Es wird in Liebesgeschichten nur selten beleuchtet, aber eine Beziehung zu führen ist schwer. Beziehungskonflikte gehören selbstverständlich dazu und oft genug spielt das Unterbewusstsein mit seinen geheimen, unterdrückten Wünschen eine wesentliche Rolle. In seiner Traumnovelle analysiert Arthur Schnitzler eine solche Ehekrise und wir schauen uns an, wie er die Erzählperspektive nutzt, um den Konflikt von unterschiedlichen Seiten zu beleuchten.
(In der Video-Version dieses Artikels hat sich bei Genettes Kategorie der Ebene leider ein Fehler eingeschlichen. Ich kann ihn leider nicht mehr korrigieren. Deswegen empfehle ich, sich bei diesem Punkt an die Text-Version zu halten. Ich bitte um Entschuldigung für die Umstände.)
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Hollywood will es eigentlich nicht wahrhaben, aber eine Beziehung zu führen ist schwer: Wenn zwei Menschen zusammengefunden haben, leben sie in der Regel nicht ununterbrochen glücklich bis ans Ende ihrer Tage. Denn für die meisten Paare gilt:
Was nach außen hin harmonisch zu sein scheint, ist es nicht immer.
Eine besondere Rolle spielt dabei das Unterbewusstsein. Es ist unsichtbar – und doch kann es eine Beziehung massiv gefährden.
Wenn man also eine Geschichte über eine Beziehung schreibt – wie kann man dieses Unsichtbare überhaupt darstellen?
Eine Möglichkeit zeigt uns Arthur Schnitzler in seiner Traumnovelle, deren Erzählperspektive wir heute analysieren.
Der Vorschlag dazu kam von Bilal1973 und ist schon eine Weile her. Deswegen entschuldige ich mich hiermit für die lange Wartezeit, hoffe aber trotzdem, dass die Analyse gefällt. Vor allem aber: Ein riesen-riesengroßes Dankeschön für den Vorschlag! Es hat mir viel Spaß gemacht, ihn umzusetzen.
Traumnovelle: Handlung
Der Arzt Fridolin und Albertine führen eine scheinbar harmonische Ehe. Nachdem aber beide auf einem Maskenball „fremdgeflirtet“ haben, entwickelt sich ein ernstes Gespräch: Beide müssen erkennen, dass der jeweils andere geheime sexuelle Wünsche hegt. Unter anderem erfährt Fridolin, dass Albertine vor ihrer Ehe auch gerne sexuelle Erfahrungen gesammelt hätte.
(Wir sprechen hier immerhin von einer Erzählung, die 1925 erschienen ist. Deswegen erklärt es sich von selbst, dass Albertine deutlich jünger ist als Fridolin und ihn in einem sehr zarten Alter geheiratet hat. Sexuelle Experimente vor der Ehe waren für sie als Frau damals tabu, für Fridolin hingegen nicht.)
Darauf wird Fridolin zu einem Kranken gerufen und erlebt eine Nacht
voller sonderbarer erotischer Begegnungen bis hin zu einer Orgie. Er geht aber nicht fremd.
Wieder zu Hause angekommen, sieht er, dass Albertine schlecht geträumt hat, und lässt sich diesen Traum erzählen: Darin hat sie ihn betrogen, während er gefoltert und ans Kreuz geschlagen wurde. Und obwohl das nur ein Traum war, ist Fridolin gar nicht begeistert.
Am nächsten Tag geht Fridolin den Geheimnissen der letzten Nacht auf den Grund
und will aus Rache an Albertine die sexuellen Gelegenheiten, die er damals verpasst hat, „nachholen“. Die Dinge ergeben sich aber so, dass es trotzdem nicht zum Ehebruch kommt.
Als er wieder nachts nach Hause kommt, will er Albertine alles beichten und sieht, dass sie bereits etwas ahnt. Nach der Beichte ist das Paar froh,
„daß wir aus allen Abenteuern heil davongekommen sind –aus den wirklichen und aus den geträumten.“
Analyse der Traumnovelle mit dem Typenkreis von Stanzel
Analysiert man die Traumnovelle mit Stanzel, macht man folgende Beobachtungen:
Typenkreis-Achse: Modus
Bereits bei der Achse des Modus fällt auf, dass die Erzählung gar nicht mal so einfach erzählt wird:
- Denn in Kapitel 1 steht der Erzähler klar im Vordergrund.
Im Sinne von: Der Akt des Erzählens ist klar sichtbar.
Was ich damit meine, lässt sich an einem Zitat demonstrieren:
„Harmlose und doch lauernde Fragen, verschmitzte, doppeldeutige Antworten wechselten hin und her; keinem von beiden entging, daß der andere es an der letzten Aufrichtigkeit fehlen ließ, und so fühlten sich beide zu gelinder Rache aufgelegt.“
Kapitel 1.
Wir bekommen hier also das Gespräch ganz klar durch eine beurteilende Erzählinstanz präsentiert, die sich die Freiheit nimmt, die inneren Vorgänge beider Figuren und alles Gesagte grob zusammenzufassen.
Die subjektive Sicht der Figuren sehen wir im ersten Kapitel nur durch die wörtliche Rede.
- Ab Kapitel 2 jedoch steht Fridolin im Vordergrund.
Auch hierzu ein Beispiel:
„Er warf einen Seitenblick auf den toten Vater. Ob er nicht alles hört, dachte er. Vielleicht ist er scheintot? Vielleicht ist jeder Mensch in diesen ersten Stunden nach dem Verscheiden nur scheintot -?“
Kapitel 2.
Ab Kapitel 2 gibt der Erzähler nur das wieder, was Fridolin wahrnimmt und denkt.
In Kapitel 5 jedoch haben wir noch einen kleinen Sonderfall:
- Und zwar besteht es überwiegend aus Albertines Erzählung von ihrem Traum.
Innerhalb dieser Binnenerzählung steht logischerweise Albertine im Vordergrund.
Typenkreis-Achsen: Person und Perspektive
Auf der Achse der Person haben wir ziemlich eindeutig eine
- Nichtidentität der Seinsbereiche von Erzähler und Figuren.
Auf der Achse der Perspektive aber haben wir es wieder ein bisschen komplizierter. Und zwar haben wir
- in Kapitel 1 eine Außenperspektive, weil wir es da mit einer zusammenfassenden Überblicksdarstellung durch einen beurteilenden Erzähler zu tun haben.
- In den restlichen Kapiteln jedoch konzentriert sich der Erzähler auf die subjektive Wahrnehmung von Fridolin.
Die Traumnovelle im Typenkreis
Wenn man das Ganze nun graphisch darstellen will, würde das in etwa so aussehen:
- Auf der Achse des Modus haben wir zuerst einen Erzähler, der im Vordergrund steht, und dann eine Figur, die im Vordergrund steht.
- Auf der Achse der Person haben wir die Nichtidentität der Seinsbereiche von Erzähler und Figuren. Aber wenn wir uns an Kapitel 5 erinnern – Dieses besteht in einem sehr wesentlichen Ausmaß aus Albertines Ich-Erzählung.
- Last but not least, beginnen wir mit einer Außenperspektive und gehen dann über zur Innenperspektive.
Und damit sehen wir, dass der Erzähler der Traumnovelle vor allem dynamisch ist. Rein quantitativ überwiegt zwar die personale Erzählsituation, aber eindeutig zu behaupten, der Erzähler sei personal oder auktorial wird dem Erzähler der Traumnovelle schlicht und ergreifend nicht gerecht.
Analyse der Traumnovelle mit der Erzähltheorie von Genette
Wenden wir die Erzähltheorie von Genette an, so beobachten wir:
Beim Modus haben wir
- in Kapitel 1 die Nullfokalisierung (der Erzähler weiß mehr als die Figuren).
- In Kapitel 2 bis 7 jedoch ist die Fokalisierung intern (der Erzähler weiß exakt so viel wie Fridolin).
Bei der Stimme stellen wir fest,
- dass im Fall der Traumnovelle eine spätere Narration vorliegt (es wird in der Vergangenheitsform erzählt)
- In Bezug auf die Ebene haben wir natürlich erst mal die intradiegetische Erzählung. (Hier finden Fridolins Abenteuer statt.)
- Aber wir haben auch metadiegetische Passagen, nämlich Albertines Erzählung von ihrem Traum in Kapitel 5, aber auch Albertines und Fridolins Erzählungen vom Dänemarkurlaub in Kapitel 1.
- Und als dritten Punkt bei der Stimme notieren wir den heterodiegetischen Erzähler (der Erzähler ist nicht Teil der erzählten Welt).
Die Erzählperspektive in der Traumnovelle: Beobachtungen
Nun haben wir die Traumnovelle mit Stanzel und Genette analysiert und es fallen folgende Dinge auf:
- Zu Beginn der Erzählung betrachten wir das Paar von außen. Das geschieht durch einen auktorialen Erzähler bzw. die Nullfokalisierung.
- Dann aber gleitet die Erzählung langsam in die Figuren hinein: In Kapitel 1 erzählen beide Eheleute subjektiv von ihren sexuellen Versuchungen während ihres Dänemarkurlaubs. Ab Kapitel 2 jedoch wird der Erzähler personal bzw. intern fokalisiert und wir bekommen die Geschichte durch das Prisma von Fridolin präsentiert.
- Eine Ausnahme bildet dabei Kapitel 5: Hier haben wir noch einmal die metadiegetische Ebene, als Albertine von ihrem Traum erzählt.
Wir gleiten also aus einer Art Vogelperspektive in das Innenleben beider Eheleute hinein.
Unterbewusstsein und Symbolik
Als wir nun in das Innenleben der Eheleute hineingleiten, offenbart sich ihr Unterbewusstsein durch Symbole:
- Fridolin hat seine geheimnisvollen nächtlichen Abenteuer, die zunehmend surrealer werden,
- und Albertine hat ihren sonderbaren Traum.
Diese (Traum-)Symbole kann man natürlich auch noch analysieren, aber ich bin nun mal eine Literaturwissenschaftlerin und keine Psychoanalytikerin und halte mich da besser raus, bevor ich Dir mein Halbwissen antue.
Das Interpretieren der Symbole überlasse ich also jedem selbst. – Aber wer Zeit und Lust hat, ist natürlich herzlich eingeladen, seine Gedanken diesbezüglich unten in den Kommentaren zu teilen. Ich würde nämlich wahnsinnig gerne darüber diskutieren, inwiefern Fridolin seine Männlichkeit gefährdet sieht und inwiefern Albertine trotz ihrer Liebe unterbewusste Aggressionen gegen Fridolin hegt.
Was an dieser Stelle aber unbedingt explizit zu erwähnen ist, ist dass die Erzählung sehr schön zeigt, wie Fridolins Unterbewusstsein vom Unterbewussten seiner Frau beeinflusst wird: Die Erkenntnis, dass Albertine durchaus auch andere Männer anschmachtet, muss er nämlich erst verdauen. Und seine nächtlichen Abenteuer sind genau dieser „Verdauungsprozess“. Diesen bekommt der Leser durch den personalen bzw. intern fokalisierten Erzähler in kleinsten Details dargelegt.
Die Traumnovelle ist damit also vor allem eine Reise ins Unterbewusste:
- In Kapitel 1 bekommen wir eine Einführung, wir lernen das Ehepaar kennen, wir sehen den Status quo und es werden der Konflikt und die Träume bzw. nächtlichen Abenteuer vorbereitet.
- In Kapitel 2 bis 6 haben wir dann die subjektiven Abenteuer, aufgeladen mit (Traum-)Symbolen, die Botschaften des Unterbewusstseins darstellen.
- Und in Kapitel 7 schließlich kehren Fridolin und Albertine in die Realität zurück und es kommt zu einer Aussprache.
Fazit
Am Ende halten wir also fest:
Die Traumnovelle ist eigentlich nicht einfach nur eine bloße Darstellung des „Unsichtbaren“, sondern eine vollwertige Analyse.
Der Konflikt, der teilweise auf unterbewusster Ebene stattfindet, wird umfassend beleuchtet, und das gelingt
- durch den Wechsel der Fokalisierung (bzw. des Modus und der Perspektive)
- sowie durch den Einsatz der intra- und metadiegetischen Ebene.
Durch diese Dynamik des Erzählers wird es möglich, den Konflikt sowohl von außen als auch durch zwei Innenperspektiven zu betrachten.
Dabei erzeigen die eben erwähnten Wechsel, die Nichtidentität der Seinsbereiche von Erzähler und Figuren (bzw. der heterodiegetische Erzähler) und die spätere Narration die nötige Distanz zum Geschehen:
Der Leser wird emotional nicht allzu tief in die Geschichte hineingezogen und kann sich als Psychoanalytiker versuchen. Dabei kann er aus der Geschichte lernen und seine Erkenntnisse für seine eigene Partnerschaft mitnehmen.