über Yandex und Baidu bis hin zu Ecosia und DuckDuckGo – und gib gleichzeitig jeder eine Chance, Dir ihre Filterblase zu präsentieren.
- Ähnlich solltest Du auch in den sozialen Netzwerken recherchieren – denn auch sie sind Suchmaschinen mit ihren eigenen Richtlinien und einer Führung mit eigenen Interessen. Nutze unterschiedliche Plattformen, mache Dich schlau, welche Plattform was zensiert (das steht meistens in den Community-Richtlinien – in der Regel beschönigend, sodass immer zu hinterfragen ist, was konkret die Plattform unter bestimmten verbotenen Dingen versteht), und nutze auch Netzwerke, die kontroverse Meinungen eben nicht oder nur wenig zensieren und wo die User sich deswegen ungehemmter austauschen, weswegen solche Plattformen – wie zum Beispiel Telegram – immer wieder medial in der Kritik stehen. Dies ermöglicht eine umfassendere Recherche und dementsprechend – nach ausgiebigem Hinterfragen der beobachteten Realitätstunnel, versteht sich, – auch ein tieferes Verständnis komplexer Themen.
- Für spezifisches Fachwissen, beispielsweise für historische Informationen, empfehle ich den Gang zu Fachbibliotheken, zum Beispiel von Universitäten. In der Regel kannst Du auf der Website der Bibliothek im Katalog stöbern, den Umgang mit einer Suchmaske beherrschst Du ja sicherlich. Ansonsten findet man heutzutage auch online wissenschaftliche Ressourcen. JSTOR zum Beispiel bietet Zugang zu ausgewählten Fachzeitschriften, wissenschaftlichen Büchern und Quellensammlungen. Ein ähnliches Angebot findet sich auch bei DigiZeitschriften und Project MUSE.
- Bei tagesaktuellem Geschehen haben wir im Zeitalter von sozialen Medien das Problem, dass es zu viele und zu widersprüchliche Informationen gibt, die ein einfacher Mensch schon rein physisch nicht verarbeiten kann. Und da wir somit auch nur bedingt die Quellen überprüfen können, müssen wir uns wohl oder übel damit abfinden, dass wir selbst bei bester Recherche zu 99 Prozent unwissend bleiben. Umso mehr sollten wir uns also in Demut üben und davor hüten, Andersdenkende zu diffamieren und auszugrenzen. Denn gerade heute sollten wir eigentlich wissen, dass wir nichts wissen – und schon gar nicht besser als andere.
- Besonders wertvolle Informationsquellen sind Zeugen- und Erlebnisberichte. Sie sind aber auch nur bedingt verlässlich. Diese sogenannten Primärquellen sollten wie jede andere Quelle auch bei der Recherche zunächst einfach nur stehen gelassen und später überprüft werden. Denn wie wir schon im ersten Teil dieser Reihe am fiktiven Fritzchenbeispiel gesehen haben, kann selbst ein ehrlich und aufrichtig um Korrektheit bemühter Augenzeuge Falschinformationen geben. Zeugen sagen bestenfalls nur das, was sie aus ihrem eigenen Realitätstunnel heraus gesehen haben, was aber nicht der Wahrheit entsprechen muss. Schlimmstenfalls können Zeugen auch bewusst lügen.
- Und nicht zuletzt ist es sinnvoll, gezielt Kritiker Deiner Ansichten aufzusuchen. Die Gegenseite zu verstehen zu versuchen, ihre Logik, ihre Art zu denken und, natürlich, ihre Quellen. Abgesehen davon, dass die Gegenseite oft von Dingen spricht, die wir selbst nicht wahrhaben wollen und deswegen – bewusst wie unbewusst – aus unserem Realitätstunnel drängen und somit Gefahr laufen, bestimmte Aspekte unseres Themas schon bei der Recherche einfach zu übersehen – Bestätigungsfehler, Unaufmerksamkeitsblindheit und der Dunning-Kruger-Effekt lassen grüßen –, bemerkt die Gegenseite oft auch eher die Fehler in unserer eigenen Argumentation bzw. in den Ausführungen unserer Gleichgesinnten. Dass die Gegenseite unsere Fehler eher findet, bedeutet natürlich nicht, dass sie unbedingt recht hat, aber sie schaut einfach aus einer anderen Perspektive und hat dadurch eventuell Einsicht in unsere toten Winkel. Das erleichtert es uns, uns selbst zu hinterfragen.
Nun haben wir also eine Menge Informationen zu einem bestimmten Thema zusammengekratzt. Was machen wir damit?
Schritt 3: Zuhören und Verstehen
Bevor wir mit Informationen irgendetwas anstellen können, müssen wir sie natürlich aufnehmen. – Klingt naheliegend und einfach, ist es aber nicht. Denn das Rezipieren – also Lesen, Zuhören, Zusehen etc. – ist eine Kunst für sich, die wir nicht von Natur aus beherrschen und somit erst lernen müssen.
Um zu illustrieren, was ich damit meine, erzähle ich Dir einen kleinen Witz:
Ein Philosoph, ein Physiker und ein Mathematiker sitzen im Zug und schauen aus dem Fenster.
Sagt der Philosoph: „Da ist ein Schaf.“
Sagt der Physiker: „Da ist ein weißes Schaf.“
Sagt der Mathematiker: „Da ist ein Schaf, das auf mindestens einer Seite weiß ist.“
Wenn wir diese drei Aussagen vergleichen, beobachten wir eine Steigerung der Präzision: Während der Philosoph das Schaf nur sehr allgemein und oberflächlich rezipiert und der Physiker etwas mehr ins Detail geht, trennt der Mathematiker sehr exakt zwischen dem, was er weiß und was er nicht weiß. Somit ist seine Aussage logisch-analytisch betrachtet am korrektesten:
- Der Philosoph nimmt nur eine grobe Einordnung vor und meint, mit der Zuordnung des Tieres zu einer Spezies sei schon alles geklärt.
- Der Physiker dokumentiert schon präziser, was er sieht, und berücksichtigt, dass es unterschiedliche Schafe gibt.
- Nur der Mathematiker sieht das Schaf als das Individuum, das es ist, und unterstellt ihm keine Eigenschaften bloß aufgrund von seiner Spezies oder der Zugehörigkeit zu einer Gruppe innerhalb dieser Spezies. Er ist sich nämlich dessen bewusst, dass er höchstens nur aufgrund von Erfahrungswerten vermuten kann, dass das Schaf auch auf der anderen Seite weiß ist. Aber er kann es nicht wissen, bis er sich das Schaf auch von der anderen Seite anguckt.
Übertragen auf die komplexeren Themen des Lebens, beobachten wir, dass die meisten Menschen eher wie der Philosoph wahrnehmen, höchstens wie der Physiker. Den Zugang des Mathematikers sehen wir meistens nur, wenn führende Experten einer kleinen Nische über ihren Fachbereich reden. Die logisch-analytische Wahrnehmungsweise des Mathematikers ist nun mal ein sehr aufwendiger Prozess, der durchaus auch seine Zeit braucht – Zeit, die Mutter Natur in der Regel nicht vorgesehen hat: Wenn unsere Vorfahren einen Säbelzahntiger gesehen haben, mussten sie sofort reagieren und nicht erst analysieren, ob konkret dieser Säbelzahntiger nicht aus irgendwelchen Gründen ein Vegetarier sein könnte. Schubladendenken ist nun mal überlebensnotwendig. Deswegen haben wir es.
Aber es behindert uns auch, wenn wir es in Bereichen einsetzen, die nichts mit dem Überleben zu tun haben. Dieser Fall wurde von Mutter Natur offenbar nicht vorgesehen, was für uns wiederum bedeutet, dass wir, sofern es nicht um unser unmittelbares Überleben geht, uns die Zeit nehmen sollten, über wichtige Dinge gründlich nachzudenken. Und zum Nachdenken brauchen wir eben Informationen, und diese Informationen müssen wir bewusst rezipieren.
Das bedeutet, dass wir uns von der Informationsquelle nicht einfach berieseln lassen und sie sofort irgendwo einordnen, sondern exakt darauf achten, was gesagt wird und was nicht gesagt wird. Hier ein Beispiel für einen typischen Fehler diesbezüglich:
Im Februar 2023 bin ich wegen der Friedensdemo von Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer mit einem Abonnenten in den öffentlichen Kommentaren in eine Meinungsverschiedenheit geraten. Weil ich seinen Ton als pampig und herablassend empfand, wollte ich mich nicht auf eine längere Diskussion haarkleiner Details einlassen – pampigen Tonfall werte ich in der Regel als Desinteresse an einer sachlichen Diskussion. Deswegen begann ich eine meiner Antworten mit den folgenden Worten:
„Ich glaube, du gehst von einem etwas sehr einfachen Weltbild aus. Bitte glaube nicht alles, was dir erzählt wird, sondern recherchiere nach, wie all die Nachrichten zustandekommen, welche Quellen verwendet werden, welche Quellen nicht verwendet werden, welche Interessen dahinterstecken.“
Die wenig begeisterte Reaktion meines Abonnenten begann so:
„Ach so, klar, wenn man keine Argumente mehr hat, nennt man seinen Gegenüber einfach indirekt dumm und ungebildet. Ist richtig XD
Denkst ich wäre NICHT im Bilde was gerade passiert?“
Was sehen wir also? – Wenn wir nüchtern schauen, was ich gesagt habe, dann stellen wir fest, dass ich – übrigens sehr bewusst – meine Kritik als subjektiven Eindruck formuliert habe. Ich habe geschrieben, dass ich glaube, dass er von einem etwas sehr einfachen Weltbild ausgeht. Ich habe nicht geschrieben, dass er es tatsächlich tut. Ich berücksichtige also die Möglichkeit, dass ich mich irren könnte. Auch sprach ich von „einem etwas sehr einfachen Weltbild“, nicht Dummheit und mangelnder Bildung. Ich gebe aber zu, dass ich durch meine anschließende Kurzzusammenfassung von dem, wie kritisches Denken funktioniert, meinem Gegenüber unterstelle, er wüsste es nicht, sonst würde ich es ihm ja nicht zusammenfassen. Ich habe allerdings versucht, das Ganze wenigstens in eine höfliche Form zu bringen, indem ich es als Bitte formuliert habe, sodass mein Gegenüber sich recht einfach hätte gesichtswahrend aus der Debatte herausmanövrieren können, zum Beispiel mit den Worten: „Genau so mache ich es schon.“ Oder durch das Bekennen zu einer anderen Form des Erkenntnisgewinns als dem logisch-analytisch-kritischen Ansatz, den ich beschrieben habe. Vielleicht kann mein Abonnent ja tatsächlich hellsehen oder sowas.
Doch statt die ihm angebotenen Hintertürchen zu nutzen und meine Vermutung und meine Unterstellung zu entkräften, unterstellt er mir wiederum, ich hätte keine Argumente. Dazu hat er aber keine Grundlage, zumindest führt er sie nicht aus, formuliert die Unterstellung aber auch nicht als die Vermutung, die sie ist, sondern als Tatsache, die er nicht kennen kann, weil er keinen Einblick in meinen Kopf hat. Auch ist seine Gleichsetzung von „einem etwas sehr einfachen Weltbild“ mit Dummheit und mangelnder Bildung nur seine eigene Interpretation, also ebenfalls eine Vermutung, die er aber wieder als Tatsache hinstellt. Offenbar gehören „ein etwas sehr einfaches Weltbild“ und Dummheit und mangelnde Bildung in seinem Realitätstunnel in dieselbe Schublade, und deswegen schließt er von einem einfach aufs andere, ohne zu klären, ob ich diese Begriffe auch in derselben Schublade verorte. (Das tue ich übrigens nicht. Wir erinnern uns an den ersten Teil dieser Reihe: Hannah Arendts Freunde, die sich 1933 haben gleichschalten lassen, waren Akademiker, also durchaus intelligente und gebildete Leute, die der nationalsozialistischen Hasspropaganda gefolgt sind.) Anschließend scheint mein Abonnent durchaus meine Unterstellung der mangelhaften Kenntnis der Prinzipien des kritischen Denkens zu verstehen, geht aber nicht auf diese Prinzipien ein, sondern beharrt in seiner rhetorischen Frage im Grunde einfach darauf, dass er sich in der Situation halt eben auskennt und es bleibt unklar, was ihm diese Selbstsicherheit gibt. Er entkräftet meine Unterstellung also nicht und ich kann nur darüber spekulieren, dass er es möglicherweise auch nicht kann, weil er die Methoden des kritischen Denkens eben nicht anwendet. Falls meine Spekulation korrekt sein sollte, könnte das seinen pampigen Ton und seine Selbstsicherheit erklären: der Dunning-Kruger-Effekt und all die anderen Denkfehler sowie das Gefühl einer Bedrohung des eigenen Realitätstunnels und Egos.
Wobei es aber natürlich auch noch die Möglichkeit gibt, dass mein Abonnent in Bezug auf soziales Verhalten eine defizitäre Erziehung hatte und tatsächlich nicht weiß, dass seine Ironisierungen, Abwertungen anderer Meinungen und die Präsentation der eigenen Meinung als einzig korrekt herablassend sind. Das ist auch gar nicht mal so unwahrscheinlich – zumindest habe ich rein subjektiv den Eindruck, dass solche jungen Menschen, die sich ungehemmt ausdrücken, wie ihnen der Schnabel gewachsen ist, und sich keine Gedanken über ihre Wortwahl machen, dann aber beleidigt sind, wenn sie auch nur einen Bruchteil von dem abbekommen, was sie auf die Welt loslassen, immer mehr werden. So wird gerade bei jungen Menschen eine Abnahme von Empathie beobachtet, die oft auf zu häufigen Social-Media-Konsum zurückgeführt wird. Aber das ist ein anderes Thema.
So in etwa entsteht fast jede Fehlkommunikation: unterschiedliche Weltbilder, unterschiedliches Verständnis von Begriffen und eine Verteidigung des eigenen Egos um jeden Preis. Und das passiert nicht nur bei der zwischenmenschlichen Kommunikation, sondern auch bei der Aufnahme von Informationen:
Zwei unterschiedliche Menschen können zum Beispiel denselben Artikel lesen und dabei völlig unterschiedliche Informationen daraus ziehen.
Du erinnerst Dich sicherlich an unseren guten, alten Freund namens Alexander Prinz a.k.a. Der Dunkle Parabelritter. In seinem Video „Wir müssen über Frieden reden!“ ist er felsenfest überzeugt, Russland wolle die Existenz des ukrainischen Volkes vernichten, und stellt es als unumstößliche, bewiesene Tatsache dar, als hätte er ungehinderten Einblick in die Gedankenwelt eines ganzen Volkes oder zumindest seiner Regierung. Abgesehen davon, dass er von seiner Position aus nur interpretieren kann, seine Interpretationen aber als Fakten ausgibt, stützt er diese Interpretationen auf Artikel, die er nicht nur nicht hinterfragt, sondern auch logisch-analytisch offenbar nicht versteht:
Bei Minute 16:14 untermauert er seine Behauptung über die Absichten Russlands mit folgendem Satz: „Leute, sie verschleppen ukrainische Kinder und stecken sie in russische Pflegefamilien!“ Als Nachweis dafür blendet er den RND-Artikel „Russland soll Tausende Kinder aus der Ukraine gewaltsam verschleppt haben“ ein.
Wer den Unterschied zwischen einer Faktenbehauptung im Indikativ und einer unbestätigten Behauptung mit der Konstruktion „soll etwas getan haben“ kennt – was man Alexander Prinz, der Deutsch auf Lehramt studiert hat, eigentlich zutrauen sollte –, bemerkt schon bei der Überschrift des Artikels Alexanders Fehler: Die „Verschleppung“ von Kindern ist keine gesicherte Tatsache, sondern ein Vorwurf. Und wenn wir den Artikel aufrufen und lesen, dann erfahren wir, dass es sich dabei um eine Zusammenfassung eines Berichts des Humanitarian Research Lab der US-Eliteuniversität Yale handelt. Soll heißen: Da waren Leute an der Uni in Yale, sie haben Untersuchungen angestellt und erheben Vorwürfe. Ganz unten im Artikel darf auch die russische Seite kurz zur Sprache kommen: Die Kinder hätten sich unter Beschuss befunden und evakuiert werden müssen. Im Artikel haben wir also eine Zusammenfassung der Vorwürfe und ganz kurz die Ablehnung der Vorwürfe durch die beschuldigte Seite. Wir haben aber keine Untersuchung, welche der beiden Seiten nun recht hat. Den Artikel als Beweis für die „Verschleppung“ von Kindern anzuführen, ist somit einfach nicht korrekt. Wenn ich an meine Studienzeit zurückdenke, hätten meine Dozenten mir die Ohren langgezogen, wenn ich so etwas verzapft hätte.
Prinz’ oberflächliche Herangehensweise an den Artikel ist also die des Philosophen aus unserem Witz. Ein genauerer Blick in den Artikel und darauf, was tatsächlich wörtlich gesagt wird, ist die Herangehensweise unseres Physikers. Und die Herangehensweise des Mathematikers wäre es, den Bericht selbst aufzurufen und sich allerwenigstens die Methodologie anzuschauen. Sie befindet sich auf Seite 7 und 22–23, und darin erfahren wir, dass die Untersuchung anhand von Open-Source-Quellen erfolgt ist, das heißt, anhand von Social-Media-Beiträgen, offiziellen Regierungspublikationen, Nachrichtenbeiträgen, Fotos, Satellitenbildern, Zeugenberichten. Was es nicht gab, sind eigene Zeugenbefragungen und Forschung vor Ort. Die Untersuchung basiert also auf frei zugänglichen Onlinequellen, und vielleicht habe ich ja Tomaten auf den Augen, aber ich konnte keine Stelle finden, wo erklärt wurde, nach welchen Kriterien die Quellen ausgewählt und wie die Authentizität und Verlässlichkeit von den privaten Social-Media-Beiträgen überprüft wurden (die Authentizität von Bildern wurde anhand von Metadaten überprüft). Auch wird – soweit ich das beobachten kann – nicht darauf eingegangen, dass die Social-Media-Plattformen selbst vielleicht nur eine pro-ukrainisch zurechtzensierte Auswahl von Beiträgen zulassen, weil viele Plattformen durchaus eine klare Position zum Ukrainekrieg bezogen und ihre Community-Richtlinien danach ausgerichtet haben. Außerdem wurden die ukrainisch- und russischsprachigen Quellen mit Google oder DeepL automatisch übersetzt und anschließend von einem „Sprachexperten“ überprüft. Wer der „Sprachexperte“ ist und was ihn qualifiziert, bleibt schleierhaft, und außerdem erstaunt, dass die Forscher selbst offenbar keine Sprachkenntnisse haben: Wer den Ausdruck „lost in translation“ kennt, weiß, wie viel bei einer Übersetzung verloren geht oder anderweitig schief laufen kann, und dass auch die Kenntnis spezifischer kultureller Kontexte wichtig ist, über die jemand, der nicht einmal der Sprache mächtig ist, meistens nicht verfügt. Zudem geben die Forscher offen zu:
„Many families in Ukraine do not want to publicly share their experiences because they fear they will be seen as collaborators with Russia. Those living under Russia’s occupation may likewise not report mistreatment due to fear of reprisals from Russia’s forces.“
„Viele Familien in der Ukraine wollen ihre Erfahrungen nicht öffentlich teilen, weil sie befürchten, als Kollaborateure von Russland gesehen zu werden. Jene, die unter russischer Besatzung leben, könnten ebenso keine Misshandlungen melden aus Angst vor Vergeltungsmaßnahmen durch russische Truppen.“
Auf welchen Quellen die Faktenbehauptung im ersteren Satz und die Vermutung im letzteren beruhen, ist unklar: Die Quelle für die Faktenbehauptung wird aus Sicherheitsgründen bewusst vorenthalten und für die Vermutung fehlt die Quelle oder Begründung völlig. Durchaus klar ist aber das kommunizierte Bewusstsein darüber, dass die Quellenlage in Bezug auf authentische Berichte aus erster Hand eher mau ist. (Und mal nebenbei: Sollten wir nicht aufhorchen, wenn Familien laut der anonymisierten Quelle sich vor Repressalien durch ihren eigenen Staat fürchten, weil ihre Kinder vom Feind angeblich „verschleppt“ wurden?)
Nicht zuletzt erfahren wir in Bezug auf die Methodologie auch, dass „besondere Aufmerksamkeit“ Vorwürfen von Misshandlung, Behinderung der Kommunikation, Verzögerungen und der dauerhaften Erschwernis der Rückkehr sowie spezifischer Probleme in Bezug auf die Erlangung von Zustimmung galt. Es wurde also mehr oder weniger gezielt auf Negatives geachtet, was die Gefahr der Voreingenommenheit und des Bestätigungsfehlers in sich birgt, die bei der schwierigen Quellenlage umso größer wird. Und das ist umso bedenklicher angesichts dessen, dass das Humanitarian Research Lab von der US-Regierung finanziert und mit Satellitenbildern unterstützt wird, weil die USA als Staat eine pro-ukrainische und anti-russische Position im Ukraine-Krieg einnehmen. Mit anderen Worten: Ein Teil der Finanzierung dieser Studie kommt von mindestens einer Partei, die an einem ganz bestimmten, also pro-ukrainischen und anti-russischen, Ergebnis interessiert und in der Vergangenheit durch Manipulationen wie der Brutkasten-Affäre und den angeblichen Massenvernichtungswaffen im Irak aufgefallen ist, um ihre Außenpolitik zu legitimieren. Aber zum Thema Finanzierung kommen wir später noch.
So viel zu meiner Kritik an dem Bericht. Dabei ist das alles nur die Spitze des Eisbergs dessen, was man daran zerlegen könnte. Ich sage nicht, dass diese „Verschleppungen“ auf keinen Fall stattfinden und dabei keine humanitären Evakuierungen sind. Möglich ist es. Aber zum gegebenen Zeitpunkt ist das nur ein Vorwurf, der meines Wissens nicht unabhängig und unvoreingenommen überprüft wurde. Alexander Prinz jedoch übernimmt dessen Zusammenfassung beim RND ganz unkritisch als Wahrheit in letzter Instanz.
Wie Du also siehst, entstehen durch unterschiedliches Rezipieren sehr unterschiedliche Weltbilder und unterschiedliche Realitätstunnel. Wir glauben am ehesten das, woran wir eh schon glauben, und misstrauen dem, was wir eh schon verdächtig finden. Somit wird unser Wahrnehmen oft von unseren bereits bestehenden Denkmustern beeinflusst, ist also im wahrsten Sinne des Wortes ein quasi-religiöser Glaube: Wir glauben etwas, weil wir daran glauben. Und ausbrechen können wir aus quasi-religiösem Glauben nur durch eine quasi-wissenschaftliche, also analytische Herangehensweise.
Dabei geht es nicht nur um die Wahrheitssuche, sondern auch um die Fähigkeit, später andere zu überzeugen, sowie um die Vermeidung von Schaden durch Aktionismus bzw. unüberlegte Handlungen. Denn wenn wir diskutieren, dann betreiben wir im Grunde Marketing, bloß versuchen wir unseren Gegenüber nicht von einem Produkt, sondern von einer Idee zu überzeugen. Und in meiner Weiterbildung zur Online-Marketing-Managerin habe ich gelernt:
Um jemanden zu erreichen und zu überzeugen, muss man sich auf dessen Realitätstunnel einlassen bzw. man muss ihn ganz genau kennen.
Man muss wie sein Gegenüber denken können – denn nur so können wir Argumente finden, die auf diese konkrete Person wirklich überzeugend wirken. Wobei man sich natürlich auch damit abfinden muss, dass man nur einen begrenzten Kreis wird überzeugen können: Ebenso wie man einem überzeugten Vegetarier auch mit dem besten Marketing kein Fleisch andrehen können wird, wird es immer Leute geben, die Deine Argumente einfach aus Prinzip gar nicht erst in Erwägung ziehen wollen. Es gibt Diplomatie- und Rhetorikgenies, die auch eine solch harte Schale durchbrechen können, doch die meisten von uns Normalsterblichen sind, fürchte ich, zu doof dazu. Deswegen ist es durchaus in Ordnung, manchen Diskussionen einfach aus dem Weg zu gehen. Dabei kann man aber natürlich immer noch seinem Gegenüber zuhören und sogar fragend nachhaken, um seine Weltsicht besser kennenzulernen, doch es macht wahrscheinlich am meisten Sinn, ihn nicht überzeugen zu wollen.
Was den Schaden durch Aktionismus angeht, so meine ich zum Beispiel solche Fälle:
Du gehst zur Schule und irgendeine Tussi in Deiner Klasse verbreitet fiese Gerüchte über Dich. Wenn die anderen ihre Behauptungen als Fakten akzeptieren, kann es passieren, dass sie sich von Dir abwenden oder Dich sogar mobben. Sie werden also zu Tätern und merken es nicht einmal. Womöglich glauben sie sogar, sie tun etwas Gutes, weil sie ja Dich, angeblich das ultimative Böse, bekämpfen.
Und nun stell Dir vor, es geht nicht einfach „nur“ um eine Schulklasse, sondern um einen Zeitungsartikel, in dem berichtet wird, dass Person A Person B einer schlimmen Sache beschuldigt. Stell Dir außerdem vor, die meisten Leser dieser Zeitung gehen mit Informationen genauso schlampig um wie Alexander Prinz. Und dann schlägt die Cancel Culture zu und es entsteht eine mediale Hexenjagd auf Person B inklusive Beleidigungen, Morddrohungen, Hassartikel etc. Wenn Person B keine übermenschlich stählernen Nerven hat, wird sie allermindestens einen emotionalen Schaden erleiden, möglicherweise wird sie oder ihr Besitz auch physisch angegriffen und schlimmstenfalls treibt der Shitstorm Person B in den Suizid. – Und dabei bleibt die ganze Zeit unklar, ob an den Vorwürfen gegen Person B etwas dran ist oder nicht: Womöglich ist sie unschuldig.
Lies also genau und hinterfrage: Nur, weil irgendwer irgendwo behauptet, jemand sei ein Vergewaltiger, korrupt, rechtsextrem oder was auch immer, heißt das noch lange nicht, dass er es tatsächlich ist.
Überprüfe stets die Grundlage solcher Vorwürfe, überprüfe den Kontext möglicher Zitate, überprüfe verschiedene Interessen … Und bis Du wirklich alles überprüft hast, hat die Unschuldsvermutung zu gelten. Sonst bist Du ein Täter, selbst wenn Du aus noch so noblen Gefühlen heraus handelst.
Korrektes kritisches Rezipieren von Informationen ist also eine ungeheuer wichtige Kompetenz. Zwar sollte sie richtig gelernt und eingeübt werden, aber für den Anfang hier ein paar Grundlagen:
- Fokussiere Dich auf den Inhalt, nicht auf Äußerlichkeiten wie formale Kompetenznachweise. Denn man muss zum Beispiel kein Studium oder Ähnliches absolviert haben, um auf einem Gebiet über Expertise zu verfügen. Ich meine, schau mich an: Ich bin weder Deutsch-Muttersprachlerin noch habe ich Germanistik studiert. Trotzdem bin ich Lektorin für deutschsprachige Texte und veröffentliche Videos, in denen ich überwiegend Deutsch-Muttersprachlern unter anderem ihre eigene Sprache erkläre. Was macht mich kompetent? Ich lebe in Deutschland seit über einem Vierteljahrhundert, bin generell sehr sprachinteressiert und habe mich dementsprechend auch mit der deutschen Sprache sehr intensiv auseinandergesetzt, nicht zuletzt durch das Schreiben eigener Geschichten seit ca. 20 Jahren. Ich kann keine Zeugnisse vorlegen, die mir meinen Expertenstatus nachweisen, aber schau Dir meinen Kanal an, überprüfe, ob das, was ich vermittle, korrekt ist, und Du wirst sehen, dass ich was drauf habe. Genauso solltest Du mit jeder Informationsquelle verfahren, egal, wie unabhängig und seriös sie selbst behauptet zu sein oder für wie minderwertig sie von anderen gehalten wird.
- Betrachte Deinen Gegenüber als Individuum mit einer individuellen Denkweise, egal, wie sehr Dich seine Aussagen an die Aussagen anderer Leute erinnern: Denn das ist übelstes Schubladendenken, das zu manchmal sogar beleidigenden Unterstellungen und zu Fehlkommunikation führt. Wenn Erna also zum Beispiel A sagt und Klaus ebenfalls A gesagt hat, heißt das nicht, dass Erna sich Klaus‘ Meinung anschließt bzw. sie unkritisch nachplappert. Es kann auch sein, dass sie nach eingehender selbstständiger Recherche zu denselben Schlüssen gekommen ist. Oder vielleicht hat sie tatsächlich durch Klaus von A erfahren, diesen Sachverhalt aber selbstständig überprüft und festgestellt, dass Klaus in diesem Punkt recht hat. Darüber hinaus bedeutet die Einigkeit von Erna und Klaus beim Punkt A nicht, dass Erna der Meinung B ist, nur weil Klaus zusätzlich zum A auch noch B sagt. Sofern Erna sich zu B nicht äußert, wissen wir nicht, was sie darüber denkt. Wenn Du anderen Menschen durch solches Schubladendenken Aussagen und Meinungen unterstellst bzw. ihnen Dinge in den Mund legst, die sie nicht gesagt haben, dann hörst Du nicht zu und bist als Diskussionspartner maximal inkompetent.
- Unterscheide zwischen Fakten, Zitaten, Interpretationen und Meinungen: Sind die behaupteten Fakten wirklich Fakten? Worauf stützt sich deren Behauptung? Oder sind es nicht einmal Faktenbehauptungen vom Autor des Artikels, sondern Zitate? Denn wenn in einem Text steht, dass eine bestimmte Person etwas behauptet, dann ist es zunächst nur eine Behauptung durch diese Person, die natürlich auch zu hinterfragen ist. Oft teilt der Autor eines Textes aber auch seine eigene Meinung zum behandelten Thema mit. Und dabei gilt auch hier: Nur, weil der Autor zu bestimmten Schlüssen kommt, müssen diese Schlüsse nicht unbedingt korrekt sein. Sie sind also zu hinterfragen. Dazu musst Du genau nachverfolgen, wie der Autor zu seiner Meinung kommt: Stützt er sich auf unbewiesene Behauptungen? Wie ist die Quellenlage? Übernimmt er unkritisch irgendwessen Perspektive oder berücksichtigt er verschiedene Sichtweisen? Ist sein Gedankengang logisch nachvollziehbar? Wo hören seine Fakten auf und wo fangen seine subjektiven Interpretationen an? Versteht er seine Quellen überhaupt kognitiv richtig, also gibt er ihren Inhalt korrekt wieder? Kennt er die korrekte Bedeutung der Wörter, die er benutzt, oder vertauscht er Begriffe, die nicht vertauscht gehören? Unterscheidet er selbst zwischen Fakten, Zitaten, Interpretationen und Meinungen? Und so weiter … Dabei ist es wichtig, dass Du das Ganze nicht einfach aus dem Bauch heraus einschätzt, sondern Deine Eindrücke vom Text mit konkreten Textstellen untermauern kannst und dabei auch keine Textstellen ausklammerst, die Deinen Eindrücken widersprechen. Und achte auch auf die exakte, buchstäbliche Bedeutung der Wörter und Formulierungen: Wenn da etwas steht wie „sagte Person X“, dann ist das zum Beispiel ziemlich eindeutig ein Zitat und keine Faktenbehauptung oder Meinung des Autors.
- Sei bei allem Misstrauen aber trotzdem grundsätzlich offen für neue Perspektiven: Anstatt sofort Einwände oder Kritikpunkte einzubringen, akzeptiere die Möglichkeit, dass der Sprecher oder Autor möglicherweise recht haben könnte. Konzentriere dich vorerst auf die innere Logik der Argumentation und überprüfe die Fakten, bevor Du anfängst zu diskutieren. Aber über Demut haben wir ja schon gesprochen.
- Akzeptiere auch, dass nicht jede Argumentation auf den ersten Blick Sinn ergibt: Wenn du auf Aussagen stößt, die dir nicht sofort einleuchten, bedeutet das nicht zwangsläufig, dass sie unsinnig sind. Es kann nämlich auch sein, dass Du selbst einfach zu doof bist. Wieder Stichwort Demut also. Gerade bei wissenschaftlichen Aussagen gibt es oft das Problem, dass Leute, die nicht vom Fach sind, sie rein kognitiv nicht oder nicht richtig verstehen und es dabei nicht einmal merken. Nimm Dir also Zeit, um tiefer in die Materie einzutauchen und die komplexen Zusammenhänge zu verstehen.
- Vermeide außerdem Unterstellungen, Dein Gegenüber würde sich nicht oder nur aus dubiosen Quellen informieren, dumm oder unmoralisch sein oder was auch immer. Selbst wenn seine Fakten nach einer Überprüfung nicht stimmen sollten, heißt das noch lange nicht, dass das Gegenüber lügt oder dumm ist. Die Wirklichkeit kann nämlich komplexer sein, als Du Dir vorstellst, und auch wenn Dein Gegenüber unrecht hat, könnte an seinen Aussagen trotzdem etwas dran sein. So wurde Google in seiner Frühphase zum Beispiel dafür kritisiert, dass die Suchmaschine nichts finden würde. Überprüfungen haben jedoch ergeben, dass der Algorithmus einwandfrei funktioniert. Statt die Kritik aber einfach als dumm abzutun, schauten die Leute von Google genau hin und konnten das Problem schließlich identifizieren: Diejenigen, die bei der Suche Probleme hatten, machten Tippfehler. Der Algirithmus funktionierte also, aber er berücksichtigte nicht die fehleranfällige menschliche Natur seiner Nutzer. Mit dieser Erkenntnis konnte das System verbessert werden und seitdem erkennt Google Tippfehler.
Also zusammengefasst:
Ein korrektes kritisches Rezipieren von Informationen erfordert Offenheit, Differenzierung und die Bereitschaft, unterschiedliche Perspektiven zu verstehen, bevor eigene Schlussfolgerungen gezogen werden.
Und um es wirklich praktisch zu üben, empfehle ich das Schreiben von Zusammenfassungen: also stumpfes, aber möglichst korrektes und sachliches Wiedergeben der Aussagen anderer unter gleichzeitiger Ausklammerung des eigenen Realitätstunnels:
- Konzentriere Dich dafür ausschließlich auf die Worte Deines Gegenübers: Was sind seine zentralen Thesen? Wie untermauert er sie? Wie ist seine Logikkette aufgebaut? Was sind seine Schlüsse?
- Wenn Du beim Verfolgen der Logikkette Schwierigkeiten hast oder etwas nicht verstehst, dann lies den Text noch einmal aufmerksam und analysiere insbesondere die betreffende Stelle Satz für Satz. Wenn Du etwas trotz aller Bemühungen nicht verstehst oder Dir nicht sicher bist, dann sei ehrlich und schreibe das so hin. Oder hast Du richtige Denkfehler oder methodologische Mängel entdeckt? Auch sie solltest Du anhand von konkreten Textstellen belegen können.
- Versuche auch, das Weltbild Deines Gegenübers zu rekonstruieren, und zwar ausschließlich anhand des Textes, also mit konkreten Zitaten. Was sagt das Gegenüber über sich selbst und über seine Werte? Welche Gefühle äußert es dabei? Was ist ihm besonders wichtig? Gibt es im Text konkrete Anhaltspunkte, warum es denkt und fühlt, wie es eben denkt und fühlt? Vergiss dabei aber nicht, dass Du Dich hier auf das Territorium von subjektiven Interpretationen begibst, und verwechsle diese subjektiven Interpretationen nicht mit Fakten. Kennzeichne sie als solche.
So viel zur Theorie. In der Praxis wirst Du, fürchte ich, einen Mentor brauchen, der Deine Zusammenfassungen kritisch gegenliest. Denn Du selbst wirst, gefangen in Deinem süßen, kleinen Realitätstunnel voller Betriebsblindheit, Deine Fehler wahrscheinlich gar nicht bemerken. Deswegen sollte das Zusammenfassen idealerweise schon in der Schule und/oder an der Uni geübt werden. Wenn Du nicht den Luxus hast, das Zusammenfassen mit einem Mentor geübt zu haben, wäre ein Übungspartner vielleicht eine Alternative: Schreibt eure Meinungen zu verschiedenen Themen ausführlich nieder, tauscht eure Texte und fasst die Meinung des jeweils anderen zusammen. Dann tauscht ihr wieder. Ihr mögt zwar beide keine Zusammenfassungsexperten sein, aber der Autor des Textes, den Du zusammenfasst, wird wohl einschätzen können, ob Du ihn richtig verstanden hast oder nicht.
Schritt 4: Überprüfen der äußeren Merkmale
Nun haben wir eine Menge Informationsquellen und haben inhaltlich verstanden, was da drinsteht und was nicht. Der nächste Schritt ist die kritische Analyse, die sogenannte Quellenkritik.
Hierbei unterscheiden wir im Allgemeinen zwischen zwei Ebenen: der Analyse äußerer und innerer Merkmale.
Und im Grunde kennst Du das Prozedere aus dem Alltag, beispielsweise vom Umgang mit verdächtigen E‑Mails, wo wir ebenfalls kritisches Denken anwenden, um Betrug zu erkennen: Auch hier schauen wir uns an, wie die verdächtige E‑Mail äußerlich aussieht, ob sie bestimmten Standards entspricht, wer der Absender ist etc., und wir prüfen auch die innere Plausibilität der E‑Mail.
Bei der Analyse äußerer Merkmale von Informationsquellen schauen wir ebenfalls auf ihre physische Gestalt: die Art der Herstellung, Materialwahl, verwendete Sprache und andere charakteristische Merkmale. In der Geschichtswissenschaft ist das essenziell, unter anderem um zu prüfen, ob die Quelle überhaupt echt ist oder eine Fälschung. Denn Fälschungen gab es schon immer in Hülle und Fülle, und auch sie können dem Erkenntnisgewinn dienen, wenn man zum Beispiel untersucht, wer die jeweilige Fälschung angefertigt hat und wozu. Dafür muss man aber natürlich überhaupt erst mal wissen, dass es eben eine Fälschung ist. Diese Authentizitätsprüfung erfordert natürlich spezifische Fachkenntnisse, etwa darüber, wie eine Urkunde aus dem 13. Jahrhundert auszusehen hat.
Auch bei alltäglicheren Quellen geht es uns vorrangig um die allgemeine Zuverlässigkeit hinsichtlich ihres Informationsgehalts. Wir berücksichtigen dabei Faktoren wie
die Art der Quelle, das Erstellungsdatum, den Erstellungsort, den Urheber, die Methode der Erstellung, den Adressaten und die Frage, ob die Quelle unverändert ist oder irgendwie bearbeitet wurde.
Wenn es speziell um die Frage nach der Art der Quelle geht, ist zu unterscheiden, ob es eine Primär- oder eine Sekundärquelle ist. Unter Primärquellen versteht man Zeugnisse aus erster Hand, beispielsweise Augenzeugenberichte, Gerichtsurteile, Verträge, Protokolle, Briefe, Akten und so weiter … Sekundärquellen hingegen sind Berichte aus zweiter Hand, die in der Regel Primärquellen zitieren. Dazu gehören Geschichtsdarstellungen, Zeitungsartikel, Reportagen etc. Dabei gelten Primärquellen aufgrund ihrer zeitlichen und räumlichen Nähe zum Geschehen als aussagekräftiger. Man sollte allerdings nicht vergessen, dass es sich dabei meistens um subjektive Froschperspektiven handelt, und wie wir im ersten Teil am Fritzchenbeispiel gesehen haben, ist das, was ein Zeuge gesehen zu haben glaubt, nicht immer zuverlässig. Dass es außerdem auch bewusste Manipulationen geben kann, versteht sich von selbst. Sekundärquellen haben dagegen den Vorteil von zeitlicher Distanz und können durch den Vergleich mehrerer Primärquellen ein objektiveres Bild liefern: Gerade direkt nach einem Ereignis gibt es in der Regel extrem viel Verwirrung, und oft kann man erst, wenn man all die Informationen und Eindrücke in Ruhe prüft und ordnet, irgendetwas mit einer einigermaßen minimalen Sicherheit behaupten. Die Betonung liegt dabei auf „kann“, denn letztendlich kommt es auf die Qualität der Sekundärquelle an, und die fällt extrem unterschiedlich aus.
Achte zum Beispiel in den Nachrichten mal darauf, von wo aus die Auslandskorrespondenten berichten. Mal angenommen, in Hintertupfingen in Fantasiestan ist etwas Schlimmes passiert und in der Tagesschau wird zu einer Auslandskorrespondentin geschaltet. Diese befindet sich in vielen Fällen aber nicht vor Ort, sondern zum Beispiel in der Hauptstadt. Nun ist die fantasiestanische Hauptstadt aber etwa 400 km von Hintertupfingen entfernt. Somit kann die Auslandskorrespondentin höchstens Erzählungen, Gerüchte und offizielle Meldungen wiederkäuen, ist also definitiv eine Sekundärquelle (und man fragt sich, warum sie dazu im Zeitalter des Internets überhaupt im Ausland hocken muss). Manchmal sieht man aber auch heute noch Reporter direkt vor Ort, die nach Hintertupfingen hinfahren und sich die Situation angucken und mit den Leuten dort sprechen, also viel näher an den Primärquellen dran sind bzw. zum Teil sogar selbst eine Primärquelle sind. Passe beim Zuschalten von Korrespondenten also gut darauf auf, von wo aus sie berichten und auf welche Primärquellen sie ihre Berichte stützen.
Wenn es um die Frage nach dem Urheber einer Quelle geht, dann interessieren uns vor allem seine Interessen und Vertrauenswürdigkeit. Denn kaum jemand verbreitet Informationen, von denen er weiß, dass sie ihm persönlich möglicherweise schaden. Meistens werden Informationen sogar zu eigenen Gunsten beschönigt. Das kennst Du sicherlich aus Deinem eigenen Umfeld, wenn Menschen über ihre persönlichen Konflikte erzählen und sich selbst dabei als Unschuldslämmer darstellen. Auch werden eigene Freunde und Verbündete in der Regel positiv dargestellt, während Leute, mit denen man Meinungsverschiedenheiten hat, eher in schlechtes Licht gerückt werden. Und das gilt nicht nur für zwischenmenschliche Beziehungen, sondern auch für die Medien und sogar ganze Staaten:
Wenn die Springer-Presse sich in ihren Werten offen und offiziell zur NATO bekennt, dann ist es logisch, dass die Berichterstattung tendenziell NATO-freundlich ausfällt. Wenn Weißrussland/Belarus und Russland enge Freunde sind, dann ist es logisch, dass sie übereinander nur das Beste sagen. Wenn China und Indien, gelinde gesagt, nicht sehr dicke sind, dann ist es zu erwarten, dass sie, wenn sie übereinander reden, das Negative etwas dicker auftragen.
Und auch sonst sind manche Urheber erwiesenermaßen ehrlicher als andere: Während Du natürlich allen misstrauen solltest, darfst Du Urhebern, die sich in der Vergangenheit als zuverlässig erwiesen haben, ein paar kleine, zerquetschte Vertrauenspunkte zugestehen; wer schon in der Vergangenheit bewusst gelogen hat, verdient dagegen umso mehr Misstrauen: „Fool me once, shame on you. Fool me twice, shame on me!“, wie es so schön heißt.
Wie eben nebenher angeklungen ist, solltest Du auch die Netzwerke des Urhebers überprüfen. Gib Dich dabei nicht mit Anschuldigungen oder Beweihräucherungen durch andere zufrieden, sondern studiere sie ebenso eingehend wie die Informationsquelle. Das Netzwerk soll kompetent und vertrauenswürdig sein? Überprüfe es! Das Netzwerk soll aus Spinnern und Nazis bestehen? Überprüfe es ebenfalls! Und ist der Urheber überhaupt tatsächlich mit diesen Netzwerken vernetzt oder ist er ihnen nur irgendwann mal zufällig über den Weg gelaufen? Lass Dich nicht damit abspeisen, was andere über das Netzwerk sagen, sondern höre dem Netzwerk offen zu, hinterfrage, recherchiere. Hinterfrage auch Deine eigene Wahrnehmung. Und vor allem: Mach es selbst!
Zum Beispiel sind wir ja bereits auf Alexander Prinz und seinen schlampigen Umgang mit Quellen eingegangen. Über die spezielle Quelle, um die es ging, können wir ergänzend sagen, dass der Artikel über die „Verschleppung“ von Kindern, auf den Alexander Prinz sich beruft, vom RND Redaktionsnetzwerk Deutschland stammt, das für die Madsack Mediengruppe tätig ist. Für das RND ist außerdem zu 23,1 Prozent die Deutsche Druck- und Verlagsgesellschaft verantwortlich, die wiederum der SPD gehört, die aktuell ja den Kanzler stellt. Es ist also zu hinterfragen, inwiefern das RND unabhängig bzw. gewillt ist, Narrative zu verbreiten, die dem aktuellen, in diesem konkreten Fall eher pro-ukrainischen und anti-russischen, Regierungskurs Deutschlands widersprechen. Zumindest könnte das erklären, warum die Zusammenfassung des anti-russischen Berichts ganz ausführlich ausgefallen ist, während die russische Sichtweise nur ganz am Ende und ganz kurz abgeknuspert wird. Das heißt nicht, dass man den Artikel des RND nicht zitieren darf, aber man sollte die eventuelle politische Voreingenommenheit berücksichtigen.
Und damit wären wir bei dem vielleicht wichtigsten Punkt, der beim Analysieren des Netzwerks zu beachten ist:
Wo bekommt der Urheber der Quelle sein Geld her?
Sicherlich kennst Du die Redewendung: „Wes Brot ich ess, des Lied ich sing.“ Die Finanzierung schafft ein Abhängigkeitsverhältnis, weil niemand sich allein von Luft und Sonnenschein ernähren kann. Und wenn die Sümmchen üppiger ausfallen, steigert sich oft auch der Grad der Loyalität. Wobei es aber natürlich nicht immer um Sümmchen geht, sondern auch um immaterielle „Bezahlungen“ wie zum Beispiel die Aussicht auf irgendwelche Posten oder auch einfach Ansehen, das dem Ego des „Bestochenen“ schmeichelt.
In den früheren Teilen dieser Reihe habe ich nicht umsonst bereits davor gewarnt, sich Projektionen hinzugeben: Nur weil Du selbst für „das Gute“ und Selbstlosigkeit bist, heißt das noch lange nicht, dass andere Menschen auch aus Idealen und übergroßer Herzensgüte heraus handeln. Deswegen prüfe immer: Wo kommt das Geld her? Wer sind die Auftraggeber? Welche Interessen haben sie? Wo bekommen wiederum sie ihr Geld her? Was steht im Kleingedruckten bei Verlagen, Medienkonzernen, Stiftungen, NGOs und allen möglichen anderen Geldgebern? Glaub keiner Informationsquelle, von der Du nicht genau weißt, wie und von wem sie finanziert wird. Und selbst wenn Du es zu wissen glaubst, bleib skeptisch.
Was gibt es also zum Beispiel bei den finanziellen Verflechtungen in Deutschland zu beachten?
Zunächst solltest Du wissen, dass praktisch die gesamte deutsche Presselandschaft in den Händen einiger weniger Familien liegt. Überprüfe es selbst: Nimm x‑beliebige Zeitungen und schaue nach, zu welchem Medienkonzern sie gehören. Und Du wirst feststellen, dass die komplette überregionale Berichterstattung in den Händen von Springer, Bertelsmann, Burda, Funke, DuMont, Madsack und so weiter liegt. Und bei Hunderten von Zeitungen, die alle nur einigen wenigen Konzernen gehören, ist es schwierig, von einer unabhängigen Presse zu sprechen. Auf mich persönlich wirkt das eher wie eine Medienoligarchie. Und die wenigen Familien, denen diese Konzerne gehören, haben oft nicht nur Macht über Medien, sondern auch Einfluss auf die Politik: So betreibt die Bertelsmann Stiftung der Familie Mohn Lobbyarbeit und berät Politiker, wirkt also an Gesetzen mit, für die sie in ihren Medien gleichzeitig Stimmung machen kann. Es ist daher extrem wichtig, genauer hinzuschauen und zu überprüfen, welche Interessen und Kontakte diese Familien haben könnten. Und ebenso lohnt sich auch ein Blick auf die Journalisten selbst, insbesondere die Chefredakteure: Wenn zum Beispiel nur ein paar von ihnen mit transatlantischen Organisationen verstrickt sind und andere nicht, dann ist das Vielfalt. Wenn aber praktisch alle transatlantische Verbindungen unterhalten (und das ist im Moment der Fall, fürchte ich), dann ist die Vielfalt, von der die Demokratie eigentlich lebt, gefährdet. Aufgrund der vielen Hundert Zeitungen in Deutschland fällt das allerdings meistens nicht auf, weil Hunderte von Zeitungen oberflächlich eine Vielfalt suggerieren. Und viele Menschen ticken nun mal so, dass sie eine Nachricht glaubwürdiger finden, wenn mehrere Zeitungen davon berichten. Wenn all diese Zeitungen aber über mehrere Ecken einen gemeinsamen Chef oder politischen Freund haben, dann ist diese Vielfalt nur eine Illusion.
Nun magst Du Dich aber vielleicht freuen, dass wir in Deutschland auch unabhängige, weil gebührenfinanzierte öffentlich-rechtliche Medien haben. Allerdings muss ich Dich enttäuschen, seit Ende 2022 und Anfang 2023 ist es offiziell: Journalisten der öffentlich-rechtlichen Medien bekommen – zusätzlich zu ihren gebührenfinanzierten Gehältern – von der Bundesregierung beeindruckende, vielstellige Zahlungen. Das geht aus der Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage hervor. (Die entsprechenden hochoffiziellen PDFs findest Du hier und hier.) Obwohl es sich dabei um scheinbar harmlose Tätigkeiten wie Moderation handelt, machen die Zahlen misstrauisch: Wenn ein Journalist einmal oder wiederholt gut bezahlte Aufträge von der Bundesregierung bekommt, ist es durchaus fraglich, ob er oder sie bei der Berichterstattung objektiv bleiben kann – einen gut zahlenden Kunden will man ja nicht vergraulen. Hinterfrage bei den Öffentlich-Rechtlichen außerdem die Zusammensetzung der Intendanten sowie der Aufsichts- und Kontrollgremien, denn sie bestimmen unterm Strich, wohin und in welchem Umfang die Beitragseinnahmen fließen, also welche Programme und somit auch welche Journalisten wie viel Geld bekommen. Und wenn Politiker beispielsweise einen nennenswerten Prozentsatz in den Rundfunkräten stellen, was tatsächlich der Fall ist, dann kann von einer Unabhängigkeit der öffentlich-rechtlichen Medien nicht wirklich die Rede sein.
Und ja, kritische Berichterstattung gibt es in den öffentlich-rechtlichen Medien auf jeden Fall und das wird gerne als Beweis für Zuverlässigkeit gewertet. Allerdings fällt auch auf, dass die Kritik oft verzögert erscheint.
So erschien Ende 2022 beim Hessischen Rundfunk zum Beispiel eine äußerst spannende Doku darüber, wie der Bundesnachrichtendienst in der Nachkriegszeit gezielt NS-Verbrecher rekrutierte. Dass heute offen über diesen Skandal berichtet wird, ist für die allgemeine Zuverlässigkeit der Medien aber wenig aussagekräftig, weil die Verantwortlichen ja nicht mehr belangt werden können. Hier wird also offen über Schnee von gestern gesprochen, nicht über möglichen Schnee von heute: Speziell auf den Bundesnachrichtendienst bezogen verfolgt mich zum Beispiel die Frage, wer die heutigen Mitarbeiter ausgewählt, eingestellt und eingearbeitet hat und wer diese Leute wiederum ausgewählt, eingestellt und eingearbeitet hat. – Könnte es nicht sein, dass die NS-Verbrecher trotz der angepriesenen parlamentarischen Kontrolle eine geistige Saat hinterlassen haben?
Da nicht nur Journalisten Quellen produzieren, ist die Frage nach der Finanzierung bei absolut jeder Art von Texten, Bildern und Medien generell wichtig: Die Letzte Generation zum Beispiel „erhält einen Großteil der Mittel für Recruitment, Training und Weiterbildung aus dem Climate Emergency Fund.“ Dieser wurde von der Öl-Erbin Aileen Getty mitbegründet. Und wenn Du mich nun fragst, warum eine Öl-Erbin die Letzte Generation unterstützt, dann herzlichen Glückwunsch, Du hast da eine sehr interessante Frage für eine Recherche. Vielleicht kannst Du danach ja uns alle aufklären. Und vielleicht steckt ja auch eine gute, altruistische Absicht hinter dieser Finanzierung, aber grundsätzlich würde ich nicht empfehlen, an die guten Absichten von superreichen Philanthropen zu glauben: Denke an das Monopoly-Experiment, über das wir im ersten Teil gesprochen haben, und daran, wie die Gewinner des Spiels unter zu ihrem Vorteil manipulierten Bedingungen nicht allzu viel Empathie für die Verlierer dieses unfairen Systems hatten. Denke auch daran, dass es einen klassischen Marketingzug gibt, der sich folgendermaßen zusammenfassen lässt: Tue „Gutes“ und rede darüber. – Philanthropische Tätigkeiten sind halt gut fürs Image, und ein gutes Image ist gut fürs Geschäft. Ansonsten eignen sich philanthropische Organisationen hervorragend, um Steuern zu sparen: Denn reich ist nicht derjenige, der viel Geld bekommt, sondern derjenige, der viel behält! Deswegen gibt es Steuerhinterziehung. Und wenn man sich legal vor Steuern drücken will, dann gründet man eben eine gemeinnützige Organisation, die nicht nur Steuervorteile genießen darf, sondern oft auch Geld von Regierungen bekommt, weil es ja angeblich um das Allgemeinwohl geht. Und solange dieses Hintertürchen funktionsfähig ist, ist davon auszugehen, dass es auch genutzt wird.
Weil es bei der Suche nach Information meistens aber tatsächlich um journalistische Quellen geht, lohnt es sich, sich mit journalistischen Richtlinien zu befassen. Denn so erwirbst Du ein Instrumentarium, um die Qualität journalistischer Texte einzuschätzen. Und da hätten wir, wenn es um ethische Aspekte geht, allem voran den Pressekodex, den, meiner Meinung nach zumindest, jeder einigermaßen kritisch denkende Mensch mindestens einmal gelesen haben sollte. Er legt die Grundregeln und Prinzipien für journalistische Arbeit fest, darunter die Verpflichtung zur Wahrhaftigkeit, zur unabhängigen Berichterstattung und zur Achtung der Menschenwürde. So soll eine verantwortungsbewusste, ethisch korrekte, zuverlässige und ausgewogene Berichterstattung sichergestellt werden. Und wenn man sich nicht an den Pressekodex hält, dann wird diesem ambitionierten Ziel natürlich die Grundlage genommen.
So hat zum Beispiel laut Richtlinie 13.1 die Unschuldsvermutung zu gelten: Wenn in einem Artikel automatisch davon ausgegangen wird, dass einer der Verdächtigten der Täter ist, ohne dass es klare Beweise gibt, dann ist diese journalistische Quelle problematisch. Wenn Du also nachprüfst und feststellst, dass jemand als Täter hingestellt wird, obwohl die Lage eigentlich unklar ist und es sich bisher nur um Vorwürfe handelt, dann weißt Du, dass Du bei der Quelle und ihrem Urheber in Zukunft vorsichtig sein musst.
Überhaupt: Arbeite ruhig den kompletten Pressekodex Richtlinie für Richtlinie durch und suche nach Positiv- und Negativbeispielen. Bei einigen Richtlinien ist möglicherweise eine etwas aufwendigere Recherche erforderlich, weil nicht immer alles sofort in einem Artikel sichtbar ist. Aber Du bekommst ein Grundgefühl dafür, was gute Presse überhaupt ausmacht.
Zusätzlich dazu sind die sieben journalistischen W‑Fragen ein nützliches Werkzeug, um die Qualität eines Textes zu beurteilen. Eigentlich dienen diese Fragen als Leitfaden zum Verfassen eines guten journalistischen Textes, aber wenn Du weißt, wie ein guter journalistischer Text verfasst gehört, dann kannst Du ihn auch besser beurteilen. Diese Fragen lauten folgendermaßen:
- Wer hat etwas getan oder nicht getan?
- Was hat er getan oder nicht getan?
- Wo hat er es getan oder nicht getan?
- Wann hat er es getan oder nicht getan?
- Wie hat er es getan oder nicht getan?
- Warum hat er es getan oder nicht getan?
- Woher stammen die Informationen?
Besonders die letzte Frage, nämlich nach Herkunft der Informationen und deren Glaubwürdigkeit, ist von großer Bedeutung. Idealerweise sollten unterschiedliche Quellen miteinander verglichen werden, und es ist wichtig zu schauen, wie die Informationen überprüft wurden. Auch die Frage nach dem Warum ist komplexer: Denn es ist entscheidend, den historischen, politischen und gesellschaftlichen Hintergrund zu analysieren, um die Motive und Beweggründe der handelnden Akteure zu verstehen.
Wenn Du also merkst, dass ein Artikel irgendwelche dieser Fragen nicht beantwortet, ist das ein guter Grund, um hellhörig zu werden. Und es ist ein Anlass, selbstständig zu recherchieren, um die Informationslücke zu füllen. Auch kannst Du Dich generell an diesen Fragen entlanghangeln, wenn Du mit eigenständiger Recherche die Wahrhaftigkeit der Berichterstattung überprüfst.
Schritt 5: Überprüfen der inneren Merkmale
Aber genug zu den äußeren und formalen Merkmalen der Quelle. Schauen wir nun in den Text selbst hinein und
prüfen den Inhalt auf seine Sinnhaftigkeit und Glaubwürdigkeit.
Es geht dabei nicht darum, ob der Inhalt der Quelle zu anderen Quellen passt, sondern ob sie in sich, innerhalb des eigenen Realitätstunnels, Sinn ergibt: Gibt es logische Inkonsistenzen oder Widersprüche? Ist der Inhalt plausibel und nachvollziehbar? Wie wird der Inhalt präsentiert? Welche Absicht wird verfolgt? Welche Ideologie liegt der Darstellung zugrunde?
Besonders wichtig ist hierbei die Perspektive. Denn nicht nur fiktionale Texte haben eine Erzählperspektive, sondern auch faktuale. Wir haben darüber schon im Artikel über Fiktion gesprochen, daher erinnere ich hier nur kurz an den linguistic turn in der Geschichtswissenschaft, also die Erkenntnis,
dass die Perspektive des Autors eines noch so faktenbasierten Textes die Auswahl, Anordnung, Verknüpfung und Präsentation der Fakten beeinflusst.
Somit ist die Erforschung von Fakten sehr stark vom subjektiven Weltbild des Forschenden abhängig. – Und das nicht nur in der Geschichtswissenschaft, sondern bei jeder Disziplin, in der Fakten ausgewählt, angeordnet, verknüpft und präsentiert werden, also auch bei Nachrichtenmeldungen, Augenzeugenberichten, Reportagen etc.
Zum Analysieren der Perspektive in faktualen Texten können wir dieselben Mittel benutzen wie beim Analysieren fiktionaler Texte, allem voran die fünf Parameter der Perspektive von Wolf Schmid:
- räumliche Perspektive: Die Position im Raum bestimmt, welche Teile des Geschehens wahrgenommen werden. Je nachdem, wo sich jemand befindet, kann seine Sicht auf ein Ereignis eingeschränkt oder erweitert sein. Unter anderem deswegen fragen wir schon bei den äußeren Merkmalen nach dem Wo. Bei der inneren Quellenkritik fragen wir dann genauer danach, wie die Position des Berichtenden im Raum seine Sichtweise beeinflusst: Wenn die Auslandskorrespondentin sich in der fantasiestanischen Hauptstadt befindet, bekommt sie nur mit, was sich in der fantasiestanischen Hauptstadt tut. Über die Vorgänge in Hintertupfingen weiß sie nur vom Hörensagen.
- ideologische Perspektive: Die individuelle Ideologie, das Vorwissen, die Denkweise und die persönlichen Werte beeinflussen maßgeblich, wie jemand Informationen aufnimmt und interpretiert. Wir haben ja schon darüber gesprochen, dass ein Mensch in erster Linie das glaubt, woran er eh schon glaubt, und Fakten, die dem widersprechen, unterbewusst in den Hintergrund rückt. Das nennt sich Bestätigungsfehler. Außerdem kann der Dunning-Kruger-Effekt dafür sorgen, dass ein Mensch die Dinge, die er wahrnimmt, völlig falsch deutet, weil ihm das nötige Hintergrundwissen fehlt. Und so weiter und so fort – über Denkfehler und kognitive Blockaden haben wir ja schon gesprochen. An dieser Stelle wollen wir daher nur noch einmal betonen, dass ideologische Überzeugungen (die der Mensch selbst in der Regel für objektive Fakten hält) die Wahrnehmung einer Person stark prägen können. – Unter anderem deswegen recherchieren wir übrigens zum Urheber der Quelle, wer die Person ist, wo sie herkommt, wie ihr Leben verlaufen ist … und wir fragen auch nach dem Netzwerk und nach der Finanzierung.
- zeitliche Perspektive: Der zeitliche Abstand zum Geschehen spielt zweifellos ebenfalls eine Rolle bei der Wahrnehmung. Je nachdem, wie viel Zeit vergangen ist, kann die Erinnerung an Ereignisse verblassen oder sich verändern. Oder aber der Wahrnehmende ist in der Zwischenzeit an Informationen gekommen, die er zum Zeitpunkt des Geschehens nicht hatte, was seine Deutung der Ereignisse stark beeinflussen kann. Deswegen fragen wir schon bei der äußeren Quellenkritik nach dem Wann und bei der anschließenden inneren Quellenkritik nach dessen Bedeutung für die Perspektive bzw. den Realitätstunnel, der der Quelle zugrunde liegt.
- sprachliche Perspektive: Die Wahl der Sprache bei der Präsentation der Fakten und insbesondere sprachliche Stilmittel haben Einfluss darauf, wie das Präsentierte vom Publikum aufgenommen wird. Sie gibt also Aufschluss über die Absicht, die mit dem Text verfolgt wird: Spricht man von zivilen Opfern oder benutzt man Euphemismen wie „Kollateralschaden“? Spricht man von einem Angriffskrieg oder von einer „humanitären Intervention“, obwohl diese „humanitäre Intervention“ von Flächenbombardements begleitet wird? Spricht man von Oligarchen oder von Milliardären? Oder benutzt man immer wieder, gebetsmühlenartig, eine bestimmte Formulierung, also das rhetorische Mittel der Repetitio, damit sie sich in den Köpfen des Zielpublikums besser abspeichert? Unterschiedliche sprachliche Darstellungen lösen verschiedene Bilder und Emotionen aus. Dabei können diese Emotionen, wie wir ja bereits wissen, das kritische Denkvermögen des Publikums lahmlegen. Deswegen kannst Du durch das Untersuchen der Sprache feststellen, welche Bilder und Emotionen die Quelle auslösen und somit in welche Richtung die Wahrnehmung und das Denken des Zielpublikums beeinflusst werden sollen.
- perzeptive Perspektive: Hier geht es darum, ob eine Perspektive durch das Prisma einer bestimmten Partei geprägt ist. Dabei kann eine Perspektive auf den ersten Blick durchaus objektiv erscheinen, obwohl sie es eigentlich nicht ist. Dass wir das Prisma nicht bemerken, könnte zum Beispiel daran liegen, dass wir selbst dieses Prisma teilen und somit als objektiv ansehen. Ich will nicht komplett ausschließen, dass es neutrale Quellen geben könnte, aber weil wir menschlichen Dumpfbacken ja sehr beschränkt sind, hält sich unsere Fähigkeit zur Wahrnehmung der objektiven Realität sehr in Grenzen: Wir haben nun mal unseren Realitätstunnel, also das Prisma, durch das wir die Welt wahrnehmen. Somit haben auch alle Akteure des Geschehens, über das wir berichten, ihre Prismen. Wenn wir also ein Prisma gegenüber den anderen bevorzugen, sozusagen einen „Protagonisten“ haben, am besten noch einen, mit dem wir mitfühlen, laufen wir Gefahr, unsere Erzählung durch seine Sichtweise einzufärben.
Mit diesen fünf Parametern können wir ermitteln, wie das Bild, das dem Leser verabreicht wird, überhaupt zustande kommt. Auf diese Weise erhalten wir eine grobe Vorstellung davon, inwieweit objektive Ereignisse und Sachverhalte möglicherweise verfälscht oder verzerrt werden.
Zum Beispiel wird beim Thema Alltagsrassismus häufig angeführt, dass dunkelhäutige Frauen schwerer an Make-up herankommen, das zu ihrer Hautfarbe passt. Nehmen wir also eine dunkelhäutige Lisa, die sich darüber beschwert, dass sie keinen passenden Concealer finden kann. Wir haben also die räumliche und zeitliche Perspektive, dass die Berichterstatterin zusammen mit Lisa ein Geschäft nach dem anderen abklappert und sie tatsächlich nicht fündig werden. Da Lisa oft Alltagsrassismus erlebt, prägt das ihre ideologische Perspektive und sie führt den Mangel an Make-up für Dunkelhäutige auch auf Rassismus zurück. In Bezug auf die sprachliche Perspektive merken wir, dass Lisa unzufrieden ist und Mitgefühl will. In Bezug auf die perzeptive Perspektive merken wir, dass die Person, die über Lisa berichtet, mit Lisa mitfühlt und ihre Sichtweise und Sprache übernimmt.
Wir haben also einen in sich geschlossenen Realitätstunnel. Ich persönlich habe einen etwas anderen Realitätstunnel und würde vorschlagen, den Realitätstunnel des Berichts über Lisa etwas aufzusprengen:
So war die Person, die über Lisa berichtet, räumlich und zeitlich mit Lisa unterwegs. Wäre sie mit jemand anderem unterwegs gewesen oder hätte sich von anderen Shoppingtouren erzählen lassen, hätte sie vielleicht andere Dinge wahrgenommen. Meine Erfahrung ist zum Beispiel, dass ich als extrem heller Mensch, der bei gerade mal 25°C schon nach zehn Minuten krebsrot wird, ein ähnliches Problem habe, nur umgekehrt: Die angebotenen Concealer sind mir fast alle zu dunkel.
Im Gegensatz zu Lisa bin ich nicht vom Rassismus gegen Dunkelhäutige betroffen, und somit fällt auch meine ideologische Perspektive anders aus: Einerseits bin ich sicherlich blind für den Alltagsrassismus gegen diese Gruppe, andererseits neige ich aber auch weniger dazu, alle Unannehmlichkeiten automatisch darauf zurückzuführen. Weil ich ideologisch weniger mit Rassismus gegen Dunkelhäutige zu tun habe, verorte ich die Wurzel des Übels eher im Kapitalismus und dem Prinzip von Angebot und Nachfrage: Wenn dunkelhäutige (oder auch extrem hellhäutige) Menschen eine Minderheit bilden, dann gibt es weniger Nachfrage und deswegen fällt auch das Angebot geringer aus.
Von der perzeptiven Perspektive her übernehme ich Lisas Prisma nicht und lasse mich auch weniger von ihrer sprachlichen Perspektive beeinflussen, weil ich die Fakten, auf die sich ihre Sprache stützt, anders sehe. Das bedeutet aber nicht, dass Lisa und ich keinen gemeinsamen Nenner finden können. Denn es ist egal, ob wir die Ursachen der Probleme bei der Make-up-Suche im Rassismus, im Kapitalismus oder in sonstwas verorten: Negative Erfahrungen bleiben negative Erfahrungen und sowohl Lisas Erlebnisse als auch meine sind echt und unangenehm. Und ich kann mir vorstellen, dass Lisas Schwierigkeiten beim Make-up, selbst wenn sie eigentlich vom Kapitalismus herrühren sollten, im Zusammenspiel mit anderen, eindeutig rassistischen Erfahrungen, zu einem allgemeinen Unwohlsein führen, weil sie an jeder Ecke, sei es mit Absicht oder nicht, ihre Andersartigkeit und Nicht-Zugehörigkeit ins Gesicht gepresst bekommt. In der Hinsicht hat Lisa mein absolutes Mitgefühl.
So unterschiedlich können also die Perspektiven auf ein und dieselbe Sache ausfallen, und das schon bei Lappalien. Deswegen ist es eben so wichtig zu verstehen, wo der Urheber einer Quelle herkommt und wie sich das auf seine Darstellung auswirkt. Dass eine Darstellung nicht neutral ist, merkt man oft übrigens vor allem an der sprachlichen Perspektive, weil es hier am meisten um die Beeinflussung des Rezipienten geht.
Aus diesem Grund solltest Du Dich mit den gängigen Taktiken der Emotionalisierung befassen, um sie in Informationsquellen durchschauen zu können. Vorsicht ist zum Beispiel geboten, wenn es mehrere Konfliktparteien gibt und bei einer Konfliktpartei die Wortwahl wohlwollender ausfällt als bei der anderen. Wenn in einem Text gehässige Ausdrücke fallen, dann ist das ein Hinweis, dass jemand in seinem Realitätstunnel sehr tief drinsteckt. Wird auf Mitgefühl gepocht, kann das den Blick auf die Realität trüben. Das heißt nicht, dass emotionsgeladene Quellen grundsätzlich schlechter sind, Lisas Aufregung über die Sache mit dem Make-up ist ja auch absolut legitim, aber Du solltest bei der Auswertung dieser Quellen darauf achten, Dich emotional nicht mitnehmen zu lassen:
Versuche am besten, für einige Zeit zu einem emotionslosen Roboter zu werden.
Als solcher wirst Du hoffentlich auch weniger anfällig für Pseudo- und Scheinargumente. Denn ein Roboter ist vor allem logisch und lässt keine Emotionen und Moralisierungen als Argumente gelten. Wenn jemand sagt: „Wir müssen XY tun, weil es das moralisch Richtige ist“, dann fragt der Roboter, warum gerade XY moralisch richtig ist und ob das nicht auch negative Konsequenzen haben kann. Und sofern der Jemand nicht knallharte Daten vorlegen kann, warum XY zu einem besseren Ergebnis führen wird als andere Ansätze, sind seine Reden vom „moralisch Richtigen“ nur heiße Luft. Wenn nicht sogar bewusste Manipulationen: Denn Du willst doch bestimmt das moralisch Richtige tun und nicht als amoralisch dastehen. Wenn Du Dein Selbstwertgefühl also nicht von diesem Kriterium entkoppelt hast, wie wir es im ersten Teil dieser Reihe besprochen haben, kannst Du nur zu leicht auf diesen Trick hereinfallen. Überhaupt empfehle ich, ein grundlegendes Verständnis für Propaganda- und Manipulationstechniken sowie für verbreitete Denkfehler zu erarbeiten, um diese später in Quellen erkennen zu können. Dazu gibt es aber massenhaft Literatur, weswegen ich an dieser Stelle auf eine ausführliche Liste verzichte.
Was logische Inkonsistenzen, Widersprüche und Nachvollziehbarkeit angeht, so ist der Realitätstunnel in jeder Quelle im Grunde individuell, weswegen es mir schwer fällt, die vielen Möglichkeiten in ein einziges System zu pressen. Achte hier einfach darauf, ob alles innerhalb der Quelle ein logisches Netz ergibt.
Wenn Du zum Beispiel Denkfehler identifizierst, dann merkst Du, dass Du Dich auf die logischen Schlüsse der Quelle nicht verlassen kannst. Was aber nicht automatisch bedeutet, dass die ganze Quelle Unsinn ist: Nur, weil Lisa ihre Schwierigkeiten bei der Make-up-Suche eher aus ideologischen Gründen auf Rassismus zurückführt, heißt das nicht, dass da kein Rassismus dahintersteckt. Wenn Du weiter recherchierst, könnte es ja sein, dass Du auf rassistische Aussagen von Make-up-Herstellern stößt à la: Dunkelhäutige bräuchten eh kein Make-up, sie seien so oder so hässlich. Dann hättest Du einen knallharten Beweis, dass Lisa mit ihrer Vermutung richtig liegt, auch wenn sie nicht auf einer wirklich logischen Überlegung beruht. Und selbst wenn Du im Zuge Deiner Recherche zu dem Schluss kommst, dass das Problem nichts mit Rassismus zu tun hat, ist es noch kein Grund, Lisa ihre unangenehmen Erfahrungen abzusprechen. Eine andere Ursache des Problems ändert ja nichts daran, dass das Problem besteht.
Wenn die Logik innerhalb des Realitätstunnels der Quelle aber konsistent ist, auch wenn sie Deinem Weltbild widerspricht, könnte erst recht etwas dran sein: Um das festzustellen, musst Du die Prämissen, also die Grundannahmen, von denen – meistens unhinterfragt – ausgegangen wird, und Quellen der Quelle überprüfen, auch im Kontext der anderen Informationen, die Du zusammenrecherchiert hast. Und wenn alles methodologisch solide und nachvollziehbar ist, dann wirst Du wohl oder übel Dein Weltbild anpassen müssen. Das heißt nicht, dass Du die andere Sichtweise eins zu eins übernehmen musst, das kommt immer auf den individuellen Sachverhalt an, aber Du wirst allermindestens akzeptieren müssen, dass es eine legitime Sichtweise ist, die neben Deiner Sichtweise ebenfalls ein Recht auf Existenz hat.
Besonders aufhorchen solltest Du, wenn die Quelle einfache Antworten auf komplexe Fragen geben will.
Während meines Geschichtsstudiums habe ich die Erfahrung gemacht, dass jedes historische Ereignis, das ich mir jemals genauer angeschaut habe, eine äußerst komplexe Ursachenvielfalt aufweist. Ich verstehe, dass es zum Beispiel einfach ist, die Ursachen für den Zweiten Weltkrieg Hitler und irgendwelchen verrückten Ideologen in die Schuhe zu schieben, aber erstens haben wir bereits festgestellt, dass die NS-Verbrechen überwiegend eher wenig mit Verrücktheit zu tun hatten, was sie ja umso gruseliger macht, und zweitens vernachlässigen wir bei einer solchen Deutung das äußert komplexe Bündel von historischen und wirtschaftlichen Aspekten insbesondere nach dem Ersten Weltkrieg, die geopolitischen Verstrickungen und Ambitionen aller Kriegsparteien, die gesellschaftlichen, politischen und ideologischen Gegebenheiten im Dritten Reich und bei anderen Beteiligten etc. pp. Wenn man die Ursachen historischer Ereignisse so kleinkariert zerlegt, entsteht häufig der Eindruck einer unausweichlichen Entwicklung. Für die Zeitzeugen kommen die Ereignisse oft überraschend, aber wenn man als Historiker das Ganze aus Vogelperspektive betrachtet, kommt eben häufig heraus, dass schon Jahrzehnte vorher hätte klar sein können, dass es genau darauf hinausläuft. Das macht die historischen Ereignisse nicht weniger schlimm und entbindet die Täter auch nicht von ihrer moralischen Verantwortung, aber es zeigt dann doch, dass die Situation in Wirklichkeit immer extrem kompliziert ist. Deswegen sind Schwarz-Weiß-Denken und einseitige Schuldzuweisungen an eine Einzelperson oder Entität fast immer ein ziemlich sicheres Indiz für Propaganda. Oder aber für Dummheit bzw. Kurzsichtigkeit. Nimm das ruhig als Faustregel.
Schritt 6: Schlüsse ziehen und verlässliche Quellen ermitteln
Nun hast Du sehr viele Quellen, sehr viele Informationen und sehr viele Widersprüche. Wie findet man da die Wahrheit? Dafür brauchst Du natürlich die Fähigkeit zu logischem Denken, und so leid es mir tut, das zu sagen: Nicht jeder hat sie. Wenn es nach mir ginge, wäre Logik ein Pflichtfach in der Schule, aber mich fragt ja niemand. Grundsätzlich ist Mathematik da zwar ziemlich nah dran und meinen Beobachtungen nach können Mathematiker oder zumindest Naturwissenschaftler oft tatsächlich logischer denken und argumentieren als meine eigene Brut der Geisteswissenschaftler, aber andererseits ist Mathematik auch ziemlich abstrakt und das „Übersetzen“ des mathematischen Denkens in Dinge wie Textverständnis sind eine Kunst für sich. Zudem lässt der Mathematikunterricht in Deutschland doch sehr zu wünschen übrig.
Dennoch eignet sich Mathematik gut für eine ganz grobe Einschätzung der eigenen logischen Begabung:
Wenn Du in der Schule in Mathe durchschnittlich auf 3 oder schlechter standest, und das unabhängig von der Lehrkraft (dass man zwischenzeitlich einen schlechten Lehrer hat, kann ja mal vorkommen), dann kann das ein Hinweis darauf sein, dass Du nicht von Natur aus begabt bist und an Deinen logischen Fähigkeiten arbeiten solltest.
Wenn Du in Mathe ohne Spickzettel oder stumpfes Bulimielernen im Schnitt Einsen und Zweien hattest, bist Du allerdings auch nicht fein raus, denn dass Du wahrscheinlich gute angeborene Voraussetzungen zu logischem Denken hast, heißt noch lange nicht, dass Du wirklich logisch denkst:
Du bist für all die Denkfehler, Manipulationen und psychologischen Effekte, die wir in dieser Reihe besprochen haben, genauso anfällig wie jeder andere und Deine Fähigkeit zu logischem Denken kann somit erfolgreich lahmgelegt werden.
Wie wir uns gegen diese Lahmlegung des logischen Denkens wehren können, haben wir ja in diesem Artikel besprochen. Und erst wenn wir damit die Voraussetzungen für logisches Denken geschaffen haben, können wir unsere Fähigkeiten wirklich nutzen. Und wenn wir nicht von Natur aus logisch begabt sind, müssen wir logisches Denken erst lernen. Doch da es den Rahmen dieses Artikels sprengen würde und es auch einschlägige Bücher zu dem Thema gibt, belasse ich es an dieser Stelle bei dieser Empfehlung.
Stattdessen möchte ich auf eine grundsätzliche Sache aufmerksam machen, die ebenfalls im Bereich der Logik angesiedelt ist, beim Auswerten von Quellen aber eine besonders zentrale Rolle spielt:
Es geht nicht darum, wer recht hat!
Mal angenommen, Du hast zwei Parteien, die im Konflikt sind. Mein Eindruck ist, dass Menschen häufig davon ausgehen, dass eine der Parteien recht haben muss und die andere dementsprechend unrecht. Es gibt aber unzählige andere Möglichkeiten, die Du nicht aus dem Blick verlieren darfst: Beide könnten recht haben und beide könnten unrecht haben. Beide könnten nur zur Hälfte recht haben. Eine könnte komplett unrecht haben, während die andere zu einem Viertel recht hat. Und so weiter …
Erinnere Dich an Google und die Vorwürfe, die Suchmaschine würde nicht funktionieren. Da waren zwei Parteien im Konflikt, bei dem die Kritiker behauptet haben, der Algorithmus würde nicht funktionieren, und Google behauptet hat, der Algorithmus würde sehr wohl funktionieren. Dass beide recht haben könnten, scheint bei dieser Konstellation undenkbar – und doch war genau das der Fall: Google hatte recht, weil der Algorithmus technisch durchaus funktionierte, und die Kritiker hatten recht, weil der Algorithmus für sie persönlich nicht funktionierte, weil er ihre fehlbare Menschlichkeit nicht berücksichtigte.
Es geht also eher darum, sich maximal der Wahrheit anzunähern, die auch unerwartete Twists beinhalten kann.
Da wir fehlbaren Menschen, gefangen in unseren Realitätstunneln, uns wohl nur bedingt der Wahrheit annähern können, weil wir für sie einfach nicht die nötigen Gehirnkapazitäten haben, müssen wir uns wohl oder übel damit zufrieden geben, dass die Wahrheit für uns auf ewig eine Asymptote bleibt. Du erinnerst Dich sicherlich: Eine Asymptote ist in der Mathematik eine Linie oder Kurve, der sich der Graph einer Funktion immer weiter annähert, sie aber nie erreicht, selbst wenn er unendlich verlängert wird. So können auch wir uns der Wahrheit immer mehr annähern, aber wir dürfen niemals vergessen, dass es immer etwas gibt, das wir nicht wissen, nicht verstehen, das sich unserem Denkvermögen entzieht. Und schon alleine das ist Grund genug, demütig zu sein, ganz egal, wie viel man zu wissen glaubt.
Ein gutes Beispiel, wie demütiges, logisches Schlüsseziehen funktioniert, findest Du übrigens in Quo vadis? von Henryk Śienkiewicz. Darin verliebt sich der Römer Vinicius in Lygia, weiß zunächst aber noch nicht, dass sie Christin ist. Er weiß nur, dass sie ihm gegenüber einen Fisch in den Sand gezeichnet hat, und spätestens als sie spurlos verschwindet, will er herausfinden, was das bedeutet. Er und sein Onkel Petronius heuern den Griechen Chilon Chilonides zur Informationsbeschaffung an. Und als Chilon ihnen eindeutig beweist, dass der Fisch ein Symbol des Christentums ist und Lygia und ihre Ziehmutter Pomponia Christinnen sind, beginnt es in Vinicius und Petronius angesichts der vielen Vorurteile gegen Christen zu arbeiten:
„»Das bedeutet«, sagte Petronius, »daß Pomponia und Lygia Brunnen vergiften, von der Straße aufgegriffene Kinder morden und sich Ausschweifungen hingeben! Narretei! Du, Vinicius, warst länger in ihrem Haus, ich war nur kurz dort, aber ich kenne sowohl Aulus [Lygias Ziehvater] als auch Pomponia, ja selbst Lygia gut genug, um sagen zu können: das ist Verleumdung und Narretei! Wenn der Fisch das Sinnbild der Christen ist, was sich wirklich schwer bestreiten läßt, und wenn sie Christinnen sind, dann, bei Proserpina!, sind die Christen offensichtlich nicht das, wofür wir sie halten.«“
Henryk Sienkiewicz: Quo vadis?, Vierzehntes Kapitel.
Leider ist eine solche Selbstreflexion – zumindest meiner Beobachtung nach – in der realen Welt eher selten. Schaue Dir selbst an, wie Freundschaften und Familien in den vergangenen Jahren an verschiedenen Meinungen zerbrochen sind: Wenn Menschen feststellen, dass Leute in ihrem Umfeld sich zu einer Gruppe bekennen, die als dumm, gefählich, asozial oder sonstwie negativ dargestellt wird, beugen sie sich eher dem Meinungsdiktat ihrer eigenen Glaubensbrüder, als sich auf ihre jahrelange Kenntnis der betroffenen Angehörigen zu verlassen. Wenn der Kindheitsfreund mit Leuten sympathisiert, die man für asozial hält, ist der Kindheitsfreund auch asozial, so scheint die Logik oder eher Nicht-Logik. Denn diesen andersdenkenden Kindheitsfreund als Anlass zu betrachten, die eigenen Überzeugungen zu hinterfragen, würde ja am Selbstbild kratzen! … Ich fürchte, wir sind als Gesellschaft einfach zu egoistisch.
Aber nun wollen wir aus diesem Egoismus ausbrechen und gehen all die Schritte des kritischen Denkens durch. Und wenn Du das wirklich bei jedem Thema knallhart durchziehst, muss ich Dich eins fragen: Hast Du ein Leben?
Denn Hand aufs Herz:
Die gewissenhafte Umsetzung aller Schritte ist nur möglich, wenn man es beruflich tut.
Oder Du besitzt einen Zeitumkehrer oder sowas. Aber ein Otto Normalverbraucher hat in der Regel nicht die Möglichkeiten, sich dermaßen intensiv mit jedem auch nur ansatzweise relevanten Thema der Welt auseinanderzusetzen. Er hat einfach nicht die Zeit, oftmals keine ausreichenden Sprachkenntnisse und meistens auch nur einen begrenzten Zugang zu Fachbibliotheken und anderen Quellen für Fachwissen. Ob wir es also wollen oder nicht, wir müssen uns wohl oder übel auf fremde Berichterstattungen und Analysen verlassen. Wir dürfen dabei aber niemals vergessen, dass es nur das geringere Übel und sehr bedenklich ist. Wir dürfen niemals annehmen, dass die Quellen, die wir bevorzugen, besser sind als die Quellen, denen andere vertrauen. Allerdings sollten wir trotzdem darauf achten, dass wir uns Quellen aussuchen, bei denen wir zumindest eine korrekte Arbeitsweise erkannt haben. Ich betone:
Wir sollten uns nicht auf Quellen verlassen, die uns seriös erscheinen. Sondern auf die, deren Arbeitsweise wir tatsächlich selbstständig überprüft haben und die wir auch weiterhin immer mal wieder überprüfen.
Denn nur, weil eine Quelle selbst behauptet, seriös zu sein, heißt es noch lange nicht, dass sie das tatsächlich ist. Erinnern wir uns an Alexander Prinz:
Obwohl er sich auf die Fahnen geschrieben hat, gegen Desinformation vorzugehen, haben wir an den Beispielen in dieser Reihe gesehen, dass sein Umgang mit Informationsquellen äußerst schlampig ist. Grundsätzlich könntest Du mir vorwerfen, ich würde Rosinenpickerei betreiben und hätte einfach nur unglückliche Momente in seinem Video herausgesucht. Darauf kann ich nur erwidern: Bitte zwing mich nicht, jeden einzelnen Satz von Prinz in jedem einzelnen seiner politischen Videos so zu zerlegen, wie ich es in dieser Reihe getan habe. Im Rahmen eines Artikels oder Videos, meine ich. Das wäre ein Vollzeitjob, den mir niemand bezahlt. Wenn Du also eine Überprüfung möchtest, inwiefern meine Beispiele repräsentativ für seine Arbeitsweise sind, bist Du herzlich eingeladen, sie selbst vorzunehmen. Wie das geht, weißt Du ja spätestens jetzt. An dieser Stelle jedoch lasse ich meine Schlüsse über Prinz’ Arbeitsweise stehen und warne: Wer so unsauber und oberflächlich arbeitet, läuft große Gefahr, selbst Desinformation zu betreiben – also genau zu dem zu werden, was er bekämpfen will. Und es nicht einmal zu merken.
Bonuspunkte für Zuverlässigkeit bekommen übrigens Berichterstatter und Analytiker, die Demut an den Tag legen und Mut zum „Ich weiß nicht“ haben. Denn sie haben schon mal die richtige Grundeinstellung, die wir in Schritt 1 besprochen haben. Vor allem haben demütige Berichterstatter weniger Hemmungen, mögliche Fehler von ihrer Seite einzusehen und zu korrigieren, was sie natürlich der objektiven Wahrheit näher bringt.
Jenseits von Berichterstattern haben wir es natürlich auch in der privaten Kommunikation oft mit Menschen zu tun, die eine Meinung haben und sich für kritisch denkend halten. Und ich denke, ich muss Dir nicht extra sagen, dass Du auch bei ihnen grundsätzlich vorsichtig sein musst, denn nur, weil sie vielleicht Deine Angehörigen sind, sind sie nicht automatisch intelligenter und informierter als andere Menschen. Ich meine, jetzt, wo Du gesehen hast, wie aufwendig das ganze Prozedere ist, sollte es sich eigentlich von selbst verstehen, dass Du kritisch hinterfragen solltest, wenn jemand, also eine potentielle menschliche Informationsquelle, behauptet, er wäre ja soooo kritisch denkend und würde seine Quellen immer überprüfen. Nur, weil jemand nach einer Überprüfung einer bestimmten Quelle zu einem bestimmten Urteil über ihre Verlässlichkeit gekommen ist, heißt das nicht, dass Du nach einer Überprüfung derselben Quelle zum selben Ergebnis kommen wirst. Denn auch beim Überprüfen und Recherchieren neigen wir zum Bestätigungsfehler. Und wer garantiert, dass die kritisch denkende Person wirklich methodologisch sauber gearbeitet hat? Hast Du die Methodologie denn eigenhändig überprüft?
Horche auch auf, wenn diese Menschen sich auf Verwandte, Bekannte und Freunde berufen, denn für diese Erzählungen gelten dieselben Regeln wie auch für alle anderen Primärquellen: Haben diese Menschen das Geschehen tatsächlich als Zeugen erlebt? Wurde das tatsächliche Geschehen eventuell durch Erzählungen verfälscht? Was haben diese Menschen eventuell nicht gesehen? Haben sie wirklich verstanden, was sie gesehen haben, oder haben fehlendes Hintergrundwissen, der Realitätstunnel und die vielen möglichen Denkfehler zugeschlagen? Oder haben diese Menschen nichts gesehen und geben selbst nur Gerüchte wieder?
Vielleicht bist Du jetzt aber verwirrt: Soll ich meine Angehörigen und andere Menschen generell nun zum Anlass nehmen, um meine Ansichten zu hinterfragen, oder soll ich ihren Erzählungen misstrauen? Ich würde sagen: Tue beides. Gleichzeitig. Lasse ihre Meinungen stehen, drücke ihnen keine Stempel auf, aber hinterfrage sie auch. Ebenso wie Du die Berichterstatter, denen Du nach eingehender Prüfung vertraust, trotzdem noch hinterfragen solltest. Und vor allem: wie Du Dich selbst hinterfragen solltest.
Außerdem musst Du wirklich nicht zu jedem Thema eine Meinung haben. Mehr noch,
weil kritisches Denken so aufwändig ist, kann kein Mensch, der zu allem und jedem eine Meinung hat, über all diese Themen wirklich kritisch nachgedacht haben.
Es spricht – in meinen Augen zumindest – also sogar gegen Dich, wenn Du zu jedem Thema Deinen Senf beisteuern willst. Gleichzeitig bedeutet das natürlich nicht automatisch, dass ein Mensch, der zu mehreren Themen eine Meinung hat, Unsinn redet: Ein Mensch kann sich nämlich auf mehreren Gebieten auskennen, und vielleicht hat er sich ja gerade mit diesen Themen eingehender befasst.
Deswegen solltest Du niemanden abstempeln, von dem Du nicht weißt, wie er auf seine Meinung gekommen ist.
Kümmere Dich lieber um Dich selbst und sorge dafür, dass wenigstens Du keinen Unsinn verbreitest.
Und wenn Du Dich bei einem Thema zu einer Meinung nicht qualifiziert fühlst, dann ist es eben so. Es ist, wie gesagt, absolut keine Schande und sogar eher etwas, das für Dich spricht, wenn Du ehrlich zugeben kannst: „Ich weiß es nicht, ich kenne mich da nicht aus.“
Kritisch gedacht: Was nun?
Nach diesem ausführlichen Blick auf die verschiedenen Aspekte und Schritte des kritischen Denkens hast Du hoffentlich eine fundierte, differenzierte Meinung zu den Themen, die Dich beschäftigen. Aber was machst Du nun damit?
Natürlich ist es Dein gutes Recht, Dich damit zu begnügen, eine fundierte, differenzierte Meinung zu haben. Weil kritisches Denken aber auch sehr viel mit dem Aneignen von Wissen zu tun hat, könnte dieses Wissen Dein Verantwortungsbewusstsein wecken sowie ein Verlangen danach, zu handeln. Vor allem, wenn Du auf gravierende Missstände aufmerksam wirst, ist es mehr als verständlich, wenn Du daran etwas ändern möchtest. Gerade wenn über diese Missstände sonst kaum gesprochen wird, braucht es jemanden, der die Schweigespirale unterbricht.
Aber Vorsicht, wie Du das anstellst!
Ich persönlich empfehle, Deine Meinungen vorsichtig und relativierend zu formulieren.
Bedenke stets, dass niemand unfehlbar ist, und sei bereit, Fehler einzugestehen, wenn Du Dich doch irren solltest. Eine offene Haltung gegenüber anderen Perspektiven und die Fähigkeit, Meinungen zu revidieren, sind eben nicht umsonst Zeichen von intellektueller Reife und Demut. Menschen sind eher geneigt, mit Dir zu diskutieren und konstruktive Gespräche zu führen, wenn sie spüren, dass Du nicht dogmatisch, sondern lernbereit bist.
Ganz besonders möchte ich an dieser Stelle noch einmal betonen, dass Du unbedingt klare Grenzen zwischen Fakten, Zitaten, Interpretationen und Meinungen ziehen und sie entsprechend kennzeichnen solltest. Sage es zum Beispiel deutlich, wenn Du eine Meinung äußerst, anstatt sie als Tatsache darzustellen. Dies schafft Transparenz und verhindert Missverständnisse. – Vorausgesetzt, Dein Diskussionspartner besitzt ebenfalls die Fähigkeit, zwischen Fakten, Zitaten, Interpretationen und Meinungen zu unterscheiden. Falls das nicht der Fall ist: Warum diskutierst Du mit dieser Person überhaupt noch? Sie ist im Moment nicht aufnahme- und diskussionsfähig, weil sie vielleicht emotional aufgewühlt ist oder sowas. Lass sie um Himmels willen in Ruhe!
Außerdem können vorsichtige Formulierungen dabei helfen, Dich quasi selbst zu erziehen. Auch, wenn Du das mit der Demut tief in Deinem Inneren noch nicht ganz verinnerlicht hast, erinnerst Du Dich selbst durch demütige Formulierungen daran, dass Du demütig sein solltest. Frei nach dem Motto: „Fake it till you make it!“ Der Nachteil ist aber, dass oberflächliche Menschen, die sich vor allem durch Auftreten und Charisma überzeugen lassen, Dich weniger ernst nehmen. Aber bleib dran und übe das Diskutieren! Irgendwann wirst Du sie höflich und zivilisiert mit überzeugenden Fakten überschwemmen können, die sie dumm aus der Wäsche schauen lassen. Jedem aufgeblasenen Luftballon geht früher oder später die Luft aus, und dann kann auch das beste Charisma der Wirklichkeit nicht mehr standhalten.
Und klar, ich weiß, wie schwierig es ist, demütig zu sein. Ich meine, mein eigenes Ego ist auch nicht von schlechten Eltern. Allerdings halte ich eine allzu selbstsichere und aggressive Präsentation der eigenen Meinung oft für kontraproduktiv. Wenn Du in einer Diskussion „auf die Kacke gehauen“ und alle Andersdenkenden beleidigt hast und sich dann herausstellt, dass Du falsch lagst, kann das gesichtswahrende Zurückrudern zu einer Herausforderung werden. Mit der Selbstsicherheit geht nun mal oft auch ein gewisser Stolz auf die eigene Meinung einher. Wenn Du dann feststellen musst, dass Deine Meinung, gelinde gesagt, Müll ist, sind Schamgefühle die logischste aller Folgen. Du stehst dann nämlich nicht nur als jemand da, der sich geirrt hat, was an sich ja absolut menschlich, normal und gesellschaftlich akzeptabel ist, sondern auch als asozialer Arroganzbeutel, mit dem man als durchschnittlicher Mensch eher wenig zu tun haben will. Dein urinstinktives Bedürfnis danach, als lebens- und liebenswert wahrgenommen zu werden, ist dann einer existenziellen Bedrohung ausgesetzt.
Diese Dynamik erklärt auch, warum Diskussionspartner, die in einer Debatte Schwierigkeiten haben, gegen Deine Argumente anzukommen, möglicherweise aggressiv reagieren. Sie möchten nicht als böser, dummer, unbeliebter, gescheiterter oder anderweitig schlechter Mensch dastehen und verteidigen daher ihre Standpunkte mit Vehemenz, selbst wenn sie längst verloren haben und der weitere Kampf somit sinnlos ist. Willst Du selbst so enden? – Wahrscheinlich nicht. Also hüte Dich davor, „auf die Kacke zu hauen“. Es sei denn natürlich, es handelt sich um eine Ausnahmesituation, in der Du Dich unmittelbar bedroht fühlst. Wer Dir dann zum Vorwurf macht, dass Du laut und unversöhnlich wirst, hat definitiv selbst ein Problem.
Beachte aber auch, dass nicht jede aggressive Reaktion auf Schamgefühle zurückzuführen ist. Manchmal können auch persönliche Trigger oder traumatische Erfahrungen eine Rolle spielen: Bei Deinem Diskussionspartner könnte eben tatsächlich eine Ausnahmesituation vorliegen, auch wenn Du selbst nichts davon merkst. Ein sensibler Umgang miteinander ist daher in allen Diskussionen von großer Bedeutung: Wenn ich zum Beispiel mit der hypothetischen dunkelhäutigen Lisa spreche und ihr erkläre, warum ich den Mangel von passendem Make-up nicht für Rassismus halte, sollte ich das möglichst taktvoll machen.
Und „taktvoll“ ist ein wichtiges Stichwort:
Taktvolles Verhalten bedeutet nämlich, die Gefühle und Empfindlichkeiten anderer Menschen zu erkennen und ernst zu nehmen und den Dialog auf eine respektvolle Weise zu führen.
Es ist mehr als bloße Höflichkeit. Denn Höflichkeit ist eher oberflächlich und kann unterhalb dieser Oberfläche extrem giftig sein: Man kann sehr wohl einen Menschen beleidigen, ohne beleidigende oder herablassende Worte zu verwenden. Taktgefühl hingegen erfordert ein tiefes Verständnis für die Bedürfnisse und Empfindlichkeiten anderer Menschen sowie die Fähigkeit, sensibel auf diese einzugehen. Und dies ist für eine produktive und konstruktive Kommunikation entscheidend. Taktgefühl kann jedoch nicht einfach in einem einzigen Artikel vermittelt werden, denn es erfordert kontinuierliches Lernen und sehr viel Übung. Und abgesehen davon, dass es den Rahmen dieses Artikels sprengen würde, habe ich Zweifel, inwiefern ich überhaupt die richtige Person bin, um anderen etwas über Taktgefühl beizubringen.
Auf den Missstand hinweisen möchte ich aber trotzdem:
Leider ist vielen Menschen heutzutage – vor allem den jüngeren Generationen – anscheinend nicht einmal bewusst, wie wichtig Taktgefühl ist.
Häufig sagen sie Dinge wie: „Das Leben ist kein Ponyhof.“ Und dann diskutieren sie so, wie ihnen halt der Schnabel gewachsen ist, und finden das eventuell sogar cool, schlagfertig und selbstbewusst. Sie diskutieren mit viel Emotion, zuweilen mit Witz, Ironie und Sarkasmus, und meinen, der Adressat solle sich eine dickere Haut zulegen. Es gehöre zu einer reifen Persönlichkeit dazu, mit Widerspruch umgehen zu können. Und an sich stimmt das Ganze ja auch. Bloß sind diese sarkastischen Leute häufig die ersten, die jammern und sich beleidigt fühlen, wenn man ihnen – wohlgemerkt in einem viel ruhigeren und sachlicheren Tonfall – widerspricht.
Ich drücke meine Meinung dazu mal hart aus: Ich finde das asozial. Und vermute dahinter entweder eine schlechte Erziehung oder Narzissmus oder sogar beides. Und alle drei Varianten schaden allen Beteiligten. Meine Erfahrung ist nämlich: Je sachlicher und taktvoller der Ton, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass eine sachliche Diskussion zustande kommt, und vielleicht kann man sogar überzeugen. Und ja, es stimmt, dass das Leben ist kein Ponyhof ist. Und genau deswegen sollten wir aufeinander so viel Rücksicht nehmen wie möglich.
Nun kann eine ernsthafte Auseinandersetzung mit kritischem Denken aber auch einen sehr deprimierenden Nebeneffekt haben: Wenn Du anfängst, auf Denk- und Logikfehler zu achten, Propagandatechniken zu durchschauen, all die unbewussten Vorurteile und sogar Rassismen wahrzunehmen, selbst die subtilsten Aggressionen wegen Meinungsverschiedenheiten zu registrieren etc., kommst Du Dir irgendwann wie der einzige intelligente Mensch unter Idioten vor. Das dadurch entstehende Gefühl von Einsamkeit ist so ein bisschen die Bürde reifer, intelligenter Menschen und zugleich auch eine große Gefahr:
Denn die idiotischsten Idioten sind diejenigen, die das Gefühl haben, der einzige intelligente Mensch unter Idioten zu sein. (Siehe Dunning-Kruger-Effekt.)
Und damit schließt sich der Kreis. Bilde Dir also niemals etwas auf Dein kritisches Denken und Deine Intelligenz ein. Argumentiere. Weise auf Fehler und Missstände hin. Verteidige Dich, wenn Du angegriffen wirst und eine Verteidigung für nötig hältst. Aber erhebe Dich nicht über andere und bilde Dir nicht ein, Du wärst etwas Besseres. Wie gesagt, beleidige niemanden, selbst wenn Du das Gefühl hast, objektiv intelligenter als Dein Gegenüber zu sein. Und ja, wenn Du tatsächlich intelligent bist und gut argumentierst, kann es auch ohne Beleidigungen von Deiner Seite dazu kommen, dass Dein Opponent sich Dir gegenüber dumm und daher beleidigt fühlt. Das ist aber sein eigenes Problem und geht Dich nichts an. Lass ihn ruhig rumschreien und verbal um sich schlagen. Ist doch schön, wenn Dein Opponent sich vor aller Augen selbst diskreditiert. 😉
Also alles in allem:
Denke kritisch, aber sei nicht arrogant, sondern taktvoll.
Dabei ist es egal, zu welchen Schlüssen Du kommst, solange Du sie gut begründen kannst und sie einer sachlichen Kritik standhalten können. Vor allem aber sollte niemand beleidigt werden. Und damit das Ganze etwas besser funktioniert, brauchen wir Empathie und Taktgefühl als Schulfach. Ebenso Logik. Überhaupt brauchen wir ein Bildungssystem, bei dem man nicht in ein Schema F gepresst wird. Und ja, ich weiß, es ist nicht so ganz der Sinn und Zweck unseres Schulsystems, eigenständige, reife Persönlichkeiten hervorzubringen, aber man wird ja wohl träumen dürfen.
Schlusswort
Wie, Du bist noch da? Respekt! Das schafft echt nicht jeder. Hier, nimm Dir einen imaginären Keks! – Ich hoffe aber natürlich, dass Du nicht einfach nur durchgehalten hast, sondern auch wertvolle Erkenntnisse gewinnen konntest und nun motiviert bist, Dein eigenes kritisches Denken weiterzuentwickeln und zu verfeinern. Unsere Welt braucht nämlich mehr Menschen, die in der Lage sind, die Dinge differenziert zu betrachten und fundierte Entscheidungen zu treffen.
Zum Abschluss möchte ich nur noch einmal meine Faszination über einige Parallelen zwischen verschiedenen Disziplinen ausdrücken. Denn im Grunde beruhen das literaturwissenschaftliche Analysieren der Erzählperspektive, die Quellenkritik in der Geschichtswissenschaft und die Medienkritik im Wesentlichen auf denselben Prinzipien. Dies unterstreicht die Bedeutung von kritischem Denken als grundlegende Fähigkeit, die Du in verschiedenen Bereichen des Lebens anwenden kannst.
Dabei dürfen wir nicht vergessen, dass niemand perfekt im kritischen Denken sein kann. Unsere Fähigkeit, Informationen zu analysieren und Schlussfolgerungen zu ziehen, ist immer begrenzt. Dennoch sollten wir uns stets bemühen, unser kritisches Denken zu verbessern und möglichen Trugschlüssen entgegenzuwirken. Und glaub mir, ich habe alle oder zumindest fast alle der in dieser Reihe besprochenen Denkfehler, kognitiven Blockaden und Tücken selbst erlebt. Bin also keinesfalls besser als Du, nur weil ich diese Reihe fabriziert habe. Habe also keine Scheu, wenn Du etwas korrigieren oder ergänzen willst. Solange Du es sachlich und freundlich tust, versteht sich.
Ansonsten schimmern in dieser Artikelreihe zweifelsohne meine eigenen Ansichten zu kontroversen politischen Themen durch. Obwohl ich mich bemüht habe, möglichst neutral zu formulieren, musste ich ja Beispiele anführen und zerlegen, und da kommt man nicht umhin, auf den eigenen Wissensstand und damit auch auf den eigenen Realitätstunnel zurückzugreifen. Habe also auch hier keine Scheu, mir zu widersprechen, solange Du es zivilisiert tust.
Und schließlich möchte ich noch klarstellen, dass diese Artikelreihe nicht als Ausdruck von Menschenhass gedacht ist. Stellenweise mag es vielleicht so scheinen, weil ich immer wieder davor warne, anderen Menschen gute Absichten zu unterstellen, und immer wieder darauf hinweise, dass „das Böse“ auch in Dir selbst wohnt. Ich will nur sagen:
Menschen sind Menschen, und das ist weder gut noch schlecht.
Diese Artikelreihe richtet sich vielmehr gegen naiven Idealismus, der die Realitäten der menschlichen Natur ausblendet und die Welt in allzu simplen Mustern betrachtet.
Menschenliebe bedeutet meiner Meinung nach nämlich nicht, die dunklen Seiten des Menschen zu leugnen, sondern ihn trotz seiner Unvollkommenheit, manchmal sogar Biestigkeit, zu akzeptieren und ihn bei all seinem enormen Grausamkeitspotential trotzdem noch zu lieben.
Und der erste Schritt besteht nun mal darin, dass wir diese Schattenseiten am Menschen generell und an uns selbst im Speziellen überhaupt erst wahrnehmen und anerkennen.