Warum ist kritisches Denken eigentlich so wichtig? Nachdem wir im ersten Teil dieser Reihe festgestellt haben, warum es so schwierig ist, beschäftigen wir uns jetzt mit dem Schaden, den wir durch mangelhaftes kritisches Denken verursachen. Denn während wir alle uns um die gesellschaftliche Spaltung sorgen, ist doch jeder selbst Teil des Problems …
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Wir alle machen uns Sorgen um die gesellschaftliche Spaltung und den immer boshafteren Ton, der die gesellschaftlichen Debatten beherrscht. Wir machen uns Sorgen um Hass und Hetze. Wir sind ehrlich und aufrichtig für mehr Empathie und Verständnis füreinander. – Wenn die Gegenseite nur nicht so propagandaverseucht und verbohrt wäre!
Ist Dir schon mal der Gedanke gekommen, dass Du selbst Teil des Problems sein könntest? Dass Du selbst abstempelst, pöbelst, aufhetzt oder zumindest wegschaust, wenn jemand Deiner Gleichgesinnten so etwas tut? Dass Du bei dem Versuch, die Welt, die Gesellschaft, Deutschland oder was auch immer zu retten, zur Zerstörung beiträgst?
Wie im ersten Teil dieser Reihe bereits erläutert, ist es absolut natürlich, wenn Dir dieser Gedanke noch nie gekommen ist, Du ihn kategorisch ausschließt oder zu dem Schluss gekommen bist, dass er nicht stimmt. Damit gehörst Du zur überwältigenden Mehrheit. Willkommen im Klub der Dumpfbacken.
Nun wäre die Welt zweifellos ein besserer, friedvollerer Ort, wenn wir keine Dumpfbacken wären. Deswegen möchte ich, bevor wir im dritten Teil darüber reden, wie kritisches Denken in der Praxis funktioniert, explizit beleuchten, warum es überhaupt so wichtig ist. Das ist im ersten Teil immer wieder angeklungen, aber ein Mangel an kritischem Denken ist extrem gefährlich, tödlich sogar, und das möchte ich an konkreten Beispielen erläutern.
Weil wir hier in Deutschland sind (ich zumindest bin es) und ich das Thema ohnehin schon im ersten Teil angeschnitten habe, sprechen wir zunächst darüber, wie der Nationalsozialismus in Deutschland solch ungeheuerliche Züge annehmen konnte. Wie Dir sicherlich bereits aufgefallen ist – nicht zuletzt durch meinen Artikel über Propaganda und Storytelling – ist es eins der Themen, die mich in den letzten zehn Jahren und eigentlich auch schon darüber hinaus beschäftigt haben. Und wenn man das Böse schlechthin untersuchen möchte, dann bietet sich dieses dunkle Kapitel der deutschen Geschichte bestens an.
In den darauffolgenden Abschnitten wird es darum gehen, wie das Böse trotz aller Aufklärung in uns weiterlebt und sein übles Werk treibt. Meine Beispiele werden dabei natürlich subjektiv eingefärbt sein. Denn auch ich habe meinen Realitätstunnel und vor allem meine toten Winkel. Und der Witz bei toten Winkeln ist, dass man gar nicht sieht, was dort drin steckt. Genauso wie ein Blinder nicht die richtige Person ist, um Farben zu beschreiben, bin ich nicht die richtige Person, um meine eigenen toten Winkel zu zerlegen. Ich könnte das nicht ansatzweise so gut wie bei den Fehlern, die ich bei anderen sehe (oder zumindest zu sehen glaube). Deswegen konzentriere ich mich eben auf die Fehler anderer. Ich bitte, mir meine menschliche Beschränktheit nachzusehen und einfach im Hinterkopf zu behalten: Ja, die Schreibtechnikerin weiß, dass sie genauso eine Dumpfbacke wie alle anderen ist!
Nationalsozialismus: Die Banalität des Bösen nach Hannah Arendt
Ich feiere das im ersten Teil bereits erwähnte Buch The Palmström Syndrome unter anderem deswegen, weil der Autor Dick de Mildt, der sich sein Leben lang mit NS-Prozessen und den darin zerlegten Biografien und psychologischen Profilen von NS-Tätern beschäftigt hat, auf die Kontroversen um Hannah Arendts Auseinandersetzung mit dem Eichmann-Prozess in Jerusalem und ihre darauf aufbauenden Schlüsse über die „Banalität des Bösen“ eingeht. De Mildt bestätigt dabei ihre Erkenntnis,
dass die für einen gewöhnlichen Menschen scheinbar so unbegreiflichen Verbrechen hauptsächlich nicht etwa von Wahnsinnigen und psychisch gestörten Fanatikern, sondern von ganz gewöhnlichen Otto Normalbürgern verübt wurden.
Dabei waren viele von ihnen nicht einmal wirklich Antisemiten. Es waren einfach nur Menschen, die Karriere machen wollten und ihren Job nach denselben Kriterien gewählt hatten, die wir auch heute in unserem normalen Alltagsleben anwenden. Sobald sie ihren Job in der Vernichtungsmaschinerie hatten, haben sie brav und gewissenhaft ihre Pflichten ausgeführt, die Verantwortung und das Denken an den Gesetzgeber outgesourct und hielten sich innerhalb ihrer eigenen Blase für durchaus anständige und sogar humane, empathische Bürger.
Das lässt auch an die ebenfalls im ersten Teil bereits erwähnte Auswertung der Erinnerungskultur in den deutschen Familien denken („Opa war kein Nazi“): In der Regel stehen hier die Angehörigen der eigenen Familie, wie gesagt, als Helden oder Opfer da, als Menschen, die zumindest anständig waren. – Doch durch ihre Untätigkeit haben sie de facto als passive Zuschauer und dadurch Möglichmacher und indirekte Mittäter fungiert. Ein Beispiel zur Erläuterung:
Wenn es in einer Schulklasse zu Mobbing kommt, dann sind nicht so sehr die vier Mobber das Problem, denn faule Äpfel gibt es immer und überall. Das Problem sind eher die fünfundzwanzig anderen Leute in der Klasse, die das Mobbing durch ihr Wegschauen, durch ihre Passivität, quasi „erlauben“. Sie lassen es zu, dass das Mobbing aufblühen kann, und gleichzeitig vermitteln sie dem Opfer durch ihre Passivität, dass es keine Hilfe zu erwarten braucht, verstärken also sein Gefühl des Ausgeliefertseins und werden dadurch im Grunde zum Teil der Drohkulisse, die das Opfer seelisch zerstört.
Ich würde es daher gar nicht als überzogen betrachten, den deutschen Otto Normalbürger der 30er und 40er Jahre eben als indirekten Mittäter zu betrachten, einfach weil er ein braves, funktionierendes Zahnrad innerhalb eines in seinem tiefsten Kern verbrecherischen Systems war und sich in diesem Sinne auch nicht von den aktiveren Tätern der nationalsozialistischen Vernichtungsbürokratie und des mörderischen Personals vor Ort unterschied.
Ein häufiger Einwand, geradezu ein Klischee, ist die ewige Leier von: „Man hat ja von nichts gewusst.“ Denn wenn der Otto Normalbürger von all den Verbrechen des Nationalsozialismus gewusst hätte, dann wäre er doch in all seiner menschlichen Anständigkeit in den Widerstand gegangen! Zumindest glauben es der Otto Normalbürger und seine Nachfahren. Bei genauerem Hinsehen zerfällt jedoch diese klassische Ausrede:
Bekanntermaßen gab es während des Nationalsozialismus an jeder Ecke Hasspropaganda. Es gab Konzentrationslager in unmittelbarer Nähe zu bewohnten Ortschaften. KZ-Häftlinge und verschleppte, versklavte Menschen, vorwiegend aus Osteuropa, arbeiteten in deutschen Betrieben und auf deutschen Bauernhöfen. Bestimmte Minderheiten, vor allem Juden, sind massenhaft verschwunden. Ein wesentlicher Teil der Vernichtung von Menschen fand nicht in KZs, sondern vor Ort in den besetzten Gebieten in Osteuropa statt, zum Teil unter direkter Beteiligung der Wehrmacht, also der eingezogenen Otto Normalbürger. Während des Vernichtungskrieges im Osten wurden auch ganz zentral rassistisch motivierte Kriegsverbrechen wie der Kommissarbefehl, die Maßnahmen im Kampf gegen die Partisanen und die Leningrader Blockade angeordnet und die Otto Normalbürger in der Wehrmacht haben mitgemacht und dabei auch der osteuropäischen Zivilbevölkerung die Nahrungsmittel weggefressen und diese dadurch in den Hunger gestürzt. Und nicht zuletzt hat Hitler selbst seine radikalen Ansichten und Pläne ziemlich explizit in seinem Bestseller Mein Kampf dargelegt. Wer die Gefährlichkeit dieser Ideologie nicht erkannt hat, selbst wenn er unmittelbar Zeuge wurde oder – sei es auch noch so widerwillig – mitmachen musste, hat also nicht etwa „von nichts gewusst“, sondern all die offensichtlichen, neonblinkenden Warnzeichen vor seiner Nase einfach nicht wahrgenommen. Siehe dazu den ersten Teil dieser Reihe über Denkfehler und kognitive Blockaden.
Wenn also das gute, alte „von nichts gewusst“ beschworen wird, dann ist eher von einem unbewussten Von-nichts-wissen-Wollen die Rede: Denn Wissen bedeutet in diesem Fall Verantwortung. Wenn man der Verantwortung entgehen will, dann sagt man, man habe dieses Wissen nicht gehabt. – Als ob jemand verpflichtet gewesen wäre, einen wahrheitsgemäß zu informieren. Und genau hier liegt der Knackpunkt:
Niemand ist verpflichtet, Dich zu informieren. Jeder sagt Dir nur das, von dem er will, dass Du es weißt. Wenn er nicht will, dass Du etwas weißt, dann sagt er es Dir nicht. Und dass Systeme ein Grundinteresse daran haben, sich selbst aufrechtzuerhalten, habe ich ja schon ausgeführt.
Es liegt also nicht im Interesse eines Systems, Dich zum Hinterfragen zu motivieren.
Zu erwarten, dass es das trotzdem tut, ist naiv. Und nicht zuletzt hat die passive Erwartung, umfassend informiert zu werden, nichts mit selbstständigem Denken zu tun. Denn selbstständiges Denken bedeutet auch selbstständige Informationsbeschaffung: Du musst es per definitionem selbst tun.
Es geht mir bei diesen Ausführungen im Übrigen – und das möchte ich explizit betonen – keineswegs darum, Schamgefühle auszulösen, sondern das eigentliche Kernproblem hinter dem Nationalsozialismus zu ermitteln. Denn nur, wenn man das eigentliche Kernproblem identifiziert, kann man es aufarbeiten. Und genau hier sehe ich ein entscheidendes Problem der deutschen Vergangenheitsbewältigung, wodurch eine Wiederholung der Verbrechen meiner Einschätzung nach jederzeit möglich ist, wenn auch eher unter einer anderen Flagge als dem Nationalsozialismus.
Lücken der Vergangenheitsbewältigung
Sicherlich hast Du bereits vom Sozialexperiment „The Third Wave“ gehört, das der Lehrer Ron Jones 1967 an einer kalifornischen High School durchführte. Zumal es den deutschen Film Die Welle gibt, dessen Handlung auf genau diesem Experiment basiert. Inspiriert durch die Fragen seiner Schüler, wie die ganz normalen Menschen in Deutschland behaupten konnten, von den Verbrechen des Nationalsozialismus nichts gewusst zu haben, beschloss Ron Jones, es ihnen am eigenen Leib zu demonstrieren und gründete eine fiktive Bewegung namens „The Third Wave“. Diese gewann innerhalb weniger Tage an Bedeutung und entwickelte eine autoritäre Struktur. Durch Disziplin, Druck und Manipulation begannen die Schüler, die strengen Regeln zu befolgen, einander zu denunzieren und Nichtmitglieder der Bewegung zu mobben.
Die rasante Eskalation zeigte eindrucksvoll, wie schnell und bereitwillig Menschen das kritische Denken ablegen können und welche Macht in Gruppendynamiken und im Konformitätsdruck steckt.
Wenn ich also sage, dass eine Wiederholung der NS-Verbrechen jederzeit möglich ist, dann sage ich das nicht einfach so. Nicht nur die Deutschen – die Menschen insgesamt haben die wahren Gefahren, soweit ich das einschätzen kann, nicht ausreichend verarbeitet. Denn wenn man „das Böse“ sich als Wahn vorstellt und nicht als normales Verhalten normaler Menschen, dann bildet man sich gerne ein, man würde das Böse schon erkennen, wenn man es sieht: Wenn nicht an Teufelshörnern und Ziegenhufen, dann doch an irgendwelchen äußerlichen Gemeinsamkeiten mit Hitler und dem Nationalsozialismus, seien die Vergleiche auch noch so sehr an den Haaren herbeigezogen.
So schüttelt zum Beispiel praktisch die ganze Welt den Kopf über Deutschland, weil hier Patriotismus und Heimatliebe häufig mit Nationalismus gleichgesetzt und die Nationalflaggen höchstens zur Fußball-WM rausgeholt werden. Zumindest habe ich noch nie einen Nichtdeutschen getroffen, der der Meinung wäre, dass das ein guter und gesunder Umgang mit der eigenen Identität wäre. Ganz persönlich glaube ich sogar, dass das einen besonders fruchtbaren Boden für Faschismus bereitet. Dabei lehne ich mich an Erich Fromms Die Kunst des Liebens an, wo er unter anderem zwischen Selbstliebe und Narzissmus trennt und Selbstliebe als Grundvoraussetzung ansieht, um andere lieben zu können, während der Narzissmus aus einem Mangel an Selbstliebe entsteht.
Auf die nationale, ethnische und kulturelle Zugehörigkeit übertragen würde das bedeuten, dass man zuerst das eigene Land lieben und respektieren muss, um wirkliche Liebe und Respekt gegenüber anderen Völkern haben zu können. Patriotismus bedeutet somit, dass man sich selbst bzw. das eigene Land akzeptiert und liebt, wie es ist. Dadurch weiß man überhaupt erst, wie es grundsätzlich funktioniert, jemanden so zu lieben und zu akzeptieren, wie er ist, kann Liebe und Respekt also auch anderen entgegenbringen.
In diesem Zusammenhang fällt mir ein Zitat von Ernst Thälmann ein: „Mein Volk, dem ich angehöre und das ich liebe, ist das deutsche Volk; und meine Nation, die ich mit großem Stolz verehre, ist die deutsche Nation.“ – Heute wird man für solche Aussagen gerne in die rechte Ecke gestellt. Als Vorsitzender der Kommunistischen Partei Deutschlands und politischer Gegenspieler Hitlers, der 1944 im KZ Buchenwald ermordet wurde, steht Thälmann aber nun wirklich nicht im Verdacht, rechtsextremes Gedankengut zu vertreten. Er war sogar dermaßen linksradikal, dass er die SPD bekämpfte, weil er sie als „sozialfaschistisch“ betrachtete. Liebe für das eigene Volk und Stolz auf die eigene Nation bedeuten eben nicht, dass man irgendwie rechtsextrem ist.
Das ist man nur, wenn man das eigene Volk und die eigene Nation für etwas Besseres hält. Denn wenn man sich über andere stellt, dann entsteht das aus einem Minderwertigkeitskomplex heraus, also aus mangelnder Selbstliebe, die man durch Selbstüberhöhung kompensieren will. Genau das ist aber, wie gesagt, das Grundprinzip von Narzissmus, einer Verhaltensstörung, die auf nationaler Ebene zum Nationalismus wird. Dabei wird der speziell deutsche Mangel an Selbstliebe, fürchte ich, durch einen regelrechten Kult von Schuldgefühlen genährt, und die tragische und brutale deutsche Vergangenheit wird gerne herangezogen für die banalsten der uns aus dem ersten Teil dieser Reihe bekannten Manipulationstechniken: „Du bist ja so böse, böse, böse – aber wenn Du gut sein willst, dann musst Du dieses und jenes tun.“ Also läuft der deutsche Michel los und tut, was von ihm verlangt wird, damit er nur nicht als amoralisch dasteht, und schwingt sich irgendwann sogar zum Moralapostel mit einem belehrenden Zeigefinger auf. Denn wenn man seine nationale Identität nicht heranziehen kann, um sich als Volk und/oder Kultur besser zu fühlen als andere, weil einem sonst auf die Finger gehauen wird, dann akzeptiert man eben eine andere Ideologie, die einem ein Überlegenheitsgefühl verschafft, zum Beispiel die hochgepriesenen „westlichen Werte“, an die man sich aber selbst nicht unbedingt hält. Mehr noch, wenn wir die westliche Geschichte aus Vogelperspektive betrachten, können wir einen Trend erkennen:
Kreuzzüge: brutale Angriffskriege, rechtfertigt durch westliche Werte im Mäntelchen des katholischen Christentums. Kolonialismus: brutale Angriffskriege, rechtfertigt durch westliche Werte im Mäntelchen einer angeblich weiter entwickelten „Zivilisation“. Imperialismus und westliche Nationalismen: brutale Angriffskriege, rechtfertigt durch westliche Werte im Mäntelchen biologischer, „rassischer“ Überlegenheit. Zweite Hälfte 20. und 21. Jahrhundert: brutale Angriffskriege, rechtfertigt durch westliche Werte im Mäntelchen von Freiheit und Demokratie. Also egal, welche Epoche – die Werte ändern sich zwar, aber eine Konstante bleibt: Das Gefühl einer grundlegenden Überlegenheit und das Bestreben, das eigene System anderen aufzuzwingen, um die Wilden da draußen zu „zivilisieren“ (ganz im Sinne von „The White Man’s Burden“ von Rudyard Kipling). Ich persönlich bezeichne das als Kulturfaschismus. Und es schmerzt mich zu sehen, wie an sich gute Ideen zu einer Art fanatischem Glauben werden, den man zum Nonplusultra erhebt und dann missbraucht, um sich über andere zu stellen, seine egoistischen Interessen durchzusetzen und sich dabei als Hort von Zivilisation und Moral zu fühlen. – Das ist es doch, was wirklich an die dunkelsten Kapitel der deutschen Geschichte erinnern sollte!
Ich halte es also für grundlegend falsch, jede auch nur entfernte Parallele zum Nationalsozialismus zu verteufeln: Wenn man Katzen niedlich findet, ist man ja noch lange kein Nazi, nur weil irgendein prominenter Nazi auch Katzen niedlich fand, und wenn man Stühle, Hocker und Schemel benutzt, ist man auch kein Nazi, nur weil Nazis sie auch benutzt haben, unter anderem für die ein oder andere Hinrichtungsmethode. Die Wahrheit ist,
dass „die Nazis“, die richtigen Nazis, die in der Nachkriegszeit vor Gericht standen, sich nach äußerlichen Kriterien keinen Deut von uns unterschieden.
Diese Banalität des Bösen ist der Grund, warum wir das Böse eben nicht auf den ersten Blick und mit bloßem Auge erkennen können. Denn es sitzt sehr tief in uns selbst drin und äußert sich vor allem in unserem Verhalten gegenüber anderen Menschen:
- Wer gegen irgendwelche Gruppen und Andersdenkende hetzt, sie entmenschlicht, ausgrenzt und verbal oder sogar körperlich angreift, mögen die Ansichten und Handlungen dieser Gruppen oder Andersdenkenden vielleicht auch noch so verdreht sein, – solange diese Gruppen keine Straftaten begehen, handelt jemand, der ihnen Hass und Verachtung entgegenbringt, wie ein Nazi.
- Wer meint, dass die Richtigkeit seiner Ansichten menschenverachtende und andere undemokratische Maßnahmen rechtfertigt, handelt wie ein Nazi.
- Wer Andersdenkende und andere Menschen, denen irgendetwas vorgeworfen wird, ohne Untersuchung und/oder gerichtliches Urteil bereits als fertige Verbrecher abstempelt und bestrafen will, sei es auch „nur“ durch verbale Gewalt – Stichwort Cancel Culture –, handelt wie ein Nazi.
- Wer Autoritäten – seien sie auch noch so wissenschaftlich, gottgesandt oder was auch immer – unhinterfragt Glauben schenkt, handelt wie ein Nazi-Mitläufer.
- Wer bei Hassrede und beim Aufbau von Feindbildern wegschaut und sein Leben gemütlich weiterlebt statt zu hinterfragen, handelt wie ein Nazi-Mitläufer.
- Wer Andersdenkenden aus dem Weg geht und ihnen von vornherein nicht zuhört, weil er sie für dumm, unbelehrbar und sowieso verloren hält, handelt wie ein Nazi-Mitläufer.
- Wer von seiner Meinung felsenfest überzeugt ist, ohne seine Informationen selbstständig (!) überprüft zu haben, handelt wie ein Nazi-Mitläufer.
- Wer die Narrative der Mächtigen nachplappert, um positives Feedback und irgendwelche Vorteile zu bekommen, handelt wie ein Nazi-Opportunist.
Soll ich weitermachen oder ist Dir schon aufgefallen, dass wir alle mehr oder weniger betroffen sind, vor allem jetzt, in Zeiten tiefer gesellschaftlicher Spaltung? Dabei fällt auf, dass diejenigen, die sich am meisten gegen solche Vorwürfe wehren, tendenziell am stärksten zu solch nazihaftem Verhalten neigen. Das lässt sich mit einer niedrigen Selbstreflexion erklären, also wenn man den Splitter im Auge des anderen sieht, aber nicht den Balken im eigenen. Denn Menschen, die reflektieren, neigen dazu, ihr Verhalten nach Möglichkeit zu korrigieren. Und das sage ich nicht einfach so, sondern nicht zuletzt nach einigen Erfahrungen in den Kommentaren zu einigen meiner Artikel und Videos. Von Leuten, die ihr aggressives Verhalten verteidigen, bis hin zu vermeintlich netten Kommentatoren, die von Respekt und Toleranz reden, dabei aber nicht merken, dass ihre Äußerungen über Andersdenkende in den Bereich von negativen Unterstellungen oder sogar Beleidigungen driften, habe ich da schon viel gesehen. Und so manches gesperrt. Und nebenbei so manchen Abonnenten verloren. Dabei aber viel gelernt.
Aber lange Rede, kurzer Sinn:
Die größte Lücke der deutschen Vergangenheitsbewältigung besteht meiner Meinung nach darin, dass sie auf eine bestimmte – sei es auch tatsächlich noch so schlimme – Ideologie reduziert wird.
Dabei hätte sich diese Ideologie niemals so aggressiv durchsetzen können, wenn da nicht bestimmte grundmenschliche Eigenschaften und Verhaltensweisen am Werk gewesen wären. Und weil diese Eigenschaften und Verhaltensweisen noch heute ungehindert am Werk sind, lassen sich die Nazi-Verbrechen jederzeit wiederholen, nur vielleicht mit einer anderen Ideologie als Rechtsextremismus:
Opportunisten und Mitläufer bleiben auch bei Linksextremismus, Grünextremismus, Rosaextremismus und Muffinextremismus Opportunisten und Mitläufer.
Beispiel: Sehr unterbewusstes Mitläufertum
Gerade weil es hier sehr stark um Selbstreflexion geht und wir so manche unterbewusste kognitive Blockaden haben, die uns überhaupt erst zu Tätern, Opportunisten und Mitläufern machen, möchte ich ein sehr subtiles Beispiel von Mitläufertum anführen, bei dem der Schreiber sich selbst offenbar für überaus kritisch denkend und empathisch hält, dabei aber – zumindest meiner Einschätzung nach – ehrlich und aufrichtig nicht merkt, was er da von sich gibt.
Worum geht es also?
Als 2022 Russland in die Ukraine einmarschiert ist, traf es mich in vielerlei Hinsicht sehr hart. Zur selben Zeit hatte ich eh vorgehabt, mit Schreibvlogs zu experimentieren. Doch da die politische Situation mich so sehr mitnahm, sind viele dieser Vlogs eben sehr politisch geworden, wobei meine Wahrnehmung des Krieges sich von der Darstellung in den Leitmedien unterscheidet. Im Sommer 2022 habe ich in der KreativCrew eine Umfrage durchgeführt und wollte wissen, ob meine loyalsten Leser und Zuschauer mehr Vlogs haben wollen oder nicht. Wenn man diejenigen, die die Vlogs nicht gesehen und sich dementsprechend nicht dazu geäußert haben, nicht mitzählt, fielen die Meinungen eher ausgewogen aus. Dabei war es bei der Abstimmung möglich, seine Meinung zu begründen, und eine solche Zuschrift sticht allein schon durch ihre schiere Länge von sage und schreibe fünf Normseiten hervor.
Auch wenn es keineswegs die Absicht des Schreibers war, hat mich noch nie eine Zuschrift so sehr verletzt wie diese fünf Seiten. Ich habe damals im Affekt sogar überlegt, den ganzen Kanal hinzuschmeißen. Die Intensität meiner emotionalen Reaktion liegt natürlich vor allem darin begründet, dass ich ohnehin emotional aufgewühlt war. Die Ursachen für diese Aufgewühltheit, also inwiefern der Ukraine-Krieg mich getroffen hat, habe ich in meinem Schreibvlog Einfluss der Gegenwart – Ukraine, Propaganda, Rassismus erläutert, und darauf bezog sich übrigens auch die Zuschrift. Es geht mir bei meiner Verletztheit allerdings nicht um Kritik an sich: Nach Jahren auf YouTube habe ich schon auf jede erdenkliche undiplomatische bis beleidigende Weise gesagt bekommen, dass meine Stimme scheiße ist, ich wurde auch unterhalb der Gürtellinie beleidigt und so weiter und so fort. Dass man eindeutig beleidigende Kommentare – egal, gegen wen, – bei mir eher selten antrifft, liegt daran, dass ich sie blockiere, um die übrige Community vor ihrer Toxizität zu schützen. Über konstruktive Kritik hingegen freue ich mich und ohne sie hätte sich die Qualität meines Contents bestimmt nicht so sehr verbessert. Und es ist auch nicht so, dass die besagte Zuschrift nichts Konstruktives enthalten hätte: Dass zu viele YouTube-Kanäle von ihrem eigentlichen Thema abdriften und dadurch einen Teil ihrer Zuschauerschaft vergraulen, ist zum Beispiel ein absolut legitimer, sachlicher Einwand.
Nein. Verletzend war nicht die Kritik, sondern … Fünf Seiten sind zu lang, um an dieser Stelle zerlegt zu werden, und außerdem war die Zuschrift, wie es sich für meine KreativCrew-Umfragen gehört, anonym. Daher beschränke ich mich auf einige wenige Punkte, um die Sache zu erläutern, und werde auch nicht großartig wörtlich zitieren, sondern eher indirekt, einfach zur Wahrung der Anonymität und der Persönlichkeitsrechte der Person. Ich werde darlegen, worum es geht, und kann Dich nur bitten, mir hier einfach zu glauben, dass ich die Teile der Zuschrift, die ich besprechen möchte, inhaltlich korrekt wiedergebe.
Fakten und Meinungen
Beginnen wir mit etwas ziemlich Eindeutigem. So schreibt der Autor der Zuschrift zum Beispiel Folgendes:
Ein Freund würde ehrenamtlich mit ukrainischen Flüchtlingen arbeiten, und sie hätten „einen völlig anderen Blick“ auf die Ukraine und den Konflikt. Sie seien beispielsweise „keine Fans von Bandera“, würden in ihm aber auch „nicht allein den Nazikollaborateur“ sehen.
Der größere Kontext der Aussage ist die Kritik, dass ich meine persönlichen Erfahrungen verallgemeinern würde, konkret hier bezogen auf meinen Eindruck, dass es in der heutigen Ukraine zumindest eine Toleranz gegenüber Nazi-Verbrechern gäbe, weil Nazi-Kollaberateure wie Stepan Bandera von manchen als Helden verehrt werden und Statuen und Gedenktafeln bekommen, an der russischen Behauptung, die Ukraine hätte ein Nazi-Problem, also durchaus etwas dran sei. Um seinen Vorwurf von verallgemeinernden persönlichen Erfahrungen zu untermauern, listet der Autor der Zuschrift Beispiele für anderweitige Erfahrungen auf. Doch abgesehen davon, dass mir meine Subjektivität, mein Realitätstunnel, durchaus bewusst ist und ich schon am Anfang des Videos explizit darauf hinweise, dass ich keine unumstößlichen Wahrheiten von mir gebe, dürfte dem Autor selbst wahrscheinlich prinzipiell bewusst sein, dass es einen Unterschied zwischen anderen Erfahrungen und historischen Fakten gibt – auch wenn er das an dieser konkreten Stelle zu vergessen scheint, weil seine kognitiven Blockaden zuschlagen. Denn wenn es im vorliegenden Fall um Fakten zu Stepan Bandera geht, dann ist eben zu unterscheiden zwischen dem, was geschichtswissenschaftlich belegt ist, und dem, was irgendwelche Leute sagen.
Ich kenne viele unterschiedliche Perspektiven von Menschen ukrainischer Herkunft, von Flüchtlingen in Europa, Flüchtlingen in Russland, deutschen Staatsbürgern mit ukrainischem Hintergrund und so weiter … Ich kenne bestimmt nicht alle Perspektiven, dazu sind es einfach zu viele, aber immerhin so einige. Und damit weiß ich sehr wohl, dass es Ukrainer gibt, die in Bandera „nicht allein den Nazikollaborateur“ sehen. Tatsächlich lässt sich da ein ganzes Spektrum beobachten: von fanatischer Verehrung bis hin zu kompletter Ablehnung. Aber wer war er wirklich?
Dass verschiedene Menschen verschiedene Meinungen über ihn haben, bedeutet zunächst nur, dass verschiedene Menschen verschiedene Meinungen haben. Genauso gibt es selbst bei den prominentesten Verbrechern des Dritten Reiches Menschen, die verschiedene Meinungen haben. Neo-Nazis wären keine Neo-Nazis, wenn sie den Nationalsozialismus nicht entgegen der überwältigend eindeutigen Quellenlage whitewashen würden. Wenn man also zum Beispiel Heinrich Himmler toll findet oder in ihm zumindest nicht allein den Nazi-Verbrecher sieht, dann sagt das nichts über Heinrich Himmler aus, sondern eher über die Menschen, die eine solche Meinung über ihn haben.
Stepan Bandera war, salopp gesagt, etwas wie ein ukrainischer Heinrich Himmler. Natürlich war er als Mensch mehr als das – vielleicht mochte er ja süße, kleine Kätzchen und wollte, wie einst auch Hitler, ursprünglich Künstler werden –, aber historisch hat er sich als Anführer einer nationalistischen, antisemitischen und rassistischen Organisation ausgezeichnet, die sich sehr tatkräftig am Holocaust beteiligt hat mit Opferzahlen im sechsstelligen Bereich. Und das ist keine subjektive Meinung, sondern ein historischer Fakt, der von keinem seriösen Historiker außerhalb der Ukraine bestritten wird, weil ein wesentlicher Teil der Vorwürfe sich angesichts der aktuellen Quellenlage einfach nicht leugnen lässt.
Etwa einen Monat, bevor ich diese Zuschrift erhalten habe, erschien ein Interview von Tilo Jung mit dem damaligen Botschafter der Ukraine Andrij Melnyk, in dem Letzterer auf seinem Whitewashing von Bandera beharrt hat. Dabei zitierte Jung unter anderem das folgende Flugblatt, das beim Einmarsch der Deutschen in die Ukraine verteilt wurde und einen unverhohlenen Aufruf zum Völkermord darstellt:
„Volk, das musst du wissen, Moskoviten [Russen], Polen, Ungarn und Juden, die sind deine Feinde. Vernichte sie. Das musst du wissen. Deine Führung, dein Führer Stepan Bandera.“
Da Melnyk sich nach der Auflistung von historischen Fakten und diesem Zitat immer noch weigerte, Bandera als Verbrecher anzuerkennen, löste das Interview einen internationalen Aufschrei aus, vor allem seitens Israel und Polen. Seitdem ist Melnyk auch nicht mehr der ukrainische Botschafter in Deutschland, wurde aber nicht etwa entlassen oder wenigstens degradiert, sondern zum Vize-Außenminister der Ukraine ernannt und ist mittlerweile der ukrainische Botschafter in Brasilien.
Wenn ich in meinem Vlog also davon rede, dass ich in der Ukraine zumindest eine sehr starke Toleranz gegenüber dem Rechtsextremismus sehe, dann meine ich zum Beispiel genau das: Jemand, der Holocaust-Straftäter whitewasht, sitzt in der Ukraine auf sehr einflussreichen Posten. Und das sind harte Fakten: die Verbrechen Banderas und seiner OUN und UPA sowie Melnyks Whitewashing dieser Person und die fehlenden Konsequenzen seitens des ukrainischen Staates. Ob es beim Thema Ukraine aber „nur“ um eine starke Toleranz gegenüber dem Rechtsextremismus oder um einen regelrecht faschistischen Staat geht, darüber kann und soll man diskutieren, denn das gehört in den Bereich der Interpretation, weil man zum Beispiel zunächst klären müsste, nach welchen Kriterien man einen faschistischen Staat definiert.
Den Flüchtlingen, die in Bandera „nicht allein den Nazikollaborateur“ sehen, will ich aber keinen Vorwurf machen. Im Gegenteil: Als Bürger eines Landes, in dem solche Personen wie Melnyk hohe Posten bekleiden und nach meinem Wissensstand die Meinungsfreiheit sehr eingeschränkt wird (zum Beispiel durch das Verbot von Oppositionsparteien), beweisen sie extrem viel Mut, wenn sie bei dem allgemeinen Whitewashing Banderas nicht mitmachen, sei es auch, indem sie „nur“ auf Greywashing ausweichen. Dem Schreiber der Zuschrift jedoch mache ich den Vorwurf eines eher schludrigen Umgangs mit historischen Fakten bzw. des unkritischen Akzeptierens von Geschichtsrevisionismus, sei dieser Revisionismus auch noch so menschlich nachvollziehbar.
Argumentum ad hominem, Unterstellungen, Projektionen
Der Schreiber entpuppt sich also als jemand, der zumindest in diesem Punkt eine niedrige Kompetenz hat. Genau das ist es aber, was er mir unterstellt, wenn er sagt:
Ich könne mich bei der Einschätzung globaler Konflikte, anders als bei Literatur, nicht auf meine Ausbildung verlassen.
Abgesehen davon, dass das ein klassischer Fall des argumentum ad hominem, also eines Scheinarguments bzw. eines verbreiteten Denkfehlers, ist, weil eine fehlende einschlägige Ausbildung nicht automatisch bedeutet, dass ein Mensch Unsinn redet, bin ich dem Thema, über das ich rede, fachlich tatsächlich näher, als der Schreiber anscheinend glaubt. Wenn er den Text „Über mich“ auf meiner Website gelesen hätte, wüsste er, dass ich eigentlich aus der Geschichtswissenschaft und Slawistik mit den Schwerpunkten Russland und Polen komme. Und mit etwas Allgemeinwissen weiß man, dass das Gebiet der heutigen Ukraine ein wichtiger Teil der russischen und polnischen Geschichte ist und man die Geschichte dieser beiden Länder somit nur im Kontext der osteuropäischen Geschichte insgesamt, also inklusive der ukrainischen Geschichte, begreifen kann. Ich bin definitiv nicht kompetent genug für globale Konflikte und habe auch keine unzähligen Publikationen zum Ukraine-Krieg. Aber wenn es um das Recherchieren von historischen Fakten geht, das Einordnen ihrer in einen osteuropäischen Gesamtkontext und Sprachkenntnisse zur Auswertung von Originalquellen (mit Russisch und Polisch versteht man Ukrainisch ganz gut) sind meine Kompetenzen in Bezug auf den Ukraine-Krieg für deutsche Verhältnisse zumindest überdurchschnittlich, auch wenn ich mich definitiv nicht als Expertin bezeichnen würde, ebenso wie ich ja auch Klaus Gestwa nicht als Ukraine-Experten sehe (siehe dazu den ersten Artikel dieser Reihe). Deswegen weise ich in dem Video ja auch explizit darauf hin, dass ich keine unumstößlichen Wahrheiten predige, auch wenn ich mir einige Grundkompetenzen zutraue. Dass ich auf meinem Kanal und meiner Website weniger auf diesen geschichtswissenschaftlichen und osteuropaspezifischen Teil meiner Ausbildung und mehr auf die Literaturwissenschaft poche, liegt daran, dass Die Schreibtechnikerin vom Thema her eher literaturwissenschaftlich ist. Ganz simples Marketing also. Weil der Autor der Zuschrift aber offenbar nur diese Seite von mir kennt, verallgemeinert er und reduziert mich auf diesen einen ihm bekannten Teil. Und wenn er mir an einer anderen Stelle davon abrät, mich mehr oder weniger einer Meinung anzuschließen, dann ist das eine unbegründete Unterstellung, weil er nicht zu wissen scheint, wie genau ich auf meine Meinung komme, da er ja anscheinend meinen Hintergrund nicht kennt. Weil aber er selbst bei mir keine fachliche Kompetenz, also Autorität, vermutet und mich unter anderem deswegen für weniger glaubwürdig hält, liegt der Verdacht nahe, dass er selbst sich gerne auf die Autorität von Experten oder vielleicht auch vermeintlichen Experten verlässt und sich ihrer Meinung anschließt. In dem Fall würde es sich bei seinen Unterstellungen um eine Projektion der eigenen mangelnden Fachkenntnis und Autoritätshörigkeit auf andere handeln.
Selbstbild und Selbstüberschätzung
Interessant ist in diesem Zusammenhang noch ein anderer Satz aus der Zuschrift: Es gäbe bei mir Faktenbehauptungen, bei denen der Schreiber im Gespräch „sofort eingehakt hätte“. – Interessant ist der Satz deswegen, weil der Schreiber sich zutraut, „sofort einhaken“ zu können, wo sein eigener Umgang mit Fakten (wie wir am Beispiel von Bandera und meiner Ausbildung gesehen haben) sich doch eher als lückenhaft erweist. Es kann natürlich sein, dass seine Faktenkenntnisse in anderen Bereichen besser sind, aber angesichts der bisherigen Beobachtungen scheint der Schreiber seine Kompetenzen eher zu überschätzen – der Dunning-Kruger-Effekt lässt grüßen.
Über seine Kenntnis des Videos, das er kritisiert, sagt er außerdem Folgendes: Er hätte den Anfang gesehen und es dann „etwas überflogen“. – Der Schreiber der Zuschrift kritisiert also fünf Seiten lang etwas, mit dem er sich eigenen Angaben zufolge gar nicht richtig auseinandergesetzt hat. Diese Lückenhaftigkeit erinnert an seinen Umgang mit der Faktenlage. Dass er sich die Linkliste bzw. Lektüre- und Videotipps, die ich dem Video beigefügt hatte, auch nur angesehen hat, bezweifle ich erst recht. Er lehnt meine Ausführungen also ab, ohne ihnen eine richtige Chance gegeben zu haben. Möglicherweise passiert das, weil sie ihm unangenehm sind. Er empfiehlt mir nämlich:
Ich solle mich in die Lage von jemandem versetzen, der meine Meinung nicht teilt. Ob ich ein Video anschauen wolle, in dem mir jemand drei Stunden lang „wütend“ erklärt, warum ich „im Unrecht“ sei?
Erstens habe ich mir durchaus schon Videos angeschaut, in denen gewisse wütende Ukrainer meinesgleichen mit dem Tod drohen, und ich wurde auch schon wiederholt ganz persönlich in den Kommentaren für meine Meinung beleidigt, weiß also absolut, wie sich das anfühlt. Zweitens bin ich in dem Video nicht durchgängig wütend, sondern gehe als von Natur aus emotionaler Mensch, der beim Reden leicht in Rage kommt, durch eine ziemliche Bandbreite von Gefühlen – schaue Dir das Video selbst an, um das zu überprüfen. Drittens könnte man spekulieren, ob diese Aufforderung nicht ein Hinweis darauf ist, dass der Autor der Zuschrift jemand ist, der sich gerne im Recht sieht, also in seinem Realitätstunnel ein bestimmtes Selbstbild von Kompetenz und Klugheit pflegt und dieses durch mein Video unterbewusst bedroht sieht. Denn dass er sich gerne als intelligent inszeniert, zeigen zum Beispiel seine etwas fehlplatzierten Belehrungen über das kritische Hinterfragen der positiven Reaktionen zu meinen Vlogs. Dabei frage ich mich, warum ich seiner Meinung nach überhaupt die Umfrage zu den Vlogs gemacht habe, wenn nicht um zu prüfen, inwiefern die positiven Reaktionen als repräsentativ gelten können.
Überhaupt scheint der Schreiber nicht verstanden zu haben, worum es mir bei dem Video ging, was sich aber mit der nur flüchtigen Kenntnis des Videos erklären ließe. Ich sprach davon, dass ich Angst habe, buchstäblich, weil ich hier in Deutschland – wie ich eine halbe Stunde lang ausgeführt habe – Rassismus erlebt habe und seit dem 24. Februar 2022 eine Eskalation beobachte. Ich beobachte in Deutschland Prozesse, die mir Sorge bereiten, eben auch um meine eigene Sicherheit. Ich packe eine Diplomarbeit, Zeitungsartikel und anderes in die beiliegende Linkliste, um zu zeigen, dass nicht nur ich den antirussischen (und generell antislawischen) Rassismus beobachte. Dass ich meine Sicht auf den Ukraine-Krieg darlege, ist nur Mittel zum Zweck, um auf die gefährlichen Entwicklungen in Deutschland aufmerksam zu machen, zum Hinterfragen anzuregen und zu Menschlichkeit im Miteinander aufzurufen. Der Autor der Zuschrift hingegen gibt mir Ratschläge, wie ich meine „starke Meinung“ am besten präsentieren soll und tut meine Rassismuserfahrungen ab mit den Worten:
Ich könne zwar über eigene Erfahrungen berichten, aber ich hätte, „bei allem Respekt“, keine „echte, also wissenschaftliche, Expertise“. Das Problem mit Erfahrungen sei, dass andere Menschen andere Erfahrungen hätten. Er selbst, in Deutschland geboren, wie er in Klammern zugibt, hätte sowas wie die von mir beschriebenen rassistischen Ausfälle meiner Grundschullehrerin noch nicht gehört. Dafür nehme er „dumpfesten Antiamerikanismus“ wahr.
Abgesehen davon, dass Relativierung keine emotional kompetente Art ist, mit jemandem umzugehen, der von eigenen rassistischen Erfahrungen spricht, brauche ich keine wissenschaftliche Expertise, um von bewussten Erfahrungen, echten Geschichten aus meinem und dem Leben meiner Angehörigen zu erzählen. Es kann natürlich sein, dass ich etwas falsch verstanden habe, denn auch ich lebe ja in einem Realitätstunnel, aber generell ist doch jeder Mensch, der nicht an Amnesie leidet, sozusagen der weltweit führende Experte, wenn es um sein Leben und seine Erfahrungen geht. Die Existenz anderweitiger Erfahrungen widerlegt auch nicht meine Erfahrungen, weil unterschiedliche Erfahrungen wunderbar nebeneinander existieren können, sich also nicht gegenseitig ausschließen. Man kann höchstens über mögliche andere Ursachen als Rassismus nachdenken, aber an den Erlebnissen selbst ändert das nichts. Außerdem – und das scheint meinem Kritiker durchaus bewusst zu sein, weil er einen Einschub in Klammern einfügt – fehlt einem, wenn man nicht selbst betroffen ist oder sich intensiv mit dem Thema auseinandersetzt, oft die notwendige Sensibilität, um solche Dinge wie Rassismus und andere Formen von Diskriminierung gegen bestimmte Gruppen wahrzunehmen.
Auch hier stellt sich der Eindruck ein, dass der Autor der Zuschrift etwas partout nicht sehen will, geschweige denn sich damit auseinandersetzen. Und an sich ist es ja auch absolut okay, sich mit etwas nicht auseinandersetzen zu wollen. Ich kann und will niemanden zwingen, mir zuzuhören. Das Video lässt sich ganz leicht wegklicken. Aber mein Kritiker geht noch einen Schritt weiter und lädt im Grunde seinen Unwillen bei mir ab, verteidigt aktiv seinen Realitätstunnel. Er tut es in einem sachlichen, höflichen Ton und macht sich sogar Sorgen um meine Gesundheit. Und er weiß auch, dass seine Kritik auf wackeligen Beinen steht:
Mein Video zum Thema Ukraine hätte er angefangen, aber für eine wirklich faire Beurteilung müsste er die drei Stunden am Stück sehen. Dazu habe er bisher keine Zeit gefunden.
Trotzdem ließ er es sich aber nicht nehmen, ganze fünf Seiten zu schreiben. Wieso schreibt man fünf Seiten Kritik, wenn man weiß, dass sie eh nicht fair sein kann? Was bei mir ankommt, ist deswegen nicht der Versuch einer fairen Kritik und Hilfeleistung (auch wenn mein Kritiker wahrscheinlich ehrlich und aufrichtig glaubt, dass das seine Absicht war), sondern der Eindruck, dass mein Kritiker in Wirklichkeit und vermutlich unbewusst mir gegenüber zumindest einen Teil seiner – wie er selbst weiß – unqualifizierten Meinung loswerden wollte. Dass er auf ihr beharren, mir regelrecht ins Gesicht reiben will, dass meine Meinung unqualifiziert ist und er sie nicht hören möchte. Wenn er nur geschrieben hätte, er hätte ganz subjektiv einfach keine Lust auf weitere politische Vlogs, hätte ich damit kein Problem gehabt: Genau das wollte ich mit meiner Umfrage ja herausfinden. Aber er spricht mir die Kompetenz ab, ohne selbst die Kompetenz dafür zu haben, er versucht, meine rassistischen Erfahrungen zu relativieren, und er kommt mit unqualifizierten Belehrungen und ungebetenen Ratschlägen. Das ist durchaus eine Form von Aggression, gerichtet an mich persönlich, auch wenn es dem Täter nicht bewusst zu sein scheint.
Meine Überreaktion und wichtige Lehren
Und weil ein Teil seiner Kritik darin zu bestehen scheint, seine eigene Inkompetenz auf mich zu projizieren und die fachliche Auseinandersetzung von vornherein abzulehnen, stellte sich beim Lesen der Zuschrift ein sehr bitterer Beigeschmack bei mir ein. Ich glaubte und glaube immer noch, genau der Art von Mensch gegenüberzustehen, vor der ich Angst habe: dem Mitläufer, der vom Unangenehmen nicht behelligt werden möchte. Der auf Autoritäten hört und konträre Meinungen für nicht beachtenswert hält. Der seine Kompetenzen überschätzt und sich selbst für informierter hält, als er ist, seinen kognitiven Blockaden ausgeliefert ist und es somit übersehen oder sogar aktiv wegsehen wird, wenn direkt vor seiner Nase schreckliche Dinge passieren bzw. wenn man ihn darauf hinweisen will. Dabei ist er stets freundlich und anständig, hilfsbereit und empathisch. Und wenn man ihn später mit den schrecklichen Dingen und ihren Folgen konfrontiert, heißt es, er habe von nichts gewusst.
Meine emotionale Reaktion war definitiv übertrieben, und die Zuschrift enthält, wie gesagt, auch absolut legitime Punkte. Erklären lässt sich mein Ausbruch aber vor allem durch meine Enttäuschung, dass selbst im Kreis meiner eingefleischtesten Leser und Zuschauer solches Mitläufertum anzutreffen ist. Also durch die Erkenntnis, dass ich selbst im Kreis von meiner Community im Zweifelsfall nicht sicher bin. – Und da meinte der verschreckte Affe in meinem Gehirn: Wozu dann überhaupt eine Community unterhalten? Ich habe diesen Affen aber in den Griff bekommen, würde ich sagen, und dabei viel gelernt:
- Erstens ist meine Community sehr vielfältig und eine Zuschrift ist nicht stellvertretend für alle. Unser Hirn neigt tatsächlich dazu, Negatives mehr zu bemerken als Positives, weil ein potentieller Säbelzahntiger im Gebüsch überlebenstechnisch wichtiger ist als ein schönes Blumenfeld. Trotz dieser Erklärbarkeit bleibt eine kognitive Verzerrung aber eine kognitive Verzerrung und man sollte nie vergessen, dass sie eben nicht die Wahrheit spiegelt.
- Zweitens bedeutet eine Enttäuschung vor allem, dass ich mich selbst getäuscht habe. Ich habe die Menschen pauschal für etwas gehalten, das sie nicht sind. Und als mein Realitätstunnel durch diese Zuschrift zumindest in dem einen Punkt zerfallen ist, tat es natürlich weh. Es war aber nicht die Schuld meines Kritikers, dass ich mich selbst getäuscht habe. Er hat sich einfach nur nach bestem Wissen und Gewissen mitgeteilt, und ich habe um das Feedback ja selbst gebeten, wohl wissend, dass übers Internet eigentlich alles Mögliche und Unmögliche hereinflattern kann.
- Drittens hat mich meine emotionale Reaktion veranlasst, die Zuschrift später in Ruhe zu analysieren und zu ermitteln, wer welche Fehler gemacht hat und warum. Mit den Themen zu diesem Artikel hatte ich mich auch davor schon intensiv befasst, aber es war nochmal ein kräftiger Schub.
- Viertens zeigt die ganze Situation mit der Zuschrift, dass wir alle Teil des Problems sind. Mein Kritiker ist mit seinen von mir vermuteten Mitläufertendenzen zwar nicht stellvertretend für meine Community, aber statistisch gesehen – also ausgehend von dem Prozentsatz, der zum Beispiel im Nationalsozialismus tatsächlich Widerstand geleistet hat – sind so ziemlich die meisten Menschen auf die eine oder andere Weise Mitläufer und Opportunisten. Das ist absolut normal. Wer sagt also, dass ich nicht auch eine Mitläuferin bin? Wenn ich in meinem eigenen Realitätstunnel stecke und ebenso Täuschungen und Denkfehlern unterliege, wie meine Reaktion ja gezeigt hat, dann ist es ganz natürlich, dass ich selbst das nicht so wahrnehme.
Aber wenn wir alle in unseren Realitätstunneln gefangen sind – wen wundert es da, dass die Gesellschaft sich immer weiter spaltet? Uns allen bereitet diese Entwicklung zu Recht Sorgen. Aber haben wir nicht alle eine Teilschuld daran?
Gesellschaftliche Spaltung, Krieg, Hass: Wir alle sind schuld
Natürlich will niemand die gesellschaftliche Spaltung. Wie können wir also alle daran schuld sein? – Ganz einfach: weil jeder glaubt, einigermaßen den Durchblick zu haben, aber kaum einer ihn wirklich hat.
Wissenschaftlicher Diskurs
Viele Menschen gestehen sich zwar ein, dass sie selbst nicht genug Kompetenz haben für einen Durchblick, aber wenn sie sich jemanden suchen, der sich ihrer Meinung nach auskennt, und seine Einstellungen übernehmen, machen sie es nicht besser. Dass auch „die Wissenschaft“ nicht zu 100 Prozent verlässlich ist, habe ich ja schon im ersten Teil angesprochen. Und weil ich selbst aus der Geschichtswissenschaft komme, kann ich hier ein praktisches Beispiel anführen:
Meiner Beobachtung nach denken die meisten Historiker – und Wissenschaftler generell – außerhalb ihrer süßen, kleinen, sehr eingeschränkten Fachbereiche überhaupt nicht wissenschaftlich und haben somit oft unhinterfragte Glaubenssätze, schlimmstenfalls gepaart mit einem Selbstbild von überdurchschnittlicher Intelligenz, also einem aufgeblasenen Ego, das das kritische Denken einschränkt. Was ich damit meine, ist: Immer wieder müssen Historiker in ihrer Forschung auf Gebiete zurückgreifen, die eben nicht zu ihrer Expertise gehören, um Zusammenhänge herzustellen, ihre Erkenntnisse in Kontexte einzuordnen und so weiter. Weil aber kein Historiker allwissend ist, sind sie darauf angewiesen, auf die Forschung ihrer Kollegen zurückzugreifen und sie zu zitieren. Dabei müssten sie im Idealfall die zitierten Werke und deren Quellen nach allen Methoden der Quellenkritik zerlegen. Genau dieser Schritt kommt oft aber zu kurz. Das Ergebnis davon ist zum Beispiel, dass viele der heute verbreiteten Vorstellungen vom Mittelalter nichts weiter sind als Klischees und Mythen aus der Frühen Neuzeit, weil einige Leute damals ihre verdrehten Vorstellungen aufgeschrieben haben und in den späteren Jahrhunderten unhinterfragt zitiert wurden. Dabei sahen die Arbeiten immer sehr seriös aus und nur, wenn man die Kette von Zitaten von Zitaten von Zitaten verfolgte, kam man schließlich zum Ursprung dieser Mythen und begriff, dass die bisherigen jahrhundertelangen Klischeevorstellungen vom Mittelalter unbelegte Behauptungen oder Missverständnisse sind. Deswegen ist die Mediävistik – unter anderem dank Forschern wie Susan Reynolds – in den letzten Jahrzehnten dabei, diese Klischeevorstellungen zu korrigieren; aber im allgemeinen Bewusstsein leben sie immer noch weiter, weil sie jahrhundertelang kultiviert wurden.
Die erste und wichtigste Lektion meines Geschichtsstudiums bestand darin, dass uns Erstsemestern explizit verkündet wurde, dass wir am besten alles vergessen sollen, was wir in der Schule über Geschichte gelernt haben. In anderen Bereichen, zum Beispiel den Naturwissenschaften, kann man zwar schon eher mit handfesten, objektiven Phänomenen arbeiten, aber auch da gab es in der Vergangenheit oft genug Irrtümer. Und jedes Mal, wenn „die Wissenschaft“ sich geirrt hatte, es aber noch nicht wusste, dachte sie, sie hätte den Durchblick. Wenn wir also einfach annehmen, „die Wissenschaft“ heute hätte definitiv den Durchblick, dann machen wir exakt denselben Fehler wie unsere Vorfahren:
So klingt es zum Beispiel zunächst überzeugend, wenn wir immer wieder aus seriösen Quellen gesagt bekommen, 97 Prozent der Wissenschaftler seien sich einig, dass der Klimawandel größtenteils menschengemacht ist. Wenn wir dem aber einfach glauben, dann ist das ein quasi-religiöser Glaube, weil wir die Aussagen ja nicht überprüft haben. Um also nicht in dieselbe Falle zu tappen wie unsere Vorfahren, müssten wir uns zunächst fragen, ob es sich bei dieser Aussage um die eigenen Erkenntnisse dieser seriösen Quellen handelt oder ob sie einfach nur fremde Erkenntnisse zitieren. Wenn es sich um die eigenen Erkenntnisse handelt, dann gehen wir hin und überprüfen die Methodologie, also inwiefern hier überhaupt sauber gearbeitet wurde. – Nicht, weil wir die Aussagen partout widerlegen wollen, sondern weil kritisches Denken das erfordert. Wenn die Methodologie unserer Überprüfung standhält, können wir die Schlussfolgerungen guten Gewissens als legitim ansehen.
Wenn wir aber herausfinden, dass die Aussage nicht auf eigenen Untersuchungen beruht, sondern ein Zitat darstellt, gehen wir zur zitierten Quelle und überprüfen diese. Und auch hier gilt: Wenn sie unserer Überprüfung standhält, können wir guten Gewissens Beifall klatschen.
Gleichzeitig sollten wir aber nicht vergessen, auch bei den Kritikern dieser Aussage vorbeizuschauen: Denn sie könnten uns auf wichtige Punkte hinweisen, die wir noch nicht bedacht haben. Dabei müssten wir natürlich auch die Aussagen der Kritiker kritisch zerlegen, um zu prüfen, was an ihnen dran ist und was nicht. So lautet einer der Kritikpunkte an der Aussage, 97 Prozent der Wissenschaftler seien sich einig, dass der Klimawandel größtenteils menschengemacht ist, in etwa so: „Solche Behauptungen berufen sich für gewöhnlich auf die Metastudie von John Cook.“ Hier wäre also zu überprüfen, ob das wirklich stimmt, indem man eben guckt, welche Quellen für die Behauptung von den 97 Prozent der Wissenschaftler herangezogen werden. Wenn es nicht stimmt, zerfällt der Kritikpunkt. Wenn das stimmt, dann müssen wir die Metastudie von John Cook prüfen. Wenn diese Metastudie sich als methodologisch sauber erweist, dann haben wir die Bestätigung, dass die Aussage von den 97 Prozent der Wissenschaftler korrekt ist. Wenn die Metastudie sich als methodologisch unsauber erweist, dann erweisen sich auch all die seriös wirkenden Quellen, die sich auf sie berufen, als methodologisch unsauber. – Und genau hier setzt die ernsthaftere Kritik jenseits von Parolen an: Die Metastudie von John Cook ist nicht unumstritten, wie die NZZ übrigens kurz nach Erscheinen der Studie berichtete, und deswegen müsste jemand, der sich eine eigenständige Meinung bilden will, sich die ganze Diskussion um die Methoden dieser Metastudie vorknöpfen und sie selbst prüfen und notfalls sogar nachrechnen. Nebenbei findet man bei einer solchen Herangehensweise auch heraus, wo all die Irrtümer der einen oder anderen Seite eigentlich herkommen, und hat später, wenn man zu dem Thema diskutiert, bessere Argumente, weil man das Thema ja bis zum Ursprung nachverfolgt hat.
Jetzt schätze mal, wie viele Menschen, inklusive Wissenschaftler, dieses Prozedere wirklich durchmachen. – So gut wie niemand. Wir alle zitieren Aussagen, die wir, ausgehend von unserem jeweiligen Realitätstunnel, für glaubwürdig halten. Und nun stell Dir vor:
Fritzchen hat in einer als seriös geltenden Zeitung gelesen, 97 Prozent der Wissenschaftler seien sich einig, dass der Klimawandel größtenteils menschengemacht ist. Dabei ist er jemand, der der Zeitung grundsätzlich vertraut, weil sie zu seinem Realitätstunnel passt. Lieschen hingegen hat ein prinzipielles Misstrauen gegenüber den Leitmedien und recherchiert deswegen im Internet. Dabei wird sie auf Kritik an der Metastudie von John Cook aufmerksam, und weil sie Kritik an dem, was in den Leitmedien berichtet wird, tendenziell toll findet, begegnet sie auch dieser Kritik mit Sympathie und glaubt ihr, eben weil sie zu ihrem Realitätstunnel passt. Sowohl Fritzchen als auch Lieschen sind überzeugt, sich aus vertrauenswürdigen Quellen informiert zu haben, und halten den jeweils anderen für einen naiven Spinner. Schlimmstenfalls zerbricht sogar ihre Freundschaft. Und dann passiert das nicht nur zwischen Fritzchen und Lieschen, sondern auch bei vielen anderen Menschen. Am Ende wundern sich dann alle über die gesellschaftliche Spaltung. Dabei hätte sie verhindert werden können, wenn die Fritzchens und Lieschens dieser Welt aufeinander zugegangen wären und sich zusammen auf das vorhin geschilderte Prozedere eingelassen hätten und zu gemeinsamen Erkenntnissen gekommen wären.
Grundwissen und Vorurteile
Leider läuft es in der Realität, wie gesagt, nur selten so. Meistens verstehen Menschen nicht, was sie nicht verstehen oder dass sie überhaupt etwas Wichtiges nicht verstehen, sind aber sehr von sich überzeugt, fällen rasch Urteile und werden mitunter sogar aggressiv. Denn sie unterliegen dem Dunning-Kruger-Effekt. Und dann kann man ihnen oft auch nichts erklären: Jemand, der nicht einmal die Grundlagen eines Themas beherrscht, wird auch die Details nicht verstehen. – Er wird sie für absurd halten.
So fällt mir zum Beispiel auf, dass alles und jeder eine Meinung zu Geopolitik hat, aber kaum jemand sich mit geopolitischen Prinzipien beschäftigt hat. Ich für meinen Teil bin auch keine Expertin, aber ich hatte schon immer ein starkes Interesse an Geopolitik, daher auch mein Geschichtsstudium und meine Faszination für Machiavelli und andere Staatstheorien sowie Machtsysteme generell. Und ich habe ja auch nichts dagegen, wenn jemand zum Beispiel zum Ukraine-Konflikt eine andere Meinung hat als ich, solange sie begründet ist. Doch oft kennen meine Diskussionspartner nicht einmal die Heartland-Theorie von Halford Mackinder. Um da wenigstens eine Chance zu bekommen, jemanden wirklich zu überzeugen, müsste ich also einen Geschichtsvortrag halten, der mindestens bis ins 19. Jahrhundert zurückreicht. Wie Du Dir denken kannst, sind gewöhnliche Diskussionen, wie man sie im Alltag so führt, dazu maximal ungeeignet. Man erntet höchstens ein herablassendes Lächeln.
Ein weiterer Faktor ist, dass Menschen meistens nicht bewusst wissen, woran sie tatsächlich glauben, also welche Vorurteile sie haben und zu welchen Bestätigungsfehlern sie neigen. Unterbewusster Rassismus ist ein gutes Beispiel: Man kann rassistische Vorurteile hegen, selbst wenn man Freunde aus den entsprechenden Gruppen hat. Tatsächlich gab es sogar überzeugte Nazis, die jüdische Freunde hatten. Und es ist auch möglich, dass Menschen unterbewusst an rassistische Klischees über ihre eigene Gruppe glauben – das bezeichnet man als internalisierten Rassismus. Und weil das Ganze, wie gesagt, unterbewusst läuft, kommen Betroffene gar nicht erst auf die Idee, ihre Einstellungen zu hinterfragen.
Nehmen wir zum Beispiel Kläuschen, der Professor für Fantasiestankunde ist. Er hat sehr viele Freunde in Fantasiestan, kennt ihre Kultur und ist sogar mit einer Fantasiestanerin verheiratet. Aber als er in der Zeitung von einem Verbrechen liest und erfährt, dass ein Fantasiestaner verdächtigt wird, neigt er, ohne dass ihm alle Beweise und Gegenbeweise vorliegen, rein intuitiv zu der Annahme, dass der Fantasiestaner das Verbrechen wahrscheinlich tatsächlich begangen hat. Und so kommt es, dass sich hinter einer Fassade von Liebe für Fantasiestan, an die Kläuschen selbst hoch und heilig glaubt, ein Bündel von rassistischen Klischees verbirgt. Seine Frau und seine fantasietsanischen Freunde bestätigen ihn dabei, denn sie stammen innerhalb Fantasiestans aus einem Milieu, das Fantasiestan gegenüber kritisch eingestellt, aber für Fantasiestan nicht unbedingt repräsentativ ist. So in etwa ist zumindest mein Eindruck von Teilen der deutschen Osteuropa-Forschung, die im Übrigen traditionell eine Feindesforschung ist: Die heutigen Osteuropa-Professoren sind vom Jahrgang her buchstäblich Kinder des Kalten Krieges, und studiert haben sie bei buchstäblichen Kindern des Nationalsozialismus, was unterbewusste Rassismen zumindest nicht ausschließt.
Das wiederum ist ein fruchtbarer Boden für Feindbilder. Wenn man tief in seinem Inneren und unterbewusst an negative Klischees glaubt, dann gibt es die Gefahr, dem umgekehrten Halo-Effekt zu unterliegen. Wenn wir beim gewöhnlichen Halo-Effekt Menschen mit positiven Eigenschaften auch alle anderen positiven Eigenschaften der Welt unterstellen, dann unterstellen wir beim umgekehrten Halo-Effekt den Menschen alle möglichen negativen Eigenschaften, weil wir bei ihnen eine negative Eigenschaft zu beobachten glauben. Wenn dieser umgekehrte Halo-Effekt sich auf ganze Menschengruppen ausweitet, dann sind wir eben bei Feindbildern, bei denen kein gutes Haar an der als Feind angesehenen Gruppe gelassen wird. Dabei kann sich das Feindbild immer mal wieder beruhigen und bei Bedarf wieder aufgewärmt werden, wie es beim deutschen Rassismus gegen das Slawische und Osteuropäische generell im Verlauf der Geschichte in mehr oder weniger regelmäßigen Abständen der Fall war: angefangen spätestens mit den Kriegen der Ottonen gegen die Westslawen, über den Wendenkreuzzug und das Treiben des Deutschritterordens, die Kolonisierung von Teilen Osteuropas und den Sklavenhandel, über die Teilnahme deutscher Truppen an den Feldzügen unterschiedlicher westlicher Mächte gegen Russland, über die beiden Weltkriege und den Genozid und die Versklavung im Zweiten Weltkrieg bis hin zur Weiterpflege des Feindbilds im Kalten Krieg und seinem Wiederaufflammen heute. Einen deutschen „Drang nach Osten“ scheint es also tatsächlich zu geben.
Natürlich hat es auch viele positive Interaktionen zwischen Deutschen und Slawen sowie anderen Osteuropäern gegeben, aber selbst wenn man das Positive und Negative nebeneinander betrachtet, scheinen da wie ein roter Faden ein Überlegenheitsgefühl und ein ewiger zivilisatorischer Anspruch von deutscher Seite durch. Dabei schlägt er sich ganz subtil sogar in kulturellen Erzeugnissen nieder, die eigentlich ganz andere Themen behandeln:
So ist Liebe Renata von Else Hueck-Dehio ein wunderschöner Entwicklungs- und Liebesroman über ein junges Mädchen des deutschen Bürgertums in Estland kurz vor und während des Ersten Weltkriegs. Die Baltendeutschen, Bürgerliche wie Adelige, sind ausgesprochen stolz auf ihre Kultur und ihr Vermächtnis, ungeachtet dessen, mit wie viel Leid und Blut die Eroberung des Baltikums durch die Deutschen verbunden gewesen war und dass die einheimischen Esten nie darum gebeten hatten, von ihnen kolonisiert und in ihrem eigenen Land zu Bürgern zweiter Klasse degradiert zu werden. Als die baltendeutsche Idylle voller Feste, Wohlstand und Macht sich dem Ende neigt – erstens, weil Estland damals Teil des Russischen Reiches war und dort während des Ersten Weltkriegs eine starke antideutsche Stimmung herrschte, und zweitens, weil die Deutschen im Baltikum die Oberschicht bildeten und im Zuge der Russischen Revolution als solche verfolgt wurden, – trauern sie ihrem Status als „Stamm von Führern und Herren“ hinterher und über „das endgültige Ende deutschen Wirkens“ in diesem Gebiet. Während ich mit den Figuren absolut mitfühle (Repressalien bleiben nun mal Repressalien), kann ich als geschichtskundige russische Bürgerin nicht anders, als ihre – durchaus nachvollziehbare – Gefangenschaft in ihrem germanozentrischen Realitätstunnel zu bemerken: Wenn sie Generation für Generation mit einer bestimmten Denkweise aufgewachsen sind und diese Denkweise nie ernsthaft infrage gestellt wurde, wie sollen sie denn überhaupt eine andere Perspektive einnehmen können?
Nun ist Liebe Renata ein Buch von 1955 – heute ist es anders … oder? Im Mai 2022 schockierte die russische Vloggerin Nadja vom Kanal Seljavi, die viele Jahre in Deutschland und Frankreich gelebt, gearbeitet und Kinder aufgezogen hat und nun über das Leben in diesen Ländern erzählt, ihre russischsprachigen Zuschauer mit ihrer Besprechung des Romans Tschick von Wolfgang Herrndorf aus dem Jahr 2010. Obwohl sie das Buch in vielen Punkten lobt, geht sie auch auf die rassistische Darstellung der Russen im Zweiten Weltkrieg in diesem Roman ein, die zwar aus dem Mund eines ehemaligen deutschen Soldaten kommt, der aber insgesamt eine positive Figur darstellt und dessen Erzählung im Roman unhinterfragt stehen bleibt. Auch die Darstellung des russlanddeutschen Deuteragonisten Tschick bemängelt Nadja, weil sie voller Klischees ist. Zwar ist er eine positive Figur, aber bei all den Klischees und der rassistischen historischen Darstellung der Russen käme eher rüber, dass die Russen individuell zwar tolle Menschen sind, aber eben aus Grausamkeit und Unzivilisiertheit kommen. – Ich für meinen Teil kann bestätigen, dass dies ein durchaus häufiges Narrativ ist unter Deutschen, die sich selbst für russenfreundlich halten. Es ist also ein Fall von rassistischen Klischees hinter einer Fassade von Toleranz und Freundlichkeit.
Und wenn es positive Bilder der Russen und Osteuropäer generell gibt, dann wissen die Menschen oft nicht, was dahinter steckt: Oder weißt Du etwa, dass Frédéric François Chopin bzw. Fryderyk Franciszek Chopin halber Pole war? Weißt Du, dass der Schriftsteller Joseph Conrad, eigentlich Józef Teodor Nałęcz Konrad Korzeniowski, sogar vollständiger Pole war und erst mit Anfang zwanzig Englisch gelernt hat? Wie viele polnische Literaturnobelpreisträger kennst Du? Und weißt Du, dass die Statue „Der Befreier“ beim Sowjetischen Ehrenmal in Berlin, die einen sowjetischen Soldaten mit einem deutschen Mädchen auf dem Arm zeigt, möglicherweise ein reales Vorbild hatte, nämlich den Soldaten Nikolaj Masalov, der während der Schlacht um Berlin ein deutsches Kind gerettet hatte – und das nach einem Vernichtungskrieg, nach einem Genozid an seinem Volk durch die Deutschen inklusive der sadistischen Ausrottung ganzer Dörfer und dem Blick in das ein oder andere befreite Konzentrationslager? – Und dann haben manche Deutsche immer noch den Nerv, den Russen und Osteuropäern generell die Zivilisiertheit abzusprechen.
Und komm mir bitte nicht mit den Vergewaltigungen deutscher Frauen durch sowjetische Soldaten: Vergewaltigungen und andere Kriegsverbrechen haben im Zweiten Weltkrieg alle Parteien begangen, auch die West-Alliierten und vor allem auch die Deutschen selbst. Das einseitige Herumreiten auf den Verbrechen beim Einmarsch der Sowjets in Deutschland basiert also auf Fakten, aber diese wurden zwecks Nazi- und Kalter-Krieg-Propaganda aufgeblasen, während die Verbrechen der anderen Parteien gern unter den Teppich gekehrt wurden. Die positiven und heroischen Seiten der Sowjetarmee wurden ebenfalls in den Hintergrund gerückt. Die absolut tragischen historischen Fakten wurden also – wie ich befürchte – missbraucht, um ein rassistisches Feindbild aufrechtzuerhalten. Könnten wir uns also bitte darauf einigen, dass es in keinem Krieg eindeutige Engel und Dämonen gibt und jede Partei sowohl verbrecherische als auch ehrenhafte Seiten hat? Aber eine Welt ohne dumme Feindbilder wäre ja auch zu schön …
Propaganda und Hassprediger
Doch wir leben nun mal nicht in einer perfekten Welt. – Und nun stell Dir vor, es gibt einen neuen Konflikt und alle Seiten graben ihre alten Feindbilder aus. Es entsteht eine Propagandaschlacht, in der jeder vor allem der Seite glaubt, die am ehesten mit seinem Realitätstunnel übereinstimmt. Und weil es in unserer Zeit dabei auch um mediale Präsenz geht, um auf den Einzelnen Gruppendruck im Sinne des Asch-Experiments auszuüben, wo die Teilnehmer sich entgegen ihrer eigenen Wahrnehmung der Mehrheit angeschlossen haben, versucht man, vor allem in den sozialen Medien das eigene Narrativ zu pushen und das feindliche wegzuzensieren, unter anderem durch eine Brandmarkung als „Desinformation“. Denn wer medial präsenter ist, dem schließen sich die Mitläufer an. Und wenn das dann auf allen Seiten stattfindet und sich geschlossene, nahezu unüberwindbare Informationsblasen bilden und in der Cancel Culture ihre Vollendung finden, wen wundert es da, dass die Menschen sich immer weiter aufstacheln, zu Diskussionen nicht mehr bereit sind und irgendwann womöglich sogar aggressiv, gewaltverherrlichend oder gar straffällig werden, ohne es zu merken?
So durfte ich die Erfahrung machen, dass es Menschen gibt, die wirtschaftliche Sanktionen als gut, richtig und geradezu human empfinden. Ich bezweifle, dass den meisten von diesen Menschen bewusst ist, dass einseitige Sanktionen, wie westliche Länder sie gerne verhängen, laut einer Resolution des UN-Menschenrechtsrates völkerrechtswidrig sind, weil sie die komplette Infrastruktur eines Landes lahmlegen können, was wiederum zu Hunger, mangelhafter medizinischer Versorgung und generell katastrophalen Lebensbedingungen führt. Einseitige Sanktionen sind also keineswegs human, sondern ein Angriff auf die Menschenrechte eines ganzen Volkes. Und sowas finden Befürworter von Sanktionen toll – denn sie wissen offenbar nicht, was sie tun.
Spaltend wirken übrigens auch die einzelnen Prediger der verschiedenen Propagandarichtungen, selbst wenn sie selbst gar nicht merken, dass sie als Hassprediger fungieren. Von meinen eigenen Zuschauern weiß ich zum Beispiel, dass es zumindest einige gibt, die Videos von Alexander Prinz schauen. Nachdem sein YouTube-Kanal Der Dunkle Parabelritter mit Kurzfilmen, Comedy und Videos rund um Metal groß geworden war, wandte er sich Ende 2021 politischen und gesellschaftlichen Themen zu. Das ist ein ziemlicher Schwenk, so von Unterhaltung zu Politik, zumal er auch – um mal nach meinem KreativCrew-Kritiker mit seinem argumentum ad hominem von vorhin zu gehen – keinerlei fachliche Qualifikation besitzt, da er „nur“ Deutsch und Geografie auf Lehramt studiert hat, nicht Politik‑, Geschichts- oder Wirtschaftswissenschaften. Eine fehlende „offizielle“ Bildungsqualifikation muss einem aber nicht im Wege stehen, sich in einem Bereich wirklich auszukennen: So gibt es zum Beispiel viele Menschen, die äußerst talentierte Autodidakten sind. Worauf es eher ankommt, ist letztendlich die Qualität der Videos. Und während Prinz mit der technischen Qualität überhaupt keine Probleme hat und seine Performance vor der Kamera selbstbewusst und charismatisch ist, strotzt sein Content vor inhaltlichen und methodologischen Mängeln.
Nehmen wir zum Beispiel sein Video „Wir müssen über Frieden reden!“, in dem er über die Friedensdemo von Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer im Februar 2023 redet. Etwa ab Minute 21:47 geht es um den Moment, als auf der Demo von den Behörden verordnete Regeln verlesen werden wie zum Beispiel das Verbot der pro-russischen und sowjetischen Symbolik und anderer Aspekte des eher pro-russischen Narrativs, die als Kriegsverherrlichung abgestempelt werden. In der Menge hört man Lachen, Buhen und Pfeifen. In Prinz‘ Video steht das im Kontext von Beweisen bzw. vermeintlichen Beweisen einer starken Präsenz rechter Gruppen auf der Demo. Daraufhin stellt Prinz folgende Frage:
„Hat man eigentlich eine Kontaktschuld, wenn man mit Nazis auf die Straße geht, auch wenn man für das gleiche Ziel eintritt und das ja eigentlich gut sein soll? Ich frag mal anders: Wenn du dieselben Ziele hast wie die Nazis, solltest du dich nicht generell hinterfragen, was bei dir gerade falsch läuft?“
Mit anderen Worten: Prinz hat in dem Clip von der Verlesung der Regeln eindeutige Anzeichen von Nationalismus gesehen und stellt seine Sichtweise als objektive Wahrheit dar. Dass das jedoch gefährlich ist, haben wir bereits im ersten Teil der Reihe am Fritzchenbeispiel gesehen, wo Fritzchen ehrlich und aufrichtig falsche Angaben macht, weil er einfach nicht verstanden hat, was er da gesehen hat. Prinz selbst kann noch so sehr überzeugt sein, auf der Demo Nazis gesehen und gehört zu haben – bei der Menge von Menschen lässt es sich auch sicherlich nicht vermeiden, dass ein paar von ihnen aufkreuzen –, aber dass es eine nennenswerte Anzahl war, ist ein subjektiver Eindruck, der überprüft gehört. Ebenso wie überprüft gehört, ob jene, die er als rechts identifiziert, wirklich rechts sind. Und zur Überprüfung hätte Prinz methodologisch betrachtet die Demonstration vor Ort beobachten oder wenigstens im Nachhinein einige Teilnehmer respektvoll befragen müssen. Vielleicht hat er das sogar getan, aber im Video selbst merkt man davon nichts, weil die Gegenseite nicht zur Sprache kommt, wenn es darum geht, die eigene Sichtweise auf diese Punkte darzulegen. Deswegen tendiere ich eher zu der Annahme, dass er es nicht getan hat, zumal er, wie wir im dritten Teil dieser Reihe noch sehen werden, generell zu einem unkritischen Umgang mit Quellen zu neigen scheint bzw. Artikel zitiert, als wären sie die Wahrheit in letzter Instanz und nicht nur eine Sichtweise eines bestimmten politischen Lagers. Ich selbst habe die Demo durchaus live gesehen, habe mit Teilnehmern gesprochen und noch mehr ihren Gesprächen untereinander zugehört und kann sagen: In dem Clip, den Prinz als Bestätigung für die Unterwanderung der Demo durch Nazis sieht, ist die Reaktion der Teilnehmer auf die Regeln nicht deswegen ablehnend, weil sie Gewalt verherrlichen und die Ukraine zerstört sehen wollen, sondern weil sie einem anderen Narrativ folgen als dem, auf welchem diese Regeln beruhen. Es handelt sich um die Kollision zweier Realitätstunnel, wobei beide Seiten unter anderem der Überzeugung sind, gegen Nazis zu kämpfen – die einen gegen vermeintliche Nazis auf der Demo, die anderen gegen die Nazi-Toleranz in der Ukraine. Den jeweils anderen Realitätstunnel findet man absurd und lächerlich, den eigenen keinesfalls rechts oder anderweitig „böse“, und es liegt in der Natur von Realitätstunneln, dass man aneinander vorbei kommuniziert und sich gegenseitig das Böseste des Bösen unterstellt. Als die Regeln verlesen werden, wird den Demonstranten also ein fremder Realitätstunnel aufgedrückt – genau der, gegen den sie gekommen sind zu protestieren. Und deswegen protestieren sie eben, während die Regeln verlesen werden. Prinz und andere Anhänger des feindlichen Realitätstunnels wiederum sehen ihre Vorurteile bestätigt.
Außerdem ist Prinz‘ auf den Clip und andere vermeintliche Beweise für die Präsenz rechter Ideologie auf der Demo folgende Frage auffällig oberflächlich und kein logisches Argument bzw. keine nüchterne Fragestellung für eine ernsthafte Analyse, sondern eher Hetzrhetorik. Um das praktisch zu demonstrieren, drehe ich diese bereits zitierte Frage einfach um:
„Hat man eigentlich eine Kontaktschuld, wenn man für die gleichen Ziele eintritt wie nachgewiesene Nazi-Whitewasher, auch wenn diese Ziele eigentlich gut sein sollen? Ich frag mal anders: Wenn du dieselben Ziele hast wie bekennende Nazi-Verehrer, solltest du dich nicht generell hinterfragen, was bei dir gerade falsch läuft?“
Ich beziehe mich dabei übrigens auf seine ironisierende Paraphrasierung von Wagenknechts Forderungen etwa bei Minute 24:49:
„ ‚Verhandeln ist kein Kapitulieren.‘ – Ja, außer man hat keine Trümpfe mehr in der Hand. Also bitte, Ukraine, gib alle deine Vorteile in den Verhandlungen auf, damit du nur noch kapitulieren kannst.“
Die Kritik und die Forderung, die aus dieser Paraphrasierung hervorgehen, ist deckungsgleich mit der Karikatur, die unser guter Bekannter und Bandera-Fan, der ehemalige Botschafter der Ukraine Andrij Melnyk, anlässlich der Demo bei X (damals noch Twitter) gepostet hat.
Ich will Prinz mit dieser Umkehr natürlich keineswegs Nähe zu Nazis bzw. bekennenden Nazi-Whitewashern unterstellen, sondern nur zeigen, wie leer und oberflächlich seine Fragestellung und Argumentation eigentlich ist. Nazivergleiche und irgendeine potentielle Kontaktschuld kann man immer an den Haaren herbeiziehen. Bloß gibt es da abgesehen davon, dass es eine billige Methode ist, um Andersdenkende zu diskreditieren, noch den Aspekt, dass es die Gräuel der Nazi-Diktatur verharmlost, wenn man alles Mögliche damit auf eine Stufe stellt.
So in etwa lassen sich die meisten von Prinz‘ Punkten in dem Video zerlegen. Er wirft mit Behauptungen um sich, ohne sie jedoch zu analysieren und zu überprüfen. Mit anderen Worten: Prinz steckt in seinem eigenen Realitätstunnel fest, hat seine Vorurteile und der Bestätigungsfehler sorgt dafür, dass er sich in seinen Ansichten immer weiter bestätigt sieht und die Sichtweise der Gegenseite prinzipiell nicht verstehen kann, bis er sich von seiner Selbstüberzeugtheit löst. Das ist an sich natürlich nicht dramatisch, weil Prinz wie jeder andere Mensch auch ein Recht auf seinen Realitätstunnel hat. Problematisch wird es nur, wenn er seinen Realitätstunnel als nüchterne, objektive Wahrheit präsentiert, über Andersdenkende in einem ironisch-verächtlichen Ton spricht und Hunderttausende Follower hat, die dann losziehen und Leute anpöbeln, die einen anderen Realitätstunnel haben, ohne auch nur ansatzweise zu versuchen, deren Sichtweise zu verstehen. Sie glauben dabei ehrlich und aufrichtig, sie würden für das Gute kämpfen, doch in Wahrheit verstärken solche Pöbeleien nur die gesellschaftliche Spaltung. Zumal die Pöbeleien sich auch noch gegen Menschen richten, die aufgrund ihrer anderen Ansichten ohnehin bereits medial und gesellschaftlich ausgegrenzt werden: Gerade die mediale Kampagne gegen die Demo von Wagenknecht und Schwarzer war ja enorm. Der Chor dieser Ausgrenzung von Andersdenkenden, der Cancel Culture und der damit einhergehenden Einschränkung der Meinungsfreiheit wird verstärkt. Und das ist ein Stück weit auch die Mitverantwortung von Alexander Prinz, dessen charismatische, selbstgefällige Art, die über jeden Zweifel am eigenen Realitätstunnel erhaben ist, eben Menschen aufhetzt – sicherlich ohne dass er es will, aber dennoch. Hätte er mehr von seiner subjektiven Wahrnehmung gesprochen und das Ganze weniger als vermeintlich differenzierte Analyse inszeniert, hätte sein Video zweifellos weniger hetzerisch gewirkt.
Zusammenfassung
Was lässt sich abschließend also sagen? Nun,
das Böse ist banal und steckt in uns allen.
Stereotype und Klischees, oft sogar unterbewusst rassistisch, gepaart mit mangelndem Verständnis der jeweiligen Fachgebiete, zum Beispiel von geopolitischen Prinzipien, und Kriterien, um Medienqualität zu bewerten, sowie mit einer selektiven Ignoranz von Fakten, die nicht in den eigenen Realitätstunnel passen, machen uns leicht zu den mitläuferischen Arschlöchern, die wir nun mal von Natur aus sind. Wir sind überzeugt von unseren Realitätstunneln, wollen nicht hinterfragen und werden manchmal offen und manchmal nur subtil aggressiv, wenn diese Realitätstunnel durch etwas oder jemanden herausgefordert werden, was wir wiederum – meistens unterbewusst – als Angriff auf unser Selbst- und Weltbild empfinden. Wir alle haben das Gefühl, dass unsere Meinung auf objektiven Fakten beruht, doch die wenigsten von uns gehen wirklich nüchtern methodologisch vor, um uns diese Meinung zu bilden – wir glauben das nur. Doch wenn wir eine solche Konstellation von Vorurteilen, fachlicher Inkompetenz und kognitiven Blockaden als Meinung bezeichnen, dann wäre 2+2=22 ebenfalls eine Meinung. Was ich damit meine, ist:
Eine Meinung ohne ausreichende methodologische Grundlage gleicht religiösen Glaubenssätzen. Und mit diesen Glaubenssätzen auf den Lippen kämpfen wir für das vermeintlich Gute, schlagen uns die Köpfe ein, statt uns gegenseitig eine Chance zu geben und zuzuhören, und wundern uns dann über die gesellschaftliche Spaltung.
Ganz am Ende heißt es schließlich: „Wir haben ja von nichts gewusst.“ Aber guess what: Unwissen schützt nicht vor Verantwortung! Denn eigentlich hattest du ja Hinweise, Gegenstimmen und die Wahl, diesen Stimmen offen zu begegnen.
Spaltend und deswegen gefährlich sind also nicht verschiedene Meinungen oder (vermeintliche) Desinformation, sondern mangelnder zwischenmenschlicher Respekt und Aggression, seien sie auch noch so unbewusst und subtil, resultierend aus einem Mangel an kritischem Denken.
Aber gut, wir haben offiziell festgestellt: Der Großteil von dem, was die meisten Menschen als ihre Meinung deklarieren, ist nichts weiter als Unwissen. Und leider handeln Menschen oft nach diesem Unwissen und richten Schaden an. Wie kommt man also an eine wirklich informierte, nüchterne Meinung? Wie bricht man aus seinem Realitätstunnel aus?
Fast jedes Kind weiß:
Eine informierte, kritische Meinung sollte sich auf sorgfältig überprüfte Fakten stützen und nicht auf Spekulationen oder subjektive Empfindungen, da letztere leicht manipuliert werden können, allem voran durch uns selbst bzw. unsere eigenen kognitiven Blockaden.
Ich glaube, gerade für uns hier im Westen ist das aufgrund der im ersten Video dieser Reihe aufgelisteten Punkte schwierig: Wegen unserer individualistischen Erziehung klammern wir uns an unsere jeweils individuelle Kombination von Identitäten, die Zugehörigkeit zu irgendwelchen Gruppen, Communitys und Bewegungen, wir wiegen uns in vermeintlicher Freiheit und sind quasi-religiös überzeugt von der Richtigkeit unserer Werte, was unsere Empathiefähigkeit gegenüber anderen Denkweisen einschränkt, und wir haben im Übrigen auch einen Kult von Selbstdarstellung, die wir als Selbstbewusstsein missverstehen, die jedoch im Grunde nur eine Obsession mit dem eigenen Selbstbild ist.
Wir können uns, wenn wir kritisch denken wollen, also nicht auf uns selbst verlassen.
Deswegen gibt es methodologische Ansätze, die uns helfen sollen, uns einigermaßen von der eigenen Subjektivität zu befreien – eine vollständige Befreiung wird wohl nie möglich sein. Und weil wir nach der langen Auflistung von Problemen auch über Lösungen reden sollten, geht es im dritten und letzten Teil dieser Reihe um eine Anleitung für selbstständiges, kritisches Denken Schritt für Schritt, basierend auf geschichtswissenschaftlicher Quellenkritik und gewürzt mit journalistischen Methoden und Ansätzen aus der Erzähltheorie.