Ein Buch kann nur dann erfolgreich sein, wenn die Hauptfiguren interessant sind. Was sie dabei für Kriterien erfüllen müssen, haben Jodie Archer und Matthew L. Jockers mit einem Computer-Algorithmus herausgefunden und in ihrem Buch Der Bestseller-Code erläutert. In diesem Artikel fasse ich ihre Erkenntnisse, was eine interessante Hauptfigur ausmacht, kurz zusammen.
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Was nützt einem die vielleicht spannendste Geschichte, wenn die Hauptfiguren den Leser kalt lassen? Wenn dem Leser egal ist, was mit ihnen passiert? Was sie tun, was sie denken und fühlen?
Herzlich wenig:
Mit einer langweiligen Hauptfigur landet man keinen Bestseller.
Was aber macht eine Figur interessant? Über welche Figuren wollen die Leute lesen?
Jodie Archer und Matthew L. Jockers meinen, das herausgefunden zu haben. Sie haben einen Computer 5000 Bestseller und Nicht-Bestseller analysieren lassen und bemerkten Tendenzen, die Bestseller-Figuren von Nicht-Bestseller-Figuren unterscheiden. In diesem Artikel nehmen wir ihre Erkenntnisse unter die Lupe.
Interessante Figuren, langweilige Figuren: Der grundlegende Unterschied
Erzählen setzt eine Handlung voraus. Und eine interessante Handlung gibt es nur, wenn jemand handelt. Damit ist das Ergebnis der Analyse von Archer und Jockers ganz logisch:
Leser mögen Figuren, die etwas tun.
Interessante Figuren
Wer etwas tut, der will etwas erreichen. Der braucht etwas. Somit sind bestsellertaugliche Figuren vor allem Individuen, die ihre Bedürfnisse klar äußern und mutig und selbstbewusst ihre Ziele verfolgen. Das ist selbst dann der Fall, wenn sie ein negatives Selbstbild haben. Wichtig ist einfach, dass sie aktiv handeln und damit die Handlung vorantreiben.
Ihre Handlungsstärke geht dabei mit aktiven Verben einher:
Sie denken, lächeln, fragen, erzählen, schauen, greifen, fangen etwas an, wissen, lieben, gehen …
Auch sind die Verben von Hauptfiguren in Bestsellern häufiger als in Nicht-Bestsellern mit existenziellen Erfahrungen verbunden:
Hier geht es häufiger um brauchen, wollen, vermissen, lieben, müssen …
Nicht zuletzt haben sie in der Regl auch eine besondere Gabe - egal, ob es sich dabei um besondere Intelligenz, übernatürliche Fähigkeiten, spezielles Fachwissen oder ein Talent fürs Lügen handelt. Sie können etwas besonders gut – und sie setzen es auch ein.
Langweilige Figuren
Was an all dem so besonders ist, leuchtet ein, wenn man sie mit dem gegenteiligen Trend aus Nicht-Bestsellern vergleicht:
Hier kommt es häufiger vor, dass die Figuren innehalten, etwas fallenlassen, fordern, warten, murmeln, protestieren, zusammenbrechen, umklammern … Aber auch schreien, werfen, taumeln, drängeln …
Was solche Verben für ein Bild ergeben, bringen Archer und Jockers wunderbar auf den Punkt:
„[S]olche Worte passen zu einem unselbstständigen Kind, nicht zu einer wichtigen Hauptfigur.“
S. 166.
Diese Figuren sind tendenziell eher passiv und den Einflüssen ihrer Umwelt ausgesetzt:
Sie akzeptieren etwas oder lehnen es ab, sie erholen sich, sie scheinen etwas zu sein (statt wirklich etwas zu sein), sie vermuten (statt zu wissen) und sie wünschen (statt zu wollen).
Die Moral von der Geschicht‘
Damit hat der Algorithmus etwas bestätigt, was wir im Grunde schon immer wussten:
Leser interessieren sich für Figuren, die ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen.
Denn wer will schon über jemanden lesen, der sich in der Opferrolle suhlt und höchstens nur herumzickt? Trotzdem gibt es viele Autoren, die genau solche Figuren erschaffen. Deswegen sind wir alle gut beraten, unsere Protagonisten auf diesen Punkt hin zu überprüfen.
Bestseller-Titel und ihre Figuren
Ob ein Buch eine interessante Hauptfigur enthält, ist tatsächlich oft sogar schon im Titel erkennbar. In diesem Zusammenhang hier ein kleiner Exkurs:
Archer und Jockers beschreiben vier Typen von Bestseller-Titeln, abhängig davon, das dort im Vordergrund steht:
- Ort: ist besonders wichtig für die Geschichte und lässt eine bestimmte Handlung erwarten
Beispiele: Sommer in Maine, Die Farm - Ereignis: spielt in der Regel eine wichtigere Rolle als die Figuren (weil sie eher auf das Ereignis reagieren) und gibt der Geschichte ihre grundlegende Struktur und Bedeutung
Beispiele: Zwei an einem Tag, Ein zufälliges Ereignis - Ding: häufigster Typ, besondere Rolle dieses Dings
mehrere Untertypen:- mit erklärendem Wort: Das Erbe der Königin, Da Vinci Code
- Fragen provozierend: Wasser für die Elefanten, Schatten der Macht
- Substantiv alleine: Die Firma, Das Geschenk, A Game of Thrones, Freiheit
(Am häufigsten und effektivsten sind Titel mit bestimmtem Aktikel, weil er das Ding ganz besonders klingen lässt. Unbestimmte Artikel machen sich laut Archer und Jockers nur bei ungewöhnlichen und spezifischen Substantiven gut.)
- Figur: Fünftel aller Bestseller
mehrere Untertypen:- nur Name der Figur: selten, lässt Charakterstudie erwarten
- Name mit zusätzlicher Beschreibung: Loving Frank, Still Alice
- Rolle und Status: häufigster Untertyp
Beispiele: Der Marsianer, Der Historiker
Bei diesem häufigsten Untertyp geht schon alleine aus aus dem Titel klar hervor, dass es in der Geschichte um die Beziehung zwischen der Figur und ihrer Rolle geht: Hier liegt der zentrale Konflikt. Und was dabei auffällt, ist der Trend, weibliche Figuren in den Titel einzubauen:
- Gone Girl, Die Ehefrau, Eine verlässliche Frau
Hier geraten Frauen in Konflikt mit ihrer traditionellen Rolle. Es sind dunkle Heldinnen, die ihre Welt gehörig auf den Kopf stellen. Archer und Jockers vermuten hier die Entstehung eines neuen Subgenres.
Titelgebende „Girls“ als dunkle Heldinnen
Eins ist Archer und Jockers ganz ohne Algorithmus aufgefallen: die vielen (englischsprachigen) Buchtitel mit dem Wort „girl“ darin:
- The Girl on the Train, The Girl with the Dragon Tattoo, Gone Girl …
Also befragten die beiden Forscher ihren Algorithmus, was es mit diesen Mädchen auf sich hat. Oder genauer: mit diesem Trend für dunkle Heldinnen. Denn diese „girls“ sind alles andere als kleine, unschuldige Mädchen …
Es sind Frauen, die vom traditionellen Weiblichkeitsideal abweichen. Sie sind deplatzierte, wütende Außenseiter. Häufig Opfer und Täter zugleich.
In Bestsellern geht es generell häufig um einen Reinigungsprozess. Es gibt ein Problem, eine Bedrohung, und im Verlauf der Geschichte wird eine Lösung gefunden. Das Ende ist friedlich und alles ist gut. Die „Girls“ hingegen sind das Problem und die Lösung zugleich. Sie reinigen ihre Welt, erreichen den Zustand des Friedens selbst aber nicht. Der charakteristische Handlungsverlauf beginnt mit einem steilen Abstieg und endet ohne richtige Auflösung.
Hier kommen traditionelle Thriller-Elemente ins Privatleben: in die Beziehung und Familie. Stereotypen werden umgekrempelt. Das Bestseller-Thema „menschliche Nähe“ steht im Zentrum – das Frauenbild wird dabei auf den Kopf gestellt.
Geschlechterspezifische Unterschiede
Bei diesem doch sehr feministischen Trend ist es spannend, dass Archer und Jockers auch etwas entdeckt haben, bei dem Feministen sich die Hände über dem Kopf zusammenschlagen müssten:
Denn untersucht man die Handlungen von Männern und Frauen in Bestsellern, so fallen ziemlich traditionelle Rollenvorstellungen ins Auge:
- Männer küssen, fliegen, fahren, töten, reisen, vermuten, versprechen, sehen, starren, sorgen sich, schlagen zu …
- Frauen hingegen umarmen, reden, lesen, fantasieren, bleiben, beschließen, glauben, hassen, sehen, schreien, drängen …
Offenbar stehen also stereotype Geschlechterbilder und deren Umkehrung keineswegs im Widerspruch.
Bestseller schreiben?
Was nehmen wir von dem Bestseller-Code von Archer und Jockers also mit?
Vor allem natürlich:
Ja, es gibt bestimmte Merkmale, die die Wahrscheinlichkeit, dass ein Buch ein Bestseller wird, steigern.
Aber was machen wir nun damit?
Zunächst stellen wir fest, dass es grundlegende Merkmale und Trends gibt. Das Auf und Ab der Stimmung zum Beispiel wird vermutlich immer eine Rolle spielen. Die dunklen Heldinnen hingegen sind wahrscheinlich eher ein vergänglicher Trend unserer Zeit.
Wenn es außerdem etwas gibt, das der Massenleser gerne mag, gibt es auch Leser, die genau das nicht mögen. Es gibt immer eine Nachfrage nach Nischen-Büchern.
Ich denke daher nicht, dass wir sklavisch alle Empfehlungen der Forscher umsetzen müssen. Es lohnt sich aber durchaus, ihre Erkenntnisse im Hinterkopf zu behalten.
Erstens, um die Bestsellerwahrscheinlichkeit des eigenen Buches richtig einzuschätzen und nicht enttäuscht zu sein, wenn man eben keinen Bestseller landet. Zweitens: Warum nicht das eigene Buch auf bestsellertaugliche Merkmale durchchecken und bei Bedarf – wenn es zur Geschichte passt – etwas verbessern?
Der Bestseller-Code ist nicht mehr und nicht weniger als ein Werkzeug.
Wer mehr darüber erfahren will und auch neugierig ist, ob Bestseller nicht irgendwann von Computern geschrieben werden können, kann das Buch von Archer und Jockers unter diesem Link bestellen.