Kaum ein Schreibtipp ist so geläufig wie „Show, don’t tell“. Und gräbt man tiefer, entdeckt man auch immer wieder Stimmen, die „Show, don’t tell“ für überbewertet halten. Was steckt also dahinter? In diesem Artikel nehmen wir diesen Lieblingstipp aller Schreibratgeber genauer unter die Lupe.
Die Folien für dieses Video gibt es für Steady-Abonnenten und Kanalmitglieder auf YouTube als PDF zum Download.
„Show, don’t tell“ ist ein häufiger Ratschlag für beginnende Autoren. Zuweilen hört man sogar, man solle nur „zeigen“ und möglichst wenig „erzählen“.
Ich selbst finde, dass diese Herangehensweise auch mächtig nach hinten losgehen kann. Dennoch ist „Show, don’t tell“ das, was ich anderen Autoren beim Testlesen ihrer Werke wohl am häufigsten um die Ohren haue.
Was ist also dieses geheimnisvolle „Show, don’t tell“? Wann wendet man es an? Und wann sollte man es lassen? – In diesem Artikel bespreche ich zumindest meine eigene Sicht auf das Thema.
Das Besondere am Erzählen
„Show, don’t tell“ – Man solle zeigen, nicht erzählen. Es erscheint wie ein Schritt hin zum Film. Der Leser soll ein Kopfkino erleben.
Der Haken ist jedoch:
Ein Text ist abstrakt. Denn Worte sind abstrakt. Es liegt in ihrer Natur, dass man damit nichts zeigen kann.
Es ist das, was das Erzählen mit Worten von vielen anderen Arten des Erzählens unterscheidet:
- In einem Film kann man beispielweise nicht einfach einen Baum zeigen. Man kann nur einen ganz konkreten Baum zeigen. – Und dieser ganz konkrete Baum ist es dann auch, den das Publikum wahrnimmt.
- Ein Text hingegen kann einfach nur einen Baum enthalten. Jeder Leser stellt sich dann seinen höchst eigenen Baum vor. Dieser höchst eigene Baum hängt dabei nicht zuletzt von der Individualität des einzelnen Lesers ab, von seinen Vorlieben und Erfahrungen; sehr wesentlich aber auch von der Flora der Gegend, in der er erlebt: In jedem Teil der Welt wachsen andere Bäume und somit variiert auch die Vorstellung von einem „Standard-Baum“.
Natürlich kann man nun hergehen und den Baum in allen möglichen Details beschreiben. – Aber abgesehen davon, dass das langweilig wäre, wird sich jeder Leser diesen Baum erfahrungsgemäß immer noch etwas anders vorstellen.
Texte können nun mal nicht zeigen.
Was Texte aber durchaus können, ist, Emotionen und Assoziationen zu erwecken und die Gedanken und die Fantasie des Lesers anzuregen.
Denn Lesen stellt die vielleicht höchsten Anforderungen an das Publikum: Während man sich bei visuelleren Geschichten mehr oder weniger zurücklehnen und die Geschichte auf sich wirken lassen kann, muss der Leser eines Textes die Bilder selbst produzieren. – Und ein guter Autor macht es ihm so einfach wie möglich. Das ist es, was in meinem Verständnis „Show, don’t tell“ ausmacht.
„Show“ und „Tell“
Die Gedanken und die Fantasie des Lesers anzuregen bedeutet, den Text weniger abstrakt zu machen. Es dem Leser zu erleichtern, sich konkrete Dinge vorzustellen. Zum Beispiel:
„Sie hatte Angst.“
- Dieser Satz ist sehr abstrakt. Er enthält nur nackte Information. Konkrete Gedanken, Handlungen und Gefühle muss sich der Leser selbst ausdenken.
Das war ein Beispiel für „Tell“, also nacktes Erzählen. Was beim Leser aber eher Kopfkino und Gefühle auslöst, wäre „Show“. Zum Beispiel:
„Kalter Schweiß perlte ihre Stirn hinab und ihre Hände zitterten, als sie nach ihrem Messer griff. Ihr Herz pochte. Es war das Ende.“
- In diesem Beispiel werden konkrete körperliche Reaktionen beschrieben. Hinzu kommen die Gedanken der Figur in Form von erlebter Rede. Der Leser muss sich also nicht erst überlegen, wie Angst sich in dieser konkreten Situation anfühlen würde, sondern bekommt handfestes Material für sein Kopfkino.
Was ebenfalls das Kopfkino anregt, sind rhetorische Stilmittel. Vor allem Metaphern und Vergleiche, weil sie ja konkrete Bilder hervorrufen:
„Eduard fährt hoch, als hätte er einen Tritt in den Hintern bekommen.“
Erich Maria Remarque: Der schwarze Obelisk, Kapitel 15.
- Der Vergleich mit einem Tritt in den Hintern liefert ein sehr klares Bild. Zum Vergleich: „Eduard fährt erschrocken hoch“, wäre sehr fad gewesen.
Was bei diesem Beispiel aber noch auffällt: Der Roman wird durch einen Ich-Erzähler erzählt. Wenn der Erzähler also gesagt hätte, Eduard sei erschrocken hochgefahren, wäre das entweder:
- eine subjektive – und daher unzuverlässige – Interpretation des „Ich“ oder
- ein Bruch der Erzählperspektive, weil das „Ich“ ja nicht zuverlässig wissen kann, was Eduard fühlt.
Damit ist „Show“ hevorragend geeignet, um die Gefühle von Nebenfiguren anzudeuten, in deren Inneres wir keinen Einblick haben:
- Durch die Beschreibung äußerlich wahrnehmbarer Handlungen, Mimik und Gestik bekommt der Leser ein klares, nahezu filmisches Bild vermittelt und kann sich gut denken, was die Figur denkt und fühlt.
„Show, don’t tell“ und World-Building
Doch der Ratschlag „Show, don’t tell“, gilt nicht nur für Szenen, sondern auch fürs World-Building und die Charakterisierung der Figuren.
Wenn der Erzähler zum Beispiel Lieschen als „hilfsbereit“ beschreibt, dann sollte sie im Verlauf der Geschichte auch hilfsbereit handeln. Sonst gibt es einen Widerspruch und die Leser sind frustriert.
Wenn Lieschen aber im Verlauf der Geschichte immer wieder hilfsbereit handelt, dann braucht der Erzähler sie nicht als „hilfsbereit“ zu beschreiben: Das wird dem Leser schon selbst auffallen.
Wenn man mit „Show“ arbeitet, kann man sich also eine Menge Erklärungen sparen:
Statt lang und breit zu erklären, welche Knöpfe man drücken muss, damit das Raumschiff sich mit Lichtgeschwindigkeit bewegt, sollte die Lichtgeschwindigkeit in einer passenden Szene einfach demonstriert werden.
Auch kann die Szenerie selbst erzählen:
Wenn die Hauptfigur zum Beispiel Ruinen erkundet und in den überfluteten Verließen Skelette schwimmen und Geister umherwandeln sieht, dann entstehen hier indirekt unzählige tragische Geschichten. Der Leser erkennt von selbst, dass die Gefangenen während der Überflutung offenbar sich selbst überlassen wurden. Man muss es ihm nicht extra erklären.
Und nicht zuletzt sorgt „Show“ für lebendigere Beschreibungen von Orten und Dingen:
Wenn man zum Beispiel einfach nur erzählt, dass Lieschens Küche ein Dreckloch ist, muss sich der Leser selbst ein Bild aus den Fingern saugen.
Wenn man aber konkret auf die Essensreste an den Wänden, die Küchenschaben und den süßlich-fauligen Gestank eingeht, hat der Leser handfestes Material, das ihm den Magen umdreht.
Text vs. Film
Wie gesagt, „Show, don’t tell“ erscheint wie ein Schritt hin zum Film. Der Leser bekommt nicht nur einen abstrakten Text vorgesetzt, sondern der Text lässt im Kopf des Lesers konkrete Bilder entstehen.
Dennoch geht es bei „Show, don’t tell“ nicht um eine nackte Nachahmung von Filmen. Denn:
Kopfkino ist besseres Kino.
Während der Film ein rein audiovisuelles Medium ist, spricht gelungenes „Show, don’t tell“ alle fünf Sinne an und arbeitet mit Gedanken und Emotionen.
Was sehen, hören, riechen, schmecken und fühlen also Deine Figuren? Welche Gedanken und Assoziationen entstehen in ihren Kopfen? Welche Gefühle empfinden sie und wie äußert sich das körperlich?
Das sind überwiegend Dinge, die man mit Filmen nur andeuten kann – beispielweise durch schauspielerische Leistung und geschickte Kameraführung.
Die Grenzen des Films
Und es gibt natürlich auch Dinge, die man im Film gar nicht umsetzen kann. Dinge, für die das Medium Film einfach nicht abstrakt genug ist. Ein Paradebeispiel findet sich Harry Potter und der Gefangene von Askaban und der gleichnamigen Verfilmung des Romans:
In der ersten Stunde in Verteidigung gegen die dunklen Künste mit Professor Lupin bekämpft die Klasse einen Irrwicht. Dabei handelt es sich um eine Kreatur, die stets die Gestalt wechselt, je nach dem, wovor ihr Gegenüber sich am meisten fürchtet. Als Lupin selbst dem Irrwicht gegenüber steht, wird also seine größte Angst sichtbar:
„Dann sahen sie eine silbern glitzernde weiße Kugel vor Lupin in der Luft hängen.“
Joanne K. Rowling: Harry Potter und der Gefangene von Askaban, Kapitel: Der Irrwicht im Schrank.
Wir erinnern uns: Wenn der Leser von einem Baum liest, kann er sich alles Mögliche vorstellen. Hier haben wir mit der „silbern glitzernde[n] weiße[n] Kugel“ zwar eine scheinbar präzise Beschreibung; aber da wir nicht mit eigenen Augen sehen, was das sein soll, bleibt Lupins größte Angst bis zum Ende des Romans ein Mysterium. Erst als wir erfahren, dass er ein Werwolf ist und sich als solcher vor dem Vollmond fürchtet, können wir diese „silbern glitzernde weiße Kugel“ richtig deuten.
Und hier stößt die Verfilmung des Romans an ihre Grenzen: Denn im Film kann man nicht einfach eine „silbern glitzernde weiße Kugel“ zeigen, sondern nur etwas, das recht unmissverständlich wie ein Mond aussieht. Dadurch wird der Twist am Ende der Geschichte leider etwas abgeschwächt.
Nicht unmöglich, aber schwierig ist es auch mit rein subjektiven Wahrnehmungen und Vermutungen der Figuren. Ein Beispiel findet sich in Sophie im Schloss des Zauberers bzw. Das wandelnde Schloss:
„Sophie was sure the invisible eyes in all the houses goggled and the invisible necks craned as Howl and Michael and she trooped in through Miss Angorian’s door and up a flight of stairs to Miss Angorian’s tiny, severe living room.“
Diana Wynne Jones: Howl’s Moving Castle, Chapter Eleven: In which Howl goes to a strange country in search of a spell.
Sophie geht davon aus, dass sie und die anderen Figuren von Miss Angorians Nachbarn heimlich beobachtet werden. Im Roman erfahren wir nicht, ob das stimmt. Beim Film müsste man sich aber entscheiden, ob man konkrete „Augen“ und „Hälse“ zeigt oder sie komplett weglässt.
Für komplett unverfilmbar halte ich Viktor Pelevins grotesk-philosophische Erzählung Затворник и Шестипалый, was sich mit Der Einsiedler und Sechszeh übersetzen lässt:
Hier ist scheinbar von einer surrealen Welt die Rede mit vielen Sonnen am Himmel, Göttern und einer Weltenmauer. Die Figuren haben Gesichter, Arme und Beine, aber … Sie kratzen ihr Essen mit ihren Füßen vom Boden … Und langsam, aber sicher wird dem Leser bewusst, dass es sich beim Einsiedler, Sechszeh und der gesamten Gesellschaft um Hühner auf einer Geflügelaufzuchtstation handelt. Die Reisen der beiden Protagonisten durch unterschiedliche „Welten“, die letztendlich alle mit der Schlachtbank enden, und ihr Ziel, das Fliegen zu erlernen, sind somit eine einzige große Metapher für das menschliche Leben. Eine Verfilmung würde dem Werk einen guten Teil seiner Vieldeutigkeit, Groteske und damit auch seiner Eindringlichkeit nehmen.
Kopfkino erschaffen
Vor diesen oben genannten Beispielen habe ich größten Respekt. Denn hier wird das spezifische Potential der Literatur voll ausgeschöpft. Bei vielen nicht-professionellen Autoren habe ich das Gefühl, dass sie nur schreiben, weil sie nicht die Möglichkeiten haben, einen Film zu machen. Ich persönlich finde es respektlos der Gattung der Literatur gegenüber.
Worauf ich hinauswill, ist, dass es einen gravierenden Unterschied zwischen filmischem „Show“ und dem „Show“ in Texten gibt. Denn das „Show“ in Texten respektiert und nutzt die abstrakte Natur des Wortes.
„Show, don’t tell“ läuft darauf hinaus, dass Behauptungen und Erklärungen des Erzählers durch konkrete Szenen, konkrete Mimik und Gesten und konkrete Details ersetzt werden. Die Geschichte wird sozusagen „filmischer“. Und das ist auch gut so. Denn das macht die Erzählung lebendiger.
Vergiss jedoch bitte nie, dass das Erzählen weit über das „Filmische“ hinausgeht und „Show, don’t tell“ das abstrakte Wesen der Sprache überhaupt nicht ausschließt.
Gefahren von „Show“ (und Vorteile von „Tell“)
Doch so lebendig Texte durch „Show“ auch wirken: Es lauern nichtsdestotrotz auch Gefahren.
Eine davon sind ausgelutschte Bilder wie das Kauen am Stift, das Beißen auf die Lippe und Bewegungen „schnell wie der Blitz“. Was ausgelutscht ist, wirkt einfach nicht mehr. Dabei bauen wir Bilder und Phrasen, die wir immer wieder hören, oft automatisch in unsere eigenen Texte ein. Das ist einer der Gründe, warum gutes „Show, don’t tell“ so schwierig ist. Aber meiner Meinung nach ist das bis zu einem gewissen Grade nicht weiter schlimm: Denn leicht verständliche Bilder und Phrasen machen den Text insgesamt leichter. Aber ästhetisch weniger schön. Deswegen solltest Du aufpassen, dass Du mit ausgelutschten Dingen eher sparsam umgehst.
Auch hat „Show, don’t tell“ die Eigenschaft, dass es die Erzählung in die Länge zieht. Dabei gibt es Dinge, die man als Leser aber gar nicht so genau wissen will. Eine „Show“-Passage an einer Stelle, an der man als Leser einfach nur wissen will, wie die Geschichte weitergeht, kann durchaus frustrierend wirken. Hat man es also mit eher irrelevanten Dingen zu tun, bietet es sich an, auf „Tell“ zurückzugreifen. Dasselbe gilt manchmal auch für Action-Szenen, bei denen der Leser ja keine Bilder auf sich wirklen lassen will, sondern Handlung, Handlung, Handlung!
Damit im Zusammenhang steht auch die Gefahr, durch „Show, don’t tell“ unnötigen Filler-Content zu produzieren. Beispielsweise ist eine Szene, mit der nur die Beziehung zweier Figuren gezeigt werden soll, die aber sonst nichts zur Handlung beiträgt, tendenziell eher langweilig und überflüssig. Wenn „Show“ also der einzige Sinn und Zweck einer Szene ist, bietet es sich durchaus an, auf „Tell“ zurückzugreifen und einfach zu sagen: „Fritzchen und Lieschen waren beste Freunde.“ Sollten Fritzchen und Lieschen allerdings wichtige Figuren in der Erzählung sein, dürfte es kein Problem sein, ihre Beziehung in den handlungsrelevanten Szenen rüberzubringen.
Natürlich gibt es auch andere Dinge, bei denen „Tell“ von Vorteil ist. Manchmal ist es durchaus Absicht des Autors, dass der Text sich langweilig und fad liest. – Sei es, um eine bestimmte Stimmung rüberzubringen oder um den Leser mit einer plötzlichen Pointe wieder wachzurütteln.
Schlusswort
Letzten Endes geht es darum, bewusst zu entscheiden, wo man „Show“ anwendet und wo „Tell“. Zumal die Grenze zwischen den beiden eh fließend ist. Zum Beispiel:
„Ich bin nervös.“
- Dieser Satz zeigt das „Ich“ bei der Selbstreflexion.
„Show“ und „Tell“ sind keine festen, literaturwissenschaftlichen Kategorien. Mit dem Ratschlag, man solle zeigen und nicht erzählen, meint man also eher:
Vertraue auf die Intelligenz Deiner Leser. Kaue ihnen nicht alles vor, zwinge ihnen keine fertigen Interpretationen auf, bevormunde sie nicht. Erzähle so bildhaft wie möglich und liefere ihnen konkrete Anhaltspunkte. Dann lass los. Lass sie ihr eigenes Kopfkino erschaffen.
Denn das Lesen ist ein äußerst kreativer Prozess!
Mit diesen Hinweisen kann ich was anfangen. Danke dafür!
Sehr, sehr gerne! 🙂
Danke für viele wertvolle Tipps! Meiner Vermutungen bezüglich der Gefahr der Übertreibung mit „Show“ wurden bestätigt.
Mit „Show“ ist es halt wie mit jeder anderen Medizin. In Maßen sehr heilsam, notwendig und wichtig, aber bei einer Überdosierung schnell giftig. Deswegen immer fragen, was die individuelle Geschichte an der konkreten Stelle genau braucht.