„Traumnovelle“ von Arthur Schnitzler

„Traumnovelle“ von Arthur Schnitzler

Es wird in Lie­bes­ge­schich­ten nur sel­ten beleuch­tet, aber eine Bezie­hung zu füh­ren ist schwer. Bezie­hungs­kon­flik­te gehö­ren selbst­ver­ständ­lich dazu und oft genug spielt das Unter­be­wusst­sein mit sei­nen gehei­men, unter­drück­ten Wün­schen eine wesent­li­che Rol­le. In sei­ner Traum­no­vel­le ana­ly­siert Arthur Schnitz­ler eine sol­che Ehe­kri­se und wir schau­en uns an, wie er die Erzähl­per­spek­ti­ve nutzt, um den Kon­flikt von unter­schied­li­chen Sei­ten zu beleuchten.

(In der Video-Ver­si­on die­ses Arti­kels hat sich bei Genet­tes Kate­go­rie der Ebe­ne lei­der ein Feh­ler ein­ge­schli­chen. Ich kann ihn lei­der nicht mehr kor­ri­gie­ren. Des­we­gen emp­feh­le ich, sich bei die­sem Punkt an die Text-Ver­si­on zu hal­ten. Ich bit­te um Ent­schul­di­gung für die Umstände.)

Die Foli­en für die­ses Video gibt es für Ste­ady-Abon­nen­ten und Kanal­mitglieder auf You­Tube als PDF zum Download.

Hol­ly­wood will es eigent­lich nicht wahr­ha­ben, aber eine Bezie­hung zu füh­ren ist schwer: Wenn zwei Men­schen zusam­men­ge­fun­den haben, leben sie in der Regel nicht unun­ter­bro­chen glück­lich bis ans Ende ihrer Tage. Denn für die meis­ten Paa­re gilt:

Was nach außen hin har­mo­nisch zu sein scheint, ist es nicht immer.

Eine beson­de­re Rol­le spielt dabei das Unter­be­wusst­sein. Es ist unsicht­bar – und doch kann es eine Bezie­hung mas­siv gefährden.

Wenn man also eine Geschich­te über eine Bezie­hung schreibt – wie kann man die­ses Unsicht­ba­re über­haupt darstellen?

Eine Mög­lich­keit zeigt uns Arthur Schnitz­ler in sei­ner Traum­no­vel­le, deren Erzähl­per­spek­ti­ve wir heu­te analysieren.

Der Vor­schlag dazu kam von Bilal1973 und ist schon eine Wei­le her. Des­we­gen ent­schul­di­ge ich mich hier­mit für die lan­ge War­te­zeit, hof­fe aber trotz­dem, dass die Ana­ly­se gefällt. Vor allem aber: Ein rie­sen-rie­sen­gro­ßes Dan­ke­schön für den Vor­schlag! Es hat mir viel Spaß gemacht, ihn umzusetzen.

Traumnovelle: Handlung

Der Arzt Fri­do­lin und Alber­ti­ne füh­ren eine schein­bar har­mo­ni­sche Ehe. Nach­dem aber bei­de auf einem Mas­ken­ball „fremd­ge­flir­tet“ haben, ent­wi­ckelt sich ein erns­tes Gespräch: Bei­de müs­sen erken­nen, dass der jeweils ande­re gehei­me sexu­el­le Wün­sche hegt. Unter ande­rem erfährt Fri­do­lin, dass Alber­ti­ne vor ihrer Ehe auch ger­ne sexu­el­le Erfah­run­gen gesam­melt hätte.

(Wir spre­chen hier immer­hin von einer Erzäh­lung, die 1925 erschie­nen ist. Des­we­gen erklärt es sich von selbst, dass Alber­ti­ne deut­lich jün­ger ist als Fri­do­lin und ihn in einem sehr zar­ten Alter gehei­ra­tet hat. Sexu­el­le Expe­ri­men­te vor der Ehe waren für sie als Frau damals tabu, für Fri­do­lin hin­ge­gen nicht.)

Dar­auf wird Fri­do­lin zu einem Kran­ken geru­fen und erlebt eine Nacht
vol­ler son­der­ba­rer ero­ti­scher Begeg­nun­gen bis hin zu einer Orgie. Er geht aber nicht fremd.

Wie­der zu Hau­se ange­kom­men, sieht er, dass Alber­ti­ne schlecht geträumt hat, und lässt sich die­sen Traum erzäh­len: Dar­in hat sie ihn betro­gen, wäh­rend er gefol­tert und ans Kreuz geschla­gen wur­de. Und obwohl das nur ein Traum war, ist Fri­do­lin gar nicht begeistert.

Am nächs­ten Tag geht Fri­do­lin den Geheim­nis­sen der letz­ten Nacht auf den Grund
und will aus Rache an Alber­ti­ne die sexu­el­len Gele­gen­hei­ten, die er damals ver­passt hat, „nach­ho­len“. Die Din­ge erge­ben sich aber so, dass es trotz­dem nicht zum Ehe­bruch kommt.

Als er wie­der nachts nach Hau­se kommt, will er Alber­ti­ne alles beich­ten und sieht, dass sie bereits etwas ahnt. Nach der Beich­te ist das Paar froh,

„daß wir aus allen Aben­teu­ern heil davon­ge­kom­men sind –aus den wirk­li­chen und aus den geträumten.“

Analyse der Traumnovelle mit dem Typenkreis von Stanzel

Ana­ly­siert man die Traum­no­vel­le mit Stan­zel, macht man fol­gen­de Beobachtungen:

Typenkreis-Achse: Modus

Bereits bei der Ach­se des Modus fällt auf, dass die Erzäh­lung gar nicht mal so ein­fach erzählt wird:

  • Denn in Kapi­tel 1 steht der Erzäh­ler klar im Vor­der­grund.
    Im Sin­ne von: Der Akt des Erzäh­lens ist klar sichtbar.

Was ich damit mei­ne, lässt sich an einem Zitat demonstrieren:

„Harm­lo­se und doch lau­ern­de Fra­gen, ver­schmitz­te, dop­pel­deu­ti­ge Ant­wor­ten wech­sel­ten hin und her;  kei­nem von bei­den ent­ging, daß der ande­re es an der letz­ten Auf­rich­tig­keit feh­len ließ, und so fühl­ten sich bei­de zu gelin­der Rache aufgelegt.“
Kapi­tel 1.

Wir bekom­men hier also das Gespräch ganz klar durch eine beur­tei­len­de Erzähl­in­stanz prä­sen­tiert, die sich die Frei­heit nimmt, die inne­ren Vor­gän­ge bei­der Figu­ren und alles Gesag­te grob zusammenzufassen.

Die sub­jek­ti­ve Sicht der Figu­ren sehen wir im ers­ten Kapi­tel nur durch die wört­li­che Rede.

  • Ab Kapi­tel 2 jedoch steht Fri­do­lin im Vor­der­grund.

Auch hier­zu ein Beispiel:

„Er warf einen Sei­ten­blick auf den toten Vater. Ob er nicht alles hört, dach­te er. Viel­leicht ist er schein­tot? Viel­leicht ist jeder Mensch in die­sen ers­ten Stun­den nach dem Ver­schei­den nur scheintot -?“
Kapi­tel 2.

Ab Kapi­tel 2 gibt der Erzäh­ler nur das wie­der, was Fri­do­lin wahr­nimmt und denkt.

In Kapi­tel 5 jedoch haben wir noch einen klei­nen Sonderfall:

  • Und zwar besteht es über­wie­gend aus Alber­ti­nes Erzäh­lung von ihrem Traum.

Inner­halb die­ser Bin­nen­er­zäh­lung steht logi­scher­wei­se Alber­ti­ne im Vordergrund.

Typenkreis-Achsen: Person und Perspektive

Auf der Ach­se der Per­son haben wir ziem­lich ein­deu­tig eine

  • Nicht­iden­ti­tät der Seins­be­rei­che von Erzäh­ler und Figu­ren.

Auf der Ach­se der Per­spek­ti­ve aber haben wir es wie­der ein biss­chen kom­pli­zier­ter. Und zwar haben wir

  • in Kapi­tel 1 eine Außen­per­spek­ti­ve, weil wir es da mit einer zusam­men­fas­sen­den Über­blicks­dar­stel­lung durch einen beur­tei­len­den Erzäh­ler zu tun haben.
  • In den rest­li­chen Kapi­teln jedoch kon­zen­triert sich der Erzäh­ler auf die sub­jek­ti­ve Wahr­neh­mung von Fri­do­lin.

Die Traumnovelle im Typenkreis

Wenn man das Gan­ze nun gra­phisch dar­stel­len will, wür­de das in etwa so aussehen:

"Traumnovelle" von Arthur Schnitzler

  • Auf der Ach­se des Modus haben wir zuerst einen Erzäh­ler, der im Vor­der­grund steht, und dann eine Figur, die im Vor­der­grund steht.
  • Auf der Ach­se der Per­son haben wir die Nicht­iden­ti­tät der Seins­be­rei­che von Erzäh­ler und Figu­ren. Aber wenn wir uns an Kapi­tel 5 erin­nern – Die­ses besteht in einem sehr wesent­li­chen Aus­maß aus Alber­ti­nes Ich-Erzählung.
  • Last but not least, begin­nen wir mit einer Außen­per­spek­ti­ve und gehen dann über zur Innenperspektive.

Und damit sehen wir, dass der Erzäh­ler der Traum­no­vel­le vor allem dyna­misch ist. Rein quan­ti­ta­tiv über­wiegt zwar die per­so­na­le Erzähl­si­tua­ti­on, aber ein­deu­tig zu behaup­ten, der Erzäh­ler sei per­so­nal oder aukt­ori­al wird dem Erzäh­ler der Traum­no­vel­le schlicht und ergrei­fend nicht gerecht.

Analyse der Traumnovelle mit der Erzähltheorie von Genette

Wen­den wir die Erzähl­theo­rie von Genet­te an, so beob­ach­ten wir:

Beim Modus haben wir

  • in Kapi­tel 1 die Null­fo­ka­li­sie­rung (der Erzäh­ler weiß mehr als die Figuren).
  • In Kapi­tel 2 bis 7 jedoch ist die Foka­li­sie­rung intern (der Erzäh­ler weiß exakt so viel wie Fridolin).

Bei der Stim­me stel­len wir fest,

  • dass im Fall der Traum­no­vel­le eine spä­te­re Nar­ra­ti­on vor­liegt (es wird in der Ver­gan­gen­heits­form erzählt)
  • In Bezug auf die Ebe­ne haben wir natür­lich erst mal die int­ra­die­ge­ti­sche Erzäh­lung. (Hier fin­den Fri­do­lins Aben­teu­er statt.) 
    • Aber wir haben auch meta­die­ge­ti­sche Pas­sa­gen, näm­lich Alber­ti­nes Erzäh­lung von ihrem Traum in Kapi­tel 5, aber auch Alber­ti­nes und Fri­do­lins Erzäh­lun­gen vom Däne­mark­ur­laub in Kapi­tel 1.
  • Und als drit­ten Punkt bei der Stim­me notie­ren wir den hete­ro­die­ge­ti­schen Erzäh­ler (der Erzäh­ler ist nicht Teil der erzähl­ten Welt).

Die Erzähl­per­spek­ti­ve in der Traum­no­vel­le: Beob­ach­tun­gen

Nun haben wir die Traum­no­vel­le mit Stan­zel und Genet­te ana­ly­siert und es fal­len fol­gen­de Din­ge auf:

  • Zu Beginn der Erzäh­lung betrach­ten wir das Paar von außen. Das geschieht durch einen aukt­oria­len Erzäh­ler bzw. die Nullfokalisierung.
  • Dann aber glei­tet die Erzäh­lung lang­sam in die Figu­ren hin­ein: In Kapi­tel 1 erzäh­len bei­de Ehe­leu­te sub­jek­tiv von ihren sexu­el­len Ver­su­chun­gen wäh­rend ihres Däne­mark­ur­laubs. Ab Kapi­tel 2 jedoch wird der Erzäh­ler per­so­nal bzw. intern foka­li­siert und wir bekom­men die Geschich­te durch das Pris­ma von Fri­do­lin präsentiert.
  • Eine Aus­nah­me bil­det dabei Kapi­tel 5: Hier haben wir noch ein­mal die meta­die­ge­ti­sche Ebe­ne, als Alber­ti­ne von ihrem Traum erzählt.

Wir glei­ten also aus einer Art Vogel­per­spek­ti­ve in das Innen­le­ben bei­der Ehe­leu­te hinein.

Unterbewusstsein und Symbolik

Als wir nun in das Innen­le­ben der Ehe­leu­te hin­ein­glei­ten, offen­bart sich ihr Unter­be­wusst­sein durch Sym­bo­le:

  • Fri­do­lin hat sei­ne geheim­nis­vol­len nächt­li­chen Aben­teu­er, die zuneh­mend sur­rea­ler werden,
  • und Alber­ti­ne hat ihren son­der­ba­ren Traum.

Die­se (Traum-)Symbole kann man natür­lich auch noch ana­ly­sie­ren, aber ich bin nun mal eine Lite­ra­tur­wis­sen­schaft­le­rin und kei­ne Psy­cho­ana­ly­ti­ke­rin und hal­te mich da bes­ser raus, bevor ich Dir mein Halb­wis­sen antue.

Das Inter­pre­tie­ren der Sym­bo­le über­las­se ich also jedem selbst. – Aber wer Zeit und Lust hat, ist natür­lich herz­lich ein­ge­la­den, sei­ne Gedan­ken dies­be­züg­lich unten in den Kom­men­ta­ren zu tei­len. Ich wür­de näm­lich wahn­sin­nig ger­ne dar­über dis­ku­tie­ren, inwie­fern Fri­do­lin sei­ne Männ­lich­keit gefähr­det sieht und inwie­fern Alber­ti­ne trotz ihrer Lie­be unter­be­wuss­te Aggres­sio­nen gegen Fri­do­lin hegt.

Was an die­ser Stel­le aber unbe­dingt expli­zit zu erwäh­nen ist, ist dass die Erzäh­lung sehr schön zeigt, wie Fri­do­lins Unter­be­wusst­sein vom Unter­be­wuss­ten sei­ner Frau beein­flusst wird: Die Erkennt­nis, dass Alber­ti­ne durch­aus auch ande­re Män­ner anschmach­tet, muss er näm­lich erst ver­dau­en. Und sei­ne nächt­li­chen Aben­teu­er sind genau die­ser „Ver­dau­ungs­pro­zess“. Die­sen bekommt der Leser durch den per­so­na­len bzw. intern foka­li­sier­ten Erzäh­ler in kleins­ten Details dargelegt.

Die Traum­no­vel­le ist damit also vor allem eine Rei­se ins Unter­be­wuss­te:

  • In Kapi­tel 1 bekom­men wir eine Ein­füh­rung, wir ler­nen das Ehe­paar ken­nen, wir sehen den Sta­tus quo und es wer­den der Kon­flikt und die Träu­me bzw. nächt­li­chen Aben­teu­er vorbereitet.
  • In Kapi­tel 2 bis 6 haben wir dann die sub­jek­ti­ven Aben­teu­er, auf­ge­la­den mit (Traum-)Symbolen, die Bot­schaf­ten des Unter­be­wusst­seins darstellen.
  • Und in Kapi­tel 7 schließ­lich keh­ren Fri­do­lin und Alber­ti­ne in die Rea­li­tät zurück und es kommt zu einer Aussprache.

Fazit

Am Ende hal­ten wir also fest:

Die Traum­no­vel­le ist eigent­lich nicht ein­fach nur eine blo­ße Dar­stel­lung des „Unsicht­ba­ren“, son­dern eine voll­wer­ti­ge Ana­ly­se.

Der Kon­flikt, der teil­wei­se auf unter­be­wuss­ter Ebe­ne statt­fin­det, wird umfas­send beleuch­tet, und das gelingt

  • durch den Wech­sel der Foka­li­sie­rung (bzw. des Modus und der Perspektive)
  • sowie durch den Ein­satz der intra- und meta­die­ge­ti­schen Ebene.

Durch die­se Dyna­mik des Erzäh­lers wird es mög­lich, den Kon­flikt sowohl von außen als auch durch zwei Innen­per­spek­ti­ven zu betrachten.

Dabei erzei­gen die eben erwähn­ten Wech­sel, die Nicht­iden­ti­tät der Seins­be­rei­che von Erzäh­ler und Figu­ren (bzw. der hete­ro­die­ge­ti­sche Erzäh­ler) und die spä­te­re Nar­ra­ti­on die nöti­ge Distanz zum Gesche­hen:

Der Leser wird emo­tio­nal nicht all­zu tief in die Geschich­te hin­ein­ge­zo­gen und kann sich als Psy­cho­ana­ly­ti­ker ver­su­chen. Dabei kann er aus der Geschich­te ler­nen und sei­ne Erkennt­nis­se für sei­ne eige­ne Part­ner­schaft mitnehmen.

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