Das Böse in uns: Mitläufer, Feindbilder, Hass (Wie geht selbstständiges, kritisches Denken? – Teil 2)

Das Böse in uns: Mitläufer, Feindbilder, Hass (Wie geht selbstständiges, kritisches Denken? – Teil 2)

Warum ist kri­tis­ches Denken eigentlich so wichtig? Nach­dem wir im ersten Teil dieser Rei­he fest­gestellt haben, warum es so schwierig ist, beschäfti­gen wir uns jet­zt mit dem Schaden, den wir durch man­gel­haftes kri­tis­ches Denken verur­sachen. Denn während wir alle uns um die gesellschaftliche Spal­tung sor­gen, ist doch jed­er selb­st Teil des Prob­lems …

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Wir alle machen uns Sor­gen um die gesellschaftliche Spal­tung und den immer boshafteren Ton, der die gesellschaftlichen Debat­ten beherrscht. Wir machen uns Sor­gen um Hass und Het­ze. Wir sind ehrlich und aufrichtig für mehr Empathie und Ver­ständ­nis füreinan­der. – Wenn die Gegen­seite nur nicht so pro­pa­gan­da­v­erseucht und ver­bohrt wäre!

Ist Dir schon mal der Gedanke gekom­men, dass Du selb­st Teil des Prob­lems sein kön­ntest? Dass Du selb­st abstem­pelst, pöbelst, aufhet­zt oder zumin­d­est wegschaust, wenn jemand Dein­er Gle­ich­gesin­nten so etwas tut? Dass Du bei dem Ver­such, die Welt, die Gesellschaft, Deutsch­land oder was auch immer zu ret­ten, zur Zer­störung beiträgst?

Wie im ersten Teil dieser Rei­he bere­its erläutert, ist es abso­lut natür­lich, wenn Dir dieser Gedanke noch nie gekom­men ist, Du ihn kat­e­gorisch auss­chließt oder zu dem Schluss gekom­men bist, dass er nicht stimmt. Damit gehörst Du zur über­wälti­gen­den Mehrheit. Willkom­men im Klub der Dumpf­back­en.

Nun wäre die Welt zweifel­los ein besser­er, fried­vollerer Ort, wenn wir keine Dumpf­back­en wären. Deswe­gen möchte ich, bevor wir im drit­ten Teil darüber reden, wie kri­tis­ches Denken in der Prax­is funk­tion­iert, expliz­it beleucht­en, warum es über­haupt so wichtig ist. Das ist im ersten Teil immer wieder angek­lun­gen, aber ein Man­gel an kri­tis­chem Denken ist extrem gefährlich, tödlich sog­ar, und das möchte ich an konkreten Beispie­len erläutern.

Weil wir hier in Deutsch­land sind (ich zumin­d­est bin es) und ich das The­ma ohne­hin schon im ersten Teil angeschnit­ten habe, sprechen wir zunächst darüber, wie der Nation­al­sozial­is­mus in Deutsch­land solch unge­heuer­liche Züge annehmen kon­nte. Wie Dir sicher­lich bere­its aufge­fall­en ist – nicht zulet­zt durch meinen Artikel über Pro­pa­gan­da und Sto­ry­telling – ist es eins der The­men, die mich in den let­zten zehn Jahren und eigentlich auch schon darüber hin­aus beschäftigt haben. Und wenn man das Böse schlechthin unter­suchen möchte, dann bietet sich dieses dun­kle Kapi­tel der deutschen Geschichte bestens an.

In den darauf­fol­gen­den Abschnit­ten wird es darum gehen, wie das Böse trotz aller Aufk­lärung in uns weit­er­lebt und sein übles Werk treibt. Meine Beispiele wer­den dabei natür­lich sub­jek­tiv einge­färbt sein. Denn auch ich habe meinen Real­ität­stun­nel und vor allem meine toten Winkel. Und der Witz bei toten Winkeln ist, dass man gar nicht sieht, was dort drin steckt. Genau­so wie ein Blind­er nicht die richtige Per­son ist, um Far­ben zu beschreiben, bin ich nicht die richtige Per­son, um meine eige­nen toten Winkel zu zer­legen. Ich kön­nte das nicht ansatzweise so gut wie bei den Fehlern, die ich bei anderen sehe (oder zumin­d­est zu sehen glaube). Deswe­gen konzen­triere ich mich eben auf die Fehler ander­er. Ich bitte, mir meine men­schliche Beschränk­theit nachzuse­hen und ein­fach im Hin­terkopf zu behal­ten: Ja, die Schreibtech­nikerin weiß, dass sie genau­so eine Dumpf­backe wie alle anderen ist!

Nationalsozialismus: Die Banalität des Bösen nach Hannah Arendt

Ich feiere das im ersten Teil bere­its erwäh­nte Buch The Palm­ström Syn­drome unter anderem deswe­gen, weil der Autor Dick de Mildt, der sich sein Leben lang mit NS-Prozessen und den darin zer­legten Biografien und psy­chol­o­gis­chen Pro­filen von NS-Tätern beschäftigt hat, auf die Kon­tro­ver­sen um Han­nah Arendts Auseinan­der­set­zung mit dem Eich­mann-Prozess in Jerusalem und ihre darauf auf­bauen­den Schlüsse über die “Banal­ität des Bösen” einge­ht. De Mildt bestätigt dabei ihre Erken­nt­nis,

dass die für einen gewöhn­lichen Men­schen schein­bar so unbe­grei­flichen Ver­brechen haupt­säch­lich nicht etwa von Wahnsin­ni­gen und psy­chisch gestörten Fanatik­ern, son­dern von ganz gewöhn­lichen Otto Nor­mal­bürg­ern verübt wur­den.

Dabei waren viele von ihnen nicht ein­mal wirk­lich Anti­semiten. Es waren ein­fach nur Men­schen, die Kar­riere machen woll­ten und ihren Job nach densel­ben Kri­te­rien gewählt hat­ten, die wir auch heute in unserem nor­malen All­t­agsleben anwen­den. Sobald sie ihren Job in der Ver­nich­tungs­maschiner­ie hat­ten, haben sie brav und gewis­senhaft ihre Pflicht­en aus­ge­führt, die Ver­ant­wor­tung und das Denken an den Geset­zge­ber out­ge­sourct und hiel­ten sich inner­halb ihrer eige­nen Blase für dur­chaus anständi­ge und sog­ar humane, empathis­che Bürg­er.

Das lässt auch an die eben­falls im ersten Teil bere­its erwäh­nte Auswer­tung der Erin­nerungskul­tur in den deutschen Fam­i­lien denken (“Opa war kein Nazi”): In der Regel ste­hen hier die Ange­höri­gen der eige­nen Fam­i­lie, wie gesagt, als Helden oder Opfer da, als Men­schen, die zumin­d­est anständig waren. – Doch durch ihre Untätigkeit haben sie de fac­to als pas­sive Zuschauer und dadurch Möglich­mach­er und indi­rek­te Mit­täter fungiert. Ein Beispiel zur Erläuterung:

Wenn es in ein­er Schulk­lasse zu Mob­bing kommt, dann sind nicht so sehr die vier Mob­ber das Prob­lem, denn faule Äpfel gibt es immer und über­all. Das Prob­lem sind eher die fün­fundzwanzig anderen Leute in der Klasse, die das Mob­bing durch ihr Wegschauen, durch ihre Pas­siv­ität, qua­si “erlauben”. Sie lassen es zu, dass das Mob­bing auf­blühen kann, und gle­ichzeit­ig ver­mit­teln sie dem Opfer durch ihre Pas­siv­ität, dass es keine Hil­fe zu erwarten braucht, ver­stärken also sein Gefühl des Aus­geliefert­seins und wer­den dadurch im Grunde zum Teil der Drohkulisse, die das Opfer seel­isch zer­stört.

Ich würde es daher gar nicht als über­zo­gen betra­cht­en, den deutschen Otto Nor­mal­bürg­er der 30er und 40er Jahre eben als indi­rek­ten Mit­täter zu betra­cht­en, ein­fach weil er ein braves, funk­tion­ieren­des Zah­n­rad inner­halb eines in seinem tief­sten Kern ver­brecherischen Sys­tems war und sich in diesem Sinne auch nicht von den aktiv­eren Tätern der nation­al­sozial­is­tis­chen Ver­nich­tungs­bürokratie und des mörderischen Per­son­als vor Ort unter­schied.

Ein häu­figer Ein­wand, ger­adezu ein Klis­chee, ist die ewige Leier von: “Man hat ja von nichts gewusst.” Denn wenn der Otto Nor­mal­bürg­er von all den Ver­brechen des Nation­al­sozial­is­mus gewusst hätte, dann wäre er doch in all sein­er men­schlichen Anständigkeit in den Wider­stand gegan­gen! Zumin­d­est glauben es der Otto Nor­mal­bürg­er und seine Nach­fahren. Bei genauerem Hin­se­hen zer­fällt jedoch diese klas­sis­che Ausrede:

Bekan­nter­maßen gab es während des Nation­al­sozial­is­mus an jed­er Ecke Has­spro­pa­gan­da. Es gab Konzen­tra­tionslager in unmit­tel­bar­er Nähe zu bewohn­ten Ortschaften. KZ-Häftlinge und ver­schleppte, ver­sklavte Men­schen, vor­wiegend aus Osteu­ropa, arbeit­eten in deutschen Betrieben und auf deutschen Bauern­höfen. Bes­timmte Min­der­heit­en, vor allem Juden, sind massen­haft ver­schwun­den. Ein wesentlich­er Teil der Ver­nich­tung von Men­schen fand nicht in KZs, son­dern vor Ort in den beset­zten Gebi­eten in Osteu­ropa statt, zum Teil unter direk­ter Beteili­gung der Wehrma­cht, also der einge­zo­ge­nen Otto Nor­mal­bürg­er. Während des Ver­nich­tungskrieges im Osten wur­den auch ganz zen­tral ras­sis­tisch motivierte Kriegsver­brechen wie der Kom­mis­sar­be­fehl, die Maß­nah­men im Kampf gegen die Par­ti­sa­nen und die Leningrad­er Block­ade ange­ord­net und die Otto Nor­mal­bürg­er in der Wehrma­cht haben mit­gemacht und dabei auch der osteu­ropäis­chen Zivil­bevölkerung die Nahrungsmit­tel wegge­fressen und diese dadurch in den Hunger gestürzt. Und nicht zulet­zt hat Hitler selb­st seine radikalen Ansicht­en und Pläne ziem­lich expliz­it in seinem Best­seller Mein Kampf dargelegt. Wer die Gefährlichkeit dieser Ide­olo­gie nicht erkan­nt hat, selb­st wenn er unmit­tel­bar Zeuge wurde oder – sei es auch noch so wider­willig – mit­machen musste, hat also nicht etwa “von nichts gewusst”, son­dern all die offen­sichtlichen, neon­blink­enden Warnze­ichen vor sein­er Nase ein­fach nicht wahrgenom­men. Siehe dazu den ersten Teil dieser Rei­he über Denk­fehler und kog­ni­tive Block­aden.

Wenn also das gute, alte “von nichts gewusst” beschworen wird, dann ist eher von einem unbe­wussten Von-nichts-wis­sen-Wollen die Rede: Denn Wis­sen bedeutet in diesem Fall Ver­ant­wor­tung. Wenn man der Ver­ant­wor­tung ent­ge­hen will, dann sagt man, man habe dieses Wis­sen nicht gehabt. – Als ob jemand verpflichtet gewe­sen wäre, einen wahrheits­gemäß zu informieren. Und genau hier liegt der Knack­punkt:

Nie­mand ist verpflichtet, Dich zu informieren. Jed­er sagt Dir nur das, von dem er will, dass Du es weißt. Wenn er nicht will, dass Du etwas weißt, dann sagt er es Dir nicht. Und dass Sys­teme ein Grund­in­ter­esse daran haben, sich selb­st aufrechtzuer­hal­ten, habe ich ja schon aus­ge­führt.

Es liegt also nicht im Inter­esse eines Sys­tems, Dich zum Hin­ter­fra­gen zu motivieren.

Zu erwarten, dass es das trotz­dem tut, ist naiv. Und nicht zulet­zt hat die pas­sive Erwartung, umfassend informiert zu wer­den, nichts mit selb­st­ständi­gem Denken zu tun. Denn selb­st­ständi­ges Denken bedeutet auch selb­st­ständi­ge Infor­ma­tions­beschaf­fung: Du musst es per def­i­n­i­tionem selb­st tun.

Es geht mir bei diesen Aus­führun­gen im Übri­gen – und das möchte ich expliz­it beto­nen – keineswegs darum, Schamge­füh­le auszulösen, son­dern das eigentliche Kern­prob­lem hin­ter dem Nation­al­sozial­is­mus zu ermit­teln. Denn nur, wenn man das eigentliche Kern­prob­lem iden­ti­fiziert, kann man es aufar­beit­en. Und genau hier sehe ich ein entschei­den­des Prob­lem der deutschen Ver­gan­gen­heits­be­wäl­ti­gung, wodurch eine Wieder­hol­ung der Ver­brechen mein­er Ein­schätzung nach jed­erzeit möglich ist, wenn auch eher unter ein­er anderen Flagge als dem Nation­al­sozial­is­mus.

Lücken der Vergangenheitsbewältigung

Sicher­lich hast Du bere­its vom Sozial­ex­per­i­ment “The Third Wave” gehört, das der Lehrer Ron Jones 1967 an ein­er kali­for­nischen High School durch­führte. Zumal es den deutschen Film Die Welle gibt, dessen Hand­lung auf genau diesem Exper­i­ment basiert. Inspiri­ert durch die Fra­gen sein­er Schüler, wie die ganz nor­malen Men­schen in Deutsch­land behaupten kon­nten, von den Ver­brechen des Nation­al­sozial­is­mus nichts gewusst zu haben, beschloss Ron Jones, es ihnen am eige­nen Leib zu demon­stri­eren und grün­dete eine fik­tive Bewe­gung namens “The Third Wave”. Diese gewann inner­halb weniger Tage an Bedeu­tung und entwick­elte eine autoritäre Struk­tur. Durch Diszi­plin, Druck und Manip­u­la­tion began­nen die Schüler, die stren­gen Regeln zu befol­gen, einan­der zu denun­zieren und Nicht­mit­glieder der Bewe­gung zu mobben.

Die ras­ante Eskala­tion zeigte ein­drucksvoll, wie schnell und bere­itwillig Men­schen das kri­tis­che Denken able­gen kön­nen und welche Macht in Grup­pen­dy­namiken und im Kon­for­mitäts­druck steckt.

Wenn ich also sage, dass eine Wieder­hol­ung der NS-Ver­brechen jed­erzeit möglich ist, dann sage ich das nicht ein­fach so. Nicht nur die Deutschen – die Men­schen ins­ge­samt haben die wahren Gefahren, soweit ich das ein­schätzen kann, nicht aus­re­ichend ver­ar­beit­et. Denn wenn man “das Böse” sich als Wahn vorstellt und nicht als nor­males Ver­hal­ten nor­maler Men­schen, dann bildet man sich gerne ein, man würde das Böse schon erken­nen, wenn man es sieht: Wenn nicht an Teufelshörn­ern und Ziegen­hufen, dann doch an irgendwelchen äußer­lichen Gemein­samkeit­en mit Hitler und dem Nation­al­sozial­is­mus, seien die Ver­gle­iche auch noch so sehr an den Haaren her­beige­zo­gen.

So schüt­telt zum Beispiel prak­tisch die ganze Welt den Kopf über Deutsch­land, weil hier Patri­o­tismus und Heimatliebe häu­fig mit Nation­al­is­mus gle­ichge­set­zt und die Nation­alflaggen höch­stens zur Fußball-WM raus­ge­holt wer­den. Zumin­d­est habe ich noch nie einen Nicht­deutschen getrof­fen, der der Mei­n­ung wäre, dass das ein guter und gesun­der Umgang mit der eige­nen Iden­tität wäre. Ganz per­sön­lich glaube ich sog­ar, dass das einen beson­ders frucht­baren Boden für Faschis­mus bere­it­et. Dabei lehne ich mich an Erich Fromms Die Kun­st des Liebens an, wo er unter anderem zwis­chen Selb­stliebe und Narziss­mus tren­nt und Selb­stliebe als Grund­vo­raus­set­zung ansieht, um andere lieben zu kön­nen, während der Narziss­mus aus einem Man­gel an Selb­stliebe entste­ht.

Auf die nationale, eth­nis­che und kul­turelle Zuge­hörigkeit über­tra­gen würde das bedeuten, dass man zuerst das eigene Land lieben und respek­tieren muss, um wirk­liche Liebe und Respekt gegenüber anderen Völk­ern haben zu kön­nen. Patri­o­tismus bedeutet somit, dass man sich selb­st bzw. das eigene Land akzep­tiert und liebt, wie es ist. Dadurch weiß man über­haupt erst, wie es grund­sät­zlich funk­tion­iert, jeman­den so zu lieben und zu akzep­tieren, wie er ist, kann Liebe und Respekt also auch anderen ent­ge­gen­brin­gen.

In diesem Zusam­men­hang fällt mir ein Zitat von Ernst Thäl­mann ein: “Mein Volk, dem ich ange­höre und das ich liebe, ist das deutsche Volk; und meine Nation, die ich mit großem Stolz verehre, ist die deutsche Nation.” – Heute wird man für solche Aus­sagen gerne in die rechte Ecke gestellt. Als Vor­sitzen­der der Kom­mu­nis­tis­chen Partei Deutsch­lands und poli­tis­ch­er Gegen­spiel­er Hitlers, der 1944 im KZ Buchen­wald ermordet wurde, ste­ht Thäl­mann aber nun wirk­lich nicht im Ver­dacht, recht­sex­tremes Gedankengut zu vertreten. Er war sog­ar der­maßen linksradikal, dass er die SPD bekämpfte, weil er sie als “sozial­faschis­tisch” betra­chtete. Liebe für das eigene Volk und Stolz auf die eigene Nation bedeuten eben nicht, dass man irgend­wie recht­sex­trem ist.

Das ist man nur, wenn man das eigene Volk und die eigene Nation für etwas Besseres hält. Denn wenn man sich über andere stellt, dann entste­ht das aus einem Min­der­w­er­tigkeit­skom­plex her­aus, also aus man­gel­nder Selb­stliebe, die man durch Selb­stüber­höhung kom­pen­sieren will. Genau das ist aber, wie gesagt, das Grund­prinzip von Narziss­mus, ein­er Ver­hal­tensstörung, die auf nationaler Ebene zum Nation­al­is­mus wird. Dabei wird der speziell deutsche Man­gel an Selb­stliebe, fürchte ich, durch einen regel­recht­en Kult von Schuldge­fühlen genährt, und die tragis­che und bru­tale deutsche Ver­gan­gen­heit wird gerne herange­zo­gen für die banal­sten der uns aus dem ersten Teil dieser Rei­he bekan­nten Manip­u­la­tion­stech­niken: “Du bist ja so böse, böse, böse – aber wenn Du gut sein willst, dann musst Du dieses und jenes tun.” Also läuft der deutsche Michel los und tut, was von ihm ver­langt wird, damit er nur nicht als amoralisch daste­ht, und schwingt sich irgend­wann sog­ar zum Morala­pos­tel mit einem belehren­den Zeigefin­ger auf. Denn wenn man seine nationale Iden­tität nicht her­anziehen kann, um sich als Volk und/oder Kul­tur bess­er zu fühlen als andere, weil einem son­st auf die Fin­ger gehauen wird, dann akzep­tiert man eben eine andere Ide­olo­gie, die einem ein Über­legen­heits­ge­fühl ver­schafft, zum Beispiel die hochge­priese­nen “west­lichen Werte”, an die man sich aber selb­st nicht unbe­d­ingt hält. Mehr noch, wenn wir die west­liche Geschichte aus Vogelper­spek­tive betra­cht­en, kön­nen wir einen Trend erken­nen:

Kreuz­züge: bru­tale Angriff­skriege, recht­fer­tigt durch west­liche Werte im Män­telchen des katholis­chen Chris­ten­tums. Kolo­nial­is­mus: bru­tale Angriff­skriege, recht­fer­tigt durch west­liche Werte im Män­telchen ein­er ange­blich weit­er entwick­el­ten “Zivil­i­sa­tion”. Impe­ri­al­is­mus und west­liche Nation­al­is­men: bru­tale Angriff­skriege, recht­fer­tigt durch west­liche Werte im Män­telchen biol­o­gis­ch­er, “ras­sis­ch­er” Über­legen­heit. Zweite Hälfte 20. und 21. Jahrhun­dert: bru­tale Angriff­skriege, recht­fer­tigt durch west­liche Werte im Män­telchen von Frei­heit und Demokratie. Also egal, welche Epoche – die Werte ändern sich zwar, aber eine Kon­stante bleibt: Das Gefühl ein­er grundle­gen­den Über­legen­heit und das Bestreben, das eigene Sys­tem anderen aufzuzwin­gen, um die Wilden da draußen zu “zivil­isieren” (ganz im Sinne von “The White Man’s Bur­den” von Rud­yard Kipling). Ich per­sön­lich beze­ichne das als Kul­tur­faschis­mus. Und es schmerzt mich zu sehen, wie an sich gute Ideen zu ein­er Art fanatis­chem Glauben wer­den, den man zum Non­plusul­tra erhebt und dann miss­braucht, um sich über andere zu stellen, seine ego­is­tis­chen Inter­essen durchzuset­zen und sich dabei als Hort von Zivil­i­sa­tion und Moral zu fühlen. – Das ist es doch, was wirk­lich an die dunkel­sten Kapi­tel der deutschen Geschichte erin­nern sollte!

Ich halte es also für grundle­gend falsch, jede auch nur ent­fer­nte Par­al­lele zum Nation­al­sozial­is­mus zu ver­teufeln: Wenn man Katzen niedlich find­et, ist man ja noch lange kein Nazi, nur weil irgen­dein promi­nen­ter Nazi auch Katzen niedlich fand, und wenn man Stüh­le, Hock­er und Schemel benutzt, ist man auch kein Nazi, nur weil Nazis sie auch benutzt haben, unter anderem für die ein oder andere Hin­rich­tungsmeth­ode. Die Wahrheit ist,

dass “die Nazis”, die richti­gen Nazis, die in der Nachkriegszeit vor Gericht standen, sich nach äußer­lichen Kri­te­rien keinen Deut von uns unter­schieden.

Diese Banal­ität des Bösen ist der Grund, warum wir das Böse eben nicht auf den ersten Blick und mit bloßem Auge erken­nen kön­nen. Denn es sitzt sehr tief in uns selb­st drin und äußert sich vor allem in unserem Ver­hal­ten gegenüber anderen Men­schen:

  • Wer gegen irgendwelche Grup­pen und Ander­s­denk­ende het­zt, sie ent­men­schlicht, aus­gren­zt und ver­bal oder sog­ar kör­per­lich angreift, mögen die Ansicht­en und Hand­lun­gen dieser Grup­pen oder Ander­s­denk­enden vielle­icht auch noch so ver­dreht sein, – solange diese Grup­pen keine Straftat­en bege­hen, han­delt jemand, der ihnen Hass und Ver­ach­tung ent­ge­gen­bringt, wie ein Nazi.
  • Wer meint, dass die Richtigkeit sein­er Ansicht­en men­schen­ver­ach­t­ende und andere undemokratis­che Maß­nah­men recht­fer­tigt, han­delt wie ein Nazi.
  • Wer Ander­s­denk­ende und andere Men­schen, denen irgen­det­was vorge­wor­fen wird, ohne Unter­suchung und/oder gerichtlich­es Urteil bere­its als fer­tige Ver­brech­er abstem­pelt und bestrafen will, sei es auch “nur” durch ver­bale Gewalt – Stich­wort Can­cel Cul­ture –, han­delt wie ein Nazi.
  • Wer Autoritäten – seien sie auch noch so wis­senschaftlich, gottge­sandt oder was auch immer – unhin­ter­fragt Glauben schenkt, han­delt wie ein Nazi-Mitläufer.
  • Wer bei Has­srede und beim Auf­bau von Feind­bildern wegschaut und sein Leben gemütlich weit­er­lebt statt zu hin­ter­fra­gen, han­delt wie ein Nazi-Mitläufer.
  • Wer Ander­s­denk­enden aus dem Weg geht und ihnen von vorn­here­in nicht zuhört, weil er sie für dumm, unbelehrbar und sowieso ver­loren hält, han­delt wie ein Nazi-Mitläufer.
  • Wer von sein­er Mei­n­ung felsen­fest überzeugt ist, ohne seine Infor­ma­tio­nen selb­st­ständig (!) über­prüft zu haben, han­delt wie ein Nazi-Mitläufer.
  • Wer die Nar­ra­tive der Mächti­gen nach­plap­pert, um pos­i­tives Feed­back und irgendwelche Vorteile zu bekom­men, han­delt wie ein Nazi-Oppor­tunist.

Soll ich weit­er­ma­chen oder ist Dir schon aufge­fall­en, dass wir alle mehr oder weniger betrof­fen sind, vor allem jet­zt, in Zeit­en tiefer gesellschaftlich­er Spal­tung? Dabei fällt auf, dass diejeni­gen, die sich am meis­ten gegen solche Vor­würfe wehren, ten­den­ziell am stärk­sten zu solch naz­i­haftem Ver­hal­ten neigen. Das lässt sich mit ein­er niedri­gen Selb­stre­flex­ion erk­lären, also wenn man den Split­ter im Auge des anderen sieht, aber nicht den Balken im eige­nen. Denn Men­schen, die reflek­tieren, neigen dazu, ihr Ver­hal­ten nach Möglichkeit zu kor­rigieren. Und das sage ich nicht ein­fach so, son­dern nicht zulet­zt nach eini­gen Erfahrun­gen in den Kom­mentaren zu eini­gen mein­er Artikel und Videos. Von Leuten, die ihr aggres­sives Ver­hal­ten vertei­di­gen, bis hin zu ver­meintlich net­ten Kom­men­ta­toren, die von Respekt und Tol­er­anz reden, dabei aber nicht merken, dass ihre Äußerun­gen über Ander­s­denk­ende in den Bere­ich von neg­a­tiv­en Unter­stel­lun­gen oder sog­ar Belei­di­gun­gen driften, habe ich da schon viel gese­hen. Und so manch­es ges­per­rt. Und neben­bei so manchen Abon­nen­ten ver­loren. Dabei aber viel gel­ernt.

Aber lange Rede, kurz­er Sinn:

Die größte Lücke der deutschen Ver­gan­gen­heits­be­wäl­ti­gung beste­ht mein­er Mei­n­ung nach darin, dass sie auf eine bes­timmte – sei es auch tat­säch­lich noch so schlimme – Ide­olo­gie reduziert wird.

Dabei hätte sich diese Ide­olo­gie niemals so aggres­siv durch­set­zen kön­nen, wenn da nicht bes­timmte grund­men­schliche Eigen­schaften und Ver­hal­tensweisen am Werk gewe­sen wären. Und weil diese Eigen­schaften und Ver­hal­tensweisen noch heute unge­hin­dert am Werk sind, lassen sich die Nazi-Ver­brechen jed­erzeit wieder­holen, nur vielle­icht mit ein­er anderen Ide­olo­gie als Recht­sex­trem­is­mus:

Oppor­tunis­ten und Mitläufer bleiben auch bei Link­sex­trem­is­mus, Grünex­trem­is­mus, Rosaex­trem­is­mus und Muffinex­trem­is­mus Oppor­tunis­ten und Mitläufer.

Beispiel: Sehr unterbewusstes Mitläufertum

Ger­ade weil es hier sehr stark um Selb­stre­flex­ion geht und wir so manche unter­be­wusste kog­ni­tive Block­aden haben, die uns über­haupt erst zu Tätern, Oppor­tunis­ten und Mitläufern machen, möchte ich ein sehr sub­tiles Beispiel von Mitläufer­tum anführen, bei dem der Schreiber sich selb­st offen­bar für über­aus kri­tisch denk­end und empathisch hält, dabei aber – zumin­d­est mein­er Ein­schätzung nach – ehrlich und aufrichtig nicht merkt, was er da von sich gibt.

Worum geht es also?

Als 2022 Rus­s­land in die Ukraine ein­marschiert ist, traf es mich in viel­er­lei Hin­sicht sehr hart. Zur sel­ben Zeit hat­te ich eh vorge­habt, mit Schreib­vlogs zu exper­i­men­tieren. Doch da die poli­tis­che Sit­u­a­tion mich so sehr mit­nahm, sind viele dieser Vlogs eben sehr poli­tisch gewor­den, wobei meine Wahrnehmung des Krieges sich von der Darstel­lung in den Leitme­di­en unter­schei­det. Im Som­mer 2022 habe ich in der KreativCrew eine Umfrage durchge­führt und wollte wis­sen, ob meine loy­al­sten Leser und Zuschauer mehr Vlogs haben wollen oder nicht. Wenn man diejeni­gen, die die Vlogs nicht gese­hen und sich dementsprechend nicht dazu geäußert haben, nicht mitzählt, fie­len die Mei­n­un­gen eher aus­ge­wogen aus. Dabei war es bei der Abstim­mung möglich, seine Mei­n­ung zu begrün­den, und eine solche Zuschrift sticht allein schon durch ihre schiere Länge von sage und schreibe fünf Norm­seit­en her­vor.

Auch wenn es keineswegs die Absicht des Schreibers war, hat mich noch nie eine Zuschrift so sehr ver­let­zt wie diese fünf Seit­en. Ich habe damals im Affekt sog­ar über­legt, den ganzen Kanal hinzuschmeißen. Die Inten­sität mein­er emo­tionalen Reak­tion liegt natür­lich vor allem darin begrün­det, dass ich ohne­hin emo­tion­al aufgewühlt war. Die Ursachen für diese Aufgewühltheit, also inwiefern der Ukraine-Krieg mich getrof­fen hat, habe ich in meinem Schreib­vlog Ein­fluss der Gegen­wart – Ukraine, Pro­pa­gan­da, Ras­sis­mus erläutert, und darauf bezog sich übri­gens auch die Zuschrift. Es geht mir bei mein­er Ver­let­ztheit allerd­ings nicht um Kri­tik an sich: Nach Jahren auf YouTube habe ich schon auf jede erden­kliche undiplo­ma­tis­che bis belei­di­gende Weise gesagt bekom­men, dass meine Stimme scheiße ist, ich wurde auch unter­halb der Gürtellinie belei­digt und so weit­er und so fort. Dass man ein­deutig belei­di­gende Kom­mentare – egal, gegen wen, – bei mir eher sel­ten antrifft, liegt daran, dass ich sie block­iere, um die übrige Com­mu­ni­ty vor ihrer Tox­iz­ität zu schützen. Über kon­struk­tive Kri­tik hinge­gen freue ich mich und ohne sie hätte sich die Qual­ität meines Con­tents bes­timmt nicht so sehr verbessert. Und es ist auch nicht so, dass die besagte Zuschrift nichts Kon­struk­tives enthal­ten hätte: Dass zu viele YouTube-Kanäle von ihrem eigentlichen The­ma abdriften und dadurch einen Teil ihrer Zuschauer­schaft ver­graulen, ist zum Beispiel ein abso­lut legit­imer, sach­lich­er Ein­wand.

Nein. Ver­let­zend war nicht die Kri­tik, son­dern … Fünf Seit­en sind zu lang, um an dieser Stelle zer­legt zu wer­den, und außer­dem war die Zuschrift, wie es sich für meine KreativCrew-Umfra­gen gehört, anonym. Daher beschränke ich mich auf einige wenige Punk­te, um die Sache zu erläutern, und werde auch nicht großar­tig wörtlich zitieren, son­dern eher indi­rekt, ein­fach zur Wahrung der Anonymität und der Per­sön­lichkeit­srechte der Per­son. Ich werde dar­legen, worum es geht, und kann Dich nur bit­ten, mir hier ein­fach zu glauben, dass ich die Teile der Zuschrift, die ich besprechen möchte, inhaltlich kor­rekt wiedergebe.

Fakten und Meinungen

Begin­nen wir mit etwas ziem­lich Ein­deutigem. So schreibt der Autor der Zuschrift zum Beispiel Fol­gen­des:

Ein Fre­und würde ehre­namtlich mit ukrainis­chen Flüchtlin­gen arbeit­en, und sie hät­ten “einen völ­lig anderen Blick” auf die Ukraine und den Kon­flikt. Sie seien beispiel­sweise “keine Fans von Ban­dera”, wür­den in ihm aber auch “nicht allein den Nazikol­lab­o­ra­teur” sehen.

Der größere Kon­text der Aus­sage ist die Kri­tik, dass ich meine per­sön­lichen Erfahrun­gen ver­all­ge­mein­ern würde, konkret hier bezo­gen auf meinen Ein­druck, dass es in der heuti­gen Ukraine zumin­d­est eine Tol­er­anz gegenüber Nazi-Ver­brech­ern gäbe, weil Nazi-Kol­laber­a­teure wie Stepan Ban­dera von manchen als Helden verehrt wer­den und Stat­uen und Gedenk­tafeln bekom­men, an der rus­sis­chen Behaup­tung, die Ukraine hätte ein Nazi-Prob­lem, also dur­chaus etwas dran sei. Um seinen Vor­wurf von ver­all­ge­mein­ern­den per­sön­lichen Erfahrun­gen zu unter­mauern, lis­tet der Autor der Zuschrift Beispiele für ander­weit­ige Erfahrun­gen auf. Doch abge­se­hen davon, dass mir meine Sub­jek­tiv­ität, mein Real­ität­stun­nel, dur­chaus bewusst ist und ich schon am Anfang des Videos expliz­it darauf hin­weise, dass ich keine unum­stößlichen Wahrheit­en von mir gebe, dürfte dem Autor selb­st wahrschein­lich prinzip­iell bewusst sein, dass es einen Unter­schied zwis­chen anderen Erfahrun­gen und his­torischen Fak­ten gibt – auch wenn er das an dieser konkreten Stelle zu vergessen scheint, weil seine kog­ni­tiv­en Block­aden zuschla­gen. Denn wenn es im vor­liegen­den Fall um Fak­ten zu Stepan Ban­dera geht, dann ist eben zu unter­schei­den zwis­chen dem, was geschichtswis­senschaftlich belegt ist, und dem, was irgendwelche Leute sagen.

Ich kenne viele unter­schiedliche Per­spek­tiv­en von Men­schen ukrainis­ch­er Herkun­ft, von Flüchtlin­gen in Europa, Flüchtlin­gen in Rus­s­land, deutschen Staats­bürg­ern mit ukrainis­chem Hin­ter­grund und so weit­er … Ich kenne bes­timmt nicht alle Per­spek­tiv­en, dazu sind es ein­fach zu viele, aber immer­hin so einige. Und damit weiß ich sehr wohl, dass es Ukrain­er gibt, die in Ban­dera “nicht allein den Nazikol­lab­o­ra­teur” sehen. Tat­säch­lich lässt sich da ein ganzes Spek­trum beobacht­en: von fanatis­ch­er Verehrung bis hin zu kom­plet­ter Ablehnung. Aber wer war er wirk­lich?

Dass ver­schiedene Men­schen ver­schiedene Mei­n­un­gen über ihn haben, bedeutet zunächst nur, dass ver­schiedene Men­schen ver­schiedene Mei­n­un­gen haben. Genau­so gibt es selb­st bei den promi­nen­testen Ver­brech­ern des Drit­ten Reich­es Men­schen, die ver­schiedene Mei­n­un­gen haben. Neo-Nazis wären keine Neo-Nazis, wenn sie den Nation­al­sozial­is­mus nicht ent­ge­gen der über­wälti­gend ein­deuti­gen Quel­len­lage white­washen wür­den. Wenn man also zum Beispiel Hein­rich Himm­ler toll find­et oder in ihm zumin­d­est nicht allein den Nazi-Ver­brech­er sieht, dann sagt das nichts über Hein­rich Himm­ler aus, son­dern eher über die Men­schen, die eine solche Mei­n­ung über ihn haben.

Stepan Ban­dera war, salopp gesagt, etwas wie ein ukrainis­ch­er Hein­rich Himm­ler. Natür­lich war er als Men­sch mehr als das – vielle­icht mochte er ja süße, kleine Kätzchen und wollte, wie einst auch Hitler, ursprünglich Kün­stler wer­den –, aber his­torisch hat er sich als Anführer ein­er nation­al­is­tis­chen, anti­semi­tis­chen und ras­sis­tis­chen Organ­i­sa­tion aus­geze­ich­net, die sich sehr tatkräftig am Holo­caust beteiligt hat mit Opfer­zahlen im sechsstel­li­gen Bere­ich. Und das ist keine sub­jek­tive Mei­n­ung, son­dern ein his­torisch­er Fakt, der von keinem ser­iösen His­torik­er außer­halb der Ukraine bestrit­ten wird, weil ein wesentlich­er Teil der Vor­würfe sich angesichts der aktuellen Quel­len­lage ein­fach nicht leug­nen lässt.

Etwa einen Monat, bevor ich diese Zuschrift erhal­ten habe, erschien ein Inter­view von Tilo Jung mit dem dama­li­gen Botschafter der Ukraine Andrij Mel­nyk, in dem Let­zter­er auf seinem White­wash­ing von Ban­dera behar­rt hat. Dabei zitierte Jung unter anderem das fol­gende Flug­blatt, das beim Ein­marsch der Deutschen in die Ukraine verteilt wurde und einen unver­hohle­nen Aufruf zum Völk­er­mord darstellt:

“Volk, das musst du wis­sen, Moskoviten [Russen], Polen, Ungarn und Juden, die sind deine Feinde. Ver­nichte sie. Das musst du wis­sen. Deine Führung, dein Führer Stepan Ban­dera.”

Da Mel­nyk sich nach der Auflis­tung von his­torischen Fak­ten und diesem Zitat immer noch weigerte, Ban­dera als Ver­brech­er anzuerken­nen, löste das Inter­view einen inter­na­tionalen Auf­schrei aus, vor allem seit­ens Israel und Polen. Seit­dem ist Mel­nyk auch nicht mehr der ukrainis­che Botschafter in Deutsch­land, wurde aber nicht etwa ent­lassen oder wenig­stens degradiert, son­dern zum Vize-Außen­min­is­ter der Ukraine ernan­nt und ist mit­tler­weile der ukrainis­che Botschafter in Brasilien.

Wenn ich in meinem Vlog also davon rede, dass ich in der Ukraine zumin­d­est eine sehr starke Tol­er­anz gegenüber dem Recht­sex­trem­is­mus sehe, dann meine ich zum Beispiel genau das: Jemand, der Holo­caust-Straftäter white­washt, sitzt in der Ukraine auf sehr ein­flussre­ichen Posten. Und das sind harte Fak­ten: die Ver­brechen Ban­deras und sein­er OUN und UPA sowie Mel­nyks White­wash­ing dieser Per­son und die fehlen­den Kon­se­quen­zen seit­ens des ukrainis­chen Staates. Ob es beim The­ma Ukraine aber “nur” um eine starke Tol­er­anz gegenüber dem Recht­sex­trem­is­mus oder um einen regel­recht faschis­tis­chen Staat geht, darüber kann und soll man disku­tieren, denn das gehört in den Bere­ich der Inter­pre­ta­tion, weil man zum Beispiel zunächst klären müsste, nach welchen Kri­te­rien man einen faschis­tis­chen Staat definiert.

Den Flüchtlin­gen, die in Ban­dera “nicht allein den Nazikol­lab­o­ra­teur” sehen, will ich aber keinen Vor­wurf machen. Im Gegen­teil: Als Bürg­er eines Lan­des, in dem solche Per­so­n­en wie Mel­nyk hohe Posten bek­lei­den und nach meinem Wis­sens­stand die Mei­n­ungs­frei­heit sehr eingeschränkt wird (zum Beispiel durch das Ver­bot von Oppo­si­tion­sparteien), beweisen sie extrem viel Mut, wenn sie bei dem all­ge­meinen White­wash­ing Ban­deras nicht mit­machen, sei es auch, indem sie “nur” auf Grey­wash­ing auswe­ichen. Dem Schreiber der Zuschrift jedoch mache ich den Vor­wurf eines eher schlu­dri­gen Umgangs mit his­torischen Fak­ten bzw. des unkri­tis­chen Akzep­tierens von Geschicht­sre­vi­sion­is­mus, sei dieser Revi­sion­is­mus auch noch so men­schlich nachvol­lziehbar.

Argumentum ad hominem, Unterstellungen, Projektionen

Der Schreiber ent­pup­pt sich also als jemand, der zumin­d­est in diesem Punkt eine niedrige Kom­pe­tenz hat. Genau das ist es aber, was er mir unter­stellt, wenn er sagt:

Ich könne mich bei der Ein­schätzung glob­aler Kon­flik­te, anders als bei Lit­er­atur, nicht auf meine Aus­bil­dung ver­lassen.

Abge­se­hen davon, dass das ein klas­sis­ch­er Fall des argu­men­tum ad hominem, also eines Scheinar­gu­ments bzw. eines ver­bre­it­eten Denk­fehlers, ist, weil eine fehlende ein­schlägige Aus­bil­dung nicht automa­tisch bedeutet, dass ein Men­sch Unsinn redet, bin ich dem The­ma, über das ich rede, fach­lich tat­säch­lich näher, als der Schreiber anscheinend glaubt. Wenn er den Text “Über mich” auf mein­er Web­site gele­sen hätte, wüsste er, dass ich eigentlich aus der Geschichtswis­senschaft und Slaw­is­tik mit den Schw­er­punk­ten Rus­s­land und Polen komme. Und mit etwas All­ge­mein­wis­sen weiß man, dass das Gebi­et der heuti­gen Ukraine ein wichtiger Teil der rus­sis­chen und pol­nis­chen Geschichte ist und man die Geschichte dieser bei­den Län­der somit nur im Kon­text der osteu­ropäis­chen Geschichte ins­ge­samt, also inklu­sive der ukrainis­chen Geschichte, begreifen kann. Ich bin defin­i­tiv nicht kom­pe­tent genug für glob­ale Kon­flik­te und habe auch keine unzäh­li­gen Pub­lika­tio­nen zum Ukraine-Krieg. Aber wenn es um das Recher­chieren von his­torischen Fak­ten geht, das Einord­nen ihrer in einen osteu­ropäis­chen Gesamtkon­text und Sprachken­nt­nisse zur Auswer­tung von Orig­i­nalquellen (mit Rus­sisch und Polisch ver­ste­ht man Ukrainisch ganz gut) sind meine Kom­pe­ten­zen in Bezug auf den Ukraine-Krieg für deutsche Ver­hält­nisse zumin­d­est über­durch­schnit­tlich, auch wenn ich mich defin­i­tiv nicht als Exper­tin beze­ich­nen würde, eben­so wie ich ja auch Klaus Gest­wa nicht als Ukraine-Experten sehe (siehe dazu den ersten Artikel dieser Rei­he). Deswe­gen weise ich in dem Video ja auch expliz­it darauf hin, dass ich keine unum­stößlichen Wahrheit­en predi­ge, auch wenn ich mir einige Grund­kom­pe­ten­zen zutraue. Dass ich auf meinem Kanal und mein­er Web­site weniger auf diesen geschichtswis­senschaftlichen und osteu­ropaspez­i­fis­chen Teil mein­er Aus­bil­dung und mehr auf die Lit­er­atur­wis­senschaft poche, liegt daran, dass Die Schreibtech­nikerin vom The­ma her eher lit­er­atur­wis­senschaftlich ist. Ganz sim­ples Mar­ket­ing also. Weil der Autor der Zuschrift aber offen­bar nur diese Seite von mir ken­nt, ver­all­ge­mein­ert er und reduziert mich auf diesen einen ihm bekan­nten Teil. Und wenn er mir an ein­er anderen Stelle davon abrät, mich mehr oder weniger ein­er Mei­n­ung anzuschließen, dann ist das eine unbe­grün­dete Unter­stel­lung, weil er nicht zu wis­sen scheint, wie genau ich auf meine Mei­n­ung komme, da er ja anscheinend meinen Hin­ter­grund nicht ken­nt. Weil aber er selb­st bei mir keine fach­liche Kom­pe­tenz, also Autorität, ver­mutet und mich unter anderem deswe­gen für weniger glaub­würdig hält, liegt der Ver­dacht nahe, dass er selb­st sich gerne auf die Autorität von Experten oder vielle­icht auch ver­meintlichen Experten ver­lässt und sich ihrer Mei­n­ung anschließt. In dem Fall würde es sich bei seinen Unter­stel­lun­gen um eine Pro­jek­tion der eige­nen man­gel­nden Fachken­nt­nis und Autorität­shörigkeit auf andere han­deln.

Selbstbild und Selbstüberschätzung

Inter­es­sant ist in diesem Zusam­men­hang noch ein ander­er Satz aus der Zuschrift: Es gäbe bei mir Fak­ten­be­haup­tun­gen, bei denen der Schreiber im Gespräch “sofort einge­hakt hätte”. – Inter­es­sant ist der Satz deswe­gen, weil der Schreiber sich zutraut, “sofort ein­hak­en” zu kön­nen, wo sein eigen­er Umgang mit Fak­ten (wie wir am Beispiel von Ban­dera und mein­er Aus­bil­dung gese­hen haben) sich doch eher als lück­en­haft erweist. Es kann natür­lich sein, dass seine Fak­tenken­nt­nisse in anderen Bere­ichen bess­er sind, aber angesichts der bish­eri­gen Beobach­tun­gen scheint der Schreiber seine Kom­pe­ten­zen eher zu über­schätzen – der Dun­ning-Kruger-Effekt lässt grüßen.

Über seine Ken­nt­nis des Videos, das er kri­tisiert, sagt er außer­dem Fol­gen­des: Er hätte den Anfang gese­hen und es dann “etwas über­flo­gen”. – Der Schreiber der Zuschrift kri­tisiert also fünf Seit­en lang etwas, mit dem er sich eige­nen Angaben zufolge gar nicht richtig auseinan­derge­set­zt hat. Diese Lück­en­haftigkeit erin­nert an seinen Umgang mit der Fak­ten­lage. Dass er sich die Lin­kliste bzw. Lek­türe- und Videotipps, die ich dem Video beige­fügt hat­te, auch nur ange­se­hen hat, bezwei­fle ich erst recht. Er lehnt meine Aus­führun­gen also ab, ohne ihnen eine richtige Chance gegeben zu haben. Möglicher­weise passiert das, weil sie ihm unan­genehm sind. Er emp­fiehlt mir näm­lich:

Ich solle mich in die Lage von jeman­dem ver­set­zen, der meine Mei­n­ung nicht teilt. Ob ich ein Video anschauen wolle, in dem mir jemand drei Stun­den lang “wütend” erk­lärt, warum ich “im Unrecht” sei?

Erstens habe ich mir dur­chaus schon Videos angeschaut, in denen gewisse wütende Ukrain­er meines­gle­ichen mit dem Tod dro­hen, und ich wurde auch schon wieder­holt ganz per­sön­lich in den Kom­mentaren für meine Mei­n­ung belei­digt, weiß also abso­lut, wie sich das anfühlt. Zweit­ens bin ich in dem Video nicht durchgängig wütend, son­dern gehe als von Natur aus emo­tionaler Men­sch, der beim Reden leicht in Rage kommt, durch eine ziem­liche Band­bre­ite von Gefühlen – schaue Dir das Video selb­st an, um das zu über­prüfen. Drit­tens kön­nte man spekulieren, ob diese Auf­forderung nicht ein Hin­weis darauf ist, dass der Autor der Zuschrift jemand ist, der sich gerne im Recht sieht, also in seinem Real­ität­stun­nel ein bes­timmtes Selb­st­bild von Kom­pe­tenz und Klugheit pflegt und dieses durch mein Video unter­be­wusst bedro­ht sieht. Denn dass er sich gerne als intel­li­gent insze­niert, zeigen zum Beispiel seine etwas fehlplatzierten Belehrun­gen über das kri­tis­che Hin­ter­fra­gen der pos­i­tiv­en Reak­tio­nen zu meinen Vlogs. Dabei frage ich mich, warum ich sein­er Mei­n­ung nach über­haupt die Umfrage zu den Vlogs gemacht habe, wenn nicht um zu prüfen, inwiefern die pos­i­tiv­en Reak­tio­nen als repräsen­ta­tiv gel­ten kön­nen.

Über­haupt scheint der Schreiber nicht ver­standen zu haben, worum es mir bei dem Video ging, was sich aber mit der nur flüchti­gen Ken­nt­nis des Videos erk­lären ließe. Ich sprach davon, dass ich Angst habe, buch­stäblich, weil ich hier in Deutsch­land – wie ich eine halbe Stunde lang aus­ge­führt habe – Ras­sis­mus erlebt habe und seit dem 24. Feb­ru­ar 2022 eine Eskala­tion beobachte. Ich beobachte in Deutsch­land Prozesse, die mir Sorge bere­it­en, eben auch um meine eigene Sicher­heit. Ich packe eine Diplo­mar­beit, Zeitungsar­tikel und anderes in die beiliegende Lin­kliste, um zu zeigen, dass nicht nur ich den antirus­sis­chen (und generell anti­s­law­is­chen) Ras­sis­mus beobachte. Dass ich meine Sicht auf den Ukraine-Krieg dar­lege, ist nur Mit­tel zum Zweck, um auf die gefährlichen Entwick­lun­gen in Deutsch­land aufmerk­sam zu machen, zum Hin­ter­fra­gen anzure­gen und zu Men­schlichkeit im Miteinan­der aufzu­rufen. Der Autor der Zuschrift hinge­gen gibt mir Ratschläge, wie ich meine “starke Mei­n­ung” am besten präsen­tieren soll und tut meine Ras­sis­muser­fahrun­gen ab mit den Worten:

Ich könne zwar über eigene Erfahrun­gen bericht­en, aber ich hätte, “bei allem Respekt”, keine “echte, also wis­senschaftliche, Exper­tise”. Das Prob­lem mit Erfahrun­gen sei, dass andere Men­schen andere Erfahrun­gen hät­ten. Er selb­st, in Deutsch­land geboren, wie er in Klam­mern zugibt, hätte sowas wie die von mir beschriebe­nen ras­sis­tis­chen Aus­fälle mein­er Grund­schullehrerin noch nicht gehört. Dafür nehme er “dumpfesten Anti­amerikanis­mus” wahr.

Abge­se­hen davon, dass Rel­a­tivierung keine emo­tion­al kom­pe­tente Art ist, mit jeman­dem umzuge­hen, der von eige­nen ras­sis­tis­chen Erfahrun­gen spricht, brauche ich keine wis­senschaftliche Exper­tise, um von bewussten Erfahrun­gen, echt­en Geschicht­en aus meinem und dem Leben mein­er Ange­höri­gen zu erzählen. Es kann natür­lich sein, dass ich etwas falsch ver­standen habe, denn auch ich lebe ja in einem Real­ität­stun­nel, aber generell ist doch jed­er Men­sch, der nicht an Amne­sie lei­det, sozusagen der weltweit führende Experte, wenn es um sein Leben und seine Erfahrun­gen geht. Die Exis­tenz ander­weit­iger Erfahrun­gen wider­legt auch nicht meine Erfahrun­gen, weil unter­schiedliche Erfahrun­gen wun­der­bar nebeneinan­der existieren kön­nen, sich also nicht gegen­seit­ig auss­chließen. Man kann höch­stens über mögliche andere Ursachen als Ras­sis­mus nach­denken, aber an den Erleb­nis­sen selb­st ändert das nichts. Außer­dem – und das scheint meinem Kri­tik­er dur­chaus bewusst zu sein, weil er einen Ein­schub in Klam­mern ein­fügt – fehlt einem, wenn man nicht selb­st betrof­fen ist oder sich inten­siv mit dem The­ma auseinan­der­set­zt, oft die notwendi­ge Sen­si­bil­ität, um solche Dinge wie Ras­sis­mus und andere For­men von Diskri­m­inierung gegen bes­timmte Grup­pen wahrzunehmen.

Auch hier stellt sich der Ein­druck ein, dass der Autor der Zuschrift etwas partout nicht sehen will, geschweige denn sich damit auseinan­der­set­zen. Und an sich ist es ja auch abso­lut okay, sich mit etwas nicht auseinan­der­set­zen zu wollen. Ich kann und will nie­man­den zwin­gen, mir zuzuhören. Das Video lässt sich ganz leicht wegk­lick­en. Aber mein Kri­tik­er geht noch einen Schritt weit­er und lädt im Grunde seinen Unwillen bei mir ab, vertei­digt aktiv seinen Real­ität­stun­nel. Er tut es in einem sach­lichen, höflichen Ton und macht sich sog­ar Sor­gen um meine Gesund­heit. Und er weiß auch, dass seine Kri­tik auf wack­e­li­gen Beinen ste­ht:

Mein Video zum The­ma Ukraine hätte er ange­fan­gen, aber für eine wirk­lich faire Beurteilung müsste er die drei Stun­den am Stück sehen. Dazu habe er bish­er keine Zeit gefun­den.

Trotz­dem ließ er es sich aber nicht nehmen, ganze fünf Seit­en zu schreiben. Wieso schreibt man fünf Seit­en Kri­tik, wenn man weiß, dass sie eh nicht fair sein kann? Was bei mir ankommt, ist deswe­gen nicht der Ver­such ein­er fairen Kri­tik und Hil­feleis­tung (auch wenn mein Kri­tik­er wahrschein­lich ehrlich und aufrichtig glaubt, dass das seine Absicht war), son­dern der Ein­druck, dass mein Kri­tik­er in Wirk­lichkeit und ver­mut­lich unbe­wusst mir gegenüber zumin­d­est einen Teil sein­er – wie er selb­st weiß – unqual­i­fizierten Mei­n­ung loswer­den wollte. Dass er auf ihr behar­ren, mir regel­recht ins Gesicht reiben will, dass meine Mei­n­ung unqual­i­fiziert ist und er sie nicht hören möchte. Wenn er nur geschrieben hätte, er hätte ganz sub­jek­tiv ein­fach keine Lust auf weit­ere poli­tis­che Vlogs, hätte ich damit kein Prob­lem gehabt: Genau das wollte ich mit mein­er Umfrage ja her­aus­find­en. Aber er spricht mir die Kom­pe­tenz ab, ohne selb­st die Kom­pe­tenz dafür zu haben, er ver­sucht, meine ras­sis­tis­chen Erfahrun­gen zu rel­a­tivieren, und er kommt mit unqual­i­fizierten Belehrun­gen und unge­bete­nen Ratschlä­gen. Das ist dur­chaus eine Form von Aggres­sion, gerichtet an mich per­sön­lich, auch wenn es dem Täter nicht bewusst zu sein scheint.

Meine Überreaktion und wichtige Lehren

Und weil ein Teil sein­er Kri­tik darin zu beste­hen scheint, seine eigene Inkom­pe­tenz auf mich zu pro­jizieren und die fach­liche Auseinan­der­set­zung von vorn­here­in abzulehnen, stellte sich beim Lesen der Zuschrift ein sehr bit­ter­er Beigeschmack bei mir ein. Ich glaubte und glaube immer noch, genau der Art von Men­sch gegenüberzuste­hen, vor der ich Angst habe: dem Mitläufer, der vom Unan­genehmen nicht behel­ligt wer­den möchte. Der auf Autoritäten hört und kon­träre Mei­n­un­gen für nicht beacht­enswert hält. Der seine Kom­pe­ten­zen über­schätzt und sich selb­st für informiert­er hält, als er ist, seinen kog­ni­tiv­en Block­aden aus­geliefert ist und es somit überse­hen oder sog­ar aktiv wegse­hen wird, wenn direkt vor sein­er Nase schreck­liche Dinge passieren bzw. wenn man ihn darauf hin­weisen will. Dabei ist er stets fre­undlich und anständig, hil­fs­bere­it und empathisch. Und wenn man ihn später mit den schreck­lichen Din­gen und ihren Fol­gen kon­fron­tiert, heißt es, er habe von nichts gewusst.

Meine emo­tionale Reak­tion war defin­i­tiv über­trieben, und die Zuschrift enthält, wie gesagt, auch abso­lut legit­ime Punk­te. Erk­lären lässt sich mein Aus­bruch aber vor allem durch meine Ent­täuschung, dass selb­st im Kreis mein­er einge­fleis­cht­esten Leser und Zuschauer solch­es Mitläufer­tum anzutr­e­f­fen ist. Also durch die Erken­nt­nis, dass ich selb­st im Kreis von mein­er Com­mu­ni­ty im Zweifels­fall nicht sich­er bin. – Und da meinte der ver­schreck­te Affe in meinem Gehirn: Wozu dann über­haupt eine Com­mu­ni­ty unter­hal­ten? Ich habe diesen Affen aber in den Griff bekom­men, würde ich sagen, und dabei viel gel­ernt:

  • Erstens ist meine Com­mu­ni­ty sehr vielfältig und eine Zuschrift ist nicht stel­lvertre­tend für alle. Unser Hirn neigt tat­säch­lich dazu, Neg­a­tives mehr zu bemerken als Pos­i­tives, weil ein poten­tieller Säbelzah­ntiger im Gebüsch über­leben­stech­nisch wichtiger ist als ein schönes Blu­men­feld. Trotz dieser Erk­lär­barkeit bleibt eine kog­ni­tive Verz­er­rung aber eine kog­ni­tive Verz­er­rung und man sollte nie vergessen, dass sie eben nicht die Wahrheit spiegelt.
  • Zweit­ens bedeutet eine Ent­täuschung vor allem, dass ich mich selb­st getäuscht habe. Ich habe die Men­schen pauschal für etwas gehal­ten, das sie nicht sind. Und als mein Real­ität­stun­nel durch diese Zuschrift zumin­d­est in dem einen Punkt zer­fall­en ist, tat es natür­lich weh. Es war aber nicht die Schuld meines Kri­tik­ers, dass ich mich selb­st getäuscht habe. Er hat sich ein­fach nur nach bestem Wis­sen und Gewis­sen mit­geteilt, und ich habe um das Feed­back ja selb­st gebeten, wohl wis­send, dass übers Inter­net eigentlich alles Mögliche und Unmögliche here­in­flat­tern kann.
  • Drit­tens hat mich meine emo­tionale Reak­tion ver­an­lasst, die Zuschrift später in Ruhe zu analysieren und zu ermit­teln, wer welche Fehler gemacht hat und warum. Mit den The­men zu diesem Artikel hat­te ich mich auch davor schon inten­siv befasst, aber es war nochmal ein kräftiger Schub.
  • Viertens zeigt die ganze Sit­u­a­tion mit der Zuschrift, dass wir alle Teil des Prob­lems sind. Mein Kri­tik­er ist mit seinen von mir ver­muteten Mitläufer­tenden­zen zwar nicht stel­lvertre­tend für meine Com­mu­ni­ty, aber sta­tis­tisch gese­hen – also aus­ge­hend von dem Prozentsatz, der zum Beispiel im Nation­al­sozial­is­mus tat­säch­lich Wider­stand geleis­tet hat – sind so ziem­lich die meis­ten Men­schen auf die eine oder andere Weise Mitläufer und Oppor­tunis­ten. Das ist abso­lut nor­mal. Wer sagt also, dass ich nicht auch eine Mitläuferin bin? Wenn ich in meinem eige­nen Real­ität­stun­nel stecke und eben­so Täuschun­gen und Denk­fehlern unter­liege, wie meine Reak­tion ja gezeigt hat, dann ist es ganz natür­lich, dass ich selb­st das nicht so wahrnehme.

Aber wenn wir alle in unseren Real­ität­stun­neln gefan­gen sind – wen wun­dert es da, dass die Gesellschaft sich immer weit­er spal­tet? Uns allen bere­it­et diese Entwick­lung zu Recht Sor­gen. Aber haben wir nicht alle eine Teilschuld daran?

Gesellschaftliche Spaltung, Krieg, Hass: Wir alle sind schuld

Natür­lich will nie­mand die gesellschaftliche Spal­tung. Wie kön­nen wir also alle daran schuld sein? – Ganz ein­fach: weil jed­er glaubt, einiger­maßen den Durch­blick zu haben, aber kaum ein­er ihn wirk­lich hat.

Wissenschaftlicher Diskurs

Viele Men­schen geste­hen sich zwar ein, dass sie selb­st nicht genug Kom­pe­tenz haben für einen Durch­blick, aber wenn sie sich jeman­den suchen, der sich ihrer Mei­n­ung nach ausken­nt, und seine Ein­stel­lun­gen übernehmen, machen sie es nicht bess­er. Dass auch “die Wis­senschaft” nicht zu 100 Prozent ver­lässlich ist, habe ich ja schon im ersten Teil ange­sprochen. Und weil ich selb­st aus der Geschichtswis­senschaft komme, kann ich hier ein prak­tis­ches Beispiel anführen:

Mein­er Beobach­tung nach denken die meis­ten His­torik­er – und Wis­senschaftler generell – außer­halb ihrer süßen, kleinen, sehr eingeschränk­ten Fach­bere­iche über­haupt nicht wis­senschaftlich und haben somit oft unhin­ter­fragte Glaubenssätze, schlimm­sten­falls gepaart mit einem Selb­st­bild von über­durch­schnit­tlich­er Intel­li­genz, also einem aufge­blase­nen Ego, das das kri­tis­che Denken ein­schränkt. Was ich damit meine, ist: Immer wieder müssen His­torik­er in ihrer Forschung auf Gebi­ete zurück­greifen, die eben nicht zu ihrer Exper­tise gehören, um Zusam­men­hänge herzustellen, ihre Erken­nt­nisse in Kon­texte einzuord­nen und so weit­er. Weil aber kein His­torik­er all­wis­send ist, sind sie darauf angewiesen, auf die Forschung ihrer Kol­le­gen zurück­zu­greifen und sie zu zitieren. Dabei müssten sie im Ide­al­fall die zitierten Werke und deren Quellen nach allen Meth­o­d­en der Quel­lenkri­tik zer­legen. Genau dieser Schritt kommt oft aber zu kurz. Das Ergeb­nis davon ist zum Beispiel, dass viele der heute ver­bre­it­eten Vorstel­lun­gen vom Mit­te­lal­ter nichts weit­er sind als Klis­chees und Mythen aus der Frühen Neuzeit, weil einige Leute damals ihre ver­dreht­en Vorstel­lun­gen aufgeschrieben haben und in den späteren Jahrhun­derten unhin­ter­fragt zitiert wur­den. Dabei sahen die Arbeit­en immer sehr ser­iös aus und nur, wenn man die Kette von Zitat­en von Zitat­en von Zitat­en ver­fol­gte, kam man schließlich zum Ursprung dieser Mythen und begriff, dass die bish­eri­gen jahrhun­derte­lan­gen Klis­cheevorstel­lun­gen vom Mit­te­lal­ter unbelegte Behaup­tun­gen oder Missver­ständ­nisse sind. Deswe­gen ist die Mediävis­tik – unter anderem dank Forsch­ern wie Susan Reynolds  – in den let­zten Jahrzehn­ten dabei, diese Klis­cheevorstel­lun­gen zu kor­rigieren; aber im all­ge­meinen Bewusst­sein leben sie immer noch weit­er, weil sie jahrhun­derte­lang kul­tiviert wur­den.

Die erste und wichtig­ste Lek­tion meines Geschichtsstudi­ums bestand darin, dass uns Erstse­mes­tern expliz­it verkün­det wurde, dass wir am besten alles vergessen sollen, was wir in der Schule über Geschichte gel­ernt haben. In anderen Bere­ichen, zum Beispiel den Natur­wis­senschaften, kann man zwar schon eher mit hand­festen, objek­tiv­en Phänome­nen arbeit­en, aber auch da gab es in der Ver­gan­gen­heit oft genug Irrtümer. Und jedes Mal, wenn “die Wis­senschaft” sich geir­rt hat­te, es aber noch nicht wusste, dachte sie, sie hätte den Durch­blick. Wenn wir also ein­fach annehmen, “die Wis­senschaft” heute hätte defin­i­tiv den Durch­blick, dann machen wir exakt densel­ben Fehler wie unsere Vor­fahren:

So klingt es zum Beispiel zunächst überzeu­gend, wenn wir immer wieder aus ser­iösen Quellen gesagt bekom­men, 97 Prozent der Wis­senschaftler seien sich einig, dass der Kli­mawan­del größ­ten­teils men­schengemacht ist. Wenn wir dem aber ein­fach glauben, dann ist das ein qua­si-religiös­er Glaube, weil wir die Aus­sagen ja nicht über­prüft haben. Um also nicht in dieselbe Falle zu tap­pen wie unsere Vor­fahren, müssten wir uns zunächst fra­gen, ob es sich bei dieser Aus­sage um die eige­nen Erken­nt­nisse dieser ser­iösen Quellen han­delt oder ob sie ein­fach nur fremde Erken­nt­nisse zitieren. Wenn es sich um die eige­nen Erken­nt­nisse han­delt, dann gehen wir hin und über­prüfen die Method­olo­gie, also inwiefern hier über­haupt sauber gear­beit­et wurde. – Nicht, weil wir die Aus­sagen partout wider­legen wollen, son­dern weil kri­tis­ches Denken das erfordert. Wenn die Method­olo­gie unser­er Über­prü­fung stand­hält, kön­nen wir die Schlussfol­gerun­gen guten Gewis­sens als legit­im anse­hen.

Wenn wir aber her­aus­find­en, dass die Aus­sage nicht auf eige­nen Unter­suchun­gen beruht, son­dern ein Zitat darstellt, gehen wir zur zitierten Quelle und über­prüfen diese. Und auch hier gilt: Wenn sie unser­er Über­prü­fung stand­hält, kön­nen wir guten Gewis­sens Beifall klatschen.

Gle­ichzeit­ig soll­ten wir aber nicht vergessen, auch bei den Kri­tik­ern dieser Aus­sage vor­beizuschauen: Denn sie kön­nten uns auf wichtige Punk­te hin­weisen, die wir noch nicht bedacht haben. Dabei müssten wir natür­lich auch die Aus­sagen der Kri­tik­er kri­tisch zer­legen, um zu prüfen, was an ihnen dran ist und was nicht. So lautet ein­er der Kri­tikpunk­te an der Aus­sage, 97 Prozent der Wis­senschaftler seien sich einig, dass der Kli­mawan­del größ­ten­teils men­schengemacht ist, in etwa so: “Solche Behaup­tun­gen berufen sich für gewöhn­lich auf die Metas­tudie von John Cook.” Hier wäre also zu über­prüfen, ob das wirk­lich stimmt, indem man eben guckt, welche Quellen für die Behaup­tung von den 97 Prozent der Wis­senschaftler herange­zo­gen wer­den. Wenn es nicht stimmt, zer­fällt der Kri­tikpunkt. Wenn das stimmt, dann müssen wir die Metas­tudie von John Cook prüfen. Wenn diese Metas­tudie sich als method­ol­o­gisch sauber erweist, dann haben wir die Bestä­ti­gung, dass die Aus­sage von den 97 Prozent der Wis­senschaftler kor­rekt ist. Wenn die Metas­tudie sich als method­ol­o­gisch unsauber erweist, dann erweisen sich auch all die ser­iös wirk­enden Quellen, die sich auf sie berufen, als method­ol­o­gisch unsauber. – Und genau hier set­zt die ern­sthaftere Kri­tik jen­seits von Parolen an: Die Metas­tudie von John Cook ist nicht unum­strit­ten, wie die NZZ übri­gens kurz nach Erscheinen der Studie berichtete, und deswe­gen müsste jemand, der sich eine eigen­ständi­ge Mei­n­ung bilden will, sich die ganze Diskus­sion um die Meth­o­d­en dieser Metas­tudie vorknöpfen und sie selb­st prüfen und not­falls sog­ar nachrech­nen. Neben­bei find­et man bei ein­er solchen Herange­hensweise auch her­aus, wo all die Irrtümer der einen oder anderen Seite eigentlich herkom­men, und hat später, wenn man zu dem The­ma disku­tiert, bessere Argu­mente, weil man das The­ma ja bis zum Ursprung nachver­fol­gt hat.

Jet­zt schätze mal, wie viele Men­schen, inklu­sive Wis­senschaftler, dieses Prozedere wirk­lich durch­machen. – So gut wie nie­mand. Wir alle zitieren Aus­sagen, die wir, aus­ge­hend von unserem jew­eili­gen Real­ität­stun­nel, für glaub­würdig hal­ten. Und nun stell Dir vor:

Fritzchen hat in ein­er als ser­iös gel­tenden Zeitung gele­sen, 97 Prozent der Wis­senschaftler seien sich einig, dass der Kli­mawan­del größ­ten­teils men­schengemacht ist. Dabei ist er jemand, der der Zeitung grund­sät­zlich ver­traut, weil sie zu seinem Real­ität­stun­nel passt. Lieschen hinge­gen hat ein prinzip­ielles Mis­strauen gegenüber den Leitme­di­en und recher­chiert deswe­gen im Inter­net. Dabei wird sie auf Kri­tik an der Metas­tudie von John Cook aufmerk­sam, und weil sie Kri­tik an dem, was in den Leitme­di­en berichtet wird, ten­den­ziell toll find­et, begeg­net sie auch dieser Kri­tik mit Sym­pa­thie und glaubt ihr, eben weil sie zu ihrem Real­ität­stun­nel passt. Sowohl Fritzchen als auch Lieschen sind überzeugt, sich aus ver­trauenswürdi­gen Quellen informiert zu haben, und hal­ten den jew­eils anderen für einen naiv­en Spin­ner. Schlimm­sten­falls zer­bricht sog­ar ihre Fre­und­schaft. Und dann passiert das nicht nur zwis­chen Fritzchen und Lieschen, son­dern auch bei vie­len anderen Men­schen. Am Ende wun­dern sich dann alle über die gesellschaftliche Spal­tung. Dabei hätte sie ver­hin­dert wer­den kön­nen, wenn die Fritzchens und Lieschens dieser Welt aufeinan­der zuge­gan­gen wären und sich zusam­men auf das vorhin geschilderte Prozedere ein­ge­lassen hät­ten und zu gemein­samen Erken­nt­nis­sen gekom­men wären.

Grundwissen und Vorurteile

Lei­der läuft es in der Real­ität, wie gesagt, nur sel­ten so. Meis­tens ver­ste­hen Men­schen nicht, was sie nicht ver­ste­hen oder dass sie über­haupt etwas Wichtiges nicht ver­ste­hen, sind aber sehr von sich überzeugt, fällen rasch Urteile und wer­den mitunter sog­ar aggres­siv. Denn sie unter­liegen dem Dun­ning-Kruger-Effekt. Und dann kann man ihnen oft auch nichts erk­lären: Jemand, der nicht ein­mal die Grund­la­gen eines The­mas beherrscht, wird auch die Details nicht ver­ste­hen. – Er wird sie für absurd hal­ten.

So fällt mir zum Beispiel auf, dass alles und jed­er eine Mei­n­ung zu Geopoli­tik hat, aber kaum jemand sich mit geopoli­tis­chen Prinzip­i­en beschäftigt hat. Ich für meinen Teil bin auch keine Exper­tin, aber ich hat­te schon immer ein starkes Inter­esse an Geopoli­tik, daher auch mein Geschichtsstudi­um und meine Fasz­i­na­tion für Machi­avel­li und andere Staat­s­the­o­rien sowie Macht­sys­teme generell. Und ich habe ja auch nichts dage­gen, wenn jemand zum Beispiel zum Ukraine-Kon­flikt eine andere Mei­n­ung hat als ich, solange sie begrün­det ist. Doch oft ken­nen meine Diskus­sion­spart­ner nicht ein­mal die Heart­land-The­o­rie von Hal­ford Mackinder. Um da wenig­stens eine Chance zu bekom­men, jeman­den wirk­lich zu überzeu­gen, müsste ich also einen Geschichtsvor­trag hal­ten, der min­destens bis ins 19. Jahrhun­dert zurück­re­icht. Wie Du Dir denken kannst, sind gewöhn­liche Diskus­sio­nen, wie man sie im All­t­ag so führt, dazu max­i­mal ungeeignet. Man ern­tet höch­stens ein her­ablassendes Lächeln.

Ein weit­er­er Fak­tor ist, dass Men­schen meis­tens nicht bewusst wis­sen, woran sie tat­säch­lich glauben, also welche Vorurteile sie haben und zu welchen Bestä­ti­gungs­fehlern sie neigen. Unter­be­wusster Ras­sis­mus ist ein gutes Beispiel: Man kann ras­sis­tis­che Vorurteile hegen, selb­st wenn man Fre­unde aus den entsprechen­den Grup­pen hat. Tat­säch­lich gab es sog­ar überzeugte Nazis, die jüdis­che Fre­unde hat­ten. Und es ist auch möglich, dass Men­schen unter­be­wusst an ras­sis­tis­che Klis­chees über ihre eigene Gruppe glauben – das beze­ich­net man als inter­nal­isierten Ras­sis­mus. Und weil das Ganze, wie gesagt, unter­be­wusst läuft, kom­men Betrof­fene gar nicht erst auf die Idee, ihre Ein­stel­lun­gen zu hin­ter­fra­gen.

Nehmen wir zum Beispiel Kläuschen, der Pro­fes­sor für Fan­tasi­es­tankunde ist. Er hat sehr viele Fre­unde in Fan­tasi­es­tan, ken­nt ihre Kul­tur und ist sog­ar mit ein­er Fan­tasi­es­taner­in ver­heiratet. Aber als er in der Zeitung von einem Ver­brechen liest und erfährt, dass ein Fan­tasi­es­taner verdächtigt wird, neigt er, ohne dass ihm alle Beweise und Gegen­be­weise vor­liegen, rein intu­itiv zu der Annahme, dass der Fan­tasi­es­taner das Ver­brechen wahrschein­lich tat­säch­lich began­gen hat. Und so kommt es, dass sich hin­ter ein­er Fas­sade von Liebe für Fan­tasi­es­tan, an die Kläuschen selb­st hoch und heilig glaubt, ein Bün­del von ras­sis­tis­chen Klis­chees ver­birgt. Seine Frau und seine fan­tasi­et­sanis­chen Fre­unde bestäti­gen ihn dabei, denn sie stam­men inner­halb Fan­tasi­es­tans aus einem Milieu, das Fan­tasi­es­tan gegenüber kri­tisch eingestellt, aber für Fan­tasi­es­tan nicht unbe­d­ingt repräsen­ta­tiv ist. So in etwa ist zumin­d­est mein Ein­druck von Teilen der deutschen Osteu­ropa-Forschung, die im Übri­gen tra­di­tionell eine Fein­des­forschung ist: Die heuti­gen Osteu­ropa-Pro­fes­soren sind vom Jahrgang her buch­stäblich Kinder des Kalten Krieges, und studiert haben sie bei buch­stäblichen Kindern des Nation­al­sozial­is­mus, was unter­be­wusste Ras­sis­men zumin­d­est nicht auss­chließt.

Das wiederum ist ein frucht­bar­er Boden für Feind­bilder. Wenn man tief in seinem Inneren und unter­be­wusst an neg­a­tive Klis­chees glaubt, dann gibt es die Gefahr, dem umgekehrten Halo-Effekt zu unter­liegen. Wenn wir beim gewöhn­lichen Halo-Effekt Men­schen mit pos­i­tiv­en Eigen­schaften auch alle anderen pos­i­tiv­en Eigen­schaften der Welt unter­stellen, dann unter­stellen wir beim umgekehrten Halo-Effekt den Men­schen alle möglichen neg­a­tiv­en Eigen­schaften, weil wir bei ihnen eine neg­a­tive Eigen­schaft zu beobacht­en glauben. Wenn dieser umgekehrte Halo-Effekt sich auf ganze Men­schen­grup­pen ausweit­et, dann sind wir eben bei Feind­bildern, bei denen kein gutes Haar an der als Feind ange­se­henen Gruppe gelassen wird. Dabei kann sich das Feind­bild immer mal wieder beruhi­gen und bei Bedarf wieder aufgewärmt wer­den, wie es beim deutschen Ras­sis­mus gegen das Slaw­is­che und Osteu­ropäis­che generell im Ver­lauf der Geschichte in mehr oder weniger regelmäßi­gen Abstän­den der Fall war: ange­fan­gen spätestens mit den Kriegen der Otto­nen gegen die West­slawen, über den Wen­denkreuz­zug und das Treiben des Deutschrit­teror­dens, die Kolonisierung von Teilen Osteu­ropas und den Sklaven­han­del, über die Teil­nahme deutsch­er Trup­pen an den Feldzü­gen unter­schiedlich­er west­lich­er Mächte gegen Rus­s­land, über die bei­den Weltkriege und den Genozid und die Ver­sklavung im Zweit­en Weltkrieg bis hin zur Weit­erpflege des Feind­bilds im Kalten Krieg und seinem Wieder­auf­flam­men heute. Einen deutschen “Drang nach Osten” scheint es also tat­säch­lich zu geben.

Natür­lich hat es auch viele pos­i­tive Inter­ak­tio­nen zwis­chen Deutschen und Slawen sowie anderen Osteu­ropäern gegeben, aber selb­st wenn man das Pos­i­tive und Neg­a­tive nebeneinan­der betra­chtet, scheinen da wie ein rot­er Faden ein Über­legen­heits­ge­fühl und ein ewiger zivil­isatorisch­er Anspruch von deutsch­er Seite durch. Dabei schlägt er sich ganz sub­til sog­ar in kul­turellen Erzeug­nis­sen nieder, die eigentlich ganz andere The­men behan­deln:

So ist Liebe Rena­ta von Else Hueck-Dehio ein wun­der­schön­er Entwick­lungs- und Liebesro­man über ein junges Mäd­chen des deutschen Bürg­er­tums in Est­land kurz vor und während des Ersten Weltkriegs. Die Bal­tendeutschen, Bürg­er­liche wie Adelige, sind aus­ge­sprochen stolz auf ihre Kul­tur und ihr Ver­mächt­nis, ungeachtet dessen, mit wie viel Leid und Blut die Eroberung des Baltikums durch die Deutschen ver­bun­den gewe­sen war und dass die ein­heimis­chen Esten nie darum gebeten hat­ten, von ihnen kolonisiert und in ihrem eige­nen Land zu Bürg­ern zweit­er Klasse degradiert zu wer­den. Als die bal­tendeutsche Idylle voller Feste, Wohl­stand und Macht sich dem Ende neigt – erstens, weil Est­land damals Teil des Rus­sis­chen Reich­es war und dort während des Ersten Weltkriegs eine starke anti­deutsche Stim­mung herrschte, und zweit­ens, weil die Deutschen im Baltikum die Ober­schicht bilde­ten und im Zuge der Rus­sis­chen Rev­o­lu­tion als solche ver­fol­gt wur­den, – trauern sie ihrem Sta­tus als “Stamm von Führern und Her­ren” hin­ter­her und über “das endgültige Ende deutschen Wirkens” in diesem Gebi­et. Während ich mit den Fig­uren abso­lut mit­füh­le (Repres­salien bleiben nun mal Repres­salien), kann ich als geschicht­skundi­ge rus­sis­che Bürg­erin nicht anders, als ihre – dur­chaus nachvol­lziehbare – Gefan­gen­schaft in ihrem ger­manozen­trischen Real­ität­stun­nel zu bemerken: Wenn sie Gen­er­a­tion für Gen­er­a­tion mit ein­er bes­timmten Denkweise aufgewach­sen sind und diese Denkweise nie ern­sthaft infrage gestellt wurde, wie sollen sie denn über­haupt eine andere Per­spek­tive ein­nehmen kön­nen?

Nun ist Liebe Rena­ta ein Buch von 1955 – heute ist es anders … oder? Im Mai 2022 schock­ierte die rus­sis­che Vlog­gerin Nad­ja vom Kanal Sel­javi, die viele Jahre in Deutsch­land und Frankre­ich gelebt, gear­beit­et und Kinder aufge­zo­gen hat und nun über das Leben in diesen Län­dern erzählt, ihre rus­sis­chsprachi­gen Zuschauer mit ihrer Besprechung des Romans Tschick von Wolf­gang Her­rn­dorf aus dem Jahr 2010. Obwohl sie das Buch in vie­len Punk­ten lobt, geht sie auch auf die ras­sis­tis­che Darstel­lung der Russen im Zweit­en Weltkrieg in diesem Roman ein, die zwar aus dem Mund eines ehe­ma­li­gen deutschen Sol­dat­en kommt, der aber ins­ge­samt eine pos­i­tive Fig­ur darstellt und dessen Erzäh­lung im Roman unhin­ter­fragt ste­hen bleibt. Auch die Darstel­lung des rus­s­land­deutschen Deuter­ag­o­nis­ten Tschick bemän­gelt Nad­ja, weil sie voller Klis­chees ist. Zwar ist er eine pos­i­tive Fig­ur, aber bei all den Klis­chees und der ras­sis­tis­chen his­torischen Darstel­lung der Russen käme eher rüber, dass die Russen indi­vidu­ell zwar tolle Men­schen sind, aber eben aus Grausamkeit und Unzivil­isiertheit kom­men. – Ich für meinen Teil kann bestäti­gen, dass dies ein dur­chaus häu­figes Nar­ra­tiv ist unter Deutschen, die sich selb­st für russen­fre­undlich hal­ten. Es ist also ein Fall von ras­sis­tis­chen Klis­chees hin­ter ein­er Fas­sade von Tol­er­anz und Fre­undlichkeit.

Und wenn es pos­i­tive Bilder der Russen und Osteu­ropäer generell gibt, dann wis­sen die Men­schen oft nicht, was dahin­ter steckt: Oder weißt Du etwa, dass Frédéric François Chopin bzw. Fry­deryk Fran­ciszek Chopin hal­ber Pole war? Weißt Du, dass der Schrift­steller Joseph Con­rad, eigentlich Józef Teodor Nałęcz Kon­rad Korzeniows­ki, sog­ar voll­ständi­ger Pole war und erst mit Anfang zwanzig Englisch gel­ernt hat? Wie viele pol­nis­che Lit­er­aturnobel­preisträger kennst Du? Und weißt Du, dass die Stat­ue “Der Befreier” beim Sow­jetis­chen Ehren­mal in Berlin, die einen sow­jetis­chen Sol­dat­en mit einem deutschen Mäd­chen auf dem Arm zeigt, möglicher­weise ein reales Vor­bild hat­te, näm­lich den Sol­dat­en Niko­laj Masa­lov, der während der Schlacht um Berlin ein deutsches Kind gerettet hat­te – und das nach einem Ver­nich­tungskrieg, nach einem Genozid an seinem Volk durch die Deutschen inklu­sive der sadis­tis­chen Aus­rot­tung ganz­er Dör­fer und dem Blick in das ein oder andere befre­ite Konzen­tra­tionslager? – Und dann haben manche Deutsche immer noch den Nerv, den Russen und Osteu­ropäern generell die Zivil­isiertheit abzus­prechen.

Und komm mir bitte nicht mit den Verge­wal­ti­gun­gen deutsch­er Frauen durch sow­jetis­che Sol­dat­en: Verge­wal­ti­gun­gen und andere Kriegsver­brechen haben im Zweit­en Weltkrieg alle Parteien began­gen, auch die West-Alli­ierten und vor allem auch die Deutschen selb­st. Das ein­seit­ige Herum­re­it­en auf den Ver­brechen beim Ein­marsch der Sow­jets in Deutsch­land basiert also auf Fak­ten, aber diese wur­den zwecks Nazi- und Kalter-Krieg-Pro­pa­gan­da aufge­blasen, während die Ver­brechen der anderen Parteien gern unter den Tep­pich gekehrt wur­den. Die pos­i­tiv­en und hero­is­chen Seit­en der Sow­je­tarmee wur­den eben­falls in den Hin­ter­grund gerückt. Die abso­lut tragis­chen his­torischen Fak­ten wur­den also – wie ich befürchte – miss­braucht, um ein ras­sis­tis­ches Feind­bild aufrechtzuer­hal­ten. Kön­nten wir uns also bitte darauf eini­gen, dass es in keinem Krieg ein­deutige Engel und Dämo­nen gibt und jede Partei sowohl ver­brecherische als auch ehren­hafte Seit­en hat? Aber eine Welt ohne dumme Feind­bilder wäre ja auch zu schön …

Propaganda und Hassprediger

Doch wir leben nun mal nicht in ein­er per­fek­ten Welt. – Und nun stell Dir vor, es gibt einen neuen Kon­flikt und alle Seit­en graben ihre alten Feind­bilder aus. Es entste­ht eine Pro­pa­gan­daschlacht, in der jed­er vor allem der Seite glaubt, die am ehesten mit seinem Real­ität­stun­nel übere­in­stimmt. Und weil es in unser­er Zeit dabei auch um medi­ale Präsenz geht, um auf den Einzel­nen Grup­pen­druck im Sinne des Asch-Exper­i­ments auszuüben, wo die Teil­nehmer sich ent­ge­gen ihrer eige­nen Wahrnehmung der Mehrheit angeschlossen haben, ver­sucht man, vor allem in den sozialen Medi­en das eigene Nar­ra­tiv zu pushen und das feindliche wegzuzen­sieren, unter anderem durch eine Brand­markung als “Desin­for­ma­tion”. Denn wer medi­al präsen­ter ist, dem schließen sich die Mitläufer an. Und wenn das dann auf allen Seit­en stat­tfind­et und sich geschlossene, nahezu unüber­wind­bare Infor­ma­tions­blasen bilden und in der Can­cel Cul­ture ihre Vol­len­dung find­en, wen wun­dert es da, dass die Men­schen sich immer weit­er auf­s­tacheln, zu Diskus­sio­nen nicht mehr bere­it sind und irgend­wann wom­öglich sog­ar aggres­siv, gewaltver­her­rlichend oder gar straf­fäl­lig wer­den, ohne es zu merken?

So durfte ich die Erfahrung machen, dass es Men­schen gibt, die wirtschaftliche Sank­tio­nen als gut, richtig und ger­adezu human empfind­en. Ich bezwei­fle, dass den meis­ten von diesen Men­schen bewusst ist, dass ein­seit­ige Sank­tio­nen, wie west­liche Län­der sie gerne ver­hän­gen, laut ein­er Res­o­lu­tion des UN-Men­schen­recht­srates völk­er­rechtswidrig sind, weil sie die kom­plette Infra­struk­tur eines Lan­des lahm­le­gen kön­nen, was wiederum zu Hunger, man­gel­hafter medi­zinis­ch­er Ver­sorgung und generell katas­trophalen Lebens­be­din­gun­gen führt. Ein­seit­ige Sank­tio­nen sind also keineswegs human, son­dern ein Angriff auf die Men­schen­rechte eines ganzen Volkes. Und sowas find­en Befür­worter von Sank­tio­nen toll – denn sie wis­sen offen­bar nicht, was sie tun.

Spal­tend wirken übri­gens auch die einzel­nen Predi­ger der ver­schiede­nen Pro­pa­gan­darich­tun­gen, selb­st wenn sie selb­st gar nicht merken, dass sie als Has­spredi­ger fungieren. Von meinen eige­nen Zuschauern weiß ich zum Beispiel, dass es zumin­d­est einige gibt, die Videos von Alexan­der Prinz schauen. Nach­dem sein YouTube-Kanal Der Dun­kle Para­bel­rit­ter mit Kurz­fil­men, Com­e­dy und Videos rund um Met­al groß gewor­den war, wandte er sich Ende 2021 poli­tis­chen und gesellschaftlichen The­men zu. Das ist ein ziem­lich­er Schwenk, so von Unter­hal­tung zu Poli­tik, zumal er auch – um mal nach meinem KreativCrew-Kri­tik­er mit seinem argu­men­tum ad hominem von vorhin zu gehen – kein­er­lei fach­liche Qual­i­fika­tion besitzt, da er “nur” Deutsch und Geografie auf Lehramt studiert hat, nicht Politik‑, Geschichts- oder Wirtschaftswis­senschaften. Eine fehlende “offizielle” Bil­dungsqual­i­fika­tion muss einem aber nicht im Wege ste­hen, sich in einem Bere­ich wirk­lich auszuken­nen: So gibt es zum Beispiel viele Men­schen, die äußerst tal­en­tierte Auto­di­dak­ten sind. Worauf es eher ankommt, ist let­z­tendlich die Qual­ität der Videos. Und während Prinz mit der tech­nis­chen Qual­ität über­haupt keine Prob­leme hat und seine Per­for­mance vor der Kam­era selb­st­be­wusst und charis­ma­tisch ist, strotzt sein Con­tent vor inhaltlichen und method­ol­o­gis­chen Män­geln.

Nehmen wir zum Beispiel sein Video “Wir müssen über Frieden reden!”, in dem er über die Friedens­de­mo von Sahra Wagenknecht und Alice Schwarz­er im Feb­ru­ar 2023 redet. Etwa ab Minute 21:47 geht es um den Moment, als auf der Demo von den Behör­den verord­nete Regeln ver­lesen wer­den wie zum Beispiel das Ver­bot der pro-rus­sis­chen und sow­jetis­chen Sym­bo­l­ik und ander­er Aspek­te des eher pro-rus­sis­chen Nar­ra­tivs, die als Kriegsver­her­rlichung abgestem­pelt wer­den. In der Menge hört man Lachen, Buhen und Pfeifen. In Prinz’ Video ste­ht das im Kon­text von Beweisen bzw. ver­meintlichen Beweisen ein­er starken Präsenz rechter Grup­pen auf der Demo. Daraufhin stellt Prinz fol­gende Frage:

“Hat man eigentlich eine Kon­tak­tschuld, wenn man mit Nazis auf die Straße geht, auch wenn man für das gle­iche Ziel ein­tritt und das ja eigentlich gut sein soll? Ich frag mal anders: Wenn du diesel­ben Ziele hast wie die Nazis, soll­test du dich nicht generell hin­ter­fra­gen, was bei dir ger­ade falsch läuft?”

Mit anderen Worten: Prinz hat in dem Clip von der Ver­lesung der Regeln ein­deutige Anze­ichen von Nation­al­is­mus gese­hen und stellt seine Sichtweise als objek­tive Wahrheit dar. Dass das jedoch gefährlich ist, haben wir bere­its im ersten Teil der Rei­he am Fritzchen­beispiel gese­hen, wo Fritzchen ehrlich und aufrichtig falsche Angaben macht, weil er ein­fach nicht ver­standen hat, was er da gese­hen hat. Prinz selb­st kann noch so sehr überzeugt sein, auf der Demo Nazis gese­hen und gehört zu haben – bei der Menge von Men­schen lässt es sich auch sicher­lich nicht ver­mei­den, dass ein paar von ihnen aufkreuzen –, aber dass es eine nen­nenswerte Anzahl war, ist ein sub­jek­tiv­er Ein­druck, der über­prüft gehört. Eben­so wie über­prüft gehört, ob jene, die er als rechts iden­ti­fiziert, wirk­lich rechts sind. Und zur Über­prü­fung hätte Prinz method­ol­o­gisch betra­chtet die Demon­stra­tion vor Ort beobacht­en oder wenig­stens im Nach­hinein einige Teil­nehmer respek­tvoll befra­gen müssen. Vielle­icht hat er das sog­ar getan, aber im Video selb­st merkt man davon nichts, weil die Gegen­seite nicht zur Sprache kommt, wenn es darum geht, die eigene Sichtweise auf diese Punk­te darzule­gen. Deswe­gen tendiere ich eher zu der Annahme, dass er es nicht getan hat, zumal er, wie wir im drit­ten Teil dieser Rei­he noch sehen wer­den, generell zu einem unkri­tis­chen Umgang mit Quellen zu neigen scheint bzw. Artikel zitiert, als wären sie die Wahrheit in let­zter Instanz und nicht nur eine Sichtweise eines bes­timmten poli­tis­chen Lagers. Ich selb­st habe die Demo dur­chaus live gese­hen, habe mit Teil­nehmern gesprochen und noch mehr ihren Gesprächen untere­inan­der zuge­hört und kann sagen: In dem Clip, den Prinz als Bestä­ti­gung für die Unter­wan­derung der Demo durch Nazis sieht, ist die Reak­tion der Teil­nehmer auf die Regeln nicht deswe­gen ablehnend, weil sie Gewalt ver­her­rlichen und die Ukraine zer­stört sehen wollen, son­dern weil sie einem anderen Nar­ra­tiv fol­gen als dem, auf welchem diese Regeln beruhen. Es han­delt sich um die Kol­li­sion zweier Real­ität­stun­nel, wobei bei­de Seit­en unter anderem der Überzeu­gung sind, gegen Nazis zu kämpfen – die einen gegen ver­meintliche Nazis auf der Demo, die anderen gegen die Nazi-Tol­er­anz in der Ukraine. Den jew­eils anderen Real­ität­stun­nel find­et man absurd und lächer­lich, den eige­nen keines­falls rechts oder ander­weit­ig “böse”, und es liegt in der Natur von Real­ität­stun­neln, dass man aneinan­der vor­bei kom­mu­niziert und sich gegen­seit­ig das Bös­es­te des Bösen unter­stellt. Als die Regeln ver­lesen wer­den, wird den Demon­stran­ten also ein fremder Real­ität­stun­nel aufge­drückt – genau der, gegen den sie gekom­men sind zu protestieren. Und deswe­gen protestieren sie eben, während die Regeln ver­lesen wer­den. Prinz und andere Anhänger des feindlichen Real­ität­stun­nels wiederum sehen ihre Vorurteile bestätigt.

Außer­dem ist Prinz’ auf den Clip und andere ver­meintliche Beweise für die Präsenz rechter Ide­olo­gie auf der Demo fol­gende Frage auf­fäl­lig ober­fläch­lich und kein logis­ches Argu­ment bzw. keine nüchterne Fragestel­lung für eine ern­sthafte Analyse, son­dern eher Het­zrhetorik. Um das prak­tisch zu demon­stri­eren, drehe ich diese bere­its zitierte Frage ein­fach um:

“Hat man eigentlich eine Kon­tak­tschuld, wenn man für die gle­ichen Ziele ein­tritt wie nachgewiesene Nazi-White­wash­er, auch wenn diese Ziele eigentlich gut sein sollen? Ich frag mal anders: Wenn du diesel­ben Ziele hast wie beken­nende Nazi-Verehrer, soll­test du dich nicht generell hin­ter­fra­gen, was bei dir ger­ade falsch läuft?”

Ich beziehe mich dabei übri­gens auf seine iro­nisierende Para­phrasierung von Wagenknechts Forderun­gen etwa bei Minute 24:49:

“ ‘Ver­han­deln ist kein Kapit­ulieren.’ – Ja, außer man hat keine Trümpfe mehr in der Hand. Also bitte, Ukraine, gib alle deine Vorteile in den Ver­hand­lun­gen auf, damit du nur noch kapit­ulieren kannst.”

Die Kri­tik und die Forderung, die aus dieser Para­phrasierung her­vorge­hen, ist deck­ungs­gle­ich mit der Karikatur, die unser guter Bekan­nter und Ban­dera-Fan, der ehe­ma­lige Botschafter der Ukraine Andrij Mel­nyk, anlässlich der Demo bei X (damals noch Twit­ter) gepostet hat.

Ich will Prinz mit dieser Umkehr natür­lich keineswegs Nähe zu Nazis bzw. beken­nen­den Nazi-White­wash­ern unter­stellen, son­dern nur zeigen, wie leer und ober­fläch­lich seine Fragestel­lung und Argu­men­ta­tion eigentlich ist. Naziver­gle­iche und irgen­deine poten­tielle Kon­tak­tschuld kann man immer an den Haaren her­beiziehen. Bloß gibt es da abge­se­hen davon, dass es eine bil­lige Meth­ode ist, um Ander­s­denk­ende zu diskred­i­tieren, noch den Aspekt, dass es die Gräuel der Nazi-Dik­tatur ver­harm­lost, wenn man alles Mögliche damit auf eine Stufe stellt.

So in etwa lassen sich die meis­ten von Prinz’ Punk­ten in dem Video zer­legen. Er wirft mit Behaup­tun­gen um sich, ohne sie jedoch zu analysieren und zu über­prüfen. Mit anderen Worten: Prinz steckt in seinem eige­nen Real­ität­stun­nel fest, hat seine Vorurteile und der Bestä­ti­gungs­fehler sorgt dafür, dass er sich in seinen Ansicht­en immer weit­er bestätigt sieht und die Sichtweise der Gegen­seite prinzip­iell nicht ver­ste­hen kann, bis er sich von sein­er Selb­stüberzeugth­eit löst. Das ist an sich natür­lich nicht drama­tisch, weil Prinz wie jed­er andere Men­sch auch ein Recht auf seinen Real­ität­stun­nel hat. Prob­lema­tisch wird es nur, wenn er seinen Real­ität­stun­nel als nüchterne, objek­tive Wahrheit präsen­tiert, über Ander­s­denk­ende in einem iro­nisch-verächtlichen Ton spricht und Hun­dert­tausende Fol­low­er hat, die dann losziehen und Leute anpö­beln, die einen anderen Real­ität­stun­nel haben, ohne auch nur ansatzweise zu ver­suchen, deren Sichtweise zu ver­ste­hen. Sie glauben dabei ehrlich und aufrichtig, sie wür­den für das Gute kämpfen, doch in Wahrheit ver­stärken solche Pöbeleien nur die gesellschaftliche Spal­tung. Zumal die Pöbeleien sich auch noch gegen Men­schen richt­en, die auf­grund ihrer anderen Ansicht­en ohne­hin bere­its medi­al und gesellschaftlich aus­ge­gren­zt wer­den: Ger­ade die medi­ale Kam­pagne gegen die Demo von Wagenknecht und Schwarz­er war ja enorm. Der Chor dieser Aus­gren­zung von Ander­s­denk­enden, der Can­cel Cul­ture und der damit ein­herge­hen­den Ein­schränkung der Mei­n­ungs­frei­heit wird ver­stärkt. Und das ist ein Stück weit auch die Mitver­ant­wor­tung von Alexan­der Prinz, dessen charis­ma­tis­che, selb­st­ge­fäl­lige Art, die über jeden Zweifel am eige­nen Real­ität­stun­nel erhaben ist, eben Men­schen aufhet­zt – sicher­lich ohne dass er es will, aber den­noch. Hätte er mehr von sein­er sub­jek­tiv­en Wahrnehmung gesprochen und das Ganze weniger als ver­meintlich dif­feren­zierte Analyse insze­niert, hätte sein Video zweifel­los weniger het­zerisch gewirkt.

Zusammenfassung

Was lässt sich abschließend also sagen? Nun,

das Böse ist banal und steckt in uns allen.

Stereo­type und Klis­chees, oft sog­ar unter­be­wusst ras­sis­tisch, gepaart mit man­gel­n­dem Ver­ständ­nis der jew­eili­gen Fachge­bi­ete, zum Beispiel von geopoli­tis­chen Prinzip­i­en, und Kri­te­rien, um Medi­en­qual­ität zu bew­erten, sowie mit ein­er selek­tiv­en Igno­ranz von Fak­ten, die nicht in den eige­nen Real­ität­stun­nel passen, machen uns leicht zu den mitläuferischen Arschlöch­ern, die wir nun mal von Natur aus sind. Wir sind überzeugt von unseren Real­ität­stun­neln, wollen nicht hin­ter­fra­gen und wer­den manch­mal offen und manch­mal nur sub­til aggres­siv, wenn diese Real­ität­stun­nel durch etwas oder jeman­den her­aus­ge­fordert wer­den, was wir wiederum – meis­tens unter­be­wusst – als Angriff auf unser Selb­st- und Welt­bild empfind­en. Wir alle haben das Gefühl, dass unsere Mei­n­ung auf objek­tiv­en Fak­ten beruht, doch die wenig­sten von uns gehen wirk­lich nüchtern method­ol­o­gisch vor, um uns diese Mei­n­ung zu bilden – wir glauben das nur. Doch wenn wir eine solche Kon­stel­la­tion von Vorurteilen, fach­lich­er Inkom­pe­tenz und kog­ni­tiv­en Block­aden als Mei­n­ung beze­ich­nen, dann wäre 2+2=22 eben­falls eine Mei­n­ung. Was ich damit meine, ist:

Eine Mei­n­ung ohne aus­re­ichende method­ol­o­gis­che Grund­lage gle­icht religiösen Glaubenssätzen. Und mit diesen Glaubenssätzen auf den Lip­pen kämpfen wir für das ver­meintlich Gute, schla­gen uns die Köpfe ein, statt uns gegen­seit­ig eine Chance zu geben und zuzuhören, und wun­dern uns dann über die gesellschaftliche Spal­tung.

Ganz am Ende heißt es schließlich: “Wir haben ja von nichts gewusst.” Aber guess what: Unwis­sen schützt nicht vor Ver­ant­wor­tung! Denn eigentlich hat­test du ja Hin­weise, Gegen­stim­men und die Wahl, diesen Stim­men offen zu begeg­nen.

Spal­tend und deswe­gen gefährlich sind also nicht ver­schiedene Mei­n­un­gen oder (ver­meintliche) Desin­for­ma­tion, son­dern man­gel­nder zwis­chen­men­schlich­er Respekt und Aggres­sion, seien sie auch noch so unbe­wusst und sub­til, resul­tierend aus einem Man­gel an kri­tis­chem Denken.

Aber gut, wir haben offiziell fest­gestellt: Der Großteil von dem, was die meis­ten Men­schen als ihre Mei­n­ung deklar­i­eren, ist nichts weit­er als Unwis­sen. Und lei­der han­deln Men­schen oft nach diesem Unwis­sen und richt­en Schaden an. Wie kommt man also an eine wirk­lich informierte, nüchterne Mei­n­ung? Wie bricht man aus seinem Real­ität­stun­nel aus?

Fast jedes Kind weiß:

Eine informierte, kri­tis­che Mei­n­ung sollte sich auf sorgfältig über­prüfte Fak­ten stützen und nicht auf Speku­la­tio­nen oder sub­jek­tive Empfind­un­gen, da let­ztere leicht manip­uliert wer­den kön­nen, allem voran durch uns selb­st bzw. unsere eige­nen kog­ni­tiv­en Block­aden.

Ich glaube, ger­ade für uns hier im West­en ist das auf­grund der im ersten Video dieser Rei­he aufge­lis­teten Punk­te schwierig: Wegen unser­er indi­vid­u­al­is­tis­chen Erziehung klam­mern wir uns an unsere jew­eils indi­vidu­elle Kom­bi­na­tion von Iden­titäten, die Zuge­hörigkeit zu irgendwelchen Grup­pen, Com­mu­ni­tys und Bewe­gun­gen, wir wiegen uns in ver­meintlich­er Frei­heit und sind qua­si-religiös überzeugt von der Richtigkeit unser­er Werte, was unsere Empathiefähigkeit gegenüber anderen Denkweisen ein­schränkt, und wir haben im Übri­gen auch einen Kult von Selb­st­darstel­lung, die wir als Selb­st­be­wusst­sein missver­ste­hen, die jedoch im Grunde nur eine Obses­sion mit dem eige­nen Selb­st­bild ist.

Wir kön­nen uns, wenn wir kri­tisch denken wollen, also nicht auf uns selb­st ver­lassen.

Deswe­gen gibt es method­ol­o­gis­che Ansätze, die uns helfen sollen, uns einiger­maßen von der eige­nen Sub­jek­tiv­ität zu befreien – eine voll­ständi­ge Befreiung wird wohl nie möglich sein. Und weil wir nach der lan­gen Auflis­tung von Prob­le­men auch über Lösun­gen reden soll­ten, geht es im drit­ten und let­zten Teil dieser Rei­he um eine Anleitung für selb­st­ständi­ges, kri­tis­ches Denken Schritt für Schritt, basierend auf geschichtswis­senschaftlich­er Quel­lenkri­tik und gewürzt mit jour­nal­is­tis­chen Meth­o­d­en und Ansätzen aus der Erzählthe­o­rie.

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